Absinth

Absinth

Geschichten im Rausch der Grünen Fee

 

Mit Geschichten der Autoren

 

Sandra Bollenbacher

Markus Cremer

Martin Rüsch

M.W. Ludwig

Nele Sickel

Robert von Cube

Melanie Vogltanz

Jacqueline Mayerhofer

Nina Teller

Fabian Dombrowski

Carmen Hübner

Christine Bathelt

 

 

Impressum

 

Alle Rechte an den abgedruckten Geschichten liegen beim

Art Skript Phantastik Verlag und den jeweiligen Autoren.

 

Copyright © 2017 Art Skript Phantastik Verlag

 

Lektorat » Franziska Stockerer

 

Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag

Cover-Illustration » Ireen Bow

 

Der Verlag im Internet

» www.artskriptphantastik.de

» art-skript-phantastik.blogspot.com

 

 

Alle Privatpersonen und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Es werden Ihnen jedoch diverse historische Personen begegnen.

 

 

Absinth – Eine kleine Geschichte

 

Absinth war ursprünglich ein Heimlittel, das im 18. Jahrhundert im Val de Travers im heutigen Schweizer Kanton Neuenburg hergestellt wurde. Auf dem Höhepunkt seiner Popularität sagte man dem Getränk jedoch Abhängigkeit nach, angeblich sollte es zu schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden führen. 1915 war das Getränk in einer Reihe europäischer Staaten und den USA verboten. Mittlerweile haben Studien erwiesen, dass die Schädigung durch die schlechte Qualität des Alkohols und den hohen Konsum zustande kamen. Seit 1998 ist Absinth in den meisten europäischen Staaten wieder erhältlich.

 

Die Schweizer Trinkweise ist die am wenigsten etablierte. Bei ihr werden lediglich zwei bis vier Zentiliter Absinth mit kaltem Wasser vermischt.

Das Feuerritual, auch tschechische Trinkweise genannt, wurde in den 1990er Jahren von tschechischen Absinthproduzenten entwickelt, um den Genuss des Getränks attraktiver zu machen.

Das französische Trinkritual besitzt dagegen eine historisch belegbare Tradition. Absinth wird mit Zucker getrunken. Dazu werden ein oder zwei Stück Würfelzucker auf einem Absinthlöffel platziert und sehr langsam kaltes Wasser über den Zucker gegossen oder geträufelt.

 

 

Vorwort

von Stephan Kinting aus der Grotesque Absinth-Bar Aachen

 

Egal ob Mythos oder Wahrheit, der Zauber der Absinth-Tradition beinhaltet seit Jahrzehnten sein völlig eigenes Universum an Geschichten und Legenden. Für die einen mag es sich lediglich um ein Wermuthdestillat mit Anisauszügen und Kräutern handeln – für die anderen ist es Tür und Tor in die Welt des Geistes vergangener Tage. Nicht zuletzt gaben sich große Geister freudig dem Genuss hin und fröhnten der beflügelten Dame aus dem Kelch. Die Grüne Fee fesselt diejenigen, die sich fesseln lassen wollen, und entführt sie mit einem vielsagenden Lächeln. Ihr ist es egal, ob man sie für einen Mythos hält.

Aber warum entstehen Geschichten? Warum verifiziert die Wissenschaft nicht für alle nachvollziehbar die Unwirksamkeit des Halluzinogens? "Grüne Fee dingfest gemacht – Scharlatanin entlarvt" könnte in jeder großen Zeitung stehen. Oder so ähnlich. Nein, der Punkt ist, wir wollen verzaubert werden. Der Charme des Unbekannten, das Spiel mit einer Trance aus extatischer Phantasie und Euphorie ist eine zentrale Antriebskraft für den geistigen Urlaub. Ohne den Alltag hinter uns lassen zu können, existiert nur der Alltag. Die Fee ist dabei nur der Dealer an der Ecke, welcher mit einlullenden Worten das Grüne vom Himmel verspricht. Ok, der Vergleich hinkt, und mag vielleicht auch ein bisschen zu viel Pathos in die Sache bringen, aber es unterstreicht ganz gut den abschließenden Gedanken: Es geht nicht darum was es ist, nur dass es ist. Pretty deep, hm?

Gut, gut, um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung, wie man ein Vorwort schreibt. Als Grit mir diese Chance gab, habe ich mich zunächst etwas überfordert gefühlt. Nichtsdestotrotz bin ich sehr dankbar, meinen geistigen Kompott (mit ganzen Stücken) hier abladen zu dürfen. Absinth ist für mich mein täglich Brot, und glücklicherweise nicht die Art von täglich Brot, bei der ich von morgens bis abends an der Flasche hänge. Bei mir im Laden finden sich die Geschichten von selbst, Genießer erzählen, Neulinge erkunden und experimentieren. Fast wie in einem kleinen Chemielabor der Phantastik entsteht hier, was nirgends sonst vielleicht ein Geist zu produzieren vermag.

Zugegeben, wo gesägt wird, fallen auch Späne, und bevor des Meisters Glanzstück hier zurechtgehobelt wird, liegen die Späne womöglich bis unter die Decke, aber niemand erwartet hier, den nächsten Hemmingway oder Poe zu mimen. Es geht um Freude an der Sache. Es geht darum, Spaß zu haben. Und ja, dieser Zauber passiert hier. Egal ob Mythos oder Wahrheit, das, was ich hier erlebe, kann mir niemand nehmen. Das ist meine Welt voller Zauber. Das ist meine Grüne Fee.

Zu dick aufgetragen? Wer, ich? Ich hab dir gesagt, ich hab so etwas noch nie gemacht!

Okay, okay, Abschlusswort: Habt Spaß. Gut, zwei Worte. Verrückt? Ich? Nein. Die Fee war´s. Zur Not war´s immer die Fee.

 

 

Ein Schlossaus Inspiration und Wahnsinn

Sandra Bollenbacher

 

Meine liebe Tallu,

du darfst mich nicht für verrückt halten, wenn du gleich liest, was ich dir schreibe.

Ernest, dieser unausstehliche Kerl, beehrt uns gerade mit seiner Anwesenheit und hat ein paar Flaschen eines seltenen Absinths mitgebracht, weshalb ich so viel Zeit wie möglich anderswo verbringe und auch gestern Abend nach den Ballettproben ausgehen wollte. Leider ging es meiner Freundin nicht gut, sodass ich viel früher nach Hause kam, als geplant.

Ich hörte das bellende Lachen bereits, als ich die Tür aufschloss. Sie tranken im Salon vor dem Kamin und ich schlich in die Küche, um mir ein Sandwich zu machen. Ich wollte nicht, dass sie mich bemerkten. Scott scheint es nicht sonderlich zu mögen, dass ich meine alte Leidenschaft wiederentdeckt habe, und abfällige Kommentare über mein »Rumgehüpfe« wollte ich mir ersparen.

Bis hierhin, wirst du denken, scheint doch alles normal. Wieso sollte ich meine liebe Zelda für verrückt halten? Nun, pass auf:

Ich wollte gerade nach oben gehen, als ich einen lauten Knall hörte. Erschrocken sprang ich herum und sah, wie grünes Licht unter der geschlossenen Salon-Tür hindurchblitzte. Sofort eilte ich zur Tür und riss sie auf.

Der Salon war leer, bis auf den widerlichen Gestank von stundenlangem Saufen zweier Wasserbüffel bei geschlossenen Fenstern, dem man fast schon eine eigene Persönlichkeit zuschreiben konnte. Die Luft war so dick, ich wunderte mich tatsächlich, dass sie noch keine Gestalt angenommen hatte. In den Ledersesseln saß noch der warme Abdruck ihrer Hintern und auf dem Schachtisch stand eine halbvolle Flasche Absinth, doch von den beiden Herren war nichts zu sehen. Ich vermutete einen bösartigen Streich, riss Vorhänge zur Seite und Schranktüren auf, doch die beiden waren wie vom Erdboden verschluckt.

Also durchsuchte ich das ganze Haus – erfolglos. Wahrscheinlich waren sie auf eine Party gegangen. Doch warum hatte ich sie nicht gehen gehört? Und was war mit dem Knall und dem grünen Licht?

Schließlich ging ich schlafen und als ich heute Früh aufwachte, lag Scott schnarchend neben mir. Es dauerte eine Weile, bis er wach genug war, um mir eine einigermaßen kohärente Antwort geben zu können. Ob er und Ernest ausgegangen seien, fragte ich ihn. Nein, brummte er. Sie seien den ganzen Abend hier gewesen. Ob irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen sei, fragte ich. »Nein«, sagte er genervt. »Nur der inspirierende Austausch zweier großer Geister.« Mehr bekam ich nicht aus ihm heraus, denn er wurde immer unleidlicher. Ich erwähnte den Knall, doch er zuckte nur mit den Schultern. Das mit dem grünen Licht behielt ich für mich. Am Ende war es nur der Schein des Kaminfeuers durch die grünen Flaschen. Ich will ihm keinen Anlass geben, meine geistige Gesundheit erneut anzuzweifeln.

Aber ich habe es mir nicht eingebildet. Was auch immer es war – ich will es wissen!

Also werde ich heute Abend nicht wie geplant ausgehen (auch wenn ich dies Scott nicht verrate), sondern mich unter der Treppe verstecken und die Salon-Tür im Auge behalten.

Siehst du, das klingt doch schon sehr verrückt, oder nicht? Wie ein neugieriges Kind werde ich mit Proviant und einem dicken Kissen ausgestattet im Dunkeln hocken und darauf warten, dass nicht etwa Santa Claus kommt, sondern der grüne Blitz einschlägt.

Es ist Unsinn, ich weiß. Auch wenn ich es mir nicht eingebildet habe, weiß ich nicht, ob es wieder passieren wird! Aber du hast Scotts Reaktion auf meine Fragen nicht gesehen. Ich bin mir sicher, dass mehr dahintersteckt, und heute werde ich es herausfinden!

Ich werde diesen Brief zerreißen, wenn sich alles als Hirngespinst entpuppt. Doch wenn du gerade diese Zeilen liest, dann sei gespannt, denn dann wird heute Nacht etwas passiert sein, wovon ich dir berichten muss. Dann werde ich diesen Brief abschicken und du wirst ihn erhalten.

Wünsch mir Glück!

***

Tallulah – es ist wieder passiert! Der Knall, der grüne Blitz, alles so wie letzte Nacht. Gerade bin ich zurück und schreibe mit zitternder Hand diese Zeilen; bitte entschuldige, wenn meine Schrift unleserlich wird.

Ich muss mich beruhigen.

Scott und Ernest gingen gegen 18 Uhr in den Salon und kamen erst um 1 Uhr wieder heraus. Doch dazwischen waren sie wieder verschwunden! Ich weiß nicht mehr, wie spät es war, als ich den Knall hörte und das grüne Leuchten unter dem Türspalt sah. Ich sprang sofort auf und stürmte wie eine Verrückte ins Zimmer, doch sie waren fort! Nur Sekunden zuvor hatte ich ihre Stimmen gehört, aber der Raum war leer. Alles war wie am Abend zuvor: Der muffige Geruch von Schweiß und Alkohol, die Absinthflasche auf dem Schachtisch und das gemütlich prasselnde Kaminfeuer.

Dieses Mal suchte ich den Raum nach Geheimtüren ab. Ich höre dich laut lachen. Ja, ich habe wirklich nach Geheimtüren gesucht. Wir wohnen noch nicht lange in diesem Haus. Vielleicht gibt es einen geheimen Kellerraum oder eine versteckte Bibliothek?

Ich habe nichts gefunden.

Schließlich ging ich zurück auf meinen Posten. Es war kurz nach 1 Uhr, als die Salon-Tür aufging und die beiden herauskamen. Sie unterhielten sich angeregt, ihre Worte stolperten übereinander, aber nicht (nur) wegen des Alkohols. Ich konnte sie nicht verstehen, doch mir war klar, dass sie irgendetwas Großartiges erlebt haben mussten. Scott begleitete Ernest zu seinem Zimmer und ich eilte nach oben.

Jetzt schreibe ich dir, wo meine Erinnerung noch frisch ist, heimlich im Badezimmer, damit Scott nichts merkt. Soll ich ihn ganz offen darauf ansprechen? Doch dann findet er heraus, dass ich ihn angelogen, belauscht und beobachtet habe. Nein, ich sage nichts. Und ich habe schon einen Plan für die nächste Nacht! Wenn ich dir wieder schreibe, liebe Tallu, werde ich das Geheimnis gelüftet haben.

Nun schnell ins Bett, damit Scott nichts merkt.

 

***

In meinen ersten Zeilen bat ich dich, mich nicht für verrückt zu halten. Jetzt zweifle ich selbst an meinem Verstand. Was ich gesehen habe, ist zu unglaublich, als dass es wahr sein könnte. Es kann sich dabei nur um einen Traum handeln.

Aber nein, es ist alles wirklich passiert. Was ist passiert, fragst du mich? Ich sitze über dem Papier, den Stift in der Hand, und suche nach Worten.

Ich will das M-Wort nicht benutzen, nicht einmal denken. M. gibt es nicht. Wer an M. glaubt, gehört in die Anstalt! Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert. Unsere Eltern mögen an Geister, Hexen und Kobolde geglaubt haben, doch das alles haben wir mit der Jahrtausendwende hinter uns gelassen wie all ihre verstaubten viktorianischen Traditionen und Vorstellungen. Wir haben elektrisches Licht, Automobile und Radios! Unsere Wissenschaftler verstehen die Welt wie nie zuvor. Für Magie ist kein Platz mehr.

Jetzt habe ich es geschrieben. Magie. Da, noch einmal. Soll ich es durchstreichen? Die Seite verbrennen und von vorne anfangen? Meine Gedanken zensieren? Du weißt schon, was ich getan habe, liebe Tallu, die du gerade dies liest, aber ich, die in deiner Vergangenheit über dem Briefbogen grübelt, weiß es noch nicht. Doch ich muss mich entscheiden, denn gleich fahren wir in die Stadt und ich will diesen Brief zur Post bringen.

Scott rief eben schon ungeduldig nach mir, also muss ich jetzt schnell die Worte finden, die beschreiben, was ich gestern Abend gesehen habe.

Ich hatte mir ein neues Versteck gesucht: nicht unter der Treppe, sondern im Salon! Es war fürchterlich unbequem und ... aber das tut nichts zur Sache. Scott und Ernest führten ein, ich kann es nicht anders beschreiben, satanisches Ritual durch. Erst betranken sie sich wie gewohnt, doch dann fingen sie an, Beschwörungen in einer fremden Sprache zu rufen! Nach der letzten Silbe nahmen sie beide einen großen Schluck Absinth und spuckten den Alkohol ins Feuer. Mit einem lauten Knall (dem lauten Knall!) färbte sich das Feuer grün und es warf Flammen auf den Teppich, der sofort grün zu brennen begann. Ich bin mir sicher, dass ich laut aufgeschrien habe, doch die beiden Männer hörten mich glücklicherweise nicht. Sie tranken einen weiteren Schluck und, jetzt halt dich fest, sprangen in die Flammen! Ich muss geblinzelt haben, denn in der nächsten Sekunde waren sie verschwunden! Sofort stürmte ich aus dem Schrank und griff nach einem Überwurf, um den brennenden Teppich zu löschen. Das grüne Feuer brannte kreisförmig und ich bildete mir ein, in seiner Mitte in die Tiefe schauen zu können, wie in einen Brunnen. Doch kaum trat ich in seine Nähe, erloschen die Flammen, das Kaminfeuer färbte sich wieder orange, der Teppich war unversehrt und alles war, als wäre nie etwas geschehen. Bis auf das Fehlen meines Ehemannes und seines Freundes! Wie ein wildes Tier bin ich im Zimmer herum und ha–

Scott wird ungeduldig, ich muss den Brief beenden.

Auf dem Schachtisch, unter der Absinthflasche, steckte ein zusammengefalteter Zettel mit fremdartigen Wörtern. Ich habe sie mir notiert und werde das Ritual heute Nacht selbst durchführen und den beiden folgen, wo auch immer sie hingehen!

Zurück kamen sie urplötzlich mitten in der Nacht auf derselben Stelle, wo sie zuvor verschwanden, lautlos und ohne grünes Feuer. Du musst dir also keine Sorgen machen. Magie oder ein ausgefuchster Trick – den einzigen Schaden, den sie davonzutragen scheinen, ist ein schlimmer Kater am nächsten Tag. Dennoch muss das, was sie an diesem Ort, in diesem Brunnen oder was auch immer es ist, erleben, so wundervoll sein, dass sie jede Nacht aufs Neue dorthin verschwinden.

Ich muss mich sputen.

In meinem nächsten Brief werde ich dir berichten, was ich heute Nacht erleben werde.

Aufgeregt grüßt dich

Deine Zelda

 

***

Meine teure Freundin,

ich frage mich, ob mein erster Brief dich bereits erreicht hat, und wenn ja, was du nun über mich denkst. Glaubst du mir? Denkst du, ich erlaube mir einen Spaß mit dir und lache mir heimlich ins Fäustchen, während ich dir schreibe? Meinst du gar, ich missbrauche unsere Freundschaft, um meine Fantasie frei laufen zu lassen; um eine Geschichte zu schreiben, die Scott nicht in seine Finger bekommen und als seine eigene ausgeben kann? Oder glaubst du, was ich von Anfang an befürchte, dass ich meinen Verstand verloren habe? Liest du meinen Brief amüsiert, verärgert oder voller Mitleid? Ich kann dich nur bitten, mir zu glauben. Alles, was ich dir schreibe, ist wahrhaftig passiert. Das Glauben wird dir noch schwerer fallen, sobald du diesen zweiten Brief weiterliest, doch was bleibt mir anderes übrig, als zu hoffen? Du bist meine älteste und beste Freundin. Wem sonst könnte ich diese verrückten Ereignisse anvertrauen und hoffen, dass sie für bare Münze genommen werden?

Es ist früher Abend. Ich bin todmüde, doch noch mehr bin ich aufgeregt und entschlossen. Geschlafen habe ich nicht; es war mir unmöglich. Noch immer versuche ich zu verstehen, was ich letzte Nacht gesehen und erlebt habe. Vielleicht missbrauche ich unsere Freundschaft doch ein klein wenig, denn das Schreiben hilft mir, meine Gedanken zu ordnen, und dir davon zu erzählen, zwingt mich dazu, das Fantastische in die profane menschliche Sprache zu übersetzen, und ihm so, hoffentlich, Sinn und Ordnung zu verleihen.

Als Observationspunkt wählte ich wieder den Verschlag unter der Treppe und wartete auf den grünen Knall – wie auf den Startschuss beim Pferderennen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schnell mein Herz raste, als ich loslief. Der Flammenring verpuffte gerade, als ich den Salon betrat. Rasch stellte ich mich davor und las die »Zauberworte«. Jetzt fragst du dich sicher, wie ich diese fremde Sprache lesen konnte. Konnte ich nicht, doch zu meinem Glück ging es Scott und Ernest genauso. Ich hatte den halben Tag Zeit, meine Abschrift zu studieren, und dabei fiel mir auf, dass nur jede zweite Zeile in einer fremden Sprache geschrieben war. Darunter hatte jemand – es war nicht Scotts Handschrift – die Worte in englischer »Lautschrift« geschrieben! Zwar wusste ich nicht, was ich da vorlas, doch das Kauderwelsch, das ich von mir gab, funktionierte. Nachdem ich einen Mundvoll Absinth (widerliches Zeug!) in das Kaminfeuer gespuckt hatte, verfärbte es sich mit dem nun altbekannten Knall giftgrün und entzündete den Flammenring vor meinen Füßen. So nah merkte ich, dass dieses Feuer keinerlei Hitze ausstrahlte, und ich beugte mich darüber. Nun konnte ich ganz deutlich in das finstere Loch schauen und sah nur wenige Meter unter den Dielen des Salons einen im grünen Licht flackernden Steinboden. Sollte dieses ... magische Portal etwa ganz simpel in unseren Keller führen? Hatte ich mit meiner halb scherzhaften Vermutung, Scott hätte einen geheimen Kellerraum gefunden, recht gehabt?

Jeder vernünftige Mensch hätte wenigstens kurz gezögert, meinst du nicht? Doch ich hatte meinen Entschluss bereits in der Nacht zuvor gefasst und darum nahm ich einen großen Schluck Absinth, der in meinem Hals brannte und mich wild husten ließ, und sprang.

Ich landete sanfter, als ich erwartet hatte – und nicht in unserem Keller. Ich befand mich in einem langen, finsteren Korridor, der nur durch vereinzelte, an den Wänden befestige Fackeln desselben grünen Feuers, das mich hergebracht hatte, erhellt wurde. Es war zum Frösteln kalt und unheimlich still. Nicht einmal meine vorsichtigen Schritte hallten in dem endlos scheinenden Steinkorridor wider und selbst mein forsches »Hallo!« verließ völlig stumm meine Lippen. Nachdem ich mich an das schwache, kühle Licht gewöhnt hatte, erkannte ich, dass auf beiden Seiten des Korridors unzählige Türen aus altem schwarzem Holz eingelassen waren. Am Ende des langen Flurs konnte ich eine Wendeltreppe erkennen.

Ohne Anhaltspunkt lief ich einfach los und öffnete die erstbeste Tür. Sie führte mich in einen weiteren Gang, doch dieser wirkte ... menschlicher. Es gab Holzdielen, Gemälde an den Wänden und antike Möbelstücke. Durch ein kleines Fenster zu meiner Linken schien milchiges Mondlicht, doch als ich einen Blick hinauswerfen wollte, sah ich nichts als silberne Nebelschleier, die dicht an der Scheibe vorbeiwaberten.

Dann hörte ich das erste Geräusch, seit ich in den grünen Feuerkreis gesprungen war: eine flüsternde Stimme. Sie wirkte gehetzt, entschlossen.

Am Ende des Gangs meinte ich eine Bewegung zu sehen, dann hörte ich Schritte. Ich lief darauf zu und stellte erleichtert fest, dass der alte Holzboden unter meinen Schritten knarrte. Schließlich sah ich einen jungen Mann in altmodischer Kleidung, der mit einer Laterne in der Hand vor einer Tür stand. Er schien mit sich selbst zu reden und mich nicht zu bemerken, noch nicht einmal, als ich ihn ansprach, anschrie, meine Hand auf seine Schulter legte oder wild mit den Armen wedelnd auf und ab sprang. Seine ganze Konzentration galt der Tür, die er nun so vorsichtig und langsam öffnete, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe. Doch er öffnete sie nur einen dünnen Spalt breit, gerade genug, um Kopf und Laterne hindurchzustecken, was er auch tat. Plötzlich wurde mir ganz anders. War das ein Perverser? Schlief hinter dieser Tür eine Frau, die er begehrte? Ich versuchte ihn von der Tür wegzustoßen, doch ich hätte auch gegen eine Felsmauer drücken können. Schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als die Tür aufzustoßen.

Kein hübsches Mädchen lag in dem großen Bett, das der Tür gegenüberstand, sondern ein alter Greis. Du wirst es dir schon denken können – ich konnte ihn nicht aufwecken. Als ich zurück in den Flur trat, war der junge Mann mit der Laterne verschwunden. Ich beschloss, das Haus nach anderen Menschen zu durchsuchen, doch egal, um welche Ecke ich ging oder durch welche Tür, ich fand mich immer in demselben Flur oder dem Schlafzimmer des alten Mannes wieder, und einige Male sah ich den jungen Mann, wie er durch den Türspalt lugte.

In diesem Moment bekam ich zum ersten Mal Angst. Erst jetzt?, wirst du mich fragen. Ich hoffe, du denkst nicht, dass ich mich mutiger gebe, als ich bin, aber bis zu diesem Punkt hatte mich die Neugierde fest im Griff. Oder war es der Absinth?

Schließlich ging ich zurück zum Fenster und suchte nach der Tür, die mich hergeführt hatte. Ich schwöre bei meinen Ballettschuhen: Die ganze Zeit war die Wand leer gewesen, doch sobald ich den Entschluss gefasst hatte, die Türe zu finden, war sie plötzlich da.

Erleichtert schlüpfte ich zurück in den kalten grünen Steinkorridor, der sofort jeden meiner Laute schluckte, und öffnete die Tür rechts neben der ersten.

Ein heulender Wind packte mich und riss an meinem Kleid. Ich stand auf einem weiten Feld in einer stürmischen Nacht. In ein paar Metern Entfernung sah ich ein hohes Paar gotischer Eisentore, die quietschend hin und her schwangen. Dahinter thronte – eine monströse schwarze Silhouette vor dem wilden Sturmhimmel – ein riesiges Anwesen. Ich hatte gerade das Tor durchquert, da öffnete sich die Tür des Hauses und ein Mann kam herausgerannt, direkt auf mich zu. Zu meiner Überraschung schien er mich zu sehen, denn er machte wilde Gesten und schrie etwas, das ich wegen des Windes nicht hören konnte. Als er mich erreichte, packte er mich am Arm und zog mich mit sich. Da hörte ich ein lautes Knacken und Poltern und als ich einen Blick über meine Schulter warf, sah ich, wie das Gebäude in der Mitte entzweibrach und in sich zusammenfiel!

Endlich kamen wir zum Stehen und als ich mich abermals umblickte, war von dem gewaltigen Anwesen nichts mehr zu sehen.

»Haben Sie vielen Dank«, begann ich, doch der Mann schüttelte nur ungeduldig den Kopf. Er mochte so um die 30 Jahre alt gewesen sein, hatte einen dunklen Schnäuzer und eine auffällig hohe und breite Stirn. Er kam mir bekannt vor, doch ich komme einfach nicht darauf, woher.

»Das ist meine Tür«, sagte er bissig und im selben Moment erschien sie vor uns – mitten auf dem Feld. »Suchen Sie sich eine andere!«

Er riss sie auf und schritt hindurch und ich eilte ihm hinterher.

»Entschuldigen Sie vielmals, ich wollte nicht–«

Was soll ich sagen? Ich stand abermals im Steinkorridor, doch von meinem unfreundlichen Retter war nichts zu sehen. Er war eben noch direkt vor mir gewesen, doch sobald wir die Schwelle überquert hatten, hatte er sich wie ein Geist in Nichts aufgelöst.

In der Hoffnung, hinter der nächsten Tür würde ich auf nettere Mitmenschen treffen, wählte ich eine auf der anderen Seite des Flurs, doch dahinter erstreckte sich eine brennend heiße Sandwüste, sodass ich sofort kehrtmachte und stattdessen das Zimmer daneben betrat.

Nun fand ich mich in einem dichten, doch trotzdem sonnendurchfluteten Wald wieder, dessen Blätterdach beinahe unnatürlich grün leuchtete. Nach einigen Metern traf ich auf eine junge Frau, die mich grinsend zu sich winkte und den Zeigefinger auf ihre Lippen legte. Ihre Kleidung war merkwürdig, doch sie schien freundlich zu sein, also folgte ich ihr. Sie zog mich zu einem dicken Baumstamm und deutete auf die Lichtung, die sich dahinter erstreckte.

Tallu, was könnte verrückter sein als all das, was ich dir bereits geschrieben habe? Doch ich denke, ich kann es übertrumpfen, denn auf der Lichtung stand ein Einhorn.

Die junge Frau flüsterte etwas Unverständliches, dann war sie plötzlich verschwunden. Ich beobachtete noch eine Weile voller Faszination das Fabeltier, bis ich plötzlich zurück in meinem Salon war.

Beinahe eine ganze Stunde war ich fortgewesen. Ich glaube, es funktioniert so: Je mehr Absinth man trinkt, desto länger kann man in dieser magischen Welt verweilen, weshalb mein Mann mehrere Stunden verschwunden blieb, doch ich nur eine. Ohne zu zögern trank ich zwei weitere große Schlucke, auch wenn ich mich vor Ekel schütteln musste, um wieder zurückzukehren und zu erforschen, was sich hinter all den anderen Türen verbarg. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass der Wunsch, herauszufinden, was Scott dort trieb, immer mehr in den Hintergrund rückte, und die Neugierde, was sich wohl hinter der nächsten Tür verbergen mochte, immer größer wurde.

Bald schon musste ich feststellen, dass die meisten Türen in unbewohnte Naturgebiete führten und ich nur ungefähr jedes dritte Mal auf Menschen traf – jedoch immer solche, die mich nicht wahrnehmen konnten. Nicht alle Zimmer, wie ich sie nennen will, waren so unheimlich und finster wie die ersten beiden, von denen ich dir berichtet habe. Oftmals schien die Sonne, zum Beispiel an einem wunderschönen Sandstrand oder in einem futuristisch eingerichteten Apartment hoch über den Wolken. Ich würde dir gerne jedes einzelne Zimmer bis ins kleinste Detail beschreiben, doch dafür fehlen mir die Zeit und oftmals wirklich die Worte. Ich habe Dinge gesehen, die ich gar nicht anfangen kann zu beschreiben, da ich nicht weiß, wie!

***

Liebe Tallu, heute habe ich von John erfahren, dass du seit letzter Woche im Urlaub bist und erst nächsten Monat zurückkehrst. Du hast meinen ersten Brief also noch nicht gelesen und ich muss mir keine Sorgen darüber machen, dass du mir noch nicht geantwortet hast. Stattdessen will ich dir weiter von meinen wundersamen Abenteuern berichten und weitere Briefe schicken, die du voller Staunen nach deiner Rückkehr lesen kannst:

Bereits drei Nächte sind vergangen, seit ich das erste Mal das grüne Zauberreich betrat, und jede Nacht blieb ich länger und öffnete mehr Türen als in der Nacht zuvor. Mittlerweile macht der Geschmack des Absinths mir nichts mehr aus, ich beginne sogar, ihn zu mögen und mit neuen Entdeckungen und Inspirationen zu verbinden! Die Orte, Menschen und Szenen, die ich in den magischen Zimmern finde, sind wie Musen, die meine Fantasie beflügeln und mich auf unbekannte Wege leiten. Ich kann an nichts anderes mehr denken und warte abends sehnlichst darauf, dass die beiden Männer im Salon verschwinden, sodass sie mein eigenes Verschwinden nicht bemerken.

Gerade sitze ich in meinem Zimmer, ein Glas des grünen Zaubertranks (ich habe mir eine der Flaschen geklaut, die Ernest mitgebracht hatte) bereits halb geleert, und warte darauf, von unten den Knall zu hören. Inzwischen benutze ich meinen eigenen kleinen Kamin hier oben, was mich auch an eine andere Stelle des, so will ich es nennen, steinernen Labyrinths mit den unzähligen Türen führt. Von hier oben springe ich direkt vor eine große, breite Steintreppe mit tiefen, ausgelatschten Stufen. Von dort aus starte ich meine nächtliche Entdeckungsreise. Mit einem kleinen roten Punkt meines Lippenstifts markiere ich die Türen, durch die ich schon gegangen bin. Auf meiner Exkursion habe ich bereits ein paar solcher Markierungen von anderen, die vor mir kamen, gefunden, doch die meisten Türen sind ganz jungfräulich.

***

Gestern Nacht bin ich wieder einem anderen Besucher begegnet, ein sehr freundlicher und hilfsbereiter Herr. Allerdings hat das, was er mir erzählte, mich nachdenklich gestimmt.

Oscar, wie er sich mir vorstellte, ist Ire und trägt auffallend bunte Kleidung. (Ich könnte schwören, es sei der berühm–– Nein, das ist Unsinn, immerhin ist er schon seit vielen Jahren tot.) Ich traf Oscar in einem herrlichen Garten, wo er durch die weit geöffneten Türen eines Ateliers versonnen dabei zusah, wie ein Maler ein Portrait eines wirklich sehr attraktiven jungen Mannes anfertigte. Ganz im Gegensatz zu dem unhöflichen Herrn in meiner ersten Nacht begrüßte mich dieser hier mit einem Strahlen im Gesicht. Er erzählte mir, dass er bereits seit mehreren Wochen diese Welt besuche, und nannte sie das Schloss der Grünen Fee.

Im Gegensatz zu mir hat er schon viele andere Besucher getroffen, die schon seit Jahren in das Schloss kommen, um Inspiration und Abenteuer zu suchen oder ihr eigenes Leben zu vergessen. Sie berichteten ihm oft von der Grünen Fee, die diese Welt angeblich erschaffen hat, doch er selbst hat sie noch nie gesehen. Sie erscheint den einen früher, den anderen später, und sie soll schrecklich und wunderschön zugleich sein.

»Bist du ihr treu ergeben«, so Oscar, »zeigt sie dir mehr, als du dir jemals erträumen könntest.«

»Und wenn nicht?«, fragte ich.

Daraufhin zuckte er mit den Schultern und lächelte unsicher. Davon hatte ihm noch niemand berichtet.

»Treu ergeben – was bedeutet das?«

»Eine Opfergabe«, sagte Oscar. Was genau damit gemeint war, wusste er jedoch nicht. »Verständlicherweise wollte niemand darüber reden. Ich schätze, es wird so etwas sein wie deine Seele«, lachte er, doch ich bin mir sicher, einen Funken Angst in seinen Augen gesehen zu haben.

Tallu, was soll ich tun? Ich beginne mich vor diesem Ort zu fürchten, sehe die Grüne Fee hinter jeder Ecke lauern, wie eine fette Spinne, doch gleichzeitig kann ich ihm nicht fernbleiben! All die Wunder, die er mir zeigt, all die Welten. Manchmal ertappe ich mich dabei zu denken – vielleicht ist es das wert? Das Opfer, das die Grüne Fee von mir verlangen wird.

Ich höre den Knall, meinen Startschuss, ich muss los.

 

***

Heute Nacht habe ich Ernest gesehen. Er saß in einem nächtlichen Wald an einem Lagerfeuer mit drei anderen Männern, lauschte deren Unterhaltung und machte sich Notizen. Ich hoffe, er hat mich nicht bemerkt. Was ich jedoch bemerkte, das waren seine Initialen, E. H., eingeritzt über dem Türknauf. Und darüber: F. S. F.

 

***

Seit zwei Wochen trinke ich nun jeden Abend das grüne Gift und springe in das Netz der Spinne, um ihre süßen Köder zu verzehren. Jetzt, wo ich darauf achte, sehe ich Scotts Initialen immer häufiger. Ich scheine den Teil des Schlosses gefunden zu haben, in welchem auch er gerade herumspukt. Ob es ein richtiges Schloss ist, kann ich nicht sagen. Es ist ein gigantisches, nicht enden wollendes Labyrinth aus Gängen, Treppen und Türen. Doch ich habe nie Angst, mich zu verlaufen, denn irgendwann lässt die Wirkung des Absinths nach und ich bin zurück in meinem Zimmer, meistens lange vor den beiden Männern.

Letzte Nacht ist mir zum ersten Mal ein Wesen begegnet, von dem ich mir nicht sicher bin, ob es ein Mensch war, auch wenn es einem Mann ähnelte.

Er stand plötzlich vor mir (in einem großen Konzertsaal, in welchem zwei Männer merkwürdige Musik spielten) und sprach mich an, groß und schlank, schwarze Haare. Doch sein Gesicht! Es war blass wie das eines Geists, seine Lippen blutrot und die Iris seines linken Auges von einem gruseligen, hellen Blau, beinahe weiß. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich vor Schreck schrie und davonrannte.

War das ein Dämon? Oder vielleicht einer der Menschen, die ihre Seele der Grünen Fee verkauft haben? Ich könnte es mir gut vorstellen.

Liebe Tallulah, ich habe nun so viel geschrieben, ich will dir meine wirklich wundersamen Erfahrungen nicht länger vorenthalten. Wer weiß, wann ich das nächste Mal zum Schreiben komme!

Bis bald

Deine Zelda

***

Liebste Freundin,

ich wünschte, ich hätte dir die letzten beiden Briefe nie geschickt, doch nun fühle ich mich dazu verpflichtet, dir das Ende meiner verrückten Reise zu erzählen. Meine einzige Hoffnung ist, dass du, wenn du aus dem Urlaub zurückkommst, diesen Brief auf dem Stapel ganz oben findest und ihn als ersten liest. Wenn dem so ist, bitte ich dich von ganzem Herzen, meine beiden anderen Briefe ungeöffnet zu verbrennen und diesen, sobald dieser Satz zu Ende ist, nicht weiterzulesen und ihn ebenfalls zu vernichten.

Wenn du diese Wörter nun liest, muss ich davon ausgehen, dass du alles gelesen hast, was ich bisher geschrieben habe, und ich schulde dir einen letzten, abschließenden Bericht.

Heute Nacht traf ich die Grüne Fee.

Ich habe mir einen Spaß daraus gemacht, in die von Scott gekennzeichneten Zimmer zu gehen, um herauszufinden, welche Fantasien ihn anziehen und, ich gebe es zu, ob er an diesem verwunschenen Ort heimlich eine Geliebte trifft. Doch seine Räume unterschieden sich nicht von den anderen und offenbarten mir keine neue Seite meines Ehemannes.

Vorhin also betrat ich eins seiner Zimmer und fand mich hinter einer prachtvollen Villa wieder, wo unter dem glitzernden Sternenhimmel eine Poolparty gefeiert wurde. Überall gab es Champagner und die Gäste trugen wundervolle Kleider und teuren Schmuck. Ich wunderte mich nicht, dass Scott sich davon angezogen fühlte. Leider sah er mich, bevor ich ihn sah. Sein zorniges »Zelda!« war trotz der Musik und vom anderen Ende des Pools aus zu hören. Doch bevor er mich erreichen konnte, war sie plötzlich da.

Auf den ersten Blick sah die Grüne Fee aus wie eine ganz gewöhnliche Frau, eher langweilig als hübsch, wenn da nicht ihre in hellem Grün schimmernde Haut gewesen wäre. Sie trug ein einfaches, langes Kleid und einen großen Hut, der tief in ihre Stirn gezogen war, sodass ich ihre Augen nicht sehen konnte. Auf mich wirkte sie mehr wie eine Geschäftsfrau als ein mystisches Monster, für das ich sie nach Oscars Erzählungen gehalten hatte. Ich gebe zu, ich war sogar etwas enttäuscht.

»Zelda, Liebes«, begrüßte sie mich wie eine alte Freundin. »Wie schön, dich endlich persönlich zu treffen. Gefällt es dir in meinem Reich?«

Ich versicherte ihr, dass es mir sehr gut gefalle, während sie sich bei mir einhakte und mich vom Pool und Scott, der sich durch die feiernde Menge kämpfte, fortführte.

Die Grüne Fee wollte wissen, in welchen Zimmern ich gewesen sei und welche mir am besten gefielen. Sie erzählte mir von vielen weiteren, die mir gefallen würden, und es klang wirklich wundervoll. Es gäbe eine Tür, die zu einer großen Theaterbühne führte, wo ich mit den besten Tänzern der Welt vor einem großen Publikum tanzen könnte, und unzählige, die mich zum Malen der größten Gemälde der Menschheit inspirieren würden. All das würde sie mir zeigen, mir all meine Träume erfüllen, wenn ...

»Wenn du mir zehn Lebensjahre schenkst.«

Ich hatte schon einmal in einer Geschichte, vielleicht einem Märchen, davon gelesen. »Du meinst, ich werde zehn Jahre früher sterben und dafür wirst du zehn Jahre länger leben? Wie ist denn so etwas möglich?«

»Magie«, lachte die Grüne Fee, als hätte ich sie gefragt, was Eins plus Eins ist. »Doch nicht zehn Jahre deines Lebens, sondern von der Person, die du am meisten liebst. Bei manchen Menschen ist es dasselbe«, sie blickte über ihre Schulter zu Scott, der uns fast erreicht hatte, »doch bei dir nicht.«

»Was hat ...«

»Dein Mann hat sich noch nicht entschieden, doch ich bin mir sicher, dass er meinem Angebot nicht länger widerstehen wird. Solltest du nicht annehmen, wirst du mein Reich nie wieder betreten können.«

Scott erreichte uns und die Fee war verschwunden.

Das, was nun folgte, erspare ich dir, denn du kennst meinen Mann und wirst dir seine Reaktion vorstellen können. Unser Streit wurde nur dadurch gebrochen, dass der Zauber bei mir nachließ und mich nach Hause schickte.