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© Gabriele Swiderski

Ulrich Maske, geboren in Hannover, arbeitete nach seinem Studienabschluss als Diplompsychologe und als Musikproduzent mit Hannes Wader, Zupfgeigenhansel sowie vielen international namhaften Folk- und Jazzmusikern. Zudem produzierte er Hörbücher und Hörspiele für Kinder und Erwachsene. Seine Produktionen erhielten zahlreiche Auszeichnungen. Ulrich Maske schreibt als Text- und Musikautor Bücher, Kinderlieder, Reime und Gedichte, die neben seinen Hörspiel-, Hörbuch- und Musikproduktionen bei JUMBO erscheinen. Als Programmleitung des JUMBO Verlags verantwortet er die Programme JUMBO, Goya libre und GoyaLiT. Er lebt in Hamburg.

Bernhard Oberdieck wurde 1949 in Oerlinghausen in Westfalen geboren. Früh entwickelte er eine Faszination für das Zeichnen und Malen. Nach seiner Berufsausbildung zum Lithographen studierte er Freie Grafik und Visuelle Kommunikation an der Fachhochschule Bielefeld. Nach dem Studium arbeitete er zunächst als Kunsterzieher und in verschiedenen Werbeagenturen. Parallel war er zu dieser Zeit bereits freiberuflich als Illustrator tätig. Mittlerweile hat er über 300 Bücher für deutsche und internationale Verlage illustriert. Bernhard Oberdieck lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Oberbayern.

ISBN 978-3-8337-3482-3

Das gleichnamige Buch (ISBN 978-3-8337-3482-3) und Hörbuch (ISBN 978-3-8337-3513-4), gesprochen von Stefan Kaminski und mit Musik von Ulrich Maske, sind im JUMBO Verlag erschienen.

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Inhalt

Mowglis Bruder

Die Ratsversammlung

Balus Lehrsätze

Mowgli und die Affen

Kaas Jagdtanz

Die rote Blume

Das Dorf der Menschen

Zeit für den Tiger

Heimkehr

(Hör-)BuchErlebnisse von JUMBO

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Mowglis Bruder

Es wurde Abend in den Sionibergen, aber noch immer war es schwül. Vater Wolf erwachte, gähnte und reckte sich. Neben ihm lag Mutter Wolf mit ihren vier Jungen. Das Mondlicht schien in ihre Höhle. »Zeit, auf Jagd zu gehen«, knurrte Vater Wolf. Er wollte gerade hügelabwärts springen, da sah er am Höhleneingang einen kleinen Schatten. Der säuselte: »Glück sei mit dir, Häuptling der Wölfe!« Es war Tabaqui, der Schakal. Die Wölfe in Indien verachteten ihn. Er streifte überall hungrig umher, fraß die Abfälle der Menschen, erzählte böse Geschichten und stiftete Unheil.

»Komm herein und sieh dich um«, sagte Vater Wolf. »Zu fressen findest du hier nichts.« Tabaqui schlich ins Innere der Höhle und fand dort einen Knochen mit winzigen Fleischresten. Er knabberte daran und schmatzte: »Ein Festschmaus!« Bald leckte er sich die Lippen und bedankte sich überschwänglich. Dann plötzlich klang er boshaft: »Schir Khan, der Tiger, der Gewaltige, wird ab jetzt hier in diesen Hügeln jagen, wie er mir sagte.«

»Dazu hat er kein Recht!« Vater Wolf wurde zornig. »Nach dem Gesetz des Dschungels darf er nicht einfach seine Jagdgründe wechseln. Er würde hier in weitem Umkreis alles Wild verscheuchen, und ich muss jetzt schließlich für eine ganze Familie jagen.«

»Schir Khans Mutter nannte ihn Langri, den Lahmen«, warf nun Mutter Wolf ein. »Er wurde mit einem lahmen Fuß geboren. Darum reißt er auch nur die Rinder im Dorf am Waingunga-Fluss. Kein Wunder, dass ihn die Menschen von dort vertreiben wollen. Und wenn er hierher kommt, werden die Menschen den Dschungel in Brand setzen und wir müssen mit unseren Jungen flüchten. Da sind wir dem großen Schir Khan aber sehr dankbar!«

»Soll ich ihm vielleicht euren Dank überbringen?«, grinste der Schakal. »Raus mit dir, geh zu deinem Herrn und Meister!«, knurrte Vater Wolf. »Ich gehe ja schon«, sagte Tabaqui ruhig. »Da, hört ihr ihn? Schir Khan, unten im Dickicht.«

Vater Wolf spitzte die Ohren. Im Tal winselte ein Tiger, der nichts erjagt hatte und dem es egal war, wenn alle im Dschungel es erfuhren.

»Dieser Verrückte!«, knurrte Vater Wolf. »Nachtarbeit mit solchem Lärm! Glaubt er, dass unsere Böcke so dumm sind wie seine fetten Ochsen am Waingunga-Fluss?«

»Still!«, sagte Mutter Wolf. »Hörst du denn nicht? Der hetzt heute kein Tier … den Menschen jagt er!«

Das Gewinsel des Tigers ging nun über in ein lang gezogenes Schnurren – laut und doch unbestimmt, als käme es aus allen Richtungen zugleich. Das lässt das Blut der Menschen erstarren, vor Angst rennen sie davon, oft gerade hinein in den Rachen des Tigers.

Das Gesetz des Dschungels verbietet den Tieren, Menschen anzugreifen. Es gibt nur eine Ausnahme: wenn ein Tier seine Jungen das Jagen lehrt. Das aber darf niemals in den Jagdgründen des eigenen Rudels geschehen. Denn wenn ein Mensch getötet wird, kommen andere mit Gewehren und Fackeln auf Elefanten geritten und rächen ihn. Immer lauter erklang das Schnurren, bis es plötzlich in einem scharfen »Aaaoh!« endete, als der Tiger sprang. Dann hörte man Schir Khan heulen und maunzen. »Er hat sein Opfer verfehlt«, sagte Mutter Wolf.

Vater Wolf trabte ein paar Schritte vor die Höhle und brummte: »So ein Dummkopf. In das Feuer eines Holzfällers ist er gesprungen und hat sich die Pfoten verbrannt! Tabaqui ist bei ihm.«

»Da kommt etwas den Hügel herauf«, flüsterte Mutter Wolf.

Im Gebüsch raschelte es leise, und Vater Wolf machte sich zum Sprung bereit. Aber gleich staunte er: »Ein Menschenjunges!«

Vor ihm stand ein nackter, brauner, lockiger Junge, der eben erst laufen gelernt hatte. Er sah dem Wolf ins Gesicht und lachte.

»Ich habe noch nie ein Menschenjunges gesehen. Bring es her!«, bat Mutter Wolf. Vater Wolf trug den strampelnden Kleinen zwischen seinen Zähnen, ganz sanft und vorsichtig, ohne ihn auch nur zu ritzen, und legte ihn zu seinen eigenen Jungen.

»Wie winzig und – wie tapfer!«, sagte Mutter Wolf sanft.

Da plötzlich wurde es dunkel in der Höhle. Der Mond schien nicht mehr herein. Tabaqui kreischte: »Hier, mein Gebieter, ist es hineingegangen.« Schir Khans mächtiger Kopf schob sich in den Eingang.

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»Welch große Ehre!«, sagte Vater Wolf, doch seine Augen funkelten zornig. »Was wünscht Schir Khan?«

»Meine Beute! Das Menschenjunge. Gib es heraus! Es gehört mir!«

Der Schmerz in den verbrannten Pfoten machte Schir Khan rasend. Aber Vater Wolf wusste, dass die Öffnung der Höhle zu klein für den Tiger war. Der glich einer wütenden Katze, die vergeblich versucht, in ein Mauseloch zu dringen.

»Wir Wölfe sind ein freies Volk«, entgegnete der Wolf. »Unsere Befehle nehmen wir nur vom Anführer des Rudels, aber nicht von irgendeinem gestreiften Viehmörder. Und das Menschenjunge gehört uns.«