Eine wie wir

 

 

Und für Benji, den es wirklich gibt und der mir geduldig erlaubt hat, dieses Buch zu schreiben.

Im silbrigen Mondlicht schimmert unsere Haut wie Knochen. Nach dem Halloweenball nackt im eisigen Wasser des North Lake zu baden, ist eine Tradition an der Bates Academy, obwohl nicht viele Schülerinnen den Mut dazu haben. Vor drei Jahren war ich die erste Neuntklässlerin, die nicht nur hineingesprungen ist, sondern auch so lange unter Wasser blieb, bis die anderen dachten, ich sei ertrunken. Was nicht meine Absicht gewesen war.

Ich bin gesprungen, weil ich es konnte, weil ich gelangweilt war, weil eine aus der Zwölften sich über mein armseliges Ramschladenkostüm lustig gemacht hatte und ich beweisen wollte, dass ich besser war als sie. Ich bin bis zum Grund getaucht, vorbei an Moosbüscheln und seidigen Laichkrautstängeln. Und dort verharrte ich, vergrub meine Finger im weichen, bröckligen Schlamm, bis meine Lunge sich verkrampfte, denn obwohl das eiskalte Wasser wie Messerklingen in die Haut stach, war es völlig still. Es war friedlich. Es war, wie in einem dicken Eisblock eingeschlossen zu sein, sicher und beschützt vor der Welt. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich dort geblieben. Aber mein Körper ließ das nicht zu. Ich brach durch die

Jetzt sind wir in der Zwölften und keine aus der Neunten hatte sich getraut mitzukommen.

Meine beste Freundin, Brie Matthews, läuft voraus, ihr geschmeidiger Star-Läuferinnen-Körper schneidet durch die Nachtluft. Normalerweise ziehen wir uns unter den dornigen Büschen am Seeufer neben dem Henderson-Wohnheim aus. Das ist unser traditioneller Treffpunkt, nachdem wir sonst immer in einem unserer Zimmer vorgeglüht haben und dann, immer noch verkleidet, gemeinsam über den Rasen zum See gestolpert sind. Aber Brie hat heute Abend ein vorzeitiges Aufnahmeangebot von Stanford erhalten und ist deshalb völlig aus dem Häuschen. Sie bestand darauf, dass wir uns zehn Minuten vor Mitternacht mit ihr treffen, was uns gerade genug Zeit zwischen Ball und Baden ließ, um unsere Wertsachen und unseren Anhang loszuwerden und uns mit Erfrischungen zu beladen. Sie wartete am Rand des Rasens auf uns, nur mit einem Bademantel bekleidet und einem freudestrahlenden Grinsen im Gesicht. Ihre Wangen waren gerötet und ihr Atem heiß und süß vom Apfelwein. Sie ließ den Bademantel fallen und sagte: »Traut euch doch!«

Tai Carter rennt direkt vor mir und hält sich die Hände vor den Mund, um sich das Lachen zu verkneifen. Sie trägt immer

Ich will gerade zum Endspurt über das tote Moos ansetzen, das sich vom Notausgang des Henderson-Wohnheims bis zum Ufer des Sees erstreckt, als ich Brie schreien höre. Tai stoppt abrupt, aber ich dränge mich an ihr vorbei auf das Geräusch von spritzendem Wasser zu. Bries verzweifelt ansteigende Stimme überschlägt sich fast, während sie immer wieder und immer schneller meinen Namen ruft. Ich presche durch das Gebüsch, Dornen reißen weiße und rote Streifen in meine Haut. Dann greife ich nach ihren Händen, zerre sie hoch und aus dem See.

»Kay …«, haucht sie an meinem Hals, ihr tropfnasser Körper zittert heftig, ihre Zähne klappern. Mein Herz klopft wild gegen meinen Brustkorb, während ich sie nach Blut oder Schnitten absuche. Ihr volles schwarzes Haar klebt feucht an ihrem Schädel, ihre glatte braune Haut ist – anders als meine – unversehrt.

Plötzlich nimmt Tai meine Hand und drückt sie so fest, dass meine Fingerspitzen taub werden. Ihr Gesicht, normalerweise zwischen einem echten und einem spöttischen Grinsen gefangen, ist seltsam leer und starr. Ich drehe mich um und ein merkwürdiges Gefühl überkommt mich, als würde sich meine Haut Zelle für Zelle in Stein verwandeln.

»Geht und holt unsere Sachen«, flüstere ich.

Jemand hinter uns huscht davon, trockenes Laub wirbelt auf.

Bruchstücke des Mondlichts liegen wie zersplittertes Glas auf der Wasseroberfläche. Am Ufer reicht ein Gewirr aus Wurzeln bis ins seichte Wasser. Die Leiche treibt nicht weit von uns entfernt nur wenige Zentimeter unter Wasser, ein Mädchen mit blassem, nach oben gerichtetem Gesicht. Ihre Augen sind geöffnet, ihre Lippen weiß und offen, ihr Gesichtsausdruck wirkt wie benommen, aber das ist nicht alles. Ein elegantes weißes Ballkleid ist wie eine Blüte um sie ausgebreitet. An ihren nackten Armen reichen lange Schnitte bis zu den Handgelenken. Mit halbem Bewusstsein zucke ich zusammen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre.

Maddy Farrell, die Jüngste von uns, hält mir mein Kleid hin. Ich nicke steif und ziehe mir das lockere schwarze Hängerkleid über den Kopf. Ich bin Daisy Buchanan aus Der große Gatsby, aber mein Kleid gehört eigentlich zu dem Kostüm, das Brie letztes Jahr getragen hat, und ist eine Nummer zu groß für mich. Jetzt wünschte ich, ich hätte mich als Astronaut verkleidet. Ich bin nicht nur halb erfroren, sondern fühle mich auch nackt und schutzlos in dem hauchdünnen Teil.

»Was sollen wir jetzt machen?« Maddy schaut mich fragend an. Doch ich kann meinen Blick nicht vom See abwenden und ihr antworten.

»Ruf Dr. Klein an«, sagt Brie. »Sie wird die Eltern informieren.«

Ich zwinge mich, Maddy anzusehen. Ihre weit auseinanderstehenden Augen glänzen vor Tränen, dunkle Streifen laufen über ihre Wangen. Ich streiche beruhigend über ihr weiches goldenes Haar, ohne eine Miene zu verziehen. Dabei hämmert

»Die Schule kommt zuerst. Dann die Cops«, sage ich. Es ist schlimm, wenn Eltern aus den Nachrichten erfahren, dass das eigene Kind tot ist, bevor sie angerufen werden. Auf diese Weise hat mein Vater von meinem Bruder erfahren. Das war bezeichnend.

Maddy holt ihr Handy heraus und wählt die Nummer der Schulleiterin, während der Rest von uns auf den toten Mädchenkörper starrt. Mit den offenen Augen und den geöffneten Lippen, als wollte sie etwas sagen, sieht sie beinahe lebendig aus. Aber nur beinahe. Es ist nicht die erste Leiche, die ich je gesehen habe, aber die erste, die scheinbar meinen Blick erwidert.

»Kennt sie jemand von euch?«, frage ich schließlich.

Niemand antwortet. Unglaublich. Wir sechs, jeder für sich, besitzt wahrscheinlich mehr soziales Kapital als der Rest der Schülerschaft zusammen. Gemeinsam müssten wir eigentlich jede einzelne Schülerin kennen.

Und auf dem Halloweenball sind nur Schülerinnen erlaubt. Zu anderen Veranstaltungen dürfen wir Jungs und andere Verabredungen von außerhalb des Campus mitbringen. Das Mädchen im See ist in unserem Alter, stilvoll gekleidet und geschminkt. Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor, aber ich kann es nicht einordnen. Besonders nicht so. Ich beuge mich vor, verschränke die Arme, damit ich nicht so heftig zittere, und werfe einen genaueren Blick auf ihre Handgelenke. Ein grausiger Anblick, aber ich finde, wonach ich suche: ein dünnes, neonfarbenes Plastikbändchen.

Tricia starrt auf das leicht gekräuselte Wasser des Sees, ohne den Kopf weit genug zu heben, um den Anblick der Leiche noch einmal ertragen zu müssen. »Ich hab sie schon mal gesehen. Sie geht hier zur Schule.« Gedankenverloren dreht sie ihre seidigen schwarzen Haare zusammen und lässt sie dann über die perfekte Kopie des Ballkleides von Emma Watson in Die Schöne und das Biest fallen.

»Jetzt nicht mehr«, sagt Tai.

»Nicht witzig.« Brie funkelt sie böse an, aber früher oder später musste jemand etwas gegen die angespannte Stimmung tun. Es bringt mich wieder ein bisschen zu mir. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie sich die Dicke der Eiswände verdoppelt und verdreifacht, bis kein Platz mehr ist für die Sirenen in meinem Kopf, kein Platz mehr für mein Herz, um in einem völlig chaotischen Rhythmus zu klopfen.

Ich stehe jetzt aufrechter da und mustere Maddys Kostüm – Rotkäppchen mit einem skandalös kurzen Kleid und einem warmen Umhang.

»Kann ich mir deinen Umhang borgen?« Ich strecke einen Finger aus, sie schiebt den Umhang von ihren blassen, knochigen Schultern und reicht ihn mir. Ich fühle mich nur ein bisschen schlecht dabei. Es ist kalt und ich bin ein Jahr älter. Irgendwann ist sie an der Reihe.

Eine heulende Sirene erfüllt die Luft und rot-blau blinkende Lichter rasen über den Campus auf uns zu.

»Das ging schnell«, murmele ich.

»Klein hat wahrscheinlich beschlossen, auch die Cops zu informieren«, sagt Brie.

Cori taucht aus der Dunkelheit auf. Sie umklammert eine

Maddy wärmt sich mit ihren Armen. »Tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht.«

»Typisch Notorious«, sagt Tai und schüttelt den Kopf.

Maddy starrt sie wütend an.

»Ist doch egal. Sie wird auch bald hier sein.« Brie legt einen Arm um Maddy. Ihr Bademantel sieht dick und weich aus und Maddy schmiegt ihre Wange dagegen. Ich verenge die Augen zu Schlitzen und will ihr den Umhang zurückwerfen, schieße jedoch weit übers Ziel hinaus, sodass er im See landet.

Tai stochert mit einem Ast nach dem durchnässten Haufen, fischt ihn schließlich heraus und klatscht ihn mir vor die Füße. »Ich erinnere mich an sie. Julia … Jennifer … Gina?«

»Jemima? Jupiter?«, blaffe ich sie an und wringe den Umhang so gut es geht aus.

»Wir wissen ihren Namen nicht und zuerst hat sie nicht mal jemand erkannt«, sagt Brie. »Es wäre irreführend, wenn wir der Polizei erzählen, dass wir wüssten, wer sie ist.«

»Ich kann ihr nicht ins Gesicht sehen. Sorry. Ich kann einfach nicht. Also …« Maddy steckt die Arme in ihr Kleid und sieht mit ihrer kreidebleichen Haut und der verschmierten Wimperntusche wie eine gruselige, armlose Puppe aus. »… sollen wir lügen?«

Brie schaut mich Hilfe suchend an.

»Ich glaube, das hat Brie nicht gemeint. Wir sollten einfach sagen, dass wir sie nicht identifizieren können, und es dabei belassen.«

Die Campuspolizisten sind zuerst da, der Wagen bremst vor dem Henderson-Wohnheim ab, sie springen raus und preschen auf uns zu. So habe ich sie noch nie gesehen und es kommt mir auf eine erbärmliche Art beängstigend vor. Natürlich sind die beiden keine echten Cops. Ihr einziger Job ist es, uns umherzufahren und Partys aufzulösen.

»Beiseite, Ladys.« Jenny Biggs, eine junge Beamtin, die uns nach Dienstschluss oft über den Campus begleitet und gern ein Auge zudrückt, was unsere privaten Abendgesellschaften betrifft, scheucht uns aus dem Weg. Ihr Partner, ein echter Hüne von einem Officer, walzt an uns vorbei und watet ins Wasser. Ein bitterer Geschmack bildet sich auf meiner Zunge und ich grabe die Fingernägel in meine Handflächen. Es gibt keinen wirklichen Grund dafür, aber ich verspüre der Leiche gegenüber eine Art Beschützerinstinkt. Ich will nicht, dass er sie mit seinen behaarten Händen anfasst.

»Dürft ihr überhaupt einen Tatort betreten?«, raune ich Jenny in der Hoffnung zu, dass sie eingreift. Sie war in all den Jahren immer nett zu uns, hat Witze gemacht und es mit den Regeln nicht so genau genommen, fast wie eine große Schwester.

Sie sieht mich scharf an, aber bevor sie etwas erwidern kann, tauchen die echten Cops und ein Krankenwagen auf. Die Rettungssanitäter sind vor den Cops am See und einer von ihnen watet hinter Jennys Kollegen ins Wasser.

»Bleiben Sie weg vom Opfer!«, schnauzt eine Polizistin, eine groß gewachsene Frau mit einem starken Bostoner Akzent, die gerade zum Seeufer rennt.

Der Campusofficer, inzwischen hüfttief im Wasser, dreht sich um und stößt mit dem Rettungssanitäter zusammen.

»Die reinste Olympiade der Inkompetenz«, murmelt Tai.

Jenny wirkt leicht angefressen, winkt ihrem Kollegen aber zu, der den Rettungssanitäter widerstrebend am Arm packt. Sie begleiten ihn zum Ufer hinauf und werfen den echten Cops vernichtende Blicke zu. Die Polizistin, die die Rettungsaktion zurückgepfiffen hat, schaut uns plötzlich an. Sie hat ein spitzes Kinn, glänzende Knopfaugen und übertrieben gezupfte Augenbrauen, was sie wie eine Art halb fertige Übung aus einem Kunstkurs für Anfänger wirken lässt.

»Ihr seid also die Mädchen, die die Leiche gefunden haben.« Ohne auf eine Antwort zu warten, führt sie uns zum Wasser, während weitere Polizisten eintreffen und das Gebiet weiträumig absperren.

Brie und ich sehen uns fragend an und ich versuche, Jennys Blick aufzufangen, aber sie ist zu sehr damit beschäftigt, den Schauplatz des Geschehens abzusichern. Nach und nach kommen Schülerinnen aus den Wohnheimen. Sogar die Hausmütter – für jedes Wohnheim ist eine Erwachsene verantwortlich – treibt es nach draußen an den Rand der neu errichteten Sicherheitsgrenze aus Absperrband.

Die groß gewachsene Polizistin lächelt steif. »Ich bin Detective Bernadette Morgan. Wer von euch hat angerufen?«

Maddy hebt die Hand.

Detective Morgan zieht ein Smartphone aus ihrer Hosentasche und richtet es auf uns. »Ich habe ein schreckliches Gedächtnis, Mädchen. Was dagegen, wenn ich das aufzeichne?«

»Natürlich nicht«, sagt Maddy. Dann huscht ihr Blick mit einem entschuldigenden Ausdruck zu mir.

Detective Morgan verfolgt die Szene interessiert. Sie wirft

Tai starrt auf das Smartphone. »O mein Gott, ist das ein iPhone 4? Ich wusste gar nicht, dass die noch hergestellt werden. Oder dass es legal ist, Aussagen von Minderjährigen damit aufzunehmen.«

Das Lächeln der Polizistin hellt sich auf. »Zeugenaussagen. Habe ich eure Zustimmung oder sollen wir aufs Revier fahren und eure Eltern dazuholen?«

»Na, machen Sie schon«, sagt Tai und legt zitternd die Arme um sich.

Die anderen nicken, nur ich zögere eine Millisekunde. Jenny ist eine Sache, aber ansonsten vertraue ich Cops nicht besonders. Ich musste die halbe achte Klasse lang mit verschiedenen Polizisten reden und das war eine höllische Erfahrung. Andererseits würde ich eine Menge tun, um meine Eltern da rauszuhalten.

»Na schön«, sage ich.

Detective Morgan lacht. Es klingt nasal und bissig. »Bist du dir sicher?«

Die Kälte beginnt an mir zu nagen und ich kann nichts dagegen tun, dass meine Stimme vor Ungeduld und Ärger förmlich trieft. »Ja, sprich weiter, Maddy.«

Aber Bernadette ist noch nicht fertig mit mir. Sie zeigt auf Maddys nassen, zusammengeknüllten Umhang in meinen Händen. »Hast du den aus dem Wasser geholt?«

»Ja, aber er war noch nicht im See, als wir hier ankamen.«

»Wie ist er dorthin gekommen?«

Ich spüre, wie mein Gesicht trotz der nächtlichen Kälte ganz warm wird. »Ich habe ihn reingeworfen.«

Die Polizistin saugt ihre Wange ein und nickt. »Wie man das

Shit. So fängt es an. Mit Kleinigkeiten wie dieser. Ich halte ihr den Umhang hin, aber sie ruft über ihre Schulter nach einem Kollegen. Ein kleiner Mann mit blauen Nitrilhandschuhen kreuzt auf und steckt den Umhang in eine Plastiktüte.

Sie dreht sich wieder zu Maddy um. »Und jetzt von Anfang an.«

»Wir sind zum Schwimmen hier rausgekommen. Brie ist vorneweggerannt. Ich habe sie schreien gehört und –«

»Wer ist Brie?« Detective Morgan richtet die Handykamera nacheinander auf uns. Brie hebt die Hand.

»Und dann haben wir die Leiche neben ihr im Wasser entdeckt. Kay hat gesagt, dass ich zuerst Dr. Klein und dann die Polizei anrufen soll«, erklärt Maddy.

»Nein, das habe ich nicht.« Meine Stimme klingt angespannt und fröstelnd. »Das war Brie.«

Detective Morgan wendet sich zu mir und lässt die Kamera langsam von Kopf bis Fuß an mir entlangwandern, wobei sie an den aufgekratzten Hautstellen besonders sorgfältig ist. »Du bist Kay«, sagt sie mit einem merkwürdigen Lächeln.

»Ja, aber eigentlich hat Brie gesagt, dass Maddy zuerst Dr. Klein anrufen soll.«

»Was spielt das für eine Rolle?«

Diese Frage überrascht mich. »Tut es das nicht?«

»Sag du es mir.«

Ich presse die Lippen fest aufeinander. Ich weiß aus Erfahrung, wie Polizisten Aussagen aufnehmen und die Worte dann verdrehen, sodass am Ende etwas herauskommt, was man gar nicht gemeint hat. »Entschuldigung, aber stecken wir in Schwierigkeiten?«

»Kennt jemand von euch das tote Mädchen?«

»Nein. Stecken wir nun in Schwierigkeiten?«

»Ich hoffe nicht.« Detective Morgan gibt einem Officer über unsere Köpfe hinweg ein Zeichen und ich werfe Brie einen kurzen Blick zu. Sie sieht besorgt aus und ich frage mich, ob ich das auch sein sollte. Sie hält sich einen Finger an die Lippen und ich nicke kaum merklich, während ich gegenüber den anderen die Augenbrauen hochziehe. Tai nickt monoton, Tricia und Cori verschränken ihre kleinen Finger, nur Maddy wirkt ernsthaft verängstigt.

In diesem Moment sehe ich, wie Dr. Klein sich einen Weg durch die Menge bahnt, eine kleine, aber Respekt einflößende Frau, tadellos gekleidet und beherrscht, selbst zu dieser Uhrzeit und unter diesen Umständen. Mit einer winzigen Handbewegung winkt sie einen Officer aus dem Weg und marschiert direkt auf uns zu.

»Kein weiteres Wort«, sagt sie und legt eine Hand auf meine Schulter und eine auf Coris. »Diese Mädchen stehen unter meiner Obhut. In Abwesenheit ihrer Eltern bin ich ihr Vormund. Ohne meine Anwesenheit dürfen sie nicht befragt werden. Haben Sie das verstanden?«

Detective Morgan will protestieren, aber das hat keinen Zweck, wenn Dr. Klein ganz in ihrer Rolle als Schulleiterin aufgeht.

»Diese Schülerinnen haben gerade eine entsetzliche

Detective Morgan lächelt wieder, ohne die Zähne zu zeigen. »Na schön. Die Mädchen haben eine Menge durchgemacht. Geht ruhig und schlaft gut. Lasst bloß nicht zu, dass so eine winzig kleine Tragödie eure tolle Party ruiniert.« Sie ist im Begriff zu gehen, dreht sich dann aber noch einmal zu uns um. »Ich melde mich.«

Dr. Klein bringt uns zurück zu den Wohnheimen und wirft noch einen kurzen Blick auf das Seeufer.

Ich wende mich an Brie. »War echt fies, was sie da gesagt hat.«

»Stimmt«, erwidert Brie aufgewühlt. »Es klang fast wie eine Drohung.«

Am nächsten Morgen hat die Neuigkeit die gesamte Schule infiziert. Mein Wohnheim befindet sich auf der anderen Seite des Campus und ich wache auf von den Sirenen draußen und einem gedämpften Schluchzen über mir. Ich öffne die Augen und sehe Brie am Rand meines Bettes hocken, das Gesicht an das Fenster gepresst. Sie ist schon geduscht und angezogen und schlürft Kaffee aus meiner »I ♥ Bates Soccer Girls«-Tasse.

Der Anblick der Tasse jagt mir einen Stromstoß über den Rücken. Am Montag ist ein entscheidendes Spiel und als Vorbereitung habe ich heute Vormittag ein langes Training angesetzt. Ich springe aus dem Bett, binde mein dickes, welliges rotes Haar zu einem straffen Pferdeschwanz zusammen und ziehe mir Leggings über.

»Jessica Lane«, sagt Brie.

Eisiger Frost überzieht meine Haut und meine Schultern verkrampfen sich. »Was?«

»Das Mädchen im See.«

»Nie von ihr gehört.« Ich wünschte, Brie hätte mir ihren Namen nicht genannt. Es war schon fast unmöglich, ihr unbewegtes, friedliches Gesicht aus dem Kopf zu bekommen, als ich

»Aber ich. Sie war in meinem Mathekurs.«

Ich spüre ein flaues, nagendes Gefühl im Magen. »Vielleicht war es doch keine so gute Idee, vor der Polizei zu behaupten, dass wir sie nicht kannten.«

»Zerbrich dir nicht den Kopf darüber.« Sie setzt sich zu mir und dreht eine meiner Locken um ihren Finger. »Ich meine, ich kannte sie nur ganz, ganz flüchtig. Wir konnten den Cops nicht alles erzählen. Sie hätten sich nur darauf eingeschossen und unser Leben komplett ruiniert.«

Brie hatte ihren eigenen, ganz anderen Grund, den Gesetzeshütern gegenüber skeptisch zu sein. Zum einen sind ihre Eltern Top-Strafverteidiger und sie will beruflich auch in diese Richtung. Wahrscheinlich weiß sie mehr über Strafrecht als die meisten Jurastudenten im ersten Studienjahr. Alles, was du sagst, kann und wird gegen dich verwendet werden. Seit sie im letzten Jahr die Debattierclub-Regionalmeisterschaften gewonnen hat, wurde dieses Zitat zu einem Mantra für sie: »Tanze, als würde dich niemand sehen; schreibe E-Mails, als könnten sie laut bei einer Vernehmung vorgelesen werden.« Zum anderen hat Brie eine rassistische Ungleichbehandlung durch Polizisten schon selbst erlebt. Natürlich nicht an der Bates, wie sie immer betont. Aber sogar ich habe mitbekommen, wie anders die Dinge außerhalb der Schule laufen. Als einmal eine Party außerhalb des Campus aufgelöst wurde, ist ein Cop direkt an mir vorbeigegangen – an einer Minderjährigen mit einer offenen

Ich seufze. »Und man kann Maddy nichts erzählen, wenn man nicht will, dass die ganze Schule davon erfährt.«

»Das ist nicht fair.«

Es geht hier gar nicht um fair. Letztes Jahr hat Maddy versehentlich die Namen der Neuzugänge unserer Fußballmannschaft online veröffentlicht, bevor wir sie aus ihren Zimmern »entführen« konnten, was zu unserem traditionellen Aufnahmeritual gehört. Diese Tradition schweißt uns als Team zusammen und abgesehen davon macht es höllisch Spaß. Nimmt man der Initiationsnacht den Schrecken, geht auch der Glücksrausch verloren, wenn man erfährt, dass man aufgenommen wurde. Dass man gut genug ist. Aber nein. Maddy sind die Namen durchgesickert, die ich ihr für die Website per E-Mail geschickt hatte, und ich musste Bries Mantra auf die harte Tour lernen. Schreibe E-Mails, als könnten sie laut bei einer Vernehmung vorgelesen werden – oder in einem für alle Schüler zugänglichen Community-Forum.

Vielleicht waren wir doch nicht ganz fair zu Maddy. Vor ein paar Wochen hat Tai mit diesem »Notorious«-Spitznamen angefangen, den ich ehrlich gesagt nicht ganz verstehe. Aber das werde ich auf keinen Fall als Einzige zugeben. Selbst Brie verhält sich Maddy gegenüber neuerdings ziemlich distanziert, ich bin nur noch nicht dahintergekommen, woran das liegt. Maddy ist nicht so originell wie Tai oder so lernbegierig wie Brie und sie besitzt innerhalb unserer Clique den Ruf als Dummchen, obwohl sie eigentlich sehr intelligent ist. Sie hat den zweitbesten Notendurchschnitt der elften Jahrgangsstufe, ist Kapitänin der Feldhockeymannschaft und gestaltet die Websites aller

Manchmal habe ich das Gefühl, ich sehe nur die schlechten Seiten.

»Wie auch immer, sie ist identifiziert. Ihre Eltern wurden informiert. Es ist überall in den Nachrichten.« Brie deutet zur Zimmerdecke und ich blicke leicht durcheinander auf. Das Weinen scheint stärker zu werden.

Ich lege die Hand vor den Mund und zeige nach oben. »War das ihr Zimmer?«

Brie nickt. »Ich denke, ja. Vor dem Zimmer hängt Absperrband und das Geheule geht schon zwei Stunden so. Ich kann gar nicht glauben, dass du davon nicht wach geworden bist.«

»So bin ich eben.« Ich bin ein berüchtigter Tiefschläfer – falls und wenn ich es schaffe, schaltet sich mein Hirn aus – und das weiß niemand besser als Brie. Sie war zwei Jahre lang meine Mitbewohnerin, bevor wir das Einzelzimmerprivileg der Zwölften bekommen haben, und wir übernachten noch immer oft zusammen.

Sie grinst für einen Moment, dann verschwindet ihr Lächeln. »An der Bates gab es seit über zehn Jahren keinen Selbstmord mehr.«

»Ich weiß.« Sie ist taktvoll genug, nicht zu erwähnen, dass es in der Vergangenheit, als ihre Mom hier noch zur Schule ging, eine regelrechte Epidemie gab. Ein ganzer Flügel des Henderson-Wohnheims war fast dreißig Jahre lang geschlossen.

»Vielleicht hat sie viel Zeit außerhalb des Campus verbracht.«

Ich ziehe mir ein Sweatshirt über, schnappe mir meinen Schülerausweis und Schlüssel, zögere dann aber, als meine Hand schon auf dem Türknauf liegt. Ich werfe einen Blick auf den Kalender, der über meinem Bett hängt. Meine Eltern haben ihn mir im September mitgegeben und alle Spieltage mit einem roten Marker dick eingekreist. Beim Spiel am Montag werden mich drei Scouts unter die Lupe nehmen und anders als meine Freundinnen kann ich nicht auf einen Haufen Geld zurückgreifen, wenn mir kein Collegestipendium angeboten wird. Ich bin nicht das typische Bates-Girl aus einer der wohlhabenden Familien Neuenglands. Ich bin nur wegen eines »vollen Schülerstipendiums« hier, das Codewort für Sport, weil meine Noten nicht ausreichen, um mich über Wasser zu halten, und meine Eltern sich das Schulgeld nicht leisten können. Aber heute gelten mildernde Umstände und es könnte einen schlechten Eindruck machen, das Training trotzdem durchzuziehen. Das müssten sogar meine Eltern verstehen.

Ich drehe mich zu Brie um. »Sollte ich das Training besser absagen?«

Sie wirft mir einen ihrer »Ich will dir ehrlich keine Vorwürfe machen«-Blicke zu. »Kay, das Training ist bereits abgesagt.«

»Das können die nicht machen!«

»Natürlich können sie das. Wir leiten doch nicht die Schule. Sport, Musik, Theater, alle außerschulischen Aktivitäten sind auf Eis gelegt, solange die Ermittlungen laufen.«

Ich lasse mich wieder aufs Bett fallen, mir schwirrt der Kopf. »Du machst Witze. Montag ist der wichtigste Tag meines Lebens.«

Ich werfe meinen Schlüssel auf den Boden und drücke meine Stirn gegen Bries Schulter, meine Augen brennen. »Ich dürfte gar nicht so aus der Fassung sein, oder?«

»Doch, solltest du. Dir ist nur nicht ganz klar, warum du so aus der Fassung bist. Die letzte Nacht war traumatisch.«

»Du verstehst das nicht.« Ich löse mich von ihr und drücke die Fingerknöchel in meine Augenhöhlen. »Ich kann nicht nach Hause gehen. Selbst wenn du nicht schon deinen Collegeplatz hättest, stünde für dich absolut nichts auf dem Spiel.«

»Das ist weder fair noch wahr.«

Ich mustere ihre ernsten, mahagonifarbenen Augen und die gerunzelte Stirn. Ihr weiches, wolkenartiges Haar umrahmt ihr Gesicht fast wie ein Heiligenschein. Sie ist immer so akkurat und gefasst. Sie passt gar nicht in mein Zimmer oder mein Leben, wo das nukleare Chaos herrscht. Sie hat Köpfchen, Ausstrahlung, Geld und eine perfekte Familie.

»Du verstehst das nicht«, wiederhole ich leise.

»Es wird sich zeigen, dass es sich um einen klaren Fall handelt«, sagt Brie entschieden. Sie steht auf und schaut wieder aus dem Fenster. »Eindeutig Selbstmord.«

»Was genau wird dann untersucht?«

»Ob es eine Fremdeinwirkung gab, vermute ich.«

»Mord?«

»Das wird immer geprüft, wenn jemand gewaltsam ums Leben gekommen ist.«

Die Worte hallen in meinem Kopf wider. Ein gewaltsamer Tod. Sie sah so ruhig, so friedlich aus, aber der Tod ist hart und unerbittlich. Er ist schon per Definition ein gewaltsamer Akt.

»Mörder gibt es überall, Kay. In Pflegeheimen und Notaufnahmen. Auf Polizeirevieren. Überall, wo man eigentlich sicher sein sollte. Warum nicht in einem Internat?«

»Weil wir schon seit vier Jahren hier sind und jeden kennen.«

Brie schüttelt den Kopf. »Mörder sind auch nur Menschen. Sie essen dasselbe und atmen dieselbe Luft. Sie machen nicht gerade auf sich aufmerksam.«

»Vielleicht doch, wenn man richtig zuhört.«

Brie schiebt ihre Finger zwischen meine. Meine Hände sind immer kalt, ihre sind immer warm. »Es war Selbstmord. In ein paar Tagen geht es mit Sport weiter. Du wirst angeworben. Ganz sicher.«

Dass ihr das Wort Selbstmord so leicht über die Lippen kommt, irritiert mich. Es liegt etwas Giftiges darin, wie die zerrissenen Teile von mir, die kaum zusammengeflickt sind und die Brie nicht sehen soll. »Jetzt werden sie uns mit Schülerversammlungen zum Thema Warnzeichen bombardieren und warum man sich nicht umbringt und so ’n Scheiß. Denn das ist nachträglich ja so hilfreich.« Was in einem Punkt sogar stimmt, wenn man an die Vergangenheit der Bates denkt. Zumindest ist es besser als nichts. Aber für die Person, die gegangen ist, und für alle, denen sie etwas bedeutet hat, ist es ein Scheißdreck.

Brie zögert. »Na ja, auf jeden Fall sollten wir ab jetzt netter zu unseren Mitschülerinnen sein. Denk mal darüber nach.«

Ich sehe ihr in die Augen und suche irgendwo in den Tiefen nach meinem schattenhaften Ich. Vielleicht gibt es da draußen eine bessere Version von mir, und falls sie wirklich existiert, dann in Bries Gedanken. »Nett ist subjektiv.«

»Du sprichst wie ein echtes Bates-Girl. Wir sind so

Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich, dass sie von mir spricht.

Aber das tut sie nicht. Sie spricht von Jessica.

Ich atme wieder.

»Du kandidierst noch nicht als Präsidentin. Es ist nicht deine Aufgabe, jedermanns beste Freundin zu sein. Nur meine.« Ich packe sie in einer dicken Bärenumarmung.

Sie seufzt und schmiegt ihre Stirn an meinen Nacken. Ich erlaube mir einen Moment der Ruhe und nehme den Duft ihrer Haare wahr – ein Augenblick in einem anderen Universum, wo ich ein guter Mensch bin und Brie und ich zusammen sind.

Dann zwinge ich mich zu einer Frage. »Hast du versucht, Justine anzurufen?«

Sie holt ihr Handy aus der Tasche und wählt, während sie mir antwortet. »Sie geht nicht ran. Sie schläft samstags immer lange.«

Justine und Brie sind ein Paar. Brie und ich gehen grundsätzlich nicht mit Bates-Schülerinnen aus, deshalb landen wir meistens bei den Schülern von der Easterly, der hiesigen staatlichen Highschool. Ich habe mich kürzlich von meinem Easterly-Freund getrennt, dem »überaus Untreuen« Spencer Morrow. Tai hat sich den Namen für ihn ausgedacht, nachdem wir erfahren hatten, dass er fremdgegangen war, und wir leidenschaftlich über ihn herzogen. Aus irgendeinem Grund fand ich das zum Totlachen und es wurde sein Spitzname.

Ich höre eine schwache, raue Morgenstimme am anderen Ende der Leitung und Bries Gesicht hellt sich auf. Sie drückt mich weg und das Zimmer kommt mir plötzlich kälter und leerer vor, als sie aufsteht, sich ihren Kaffee nimmt und auf den Flur

Draußen wimmelt es von Menschen wie an einem Einzugstag, aber das sind nicht nur Schülerinnen und ihre Familien. Es stehen eine Reihe TV-Übertragungswagen am Straßenrand, davor hasten Frauen mit Clipboards ungeduldig umher und erteilen großen Kerlen Befehle, die Kameras um ihren Oberkörper geschnallt haben. Da sind auch Dutzende Leute mit den gleichen hellblauen T-Shirts, auf denen ein Logo abgebildet ist, das aussieht wie ein Unendlichkeitssymbol aus zwei verbundenen Herzen. Und überall drängen sich verwahrloste, obdachlos wirkende Städter mit trüben Blicken. Einige von ihnen weinen sogar. Es herrscht das totale Chaos. Die T-Shirt-Leute haben einen Tisch aufgestellt und bieten Kaffee und Bagels an. Vielleicht sollte ich dorthin gehen anstatt in die Mensa, wo ich bei diesem Gewühl wahrscheinlich sowieso nie ankomme.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, renne ich die Treppe hinunter und hoffe, dass ich nicht auf Jessicas Familie stoße, die bestimmt ihr Zimmer ausräumt. An der Vordertür treffe ich auf Jenny, die dort Wache steht, und lächle ihr kurz zu.

»Konntest du schlafen?«, frage ich.

Sie schüttelt den Kopf. »Pass auf dich auf, Kay.«

»Möchtest du einen Kaffee oder so?«

Sie lächelt schwach. »Das wäre toll.«

Ich hüpfe zum Tisch, wo die Leute in den blauen T-Shirts Kaffee ausschenken und Bagels verteilen, und greife nach zwei leeren Bechern. Ich will sie gerade füllen, als mir ein Typ hinter dem Tisch die Becher aus der Hand reißt. Ich starre ihn

Sleeve-Tattoos bedecken seine nackten, muskulösen Arme vom Handgelenk bis zu den Ellbogen. Seine Unterlippe ist gepierct und seine lockigen, dunklen Haare fallen ihm über die Augen, als wäre er gerade aufgestanden. In der hautengen Jeans und dem zerrissenen schwarzen Sweater sieht er wie ein abgewrackter Rockstar aus, was die Koks-Schniefnase und die blutunterlaufenen Augen noch verstärken. Ich bemerke das zusammengeknüllte Papiertaschentuch in seiner Hand und frage mich, ob er nicht doch eher geweint hat, als sich in aller Frühe an einem Samstagmorgen ein paar Lines zu ziehen.

Doch meine vorübergehende Sympathie löst sich augenblicklich in Luft auf, als er den Mund aufmacht.

»Jetzt mach dich vom Acker.«

»Tut mir leid, hätte ich dafür bezahlen sollen?«

Er funkelt mich nur böse an.

Dieser Typ ist echt asozial, ein kompletter Spinner, auch wenn er ohne seine »Gequälter Künstler«-Ausstrahlung und sein selbstgefälliges Auftreten ziemlich heiß sein könnte.

»Der ist nicht für dich«, sagt er schließlich.

Ich schaue mich verwirrt um. »Für wen denn dann?«

Er deutet wortlos auf das Gedränge.

»Was?«

Er seufzt und seine dunklen Augen verengen sich, dann beugt er sich vor und flüstert verlegen: »Wir sind wegen Jessicas Leuten hier, den Obdachlosen.«

»Ich meine die Menschenmenge.«

Ich blicke mich noch einmal um und mir wird klar, dass er recht hat. Die Leute, die den Parkplatz bevölkern, sehen nicht nur obdachlos aus, sie sind obdachlos. Die meisten hier sind wahrscheinlich aus Obdachlosenheimen.

Ich drehe mich wieder zum Sleeve-Tattoo-Typ um. »Warum?«

»Sie trauern um eine verlorene Freundin. Im Gegensatz zu anderen.« Er schnipst mit den Fingern. »Nun hau schon ab.«

Ich mustere die Kaffeebecher, die er mir weggenommen hat, und schaue dann zu Jenny hinüber. »Kann ich wenigstens einen haben?«

Er sieht mich verächtlich an. »Nein, kannst du nicht. Geh zu Starbucks.«

»Das ist ein Fünf-Meilen-Fußmarsch. Und der Kaffee ist nicht für mich.« Ich zeige auf Jenny. »Das ist Officer Jenny Biggs. Sie hatte Dienst, als die Leiche gefunden wurde, und hat seitdem nicht geschlafen. Kannst du dir vorstellen, so lange wach zu sein, nachdem ein Mädchen gestorben ist, das du geschworen hast zu beschützen?«

Er seufzt, gießt Kaffee ein und reicht mir den Becher. »Na gut. Aber wenn ich dich davon trinken sehe, setze ich dich auf die schwarze Liste.«

Ich verdrehe die Augen. »Von deinem Obdachlosenheim?«

»Das Glück kann sich schnell wenden, Kay Donovan.«

»Okay, Hank.«

Er wirkt irritiert. »Mein Name ist Greg.«

Ich zwinkere. »Gut zu wissen. Und zieh deine Ärmel runter, es ist eiskalt.«

»Ich hoffe, der Fall wird schnell gelöst, Kleine.« Sie wirft mir ein aufmunterndes Lächeln zu, sieht mir dabei aber nicht in die Augen, was mich ein wenig verunsichert. Ich bemerke, wie sie ihr Handy gegen den Oberschenkel drückt, und frage mich, ob sie etwas Neues erfahren hat, während ich mich mit Greg unterhalten habe.

»Sieht es denn danach aus?«, frage ich, obwohl ich weiß, dass sie nicht darauf antworten wird.

Sie zuckt mit den Schultern und deutet auf das Wohnheim. »Danke für den Kaffee.«

Ich gehe zurück in mein Zimmer, verschlinge ein paar Energieriegel und einen Vitamindrink, dann öffne ich meinen Laptop und googele nach den neuesten Nachrichten. Ich erfahre, dass Jessicas Familie aus der Gegend kommt und dass Jessica eine gemeinnützige Organisation gegründet hat, die Obdachlosen hilft, einen Job zu finden, und ihnen über ein von Jessica entwickeltes Online-Lernprogramm einen Computer-Grundkurs ermöglicht. Ziemlich beeindruckend für eine Highschoolschülerin, selbst an der Bates. Ansonsten finde ich nicht viel. In den Artikeln steht, dass sie kurz nach Mitternacht im See gefunden wurde, die Todesursache aber noch nicht geklärt ist. Ich lese noch ein paar weitere Beiträge. Nirgendwo werden ihre Handgelenke erwähnt.

Außerdem ist in keinem der Artikel von einer mutmaßlichen Fremdeinwirkung die Rede, nur in einem steht, dass ihr Tod untersucht wird. Ich werfe einen Blick auf die verbliebenen Spieltermine, die auf meinem Kalender eingekreist sind. Die Uhr tickt. Jedes Datum ist ungeheuer wichtig und es gibt keinen Grund davon auszugehen, dass die Ermittlungen rechtzeitig

Wie bestellt klingelt mein Handy. Es ist mein Vater. Ich zögere, doch dann gehe ich ran.

»Hey, Dad.«

»Wie war das Training, Sportsfreundin?«

»Das musste ich absagen.«

»Wieso?«

»Jemand ist gestorben. Eine Schülerin.«

»Oh. Eine Mitspielerin von dir?«

»Nein, jemand anderes.« Ich setze mich aufs Bett und ziehe die Knie an die Brust. Normalerweise telefoniere ich sonntags mit meinen Eltern und es macht mich ein wenig nervös, dass Dad außer der Reihe anruft. Als wolle er wegen irgendwas eine Bombe platzen lassen.

»Hmm.«

»Ist alles okay?«, frage ich.

»Vielleicht solltest du bei der gewohnten Routine bleiben. Dich nicht aus der Bahn werfen lassen. Du weißt schon, um der jüngeren Mädels willen. Um mit gutem Beispiel voranzugehen.«

Plötzlich dämmert mir, dass er wahrscheinlich schon von Jessicas Tod gehört hat und genau aus diesem Grund anruft. »Es war nicht meine Entscheidung, Dad. Die Schule hat alle sportlichen Aktivitäten abgesagt, solange der Todesfall untersucht wird.«

»Was?«, höre ich die Stimme meiner Mutter im Hintergrund. Na toll. Ich hätte wissen müssen, dass sie mithört. In Gegenwart meiner Mutter darf man nicht vom Tod sprechen. Ich grabe die Fingernägel in meinen Nacken, um mich für diesen Fehler zu bestrafen.

Ich rolle mich zu einem Ball zusammen und kneife die Augen zu. »Ist gestrichen. Ich kann absolut nichts dagegen tun. Ich bin auch nicht gerade froh darüber, genau wie ihr. Glaub mir.«

Mein Vater flucht im Hintergrund.

»Das ist nicht akzeptabel«, sagt meine Mutter. »Hast du mit Dr. Klein gesprochen?«

»Nein, Mom. Ich wende mich nicht an die Schulleiterin. Ich kann sie doch nicht einfach anrufen und nach irgendwas verlangen. Sie ist nicht der Kongress.«

»Du hast es nicht mal versucht? Soll ich es probieren? Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sich einfach zurückzulehnen und auf das Beste zu hoffen. Wir müssen weiter an dem Plan festhalten.«

»Jemand ist gerade gestorben«, sage ich leise. Und mit Absicht. Denn ich muss dieses Gespräch beenden.

Sie will etwas sagen, aber ihre Worte gehen in einem tiefen Seufzen unter.

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ein langes Schweigen entsteht. Dann beginnt meine Mutter wieder zu sprechen, ihre Stimme bebt. »Gibt es sonst noch etwas, worüber du reden willst, Schatz?«

»Nein«, sage ich und halte den Atem an, bis es sich anfühlt, als würde mein Kopf jeden Moment platzen.

»Lass uns bald wieder telefonieren«, sagt sie.

Mein Vater kommt noch einmal ans Telefon. »Zeit für Brainstorming. Ruf die Leute an, schreib Briefe. Was auch immer nötig ist, um dir die Angebote zu sichern. Du hast viel zu hart gearbeitet, um dir jetzt etwas durch die Lappen gehen zu lassen. Du stehst das durch, wie alles andere. Alles klar?«

Ich lege auf und stoße Luft mit einem enormen Zischen aus, dann schlage ich auf meine Matratze ein und drücke mein Kissen fest an die Brust. Ich wünschte, Spencer wäre nicht so überaus untreu. Ich wünschte, Justine wäre nicht aufgewacht, dann könnte ich Brie anrufen, um mich abzureagieren. Ich wünschte, meine Eltern würden nur ein Mal den Mund halten und zuhören. Nichts läuft so, wie ich es gern hätte. Ich kann am Montag nicht spielen. Mir sind die Hände gebunden. Zur Hölle mit dir, Jessica Lane.

Ich setze mich auf und zwinge mich zu einem tiefen, beruhigenden Atemzug. Ich kenne die Todesursache, ich habe die Leiche gesehen und ich weiß, dass ihre Familie und ihre Organisation aus der Umgebung sind. Aufgeschnittene Pulsadern, hoher Druck an der Schule. Wenn die Polizei keinen Selbstmordfall lösen kann, liegt das nur daran, dass die Beamten überfordert sind. Aber das bin ich nicht. Ich habe es schon erlebt. Ich musste hilflos mit ansehen, wie alles um mich herum zusammenbrach, war zu langsam, um es aufzuhalten, bis alles in Trümmern lag. Meine beste Freundin und mein Bruder sind tot, mein Vater war am Boden zerstört, meine Mutter stand kurz davor, ihr Leben ebenfalls wegzuwerfen. Und ich, eingeschlossen in Eis.

Ich schließe die Finger um mein Handy und stelle es auf stumm, die Stimme meiner Mutter hallt noch in meinem Kopf wider. Ich bringe das in Ordnung. Ich kann das. Bevor auch das nächste Spiel abgesagt wird.

Ein Ping kündigt eine neue E-Mail an und ich sehe zum Computerbildschirm hinüber. In der Betreffzeile steht »Update Sportstipendium«. Mein Herz beginnt zu rasen. Ich ziehe den Laptop zu mir und öffne die Nachricht.

 

 

ich bedaure, dir mitteilen zu müssen, dass mir zweifelhafte Handlungen aus deiner Vergangenheit zu Ohren gekommen sind und deine Berechtigung, ein Sportstipendium zu erhalten, auf dem Spiel steht. Mir selbst wird es nicht möglich sein, ein College zu besuchen, deshalb hast du mein aufrichtiges Mitgefühl. Aus diesem Grund wäre ich vielleicht auch bereit, über deine Vergehen hinwegzusehen, aber nur, wenn du einverstanden bist, mir bei der Vollendung meines letzten Projektes zu helfen.

Klick auf den Link am Ende dieser E-Mail und folge meinen Anweisungen. Nach jeder Aufgabe, die du ausgeführt hast, wird ein Name aus der Liste verschwinden. Solltest du bei einer der Aufgaben innerhalb von vierundzwanzig Stunden versagen, wird ein Link dieser Website zusammen mit einem Beweis deines Verbrechens an deine Eltern, die Polizei und jede Schülerin der Bates Academy geschickt.

 

Solltest du es schaffen, wird niemand je erfahren, was du getan hast.

 

Ganz herzlich

deine Jessica Lane

 

PS: Auch auf die Gefahr hin, dass es klischeehaft klingt, Kay: Es wäre nicht gerade gut für dich, wenn du mit der Polizei sprichst. Das war es nie, stimmt’s?

 

Die E-Mail wurde von Jessicas Bates-Account verschickt. Für einen Moment schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass sie noch am Leben ist, und ich weiß nicht, ob ich lachen oder

Es ist möglich, dass eine andere Person die E-Mail von ihrem Account gesendet hat. Aber der Gedanke ist so grotesk, dass ich mir das kaum vorstellen kann. Sie muss die Nachricht vor ihrem Tod geschrieben und zeitlich so geplant haben, dass sie erst jetzt bei mir angekommen ist. Anhand der Formulierung sieht es so aus, als hätte sie gewusst, dass sie sterben würde. Ihr letztes Projekt. Kein Collegebesuch. Vielleicht interpretiere ich aber auch nur zu viel hinein. Irgendwann steht immer ein letztes Projekt bevor und es gibt eine Menge Gründe, nicht aufs College zu gehen.

Diese E-Mail könnte die Cops davon überzeugen, dass sie doch nicht ermordet wurde. Ich könnte sie der Polizei weiterleiten und die Ermittlungen damit womöglich sofort beenden.

Aber der Nachtrag jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken.

Am Ende der Seite steht der Link jessicalanefinalproject.com. Ich klicke darauf.

Der Bildschirm wird für eine Weile schwarz, dann erscheint die Abbildung einer rustikalen Landhausküche mit gusseisernem Backofen. Langsam tauchen Buchstaben auf der Scheibe des Ofens auf, bis der Name der Website glasklar vor mir steht:

 

Rache ist süß: Eine köstliche Anleitung

zum Beseitigen von Feinden.

Ich klicke hektisch auf den Link, aber die Seite ist mit einem Passwort geschützt. Rache ist süß. Jessicas letztes Projekt ist ein Rachefeldzug. Und sie beginnt ihn bei mir. Ich starte einen weiteren vergeblichen Versuch, die Seite zu öffnen, dann schiebe ich den Laptop so weit wie möglich von mir weg. Trotzdem kann ich den Blick nicht davon lösen.

Ich wünschte, Spencer hätte nicht so eine blöde Scheiße gebaut. Er ist ein genauso begnadeter Zocker wie Sportler, er hätte sich problemlos in die Seite hacken können. Ich scrolle durch meine jüngsten Anrufe. Sein Name stand nie weiter als ein Wischen nach unten in der Anrufliste und das deprimiert mich. Ich warte immer noch darauf, dass er anruft und sich wieder entschuldigt, dass er sich nach mir erkundigt, mir etwas Beliebiges erzählt, damit ich wieder an ihn denke. Aber offenbar kann ich das vergessen.

MINT