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Für Cornelia Vismann
26. Mai 1961 – 28. August 2010

Iris Därmann

Kulturtheorien zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Weimar †

Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
www.junius-verlag.de

© 2011 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: Zwei Arbeiterinnen umwickeln einen
Draht mit Wolle © Pictura Paedagogica Online
E-Book-Ausgabe Januar 2019
ISBN 978-3-96060-075-6
Basierend auf Printausgabe
ISBN 978-3-88506-688-0
3., unveränderte Auflage 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

I.Zum Auftakt

II.Küche und Tischgemeinschaft

1. Kulinarische Ethnologie

2. Soziologie der Mahlzeit

3. Das Gute des Essens

III.Rituelles und moralisches Opfer

1. Antike Opferrituale

2. Das sokratisch-christliche Selbstopfer

3. Kantische Opfergewalt

4. Noch nicht festgestellte Tiere

IV.Magische Kräfte

1. Magische Wirksamkeit

2. Symbolische Wirksamkeit

3. Bildliche Wirksamkeit

V.Performativität, Ritualität, Theatralität

1. (Sprech-)Akte

2. Kraft des Ritus: Krisen, Verwandlungen

3. Investiturszenen und Statusänderungen

4. Unter freiem Himmel: Theatralische Inszenierungen

5. Masken- und Rollenspiele

VI.Haus und Verwandtschaft

1. Verwandtschaft und »Häuser-Gesellschaft« bei Lévi-Strauss

2. Haus und Verwandtschaft bei Platon, Aristoteles und Xenophon

3. Das Haus Gottes und der Bau der Gemeinde bei Paulus

4. Projektmacher oder der Wiederaufbau des »ganzen Hauses«: Wilhelm Heinrich Riehl und Otto Brunner

5. Offene, repräsentative und bewohnte Häuser: Norbert Elias, Pierre Bourdieu, Michel de Certeau und Roland Barthes

VII. Gesellschaftsspiele, Spielelemente der Kultur

1. Gesellschaftsspiele: Immanuel Kant, Friedrich Schiller, Friedrich Schleiermacher und Georg Simmel

2. Spielelemente der Kultur: Johan Huizinga, Roger Caillois und Claude Lévi-Strauss

VIII. Die Dinge zwischen uns

1. Martin Heidegger: Zeuggebrauch

2. Georg Simmel: Der Henkel und das Geld

3. Roland Barthes: Semantik der Objekte

Anhang

Siglen

Anmerkungen

Über die Autorin

I. Zum Auftakt

Das Haus und die Verwandtschaft, das Opfer, die Küche und die Magie, das Spiel und die Dinge, Ritualität, Performativität und Theatralität sind in dieser Einführung Themen einer Geschichte der Kulturtheorien. Dabei liegt der Akzent auf solchen Theorien, die sich mit kulturellen Praktiken, mit Riten, Prozeduren, Kultur-, Reproduktions- und Körpertechniken auseinandersetzen. Zugleich werden die Klassiker der modernen Kulturtheorie, John L. Austin, Roland Barthes, Roger Caillois, Norbert Elias, Arnold van Gennep, Erving Goffman, Martin Heidegger, Johan Huizinga, Jacques Lacan, Claude Lévi-Strauss, Marcel Mauss, Friedrich Nietzsche, Georg Simmel, Victor Turner, Jean-Pierre Vernant u.a., in eine Transformationsbeziehung zu den einschlägigen Autoren der Antike und der Neuzeit gestellt.

Im Rekurs auf diese Kulturtheorien der Praktiken rücken zwei systematische Gesichtspunkte in den Vordergrund. Zum einen geht es um die sozialitäts- und beziehungsstiftenden Aspekte: Intersubjektivität, Sozialität, Gemeinschaft oder Gesellschaft sind nicht einfach gegeben, haben nicht von sich aus eine dauerhafte und stabile Existenz, sondern müssen durch verschiedene kulturelle Praktiken je von Neuem hergestellt, unterhalten, unterbrochen oder abgeschlossen werden. Wie gelingt es den Praktiken, soziale Beziehungen und Gemeinschaftsformen in ihren unterschiedlichen Konfigurationen herzustellen oder sie zu widerrufen? Wie werden soziale Ungleichheiten gesetzt und stabilisiert, wie wird jemand in Ämter und Positionen eingeführt?

Zum anderen stehen die Grenzziehungen zwischen Natur und Kultur und die Differenzen zwischen Tieren, Menschen und Göttern infrage. Durch welche Sprechakte, Rituale und Techniken werden anthropologische Grenzen und zoologische Hierarchien eingeführt und aufrechterhalten? Durch welche Prozesse und gewalttätigen Akte vollzieht sich der Übergang vom Tierreich zur Dimension des Menschen, vom Naturzustand zum Gesellschaftszustand? Auch wenn man die These von einer westliche »Priorität der Kultur vor der Natur«1 nicht einfach unterschreiben kann, so gibt es keinen Schritt vor die Kultur zurück. Trifft es vielmehr zu, dass sich Natur nicht frontal zeigt, sondern dass wir uns je schon in Kultur befinden, dann wird zugleich die Frage virulent, wie Grenzen, Ränder und Schwellen bei allen reproduktiven Vollzügen immer wieder in Richtung Natur überschritten, wie sie vervielfältigt und destabilisiert werden.

Für zahlreiche Anregungen und Zuspruch danke ich herzlich: Friedrich Balke, Hartmut Böhme, Kathrin Busch, Nacim Ghanbari, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Macho, Kirsten Mahlke, Maria Muhle, Günther Ortmann, Leander Scholz, Marcus Twellmann, den Studierenden am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität sowie den Mitgliedern meiner Forschergruppe Cultural Theory and its Genealogies: Anna Echterhölter, Nina Franz, Marco Heiter, Stefanie Klamm, Rebekka Ladewig, Evke Rulffes, Caroline Schaper und dem Berliner Exzellenzcluster Topoi. The Formation and Transformation of Space and Knowledge in Ancient Civilizations.

Die Anregung, dieses Buch zu schreiben, verdanke ich Cornelia Vismann. Ihr ist es deshalb gewidmet.

Hamburg und Berlin, im Januar 2011

II. Küche und Tischgemeinschaft

Essen und Trinken sind elementare Bedürfnisse und alltägliche Praktiken.2 Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hat die europäische Philosophie das Essen ganz auf die Seite des Körpers und der Natur geschlagen und den Akt der Nahrungsaufnahme auf einen asozialen und natürlichen Vorgang reduziert, der bloß der eigenen Selbsterhaltung dient.3 Damit hat sie nicht nur die sozialen und kulturellen Dimensionen der Küche und des Essens marginalisiert, sondern auch die gastfreundlichen Dimensionen der Tischgemeinschaft unkenntlich gemacht. Die Kulturwissenschaft, die ausdrücklich vom »Kulturphänomen und Kulturthema Essen«4 spricht, hat die Nahrungsaufnahme vom Anschein einer unveränderlichen Natur und Geburtsausstattung befreit. Bereits ein rascher Blick auf die historisch-kulturell unterschiedliche Art, Menge, Zubereitung und Gestaltung, die Teilung, Präsentation, Abfolge und Aufnahme der Nahrung zeigt, dass wir es mit einem fait social total im Sinne Marcel Mauss’ zu tun haben: Im Essakt, in der Tischgemeinschaft und in der Küche – als Ort der Zubereitung der Nahrung und »Kostform«5 zugleich – treffen soziale, rechtliche, religiöse, ökonomische, medizinische, ethische, sexuelle, affektive, imaginäre, symbolische, verwandtschaftliche, technische und ästhetische Dispositive aufeinander, die sich wechselseitig verstärken, organisieren, verdrängen oder abschwächen können. Die jeweilige Küche ist zudem ein fait de civilisation,6 auf das keine Kultur oder Nation exklusive Besitzrechte anmelden kann. Es ist immer schon Produkt interkultureller Wechselwirkungen, Gabentäusche und Entlehnungen. Als grenzüberschreitendes Reisephänomen ist es zur kulturellen Migration, Wanderschaft und Aneignung bestimmt. Die institutionelle Verkörperung der Nahrungsaufnahme in Gestalt der Mahlzeit und Tischgemeinschaft fungiert ferner als Darstellungs- und Repräsentationssystem, das politische Verhältnisse, kulturelle Standards, religiöse Glaubensvorstellungen und soziale Wirklichkeiten inszenieren, transformieren und hervorbringen kann. Die Tafel ist der Ort, an dem die Nahrung und die alimentäre Gemeinschaft zu Bildern und zu hergerichteten Szenen in eben jenem Sinne werden, in dem »man sagt: Der Tisch ist hergerichtet«, es ist angerichtet.7 Die arbiträre Definition dessen, was als Essbares und was als Nicht-Essbares gilt, das (mythische) Inventar der Gegensätze, die differenzielle Anordnung, Zubereitung, Reihenfolge8 der Speisen, Gerüche, Aromen und Gewürzmittel kann in strukturalistischer Manier selbst als Zeichensystem und als eine Art Sprache betrachtet werden. Die Kulturphänomene der Mahlzeit und der Küche erweisen sich als komplexe soziale Organisationssysteme, in denen zentrale Differenzen und Grenzziehungen zwischen Wildheit und Zivilisation, Mensch und Tier, Mann und Frau markiert werden, wie im Folgenden mit Claude Lévi-Strauss’ Kleiner Abhandlung in kulinarischer Ethnologie, Georg Simmels Soziologie der Mahlzeit und mit Seitenblicken auf Norbert Elias’ Prozeß der Zivilisation deutlich gemacht werden soll. Bei Lévi-Strauss steht vor allem das Problem des Verhältnisses von Natur und Kultur hinsichtlich des Ursprungs der Küche und der Tischsitten infrage; bei Simmel und Elias die kulturalisierenden und sozialitätsstiftenden Aspekte der Mahlzeit. Das bietet Stoff für einige abschließende Überlegungen zur Mahlzeit heute.

II.1 Kulinarische Ethnologie

In seinen vierbändigen Mythologica widmet sich Claude Lévi-Strauss der vergleichenden Untersuchung von insgesamt 813 Mythen indianischer Gesellschaften aus der südlichen und nördlichen Hemisphäre Amerikas. Das Feld der Mythen erweist sich als jener ausgezeichnete Bereich, an dem sich eine Logik der sinnlichen Qualitäten und Differenzen – der Farben, Aromen, Gewürze, Geschmacksmittel, Geräusche, der Rausch- und Genussmittel – explizieren lässt, welche die in der westlichen Philosophie klassisch gewordene Opposition von Sensiblem und Intelligiblem, von Mythos und Logos, überwindet. Der Mythos offenbart kein prälogisches, stammelndes, primitives und defizitäres Denken. Die sinnlichen Qualitäten bilden vielmehr dasjenige Medium, in dem und mit dem auf ebenso abstrakte wie kohärente Weise gedacht wird.9 Im mythischen wie im wissenschaftlichen Denken ist die gleiche Logik am Werk: Menschen haben »allezeit gleich gut gedacht«.10 Beim Mythos handelt es sich um eine Ursprungs- und Gründungserzählung ohne Subjekt und ohne identifizierbaren Autor. In seinen Transformationsanalysen der Mythen möchte Lévi-Strauss daher zeigen, »wie sich die Mythen in den Menschen ohne deren Wissen denken«, und genauer noch: dass und wie sich »die Mythen auf gewisse Weise untereinander denken«.11 Dabei operiert Lévi-Strauss mit der semiologischen Einsicht, dass die Mythen als eine Sprache in Betracht zu ziehen sind, mittels deren eine Gesellschaft unbewusst ihre je eigene Struktur zum Ausdruck bringt und ihre inhärenten Widersprüche bzw. Konflikte »verschleiert« (AkE 532). Mythen sind Organisationsmodelle für »Aporien«.12 Damit sind sie nicht autonom, stehen sie nicht außerhalb der Realität, sondern bilden einen formalen alimentären Rahmen, um Gegensätze anderer Art, nämlich kosmologische, soziologische, politische, anthropologische oder geschlechtsspezifische darzustellen (AkE 512), wie die unzähligen Variationen und Transformationen der süd- und nordamerikanischen Mythen über den Ursprung der Küche und der Tischsitten zeigen.13 Sie bewegen sich dabei in einem semantischen Feld, das von den Kategorien des Rohen, Gekochten und Verfaulten einerseits und den Kategorien des Gebratenen, Geräucherten und Gesottenen andererseits abgesteckt wird, wie ein entscheidendes Resultat des aufwendigen strukturalen Mythenvergleichs lautet.

Das kulinarische Ausgangsdreieck von Lévi-Strauss geht auf die mythische Erkenntnis zurück, dass sich die Nahrung für den Menschen in drei wesentlichen Modalitäten zeigt: »Sie kann roh, gekocht oder verfault sein. In bezug auf die Küche bildet der rohe Zustand den nicht ausgeprägten Pol, während die beiden anderen stark ausgeprägt sind, jedoch in entgegengesetzten Richtungen: das Gekochte als kulturelle Verwandlung des Rohen, und das Verfaulte als dessen natürliche Verwandlung. Dem Hauptdreieck liegt also ein doppelter Gegensatz zwischen verarbeitet/unverarbeitet einerseits und Kultur/Natur andererseits zugrunde.« (AkE 511) Dabei unterliegt es einer großen Bandbreite von Interpretationen, was eine Kultur jeweils unter diesen drei alimentären Zuständen versteht. Das Rohe ist niemals ganz roh, sondern weist stets gewisse Spuren der Bearbeitung und Zubereitung auf: des Waschens, Schälens, Schneidens, Würzens usf., Bearbeitungsformen, die unter dem Einfluss einer anderen Kultur erweitert oder begrenzt werden können. Und ebenso weist die Kategorie des Verfaulten eine gewisse Variationsfülle auf, die zwischen der kostbaren Delikatesse und dem schlechterdings Ungenießbaren und Ekelerregenden oszilliert (AkE 512). Was schließlich für eine bestimmte Kultur jeweils »gekocht« bedeutet, birgt ebenfalls große Spielräume, wie etwa ein Blick in jene Kochbücher verrät, welche im 16. Jahrhundert in Italien und Frankreich aufkommen und der Erfindung nationaler oder besser: nationalisierender Küchen Vorschub leisten. Hier kommt alles darauf an, wie etwas gekocht wird, das heißt wie lange oder kurz, ob weichgekocht oder al dente, in welchen Behältern, mit welchen Zutaten, von wem und für wen gekocht wird. Für viele Kulturen bilden das Gesottene und das Gebratene wiederum zwei gegensätzliche Modi des Gekochten, die dem Verfaulten einerseits und dem Rohen andererseits nahestehen. Mit seiner Affinität zum Rohen und Unverarbeiteten scheint das Gebratene eher auf der Seite der Natur als auf der Seite der Kultur zu stehen. Nicht zufällig muss das Roastbeef oder Steak, zumindest so, wie wir es genießen, von innen »blutig« und nur von außen angebraten, kurz: à point sein, wie man in Frankreich zu sagen pflegt: »(wörtlich: auf dem Punkt, genau richtig), was eigentlich mehr eine Grenze anzugeben heißt als einen abgeschlossenen Zustand«.14 Da es beim Braten zu einem unmittelbaren Kontakt, zu einem »nicht vermittelten Verhältnis« zwischen Nahrung und Feuer kommt, steht das Gebratene real und symbolisch auf der Seite der Natur, während das Gesottene als »kulturelle Verwandlung« des Rohen sowohl real als auch symbolisch der Kultur zugeordnet wird. Real, da das Kochen ein Gefäß, das heißt ein Artefakt voraussetzt, symbolisch, weil das Element des Wassers, das zum Kochen benötigt wird, mit dem Element des Feuers, das den Garprozess bewirkt, vermittelt ist. Diese Vermittlungsform entspricht dem grundlegenden Einsatz der Kultur, der eine Vermittlung zwischen Mensch und Welt zuwege bringt (AkE 514f.). In derselben Weise, in der das Gebratene Bezüge zum Rohen und Unverarbeiteten aufrechterhält, weist das Gesottene eine Familienähnlichkeit mit dem Verfaulten auf, das einer natürlichen Bearbeitung des Rohen entspricht. Diese Ähnlichkeit wird schlagend bei Rezepten für das pot pourri, den Pfeffertopf oder Eintopf, die empfehlen, Fleisch und Gemüse zusammen über einen langen Zeitraum möglichst zu Brei zu zerkochen (AkE 515). Hier führt, was zunächst paradox anmutet, eine kulturelle Technik zu einem quasi-natürlichen Resultat (AkE 523). Mit dem Gegensatz zwischen dem Gebratenen und Gesottenen verbindet sich eine Fülle weiterer Gegensätze, die in den einschlägigen Mythen, Riten und in den alltäglichen Praktiken der Küche (AkE 516) je von Neuem gesetzt, inszeniert und aufrechterhalten werden: so der Gegensatz zwischen Innen und Außen, da das Gesottene von innen mit einem Behälter gekocht und die jeweilige Nahrung von außen gebraten wird. Innen und Außen können mit dem Gegensatz von Familien- und Fest- bzw. Repräsentationsessen zusammenfallen: Das Suppenhuhn ist für den inneren Kreis der Familie bestimmt, der Braten hingegen für Gäste und den größeren Kreis der Verwandten. Ferner können sie sich mit einer geschlechtsspezifischen Nahrungszubereitung und Nahrung verbinden, die von Kultur zu Kultur variiert: Fleisch gegen Gemüse, virile Grillküche im Garten gegen weibliche Salat- und Dessertzubereitung in der Küche, Wildnis und Jagd gegen Dorf und Agrikultur. In unserer Kultur ist vor allem der Mann derjenige, der Tiere schlachtet, tötet und, zumindest im Freien, auch zubereitet. Männer sind Fleischesser, »die virile Kraft des erwachsenen Mannes, Vaters, Gemahls oder Bruders« geht auf das Fleischessen zurück: Auch heute muss »der Chef […] Fleischesser sein«15. Desgleichen lassen sich soziale bzw. politische Distinktionen mithilfe des Gegensatzes zwischen Gebratenem und Gesottenem akzentuieren: Da das Braten mit dem Verlust des Fleischsaftes und das heißt mit einer gewissen Form von Vergeudung einhergeht, kann es als aristokratische Form der Zubereitung gelten, während das Kochen mit Wasser auf den Erhalt des Fleischsaftes und der übrigen Zutaten zielt und daher mit Sparsamkeit und einem plebejischen Geschmack assoziiert wird. Dabei kann es wiederum zu einer Hierarchisierung von bestimmten Distinktionsmerkmalen kommen, um eine Spannung zwischen widerstreitenden Distinktionsanforderungen auszuhebeln. Die in unseren Breitengraden vorherrschende Zuordnung der Frau zur Küche kann zugunsten aristokratischer Repräsentationspflichten oder im Namen des Prestigestrebens der Mittelklasse aufgehoben werden. So galt das Kochen in viktorianischen Haushalten in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts als nicht ladylike. Die Entfernung der Dame des Hauses aus der Küche aufgrund des Zwangs zur Vornehmheit und zum Müßiggang ging so weit, dass sie ihre Küche noch nicht einmal betreten durfte, um ihren Bediensteten Anweisungen zu geben.16

Das kulinarische Dreieck mit den Kategorien des Rohen, Gekochten und Verfaulten, das Lévi-Strauss mit den beiden gegensätzlichen Modi des Gekochten – dem Gebratenen einerseits und dem Gesottenen andererseits – verschränkt und jeweils dem Rohen und dem Verfaulten zugeordnet hat, wird in einem letzten Schritt durch die Kategorie des Geräucherten komplettiert. Das Geräucherte wird wiederum mit dem kulturellen Optimum des Gekochten in Verbindung gebracht und steht in einem differenziellen Verhältnis zu seinen beiden Gegenpolen. Wie das Braten, so kann auch das Räuchern als eine nicht vermittelte Vermittlung verstanden werden, da es ohne Behälter und ohne Wasser auskommt. In beiden Fällen befindet sich zwischen Nahrung und Feuer nichts weiter als Luft. Beim Braten ist die Distanz freilich auf ein Minimum reduziert, beim Räuchern auf ein Maximum angelegt (AkE 522). Zu dem Oppositionspaar nah/fern gesellt sich dasjenige von schnell/langsam: Das Braten erfordert wenige Minuten, das Räuchern dauert tagelang. Während der Bratenvorgang ohne Gerät vonstattengehen kann, ist das Räuchern auf ein Artefakt wie das Räucherrost angewiesen und verweist somit auf das Kochen mit Wasser, das eines Behälters bedarf. In den indianischen Kulturen (z.B. der Guayana) macht Lévi-Strauss einen praktischen Unterschied im Umgang mit den kulturellen Geräten des Räucherns und Kochens ausfindig, der den binären Abstand, der ansonsten zu wenig ausgeprägt geblieben wäre, in eindeutiger Weise markiert: Töpfe und Kessel sind Gegenstände besonderer Achtsamkeit, die jeweils an die nachfolgende Generation vererbt werden. »Der Räucherrost dagegen muß sofort nach Gebrauch zerstört werden, sonst würde das Tier sich rächen und seinerseits den Jäger räuchern.« (AkE 522)

Das komplementär verdoppelte kulinarische Dreieck weist eine verwirrende Vielfalt von differenziellen Bezügen auf, die die strikte Unterscheidung und die Achse zwischen Kultur und Natur aus den Fugen bringen. Aus der Perspektive vieler indianischer Gesellschaften stellt das Räuchern »die abstrakte Kategorie des Gekochten dar«. In dem Maße, in dem das Gekochte auf der Seite der Kultur und das Rohe auf der Seite der Natur zu stehen kommt, ist das Räuchern die »kulturellste« Form des Kochens, da das Gesottene mithilfe der kulturellen Technik des Siedens einen Nahrungszustand erreichen kann, der dem Verfaulten entspricht, jener Modalität der Nahrung also, die durch eine natürliche Verarbeitung zustande kommt. Zwischen dem Räuchern mit Luft und dem Kochen mit Wasser besteht indes ein bemerkenswerter Parallelismus, wie Lévi-Strauss unterstreicht, und zwar im Hinblick auf die Dauer: Einmal betrifft das Merkmal der Dauer die kulturelle Technik, das andere Mal das Resultat. »Das Kochen mit Wasser vollzieht sich mittels eines Gefäßes aus Töpfererde«, das von Generation zu Generation weitergegeben wird und »zum haltbarsten aller Kulturgegenstände« gehört, während das Kochen selbst, zumindest terminologisch, mit einem Zerstörungs- bzw. Fäulnisvorgang gleichgesetzt wird. Dagegen ist das Räuchern dasjenige Verfahren, das die Nahrungsmittel für die längste Zeit der Fäulnis entzieht, während sein Artefakt, das Räucherrost, unmittelbar nach dem Gebrauch zerstört wird: »Alles sieht so aus, als würde der anhaltende Genuß eines Kulturwerks bald auf der Ebene des Ritus, bald auf der des Mythos ein Zugeständnis an die Natur nach sich ziehen: wenn das Resultat dauerhaft ist, muß das Mittel hinfällig sein – und umgekehrt.« (AkE 524) Ähnlich verhält es sich mit dem Gebratenen; von außen verbrannt, von innen blutig, »verkörpert« es »die Ambiguität des Rohen und Gekochten, der Natur und der Kultur« (AkE 524). Die Küche steht demnach nicht eindeutig auf der Seite der Kultur, sondern markiert die Grenze, den Übergang und den Zwischenraum, der Natur und Kultur zugleich voneinander trennt und miteinander verbindet: »Indem sich die Küche nach den Bedürfnissen des Körpers richtet und in jedem ihrer Modi durch die besondere Weise geprägt ist, mit der sich der Mensch ins Universum einfügt«, gehört sie zu beiden Bereichen und spiegelt sowohl die Dualität als auch ihre »notwendige Verschränkung« auf verschiedenen Ebenen und »in jeder ihrer Erscheinungen wider« (AkE 524). Das von Lévi-Strauss eingeführte zweite kulinarische Dreieck dient demnach vor allem dazu, den Gegensatz zwischen Natur und Kultur zu verschränken, um ihn in jenen Doppeldeutigkeiten, Legierungen, Übergängen und Schwellen vorzuführen, die wir beim Kochen und Essen jeweils in die eine oder andere Richtung überschreiten.

II.2 Soziologie der Mahlzeit

Die Frage der Mahlzeit hat zweifellos eine eminent soziale und politische Dimension:17 Arme essen, so sie nicht Hungers sterben, Reiche hingegen speisen.18 Die je bestimmte Ernährungsweise einerseits und die besondere Tischordnung andererseits bezeichnen Codes, Arenen und Austragungsorte für »Ausscheidungs- und Konkurrenzkämpfe«19, soziale Schichtung und Differenzierung, für Abgrenzungen von oben nach unten, Stand und Person, ökonomisches und symbolisches Kapital und verfügen damit über Zugehörigkeit oder Unzugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe oder Kultur. In paradigmatischer Weise hat das Gerhard Baudys Analyse der griechischen Opferküche gezeigt: Indem die antike Opfergesetzgebung bestimmten Berufsständen unterschiedliche Portionen zumesse, der Tierkörper damit selbst den symbolischen Aufriss der Polis widerspiegele und die gemeinsame Opfermahlzeit »Zusammengehörigkeit und Unterschiede zwischen den Kommensalen« markiere, konstituiere die Verteilung des Fleisches je aufs Neue die sozial-hierarchische Struktur der Polis.20 Gemeinschaftsmähler bringen (Mahl-)Gemeinschaften hervor,21 die die Gleichrangigkeit oder aber die Ungleichheit ihrer Mitglieder betonen können. Das gemeinsame Mahl »besiegelt Friedens- und Bündnisschlüsse«,22 ja es nimmt selbst, wie etwa im frühen Mittelalter bei den Gemeinschaftsessen der Genossenschaften, Gilden und Zünfte, bei fürstlichen Gelagen und Banketten den Charakter einer »rechtsrituellen Handlung« an, die eine friedens-, bündnis- und gemeinschaftsstiftende Funktion besitzt.23 Dank des gemeinsamen Mahles erhalten öffentliche Beziehungen den Status von verwandtschaftlichen Beziehungen, so dass einander zuvor Fremde oder Feinde zu Brüdern werden, die sich gegenseitig Schutz für Leib und Leben zusichern. Das gilt auch und zumal für die Gesetze der Gastfreundschaft, die Fremde in Verbündete verwandeln können. In den höfischen Gesellschaften Europas tritt das rechtsrituelle Verständnis des Mahles zugunsten einer herrschaftlichen Ausrichtung zurück. Das Bankett, das Reichtum und Macht des Gastgebers zur Schau stellen soll, wird vor allem bei Krönungen zum Staatsakt.24 An den fürstlichen Tafeln hat eine alimentäre Selbstdarstellung von Herrschaft statt, deren demonstrative Sichtbarkeit zur höfischen Kultur der Repräsentation gehört.

Mit Norbert Elias, dem an Freud und Marx geschulten Theoretiker und Historiker des europäischen Zivilisationsprozesses, lässt sich namentlich am Einsatz, der Handhabung und Positionierung des Tafelwerkzeugs, der Esstechniken und Tischsitten die Formierung der höfischen Gesellschaft im Unterschied zum bäuerlichen und bürgerlichen Milieu aufzeigen, Techniken und Sitten, deren elitäre und zugleich pazifizierende Verhaltenscodes, Gesten, Gebärden, Manieren, »Affekt- und Peinlichkeitsstandards« – Ekel, Angst, Scham – im 19. und 20. Jahrhundert schließlich zum Modell und Alltagsritual für die ›ganze‹ Gesellschaft aufsteigen sollten. Die soziale und psychische Distanz, die die Beherrschung der Tischsitten und der Essgeräte zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten errichtet, prägt sie zugleich auch den höfischen Körpern im Verhältnis zu sich selbst und zu anderen Körpern auf, in deren Dunstkreis man sich möglichst nicht aufhält und mit denen auf Tuchfühlung zu gehen der einzelne, im Essen vereinzelte Körper vermeidet. An die Stelle des Essens mit den Fingern aus der gemeinsamen Schüssel treten Messer, Gabel, Löffel, der individuelle Teller und Becher, die in militärisch exakter Ordnung auf dem Tisch ausgerichtet sind und so Zwischenräume zwischen den Essenden, ja einen Raumcode der Mahlzeit schaffen. Bestecke wie Messer und Gabel sind geradezu »Inkarnationen« neu errichteter – innerer wie äußerer – Trieb- und Körperschranken.25 Esswerkzeuge verlangsamen nicht nur die Nahrungsaufnahme und verkleinern die je verinnerlichte Nahrungsmenge; das Aufkommen der individuellen Gedecke verhindert auch Unmittelbarkeit, schaltet »jede sichtbare Berührung der gemeinsam verzehrten Speise, jede Kontamination mit [den] Körperausscheidungen« der Mitessenden aus.26

So heißt es in französischen und englischen Etiquettebüchern seit dem 15. Jahrhundert: »Man soll das Stück, das man schon im Munde gehabt hat, nicht wieder auf die allgemeine Schüssel legen. […] Man soll sich nicht bei Tisch in die Hand schneuzen. […] Reinige die Zähne nicht mit dem Messer. Spucke nicht auf oder über die Tafel.« Man soll, sagt wiederum eine deutsche Tischzucht, »nur unter den Tisch und an die Wand spucken«. »Laß dich nicht bei Tisch gehen […] Wisch dir die Lippen ab, bevor du trinkst.« Denn stets trinken mehrere Personen aus einem Becher. »Wenn du Brot in den Wein getunkt hast, trinke ihn aus oder gieße den Rest fort. Mache deine Zähne nicht mit dem Tischtuch sauber. Biete nicht den Rest deiner Suppe an oder das Brot, von dem du schon abgebissen hast, schneuz dich nicht zu laut. Schlaf nicht bei Tisch ein.«27 An der höfischen Tafel muss der offene dem geschlossenen Körper weichen: Schmatzen, Schlürfen, Saugen, Beißen und andere Körperäußerungen überschreiten die neu gesetzten und in der Folge habitualisierten Scham- und Peinlichkeitsgrenzen. Richtet die Aristokratie ihr elitäres Regelwerk bei Tisch und die Ästhetisierung der Tafel gegen das aufstrebende Bürgertum und dessen barbarische Tischsitten, so erfindet sich dieses mit Salon, Kaffeehaus- und Tischgesellschaft28 seine eigene halböffentliche, halbprivate Ess- und Geselligkeitskultur, zu der Kants Kritik der Tischgesellschaft und Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens das theoretische Konzept geliefert haben.

Die Tischgenossen sind nicht von Natur aus, nicht von Rechts wegen, sondern aufgrund der gemeinsamen kulturellen Praxis der Mahlzeit miteinander verbunden: »Feinschmeckerei ist ein Hauptband der Gesellschaft.«29 Hier drängt sich das Problem der gemeinschaftsstiftenden Funktion der Mahlzeit diesseits des aristotelischen zoon politikon und des hobbesschen Vertragskonstrukts einschließlich der Frage auf, aus welchem Grund die Tischgesellschaft als Modell, Metapher, Supplement, politische Lebensform und kulturelle Praxis von Gemeinschaft, Sozialität und Mitsein philosophisch bisher weitgehend unbeachtet geblieben ist. Schematisch gesagt, lassen sich dafür das antikulinarische Selbstverständnis und die anorektische Körperfeindlichkeit der abendländischen Philosophie in Anschlag bringen. Aber auch die aristotelische Unterscheidung zwischen Oikos und Polis als Differenz zwischen dem bloßen und dem guten Leben trägt das Ihre zur Marginalisierung der Mahlzeit bei, die in den rechts- und staatsorientierten Theorien der Neuzeit eine Fortsetzung findet. Essen gilt als private, nichtöffentliche und der bloßen Selbsterhaltung dienliche Handlung.

Erst die junge Disziplin der Soziologie entdeckt auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert die sozialitätsbildenden und kulturalisierenden Dimensionen der Tischgesellschaft. In seinen Überlegungen zu einer Soziologie der Mahlzeit setzt Georg Simmel auf die polare Spannung zwischen dem Egoistischen und Gemeinsamen einerseits und dem Niedrigen (Sinnlichen) und Höheren (Vergeistigten) andererseits.30 Die Notwendigkeit des Essens und Trinkens sei nicht nur das allen Menschen Gemeinsame, sondern, wie Simmel in einer sprachlichen Überbietung unterstreicht, »das Gemeinsamste« überhaupt. Zugleich aber sei dieses universale alimentäre Faktum auch das »Egoistischste«, das »am unbedingtesten und unmittelbarsten auf das Individuum Beschränkte«. Dabei verleiht er dem semantischen Gehalt des Wortes »Egoismus« einen durchaus neuen Sinn, wenn er hervorhebt, dass dasjenige, »was der einzelne ißt, […] unter keinen Umständen ein anderer essen [kann]« (SdM 140). Das schließt nicht nur die Aufnahme derselben Substanz im identitätslogischen Sinne, sondern, was noch entscheidender ist, die Teilung derselben alimentären Substanz strikt aus, die jeweils nur von einem Einzigen konsumiert zu werden vermag. Während das vom einzelnen Individuum Gesehene oder Gedachte der Mitteilung fähig und daher mit Anderen teilbar sei, bedeute die Nahrungsaufnahme des Einen den faktischen Nahrungsverzicht des Anderen. Erstaunlicherweise sitzt dieser trennenden Gemeinsamkeit, die das Egoistischste der Menschen ausmacht, die Institution der Tischgemeinschaft auf. Mit ihrer Hilfe gelingt es, an die »exklusive Selbstsucht des Essens eine Häufigkeit des Zusammenseins, eine Gewöhnung an das Vereinigtsein [zu knüpfen]«, wie es wohl keine andere kulturelle Institution und »geistige Veranlassung« je vermag. Darin liegt für Simmel die »unermeßliche soziologische Bedeutung der Mahlzeit«, dass sie nämlich dem radikal Egoistischen einen sozialen Sinn verleiht, indem sie der Sozialisierung und Kulturalisierung des Individuums einschließlich seiner »stofflichen Interessen« Vorschub leistet (SdM 141). Der »ungeheure soziale Wert« der Mahlzeit zeigt sich für Simmel ex negativo, nämlich in den auf die Bildung von Tischgemeinschaften mit bestimmten Personen zielenden Verboten innerhalb der europäischen Kulturgeschichte. Dadurch nimmt sie den Charakter einer geschlossenen Gemeinschaft an, die sich auf den Ausschluss gründet und die Gesetze der Gastfreundschaft lädiert. »So bestimmt die Cambridge Guild im elften Jahrhundert eine hohe Strafe für den, der mit dem Mörder eines Gildebruders ißt«; das Wiener Konzil von 1267 verbietet den Christen die Tischgemeinschaft mit den Juden. Im mittelalterlichen Gilde- und Vertragswesen, wo das gemeinsame Mahl rechtliche Kooperationen besiegelt und der Gilde ihre Identität sichert, erweist sich die Mahlzeit für Simmel hingegen als eine Art »Symbol, an dem sich die Sicherheit des Zusammengehörens immer von neuem orientiert« (SdM 141). Die Mahlzeit ist eine stete Initiation in die Gesellschaft (der am Tisch Vereinten) und verleiht allererst, wie man im Anschluss an Marcel Mauss sagen könnte: »die Fähigkeit zu essen«.31 Der Fortschritt, an dem Simmel den Prozess der europäischen Zivilisation bemisst, ist die allmähliche »Überwindung des Naturalismus des Essens« durch Tischordnung, Essgerät und Tischdekoration. Soziologisches Gewicht erlangt die Mahlzeit in dem Maße, wie sie einer überindividuellen Regulierung, Stilisierung und Ästhetisierung der Nahrungsaufnahme stattgibt. Man kann sich allerdings fragen, ob die radikale und ursprüngliche Kluft, die Simmel hier zwischen dem unteilbaren Individuum und der Gemeinschaft aufreißt, um sie hernach durch die Institution der Mahlzeit zu überbrücken, nicht dem naturalistischen Vorurteil des Hungers und seiner »physiologischen Primitivität« (SdM 141) aufsitzt. Muss das Individuum – sieht man einmal von der Kultivierung der Nahrungsaufnahme ab – tatsächlich erst in Gemeinschaft mit Anderen essen lernen und sozialen Umgang mit seinem monadisch eingeschlossenen, egoistischen Hunger üben? Oder ragt die intersubjektive alimentäre Beziehung nicht vielmehr von Anfang an in das Individuum hinein, um es aufzubrechen (wie man Brot bricht), um es zu teilen (wie man die Nahrung teilt) und dadurch zur alimentären Gabe zu nötigen und zur Schenkung zu befähigen?

Simmel ist nicht an der »Speise als Materie« und ihrem sinnlichen Geschmack, das heißt auch nicht an der Frage der Kunst ihrer Zubereitung, der sozialen Position des Kochs und Gastgebers, sondern ausschließlich an der »Form ihrer Konsumierung« (SdM 142) interessiert, also an dem, was der Mahlzeit Regel, Stil und eine gewisse Eleganz verleiht und so die »primitive« Sinnlichkeit des Essens und das egoistische Bedürfnis des Hungers kulturell und sozial überformt. Die zeitliche Ordnung, die den Tag nach unterschiedlichen Mahlzeiten gliedert, bedeutet für Simmel die erste (1) regulative »Überwindung des Naturalismus des Essens«; dazu gesellt sich (2) eine weitere formale Norm, die »die Hierarchie der Mahlzeit« betrifft und die, je nach lokaler Gemeinschaft verschieden, die Reihenfolge festlegt, in der sich die Teilnehmer von der Speise bedienen dürfen (SdM 142). Die Stilisierung der Nahrung wirke (3) zurück auf die sozialisierende Bedeutung der Mahlzeit, da hierfür ein ästhetischer Aufwand erforderlich sei, zu dem der Einzelne allein nicht imstande wäre. Distanz zum Essen und zur »reservelosen Begierde« gewinne die Institution der Mahlzeit schließlich (4) auch durch »die Regulierung der Eßgebärde«, die zunächst nur in der höheren Gesellschaft, nicht aber in den niederen Ständen eine Beherrschung von Sinnlichkeit und Materialität bewirke. Zu solch »typischen Regulativen« zählt Simmel ebenso wie Norbert Elias die Handhabung von Messer und Gabel, Zurückhaltung bei körperlichen Äußerungen des Wohlbehagens und die thematische Strukturierung der Tischunterhaltung (SdM 145f.). Das Entscheidende dieser »überpersönlichen Regulierung« und »sozialen Normierung« des Essens sieht Simmel indes (5) im Gewinn einer »Freiheit des Individuums«, die sich mit dem »naturalistischen Individualismus« des Essens gerade nicht in Deckung bringen lässt. Gegenüber der »weniger eifersüchtigen« Form der Schüssel, aus der sich alle gemeinsam bedienen, billigt der geschlossene Kreis des Tellers jedem seinen Anteil innerhalb eines gegliederten Ganzen zu. Damit aber findet sich der »symbolische Individualismus« des Tellers zugleich in einer »höheren formalen Gemeinsamkeit«, nämlich in der demokratischen Gleichartigkeit aller Teller wieder aufgehoben, deren Design keine Individualität verträgt (SdM 143f.).

Was ist der soziologische Sinn der kulturellen Institution der Tischgemeinschaft? Simmel ist es ersichtlich um die Verwindung des alimentären Egoismus bzw. des »naturalistischen Individualismus« durch die mit dem höheren Ganzen der Mahlzeit verbundenen sozialen Regulierungen und Normierungen zu tun, die erst eine gewisse Freiwerdung des Individuums von der Bürde niedriger Bedürftigkeit ermöglichen und somit eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Freiheit des Individuums bezeichnen sollen. Aufgrund der mythischen Identifizierung des Brotes mit dem Leib Christi gesteht Simmel dem Abendmahl das einzigartige Privileg zu, »die wirkliche Identität auch des Verzehrten« und damit die höchste Ordnung einer austeilenden Gerechtigkeit und egalitären Gemeinschaft begründet zu haben, in der jeder am Ganzen partizipiert, ohne dem Anderen dieses Ganze vorzuenthalten. Für Simmel bezeichnet das Abendmahl das Telos einer jeden Mahlzeit, insofern dabei eine Teilung ohne Teilung stattfindet: »Denn hier, wo nicht jeder ein dem andern versagtes Stück des Ganzen zu sich nimmt, sondern ein jeder das Ganze in seiner geheimnisvollen, jedem gleichmäßig zuteilwerdenden Ungeteiltheit, ist das egoistisch Ausschließendste jedes Essens am vollständigsten überwunden.« (SdM 141) Offenkundig scheint Simmel von der teleologischen Warte eines universalen Abendmahls aus besehen den substanziellen Sinn jeder Mahlzeit, nämlich die Teilung und Unvertretbarkeit der Nahrung (dass niemand anderer an meiner Stelle jene Nahrung essen kann, die ich mir soeben in den Mund schiebe), die er selbst zunächst so überpointiert herausgearbeitet hatte, zu verfehlen, wenn er auf deren Überwindung durch die allseitige und ungeteilte Konsumtion des mythischen Leibs Christi als »Ganzes« zielt. Damit stellt sich die Frage nach dem Essensgut und dem Guten des Essens.

II.3 Das Gute des Essens

Die Tischgesellschaft aus kulturwissenschaftlicher Sicht zum Leitfaden eines Denkens der Gemeinschaft machen zu wollen kann in historischer Absicht womöglich noch plausibel erscheinen.32 Mit dem Verschwinden der Institution der Mahlzeit sowie dem Praxisverlust einer alltagstauglichen Küche respektive Kochkunst scheint sich die Frage der Essgemeinschaft in systematischer Perspektive jedoch bereits wieder erledigt zu haben. Die drei Hauptmahlzeiten sind den sogenannten Zwischenmahlzeiten gewichen, und dank der supplementären Einverleibung von Kaugummis, Snacks, Süßigkeiten, Nikotin usf. befindet sich der introjektive Durchschnittsmensch der westlichen Esskultur in einem Zustand beinahe ununterbrochener oraler Aktivität, in dem er alles, auch und gerade das Nichtalimentäre, in sich hineinstopft.33 Dabei scheint sich das Essen auf nichts anderes mehr als auf sich selbst und auf eine orale, autoerotisch gewordene Sexualität zu stützen, während sie sich zugleich als introjektives Modell von Erfahrung und Intersubjektivität, Aktivität und Rezeption, überhaupt anbietet. An die Stelle der Essgemeinschaft tritt zunehmend das vereinzelte Essen, die isolierte Nahrungsaufnahme auf öffentlichen Plätzen, das einsame Mahl vor dem Fernseher und der Konsum von Kochsendungen. Mahlzeiten im Familien-, Verwandtschafts- und Freundeskreis stellen dagegen zunehmend alimentäre Ausnahmeereignisse dar.

Soziale Einöde, alimentäre Wüste, Anorexis oder Adipositas: Vielleicht leben wir in einer Zeit, in der sich die kulturelle Institution der Essgemeinschaft (rituell, sozial, politisch) erschöpft und die ihr eigene Bedeutung sowohl im Hunger der Welt als auch in der einsamen Mahlzeit entblößt hat. Die Essgemeinschaft ist die tägliche Miteröffnung des Miteinanderdaseins, die Menschen am selben Ort zu gleicher Zeit zusammenführt. Sie rührt an das Gemeinsame der gemeinsamen Erfahrung des Essens und der Unterhaltung und vermag ihre Teilnehmer zumindest für die Dauer der Mahlzeit miteinander zu verbinden. Allerdings gibt es keine Gemeinschaft ohne eine Teilung ihrer Mit-Glieder, keine Verbindung ohne deren ursprüngliche Trennung. Die Essgemeinschaft ist in sozialer Hinsicht immer schon überdeterminiert, da sie die beiden gegensätzlichen intersubjektiven Ereignisse der Teilung und Zusammenfügung, der Trennung und Verbindung, auf kulturell sehr unterschiedliche Weise aufeinandertreffen lässt. Was der Einzelne jeweils isst, können alle anderen unter keinen Umständen essen, das hatte Simmel betont (SdM 140). Mit der Aufnahme unserer je eigenen Portion stillen wir unseren eigenen, nicht aber fremden Hunger. Der eigene Hunger lässt keine Delegation und Stellvertretung zu. Die singuläre Aufnahme der Nahrung vereinzelt und teilt uns rückhaltlos. Dieser Modus der Teilung schlägt sich im Schmerz des Hungers oder beim einsamen Essen, aber auch in den proxemischen Raumcodes der Tischordnungen, den separierenden Esswerkzeugen nieder. Die Vereinzelung, das einsame Essen erscheint also – mehr oder weniger hervorgehoben – immer auch inmitten der Essgemeinschaft und ist Bestandteil jeder gemeinsamen Mahlzeit. Zugleich aber teilen wir etwas, wenn wir gemeinsam und nicht alleine essen: Wir teilen uns die Nahrung, ihre Menge und ihren Wohl- (oder Nicht-)Geschmack. Wir teilen das Erlebnis unseres Zusammenseins und unserer Unterhaltung. Diese Teilung im doppelten Sinne teilt die Tischgenossen und führt sie zugleich zusammen. Nur ursprünglich voneinander getrennte Wesen, die nicht zur gleichen Zeit am selben Ort leiblich »hier« sein können, haben das Begehren, miteinander da zu sein. Zusammensein kann nur das Getrennte, gesellig sein kann nur das Ungesellige.

Der Skandal des ungestillten Hungers und das einsame, isolierte Essen haben die eine Seite der alimentären Teilung symptomatisch offengelegt, um damit die andere Seite, nämlich die gemeinsame Teilung der Nahrung im Modus ihres Fehlens nur umso deutlicher hervortreten zu lassen. Gerade die auf das Banalste reduzierte Tischunterhaltung zeigt jedoch, zumindest dort, wo sie noch stattfindet – etwa wenn sich zwei unbekannte Esser zufällig vor einer Imbissbude, am Arbeitsplatz oder auf einem öffentlichen Platz begegnen –, dass es in der Unterhaltung bei Tisch um nichts anderes als um die Unterhaltung des prekären Mitseins und der Unterhaltung selbst geht: »Auch wieder hier?«, »Na dann Mahlzeit!«, »Ja, guten Hunger!«, »Schmeckt’s?«

Vielleicht existiert das Mitsein nicht zuletzt als Begehren nach dem Anderen. Dasjenige, was Malinowski einst als »phatische Kommunion«34 bezeichnet hat, wäre dann nichts anderes als der Versuch, dem (alimentären) Mit Gestalt zu verleihen und es als solches zu unterhalten. Das Mit, das von sich aus über keinerlei »stabile Substanz«35 verfügt, bleibt zwischen und unter uns: nämlich als Begehren, mit Anderen zu sprechen, zu trinken und zu essen.