Steampunk Akte Deutschland

Steampunk Akte Deutschland

15 Steampunk-Geschichten aus Deutschland

 

Eine Anthologie mit Kurzgeschichten der folgenden Autoren

 

Detlef Klewer

Corinna Schattauer

Katharina Fiona Bode

Daniel Huster

Daniela Herbst

Kim Christine Wiefelspütz

Dennis Frey

Markus Cremer

Marion Fischl

Adrian Sommerfeldt

Ashley Kalandur

Isabelle Wallat

Fabian Dombrowski

Andrea Bienek

Daniel Schlegel

 

 

 

Die Steampunk Akten:

1. Steampunk Akte Deutschland

2. Steampunk Akten Asien

 

 

Impressum

 

Alle Rechte an den abgedruckten Geschichten liegen beim

Art Skript Phantastik Verlag und den jeweiligen Autoren.

 

Copyright © 2014 Art Skript Phantastik Verlag & Design

» www.artskriptphantastik.de

 

Lektorat/Korrektorat » Franziska Stockerer

» www.fs-textprojekt.de

 

Gesamtgestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag

Schmetterling » © lynea - Fotolia.com

 

 

Alle Personen, die nicht historisch belegt sind, sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

Gewinner des Deutschen Phantastik Preis 2015 als Beste Original-Anthologie

 

Vorwort

 

Guten Tag, werte Leserinnen und Leser,

 

 

mein Name ist … nun das tut nichts zur Sache. Nennen Sie mich einfach Der Archivar. Seit nunmehr fast fünfzig Jahren arbeite ich für eine Geheimorganisation, die ich Ihnen hier unter dem Namen Schmetterling vorstellen möchte. Die Agenten von Schmetterling sammeln seit mehreren Jahrhunderten Dokumente jeder Art, die sich mit den übernatürlichen Wesen der Nacht beschäftigen. Diese Schriften werden auf ihre Echtheit geprüft und dann an mich übergeben. Mir wurde die ehrenvolle Aufgabe übertragen, all diese Dokumente der Zeitgeschichte zu archivieren und für nachfolgende Generationen aufzubewahren.

 

Möglicherweise fragen Sie sich nun, warum diese ach so geheimen Akten nun plötzlich in einer Kurzgeschichtensammlung erscheinen. Nun, seit knapp einem Jahr steht Schmetterling unter einer neuen Führung und so gab es diverse Umstrukturierungen. Mein neuer Vorgesetzter ist der Meinung, die Akten müssten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, damit findige Leser wie Sie, ja genau Sie, sich der Gegenwart der dunklen Wesen bewusst werden und diese in ihrer Umgebung wahrnehmen.

 

Und mit diesen Worten überlasse ich Ihnen 15 der wichtigsten Akteneinträge aus Deutschland und verabschiede mich fürs Erste einmal von Ihnen.

 

 

Hochachtungsvoll

Der Archivar

 

 

Akteneintrag #1

Der mechanische Mann

Detlef Klewer | Von Spichern nach Berlin

 

Teufel! Dämonen! Gebrülltes Entsetzen.

Pulverqualm vom Dauerfeuer der Hinterlader auf beiden Seiten der Kampfeslinie wehte über das Schlachtfeld. Das Zündnadelgewehr zitterte in seinen Händen, während er auf herannahende Soldaten zu zielen versuchte. Sie schritten langsam auf seine Stellung zu, fast behäbig. Aber mit nervenzerfetzender Zielstrebigkeit. Unaufhaltsam …

Er presste die Kiefer aufeinander, damit seine Zähne nicht vor Angst zu klappern begannen – wie die seines jungen Kameraden neben ihm.

Teufel oder Dämonen … die Bezeichnung traf exakt auf diese Männer in den französischen Uniformen zu, die jetzt trotz Dauerfeuer preußischer Gewehre unbeirrbar gegen deren Stellungen marschierten. Sie mochten alles sein – nur keine Menschen. Bis zu ihrem Erscheinen hatte das Bataillon, dem Georg Hasenkamp als Gefreiter angehörte, den Vorstoß der Franzosen gestoppt. Doch nun wendete sich das Blatt.

Keine Kugel vermochte diese feindlichen Kämpfer an ihrem Vormarsch zu hindern.

Die Geschosse drangen ohne sichtbare Wirkung in ihre Körper. Einem von ihnen hatte der Kugelhagel den rechten Arm nahezu gänzlich abgetrennt und er baumelte herab, nur noch von Sehnen gehalten. Doch nicht einmal diese tödliche Verwundung hielt den Soldaten auf.

Hasenkamp zielte sorgfältig und betätigte den Abzug. Das Projektil schlug in der Brust des feindlichen Soldaten ein, der jedoch nicht zu Boden fiel, sondern sich schüttelte, als müsste er sich lediglich eines lästigen Insekts erwehren.

»Bajonett aufpflanzen!«, brüllte Hasenkamp in den Schlachtlärm. Die Soldaten neben ihm gehorchten augenblicklich, obgleich er ihren Angstschweiß beinahe riechen konnte. Nur noch wenige Sekunden bis zum Feindkontakt. Jetzt hieß es Kampf Mann gegen Mann.

Der erste Franzose erreichte ihn und ging auf ihn los … mit bloßen Händen! Hasenkamp starrte in dessen weiße Augen und zuckte zurück.

Sie sahen aus wie die eines Toten, leblos, starr. Er versetzte seinem Angreifer einen Stoß mit dem Gewehrkolben, durchbohrte ihn dann mit dem Bajonett, riss die Klinge wieder heraus und ging erneut in Verteidigungsstellung. Der preußische Drill lenkte seine Bewegungsabläufe geradezu instinktiv. Der Franzose taumelte ein paar Schritte zurück und ging unbeirrt erneut zum Angriff über. Diesmal schwang Hasenkamp seinen Hinterlader und trieb das Bajonett von unten durch den Unterkiefer in das Gehirn des feindlichen Soldaten. Der brach endlich zusammen und riss Hasenkamp durch den Sturz die Waffe aus den Händen. Schon war der nächste Gegner herangekommen und stürzte sich auf den Entwaffneten.

Neben Hasenkamp wimmerte Julius Leidenfrost. Ein großer, hagerer Junge von vielleicht siebzehn Jahren mit weichen Gesichtszügen und einer hohen Stimme, der ein kleines silbernes Kreuz geküsst hatte, ehe die Schlacht begann. So jung, dachte der Gefreite bedauernd, während er sich der wütenden Attacke des Franzosen erwehrte. Diese Augen …

Dann erklangen die hässlichen Geräusche eines aufbrechenden Körpers. Menschliches Fleisch prallte auf die Erde. Aus dem Augenwinkel sah Hasenkamp den jungen Rekruten. Er lag ein paar Meter entfernt im Dreck, in Stücke zerrissen, halb versunken im Blut und bedeckt mit seinen eigenen Eingeweiden.

Schüsse krachten. Aus ihrer Deckung feuerten die Franzosen weiter. Eine Kugel prallte seitlich an Hasenkamps Pickelhaube ab. Eine weitere riss seinem Angreifer das Ohr ab.

Mein Gott, dachte Hasenkamp entsetzt, die schießen auf ihre eigenen Leute … Dann traf ihn eine Kugel in die Brust und seine Füße verloren den Halt auf dem nun schwankenden Boden. Er stürzte, der Helm fiel von seinem Kopf und holperte davon. Das Atmen fiel schwer. So schwer … Hatte ihm die Kugel die Lungen zerfetzt?

Dann war der grimmige Angreifer über ihm. In den nächsten Sekunden würde er Julius Leidenfrosts Schicksal teilen. Er versuchte den Kopf zu heben, streckte einen Arm zur Abwehr aus. Doch der Arm wurde gepackt und verschwand aus seinem Blickfeld. Der folgende Schmerz war unerträglich.

Hände hielten ihn fest, drehten ihn zur Seite und er blickte auf den kopflosen Rumpf eines Kameraden. An den Namen konnte er sich nicht mehr erinnern, doch was einst ein Mensch gewesen war, war nur noch totes Fleisch.

Tränen traten in Hasenkamps Augen. Also würde auch er heute auf dem Feld der Ehre sterben.

Dann verschwand die Last, die seinen Brustkorb schier zerquetscht hatte. Ein wuchtig geführter Degenhieb trennte den Kopf des Franzosen von dessen Körper. Der Torso stürzte zur Seite.

Preußische Militärstiefel traten in Hasenkamps sich trübendes Blickfeld. Der Soldat, der sie trug, war riesig. Mindestens zwei Meter groß. Seine Gesichtszüge besaßen etwas Wächsernes, seltsam Lebloses und eine riesige Narbe zog sich quer über seine Stirn. Dann versank Hasenkamp in einem dunklen Meer des Vergessens.

 

Ein Engel, dachte Hasenkamp, als er das von blonden Locken umrahmte, schöne, aber sehr blasse Antlitz sah, das sich über ihn beugte. Ich bin gestorben und im Paradies.

»Er ist aufgewacht, Professor«, sagte das himmlische Wesen. Dann wandte der Engel den Kopf und eine hässliche Narbe auf der Wange wurde sichtbar.

Also doch kein Engel, kein Paradies. Er lebte, aber er konnte sich nicht rühren. Einen Augenblick beherrschte ihn die Furcht, womöglich gelähmt zu sein, doch dann bemerkte er breite Ledergurte, die ihn an sein Lager fesselten.

Nun schob sich ein bleiches, ihn aufmerksam musterndes Gesicht mit silbernem Haarschopf in sein Sichtfeld. Offenbar gefiel ihm der Anblick, denn ein Lächeln erstrahlte auf dem runzligen Gesicht des alten Mannes.

»Keine Eintrübung der Pupillen, keine Blutungen … das sieht vielversprechend aus. Helfen Sie ihm bitte auf. Wir müssen seinen Blutkreislauf in Schwung bringen.«

Die Frau öffnete die Ledergurtverschlüsse und als sie ihm in eine sitzende Position half, spürte Hasenkamp überrascht die Kraft muskulöser Arme. Ihm wurde schwindelig, sein Blick trübte sich – doch dann akzeptierte sein rebellierender Kreislauf die aufrechte Körperhaltung und er nahm seine Umgebung wieder deutlich wahr.

Er befand sich in einem weitläufigen Raum, der eine Mischung aus Labor und Untersuchungszimmer zu sein schien. Neben seiner Liege stand ein großer Arbeitstisch mit vier Gasflammen. Darauf befand sich ein Aufsatz mit Glas- und Porzellangeräten. Auf einem zweiten, weiß gekachelten Tisch lag etwas Riesiges, das mit einem Tuch bedeckt war. Ein menschlicher Körper? Aber wo befand sich dann … der Kopf?

Neben diesem Tisch war ein Ofen installiert. Es gab außerdem noch ein größeres, kupfernes Wasserbad, diverse Waagen, physikalische Instrumente und einen verschließbaren Glasschrank – offenbar mit Chemikalien gefüllt.

»Stellen Sie sich auf!«, befahl die Blonde. Er gehorchte, aber seine Beine gaben nach, sobald die Füße den Boden berührten. Doch er fiel nicht, denn die junge Frau hielt ihn mit erstaunlich eisernem Griff. Langsam erlangte er die Kontrolle über seine Beine zurück und er vermochte tatsächlich aus eigener Kraft zu stehen. Der Boden unter seinen Füßen vibrierte sanft. Nun konnte er die Frau erstmals genauer betrachten.

Sie trug die blaue Gardeuniform der preußischen Armee und der Stern auf den Schulterstücken wies sie als General-Leutnant aus. Das verblüffte ihn. Es gab keine Frauen im preußischen Heer!

»Wer … sind Sie?«

»Nun, Gefreiter Hasenkamp, es steht Ihnen nicht zu, diese Frage an eine Vorgesetzte zu richten«, erwiderte sie scharf. »Aber … angesichts der Umstände übersehe ich diesen Mangel militärischer Disziplin. Ich bin General-Leutnant Marie von Thadden und kommandiere dieses Schiff. Noch Fragen?«

Hasenkamp bemühte sich, Haltung anzunehmen, aber in seinem geschwächten Zustand gab er eine traurige Figur ab. »Wo bin ich, General-Leutnant?«

»Sie befinden sich an Bord der LS Bismarck auf dem Weg nach Berlin.« Die Aussage verwirrte ihn. »Wir sind auf einem … Schiff? Auf dem Weg nach Berlin? Wie ist das möglich ohne Wasserstraßen?« Die junge Frau lächelte knapp. »Kein Schiff, ein Luftschiff!«, erklärte sie. Hasenkamps Verwirrung stieg. »Was ist ein Luftschiff? Ein Schiff, das durch die Luft fliegt?«

»Sie haben es erfasst. Ich bewundere Ihre messerscharfe Kombinationsgabe.« Ihre Stimme klang leicht amüsiert. Hasenkamp schwankte. Das war verrückt!

»Verwirren Sie unseren Patienten nicht allzu sehr, General-Leutnant«, schaltete sich der Professor ein. »Er benötigt noch ein paar Minuten, um sich zu stabilisieren.«

Die Kommandantin winkte ab.

»Ich bin sicher, Gefreiter Hasenkamp ist widerstandsfähiger als Sie vermuten, Professor.« Sie wandte sich wieder an Hasenkamp, der sich bemühte, das Gehörte zu verdauen. »Sie haben die Erlaubnis weitere Fragen zu stellen.«

»Was ist mit mir geschehen? Ich dachte, ich müsste sterben.«

»Eine Flobert-Kugel steckte unmittelbar neben ihrem Herzen und den fehlenden Unterarm mussten wir ersetzen«, erwiderte sie sachlich. »Sie werden daher in der Öffentlichkeit einen Lederhandschuh tragen müssen. Außerdem haben wir Ihre Lungen durch … nun, sagen wir der Einfachheit halber … pneumatische Pumpen ausgetauscht. Sobald Sie sich erholt haben, werden Sie sich erstaunlicher Ausdauer rühmen können. Im Übrigen … können Sie immer noch Kinder zeugen, sofern das Ihre Sorge sein sollte.«

Hasenkamp hob fassungslos die Augenbrauen. Er trug einen Handschuh und sein Unterarm schien zwar gefühllos, aber auf seinen Befehl hin begannen sich seine Finger gehorsam zu bewegen. Es klickte leise, als er sie zur Faust ballte. Alles schien in bester Ordnung.

»Bei allem Respekt, General-Leutnant. Ich bin ein einfacher Soldat. Medizinische Einzelheiten sind mir nicht vertraut, aber eines weiß ich mit Sicherheit: Meine Verletzungen hätten tödlich sein müssen. Viele meiner Kameraden sind an leichteren Verwundungen gestorben.«

»Danken Sie unserem verehrten Meisterchirurgen Professor von Beck für Ihre Rettung«, sagte Von Thadden. Der Professor nickte dankbar in ihre Richtung.

»Das Ganze ist nicht mein alleiniger Verdienst«, erklärte er bescheiden. »Es ist ein Triumph der Elektromedizin und Galvanotherapie, mit etwas feinmechanischer Hilfe.« Er wies auf Hasenkamps Unterarm. »Ziehen Sie den Handschuh aus.«

Der Gefreite entfernte den Handschuh – und erstarrte.

Entsetzt sah er, dass statt menschlicher Haut zweifarbiges Metall zum Vorschein kam.

»Eine Kupfer-Stahl-Legierung«, erklärte der Professor stolz. »Im Inneren ermöglicht feinmechanisches Räderwerk die manuellen Bewegungen. Von den Fähigkeiten einer menschlichen Hand nicht zu unterscheiden. Ein Meisterwerk unseres Königlichen Hof-Uhrmachers Johann Carl Rahsskopff.«

Hasenkamp schüttelte ob dieser kaum zu begreifenden Informationen den Kopf. Er bewegte vorsichtig die mechanische Hand, die allen seinen Befehlen problemlos folgte. »Aber … warum ich? Das alles muss ein Vermögen gekostet haben. Ich bin doch nur ein normaler Gefreiter?«

»Sie waren sehr tapfer da draußen, deshalb sind Sie hier. In Ihnen steckt mehr, als Sie selber ahnen«, schaltete sich der General-Leutnant wieder in das Gespräch ein. »Nur wenige Menschen überleben eine direkte Konfrontation mit einem Zombie.«

»Zombie? Was in drei Teufels Namen ist ein Zombie?«

»Ein lebender Toter.«

»Bei allem Respekt, aber das ist doch Unsinn!«

Von Thadden antwortete nicht und ließ ihm Zeit, seine Erlebnisse auf dem Schlachtfeld Revue passieren zu lassen. »Aber … das kann doch nicht sein ...«, beharrte er, während Zweifel in ihm aufstiegen. Sie fixierte ihn nachsichtig. Er kam sich zunehmend lächerlich dabei vor, Augenscheinliches weiterhin beharrlich zu leugnen. Es war zwar verrückt, aber nur diese Erklärung konnte die Ursache dafür sein, weshalb Kugeln keine Wirkung auf die vorrückenden feindlichen Soldaten zeigten. Dann erinnerte er sich an diese riesige Gestalt, die zu seiner Rettung erschienen war.

»Wer war dieses Narbengesicht in unserer Uniform?«

Professor von Beck sah ihn nachdenklich an. Dann warf er dem General-Leutnant einen kurzen Seitenblick zu. »Nun gut, ich denke, wir schulden Ihnen tatsächlich eine kurze Erklärung«, begann er auf ihr zustimmendes Nicken hin. »Vor etwa zwanzig Jahren starb in England eine Frau, die uns die Baupläne für die Entwicklung dieser Geschöpfe verschaffte. Nicht ganz … freiwillig, aber unsere Spione befanden sich zur rechten Zeit am rechten Ort. Moralisch betrachtet sogar zu Recht, denn die besagte Dame hatte diese Pläne während ihrer Europareise dem damaligen Besitzer der Burg Frankenstein abgeschwatzt. Aber erst ihre literarische Auswertung brachte uns auf die Spur, denn wir wussten nicht, dass der Alchemist Konrad Dippel hinter diesen Mauern derartig interessante Forschungen betrieben hatte.« Langsam erwärmte er sich für sein Thema. »Schon Aristoteles vertrat die Theorie, dass Lebewesen aus unbelebter, toter Materie entstehen könnten. Heinrich Cornelius Agrippa von Nettelsheim beschäftigte sich 1510 in seiner Occulta Philosophia mit dem Automatenbau. Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, verfasste 1541 sein Buch De natura rerum über die Erschaffung künstlichen Lebens. Der Italiener Luigi Aldini belebte 1803 die Leiche eines Gehängten mittels Voltascher Säulen und ...« Der Professor stockte, als er einen strafenden Blick des General-Leutnants erntete und errötete leicht. »Entschuldigen Sie, ich schweife wohl ein wenig ab. Aber natürlich waren das lediglich Ausgangspunkte. Unsere preußischen Wissenschaftler blieben in der Zwischenzeit nicht untätig. Sie haben diese Basistheorien erforscht und entscheidend verbessert.« Er rieb zufrieden die Hände.

»Ihre Forschungsergebnisse verschaffen uns nun gegenüber den Franzosen den entscheiden Vorteil: Während sie mittels Giftmischerei und Voodoozauber lediglich hirntote Zombies hervorbringen, haben wir mit Hilfe der Wissenschaft denkende Automaten entwickelt. Ausgestattet mit gewaltiger Körperkraft. Leider ...« Er schüttelte missbilligend den Kopf. »Leider ist der Herstellungsprozess sehr kompliziert. Der Krieg bietet zwar eine Menge an – nun, sagen wir: Rohmaterial. Aber die Körper müssen sehr kräftig und weitgehend unversehrt sein. Außerdem benötigt die Produktion noch lange Zeiträume, wenngleich wir an einer Optimierung des Vorganges arbeiten.«

Von Thadden nickte. »Wir haben bisher nur siebzehn künstliche Soldaten geschaffen, aber sie erwiesen sich als sehr effektiv. Bedauerlicherweise wurden fünf dieser Soldaten während des Einsatzes in Spichern irreparabel beschädigt. Das Bataillon dieser Untoten ist allerdings ausgelöscht und es wird unseren Gegner ebenfalls viel Zeit kosten, neue lebende Leichen zu erschaffen.«

Sie straffte sich. »Und nun ziehen Sie eine saubere Uniform an und folgen mir auf die Brücke. Wir nähern uns unserem Zielort. Da gehört ein Kommandant auf seinen Platz. Ich habe meine Pflichten ohnehin schon zu sehr vernachlässigt.«

 

»Kommandant auf der Brücke!«, gellte es bei ihrem Eintritt durch den riesigen Raum. Die fünf anwesenden Männer nahmen augenblicklich Haltung an.

»Danke, meine Herren. Rühren!«, bellte Von Thadden und wandte sich an den Offizier zu ihrer Rechten. »Meldung!«, verlangte sie.

Hasenkamp war derweil zu den riesigen Panoramafenstern gewankt, die den Raum umgaben. Er starrte auf ein Gewirr von Straßen … hinunter! »Wir fliegen!«, krächzte er tonlos. So viele unglaubliche Informationen waren in den vergangenen Minuten auf ihn niedergeprasselt – und nun dies: fliegen!

Ihm stockte der Atem. Zwar hatte Von Thadden von einem Luftschiff gesprochen, aber es zu hören, war die eine Sache. Zu sehen, wie sie hoch über den Dächern von Berlin schwebten, eine ganz andere. Verzweifelt bemühte er sich, inmitten wirbelnder Gedanken und Gefühle sein inneres Gleichgewicht zurückzugewinnen.

»Landeanflug!« Die Befehlsgewohnte Stimme des General-Leutnants hallte durch die Kommandozentrale. Dann wandte sie sich an Hasenkamp, der sich an einem Tisch festhielt, auf dem etliche verschiedene Landkarten ausgebreitet waren.

»Otto will Sie persönlich kennenlernen.«

»Otto?«

»Otto von Bismarck, unser Reichskanzler. Er kommandiert unser Flaggschiff – die LS Wilhelm I. – sofern ihm die Staatsgeschäfte Zeit dazu lassen.«

»Entschuldigung, General-Leutnant, was will er von mir?«

»Das wird er Ihnen selbst sagen«, lautete die lapidare Antwort.

 

Der legendäre Bismarck saß an seinem Schreibtisch, studierte zwei großformatige Pigmentdrucke und trommelte ungeduldig mit seinen Fingern auf der Tischplatte. Sein Schnurrbart war buschig und sorgfältig gepflegt. Er hob den Kopf und ein scharfer Blick musterte die Eintretenden.

In diesen Augen liegen der gesamte Schmerz und das Wissen der Welt, gepaart mit absoluter Skrupellosigkeit und unbezwingbarem Machthunger, dachte Hasenkamp. Diese alten Augen taxierten, sezierten und katalogisierten ihn gnadenlos. Er fühlte sich ausgeliefert, doch Bismarck schien mit dem, was er da sah, zufrieden zu sein, denn seine strenge Miene entspannte sich ein wenig.

Er wies generös auf Mengen von Speisen, die einen großen Beistelltisch bedeckten: Möveneier, Erbsenpüree, Rinderpökelbrust, Gurkensalat, Forelle Blau mit Butter, Spargel, Kalbsbraten, Apfelsineneis.

»Greifen Sie zu, Gefreiter Hasenkamp. Sie sind sicher hungrig. Wie ich Professor von Beck kenne, hat er nicht daran gedacht, Ihnen eine Mahlzeit anzubieten. Unser geschätzter Generalmajor ist manchmal bemerkenswert nachlässig, wenn es um die Ernährung seiner Patienten geht.«

Hasenkamp schüttelte den Kopf. Seine Gedanken schwirrten wild durcheinander und ihm war nicht nach essen zumute. Bismarck nickte verständnisvoll und reichte nun die beiden Bilder in seiner Hand Von Thadden.

»Unsere Luftaufklärung meldet, dass die Franzosen ihre Kräfte bei Sedan bündeln, meine Liebe.« Der General-Leutnant warf einen flüchtigen Blick auf die Luftaufnahmen.

»Dann sollten wir General von Moltke darüber informieren.«

Bismarck lehnte sich zurück. »Das ist schon geschehen. Er lässt bereits die Artillerie rund um die Stadt in Stellung gehen. Wir werden den verdammten Franzosen die überlegene Feuerkraft unserer Krupp-Geschütze demonstrieren.« Bismarck legte die Bilder zurück.

»Und nun zu Ihnen, Gefreiter Hasenkamp. Für einen Mann mit Ihren Fähigkeiten hat Preußen eine besondere Aufgabe. Ich erhebe Sie in den Rang eines Hauptmanns. Sie gehören ab sofort der Feld-Sicherheitspolizei an. In dieser Eigenschaft haben Sie völlige Handlungsfreiheit und sind nur mir, General-Leutnant von Thadden und dem Chef der Verkehrsüberwachung, Wilhelm Stieber, Rechenschaft schuldig. Was sagen Sie dazu, junger Mann?«

Hasenkamp dachte nach. Er bezweifelte, dass Bismarck ihn vom Haken lassen würde, nur weil er für sich eigentlich eine andere Zukunft geplant hatte, möglichst mit Frau und Kindern. Nicht, nachdem ein Vermögen an Reichstalern in seine Genesung investiert worden war. Er musste sich eingestehen, dass es ihn außerdem durchaus reizte, die Möglichkeiten seiner mechanischen Hand auszuprobieren. Und wie hatte der schöne General-Leutnant süffisant angemerkt? Er konnte immer noch Kinder zeugen. Später.

»Bleibt mir eine Wahl, Herr Reichskanzler?«, fragte er schließlich.

»Eigentlich nicht«, antwortete Bismarck belustigt. »Offiziell sind Sie auf dem Schlachtfeld von Spichern gefallen. Ich bin mir zudem sehr sicher, dass Sie den Dienst an unserem Vaterland nicht verweigern wollen.«

»Sie haben natürlich recht, Herr Reichskanzler«, stimmte Hasenkamp zu. »Ich werde die mir zugewiesenen Aufgaben selbstverständlich erfüllen.«

Bismarck schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und erhob sich. »Wunderbar! Dann lassen Sie sich die entsprechende Ausrüstung und Uniform geben.« Er griff nach einer kleinen Glocke und schüttelte sie vernehmlich.

Nach wenigen Sekunden klopfte es respektvoll. Die Tür am Ende des Raumes öffnete sich und ein hochgewachsener Mann in Dienerlivree betrat den Raum, auf der flachen Hand ein Silbertablett. Darauf eine Ausgabe der Kreuzzeitung.

Hasenkamp ging auf die Tür zu und begegnete dabei seinem Blick. Weiße Augen! Ähnlich denen, die ihn in der Schlacht das nackte Grauen gelehrt hatten. Die Augen eines Toten!

Erschrocken hielt er in der Bewegung inne, wandte sich rasch um – doch er war nicht schnell genug. Der Diener griff unter die Zeitung, ließ das Silbertablett fallen und hielt nun einen Revolver in der Hand. Ehe Hasenkamp ihn aufhalten konnte, feuerte er. Eine Kugel traf den überraschten Bismarck seitlich in die Brust. Marie von Thadden schrie überrascht auf und rannte los, um den Attentäter aufzuhalten. Sie war zwar schnell, doch zu weit entfernt, um eingreifen zu können. Eine zweite Kugel drang unmittelbar neben der ersten in die ungeschützte Brust des Reichskanzlers.

Dann war Hasenkamp neben dem Attentäter und griff nach der Waffe. Seine mechanische Hand schloss sich um die Schusshand des Mannes und drückte zu. Knochen brachen mit hässlichem Knacken, während Hand und Waffe zusammengepresst wurden. Hasenkamp erschrak über die gewaltige Kraft, die seiner neuen Hand innewohnte. Doch der Attentäter ließ keinen Schmerz erkennen und versuchte, die Waffe aus der nutzlos gewordenen Hand zu ziehen, um erneut auf Bismarck zu feuern. Hasenkamp schlug zu und hörte das Genick des Angreifers brechen. Wie eine Marionette, deren Fäden gekappt worden waren, stürzte der Mann zu Boden.

Marie von Thadden schob Hasenkamp zur Seite und kniete sich neben den Toten. Hasenkamp hatte sich voller Entsetzen umgewandt, um Bismarck zu Hilfe zu eilen. Die zwei Kugeln mussten tödlich gewesen sein. Doch Bismarck stand unbeeindruckt an seinem Schreibtisch und schnaufte empört. »Hauptmann Hasenkamp, das war etwas voreilig. Wir hätten ihn gerne noch verhört.«

Von Thadden zuckte die Achseln. »Der neue Arm des Hauptmanns ist zunächst schwer zu kontrollieren, wenn man die Mechanik noch nicht beherrscht.« Sie beugte sich über den Toten und wandte sich an den Reichskanzler. »Er hätte uns allerdings sowieso nichts verraten können. Es ist ein Zombie.«

»Nun, ich überlebe nicht das erste Attentat«, erklärte Bismarck mit einem Lächeln, das Hasenkamp nicht einzuordnen wusste. »Aber, dass mein eigener Kammerdiener sich als französischer Agent entpuppt, geht doch ein wenig zu weit«, grollte er und hielt eine Hand unter die Einschusslöcher. Hasenkamp erstarrte fassungslos, als er die Projektile aus den Eintrittslöchern fallen sah.

»Regenerative Fähigkeiten«, kommentierte Bismarck leichthin und betrachtete die Geschosse. »Zum Glück keine Silberkugeln. Die wären schmerzhafter und vielleicht tödlich gewesen.«

»Was …?« Hasenkamp verstand nicht, was er da sah und hörte.

»Na, kommen Sie schon! Denken Sie nach! Man weiß doch: Alle Adeligen sind Blutsauger. Wer sagte das doch gleich? Ach ja, dieser verrückte Franzose … Voltaire.« Er lachte zufrieden. »Nun ja, alle ist ein wenig übertrieben, aber zumindest für die hier Anwesenden … zutreffend.«

»Ich fürchte, dieses Attentat war nur ein Ablenkungsmanöver«, bemerkte Maria von Thadden, ohne weiter auf Bismarcks Bemerkung einzugehen.

»Ach was, unmöglich!«, entrüstete sich Bismarck. »Wer treibt derartigen Aufwand für ein Ablenkungsmanöver?«

»Jemand, der uns weitaus empfindlicher treffen will.«

»Du sprichst in Rätseln, meine Teuerste«, erklärte Bismarck.

»Niemandem könnte es gelingen, durch unser Sicherheitsnetz unbemerkt einen Untoten aus Frankreich hier einzuschleusen. Außerdem war Fortunato schon einige Zeit in deinen Diensten, also wäre es dir sicher aufgefallen, wenn ein Zombie dir in die Anzüge hilft.« Von Thadden schüttelte nachdrücklich den Kopf.

»Nein, jemand muss seine Verwandlung hier vor Ort vorgenommen haben. Das würde allerdings bedeuten, dass sich ein Bokor hier in Berlin aufhält.«

»Völlig unmöglich!«, beharrte Bismarck.

»Mein lieber Otto, nicht alle Intrigen und Verschwörungen richten sich ausschließlich gegen deine Person.« Die junge Frau lächelte süffisant. »Zumindest gelegentlich richten sie sich auch gegen andere staatstragende Persönlichkeiten.«

»Verdammt, das Ziel ist der … König!«, fluchte Hasenkamp entsetzt. Bismarck musterte ihn erneut mit diesem durchdringenden Blick, der sicher vielen politischen Gegnern den Schweiß auf die Stirn getrieben und ihnen ihre Entschlusskraft geraubt hatte. Doch diesmal ließ sich Hasenkamp nicht beirren.

»Wenn das Ziel nicht unser Reichskanzler war, dann bleibt nur noch der König!«

»Ich sagte bereits, der Hauptmann besitzt eine bemerkenswerte Kombinationsgabe«, erklärte Von Thadden selbstzufrieden.

»Zum Teufel, möglicherweise habt ihr sogar recht«, gab Bismarck widerwillig zu. »König Wilhelm besucht heute auf dem Gendarmenmarkt die Premierenvorstellung des Wilhelm Tell im Königlichen Schauspielhaus. Sollte eure Theorie zutreffen, dann wäre dies eine ideale Gelegenheit. Jemand muss das verhindern!«

Hasenkamp warf dem General-Leutnant einen raschen Seitenblick zu und sie nickte zustimmend.

»Unser mechanischer Mann und seine Vampirbegleiterin mischen sich unter die Gäste und halten Ausschau nach Zombies und Voodoozauberern.« Bismarck nahm die leichte Ironie ungerührt zur Kenntnis.

»In Ordnung, ich werde dafür Sorge tragen, dass Sie auf der Gästeliste stehen.«

Marie von Thadden ließ ihren Blick prüfend über die illustre Gästeschar schweifen. Dann erstarrte sie.

»Verflucht!«, zischte sie aufgebracht. »Das ist Leutnant Eduard Serreau. Wie, zum Teufel, konnte der trotz unserer Kontrollen einreisen?«

»Wer ist Eduard Serreau?«, erkundigte sich Hasenkamp.

»Der Mann dort hinten neben der Portikus-Säule. Der mit dem schmalen Bärtchen. Er ist der Kommandeur des Zombiekorps. Die Toten stehen auf lautet sein Motto. Ein sehr gefährlicher Mann.«

Von Thadden bedeutete ihm, ihr zu folgen. »Kommen Sie. Er verschwindet gerade durch die Seitentür.«

Hasenkamp öffnete vorsichtig die Tür und stellte erfreut fest, dass ihm der Gebrauch seiner mechanischen Hand immer besser gelang. Eine Wendeltreppe führte hinab.

Der Raum, den sie unten betraten, war – zwischen romanischen Holz- und Gipssäulen sowie löchrigen Theaterkulissen – überladen mit Brokatkleidern, ausgestopften Tieren und antiken Waffen. Der Staub mitleidloser Vernachlässigung bedeckte das heillose Sammelsurium. Inmitten dieses allgemeinen Verfalls befand sich – einem Fremdkörper gleich – eine auf Hochglanz polierte Maschine aus Kupfer, Stahl und Glas. Ein rundes Sichtfenster ermöglichte den Blick auf eine grünlich schimmernde, zähe Flüssigkeit in ihrem Inneren. Über dieser Scheibe befand sich eine undurchsichtige Metallkugel. Unter dieser Konstruktion von Behältnissen setzte sich in diesem Augenblick langsam eine Dampfmaschine in Bewegung. Schläuche und Metallleitungen führten ohne erkennbares System hierhin und dorthin.

»Oh, verflucht!«, schimpfte Von Thadden. Offenbar hatte sie die Funktion der Maschine bereits erkannt.

Respekt und Furcht einflößend stand dieses mechanische Wunderwerk da – mit zahlreichen Ventilen, Schwungrädern und Zylindern. Hasenkamp erschauerte.

Das rhythmische Zischen der Dampfventile klang in seinen Ohren bösartig wie der Atem des Drachen, der den Hort der Nibelungen bewachte und unwillkommene Eindringlinge witterte.

Stahl schlug auf Stahl. Kolben setzten sich in Bewegung und Zahnräder begannen sich zu drehen. Funken sprühten. Eine Höllenmaschine, die ganz offensichtlich unaufhaltsam Fahrt aufnahm und unzweifelhaft einer tödlichen Zweckerfüllung diente.

Von Thadden fluchte noch einmal derbe, dann hob sie zu Hasenkamps Überraschung ihren Rock und entblößte ein makelloses, seidenbestrumpftes Bein.

»Es ist unhöflich auf meine Beine zu starren, Hauptmann!«, bemerkte Von Thadden tadelnd. Hasenkamp errötete und wandte die Augen ab.

»Aber … es ist einen Blick wert«, murmelte er. Sie bedachte ihn mit einem undeutbaren Seitenblick, während sie einige Instrumente und eine kleine Pistole aus ihren Kleidungsverstecken hervorholte. Dann ließ sie den Rock wieder fallen und streckte ihm eine Waffe entgegen.

»Los, gehen Sie und halten Sie Serreau auf. Ich versuche inzwischen, diese schreckliche Maschine zu entschärfen.«

»Was? Ich lasse Sie hier nicht allein!«

»Hauptmann, wir haben eine Mission. Ich entschärfe die Maschine, Sie jagen Serreau.«

»Aber ...«, versuchte Hasenkamp zu widersprechen, doch sie schnitt ihm das Wort ab. »Hier können Sie nichts tun. Wenn es mir nicht gelingt, den Mechanismus zu unterbrechen, dann werden alle Gäste dort oben sterben. Und es bleibt keine Zeit mehr, diese Menschen in Sicherheit zu bringen. Also, schnappen Sie Serreau. Das ist ein Befehl, Hauptmann!«

Hasenkamp salutierte knapp und rannte los. Er durchquerte den Requisitenraum, schlüpfte durch die Tür und lief den angrenzenden Gang entlang. Er verlangsamte seine Geschwindigkeit erst, als die nächsten Türen in Sichtweite kamen. Vorsichtig drückte er die zu seiner Linken auf. Sie öffnete sich leise quietschend. Er verzog verärgert das Gesicht. Die falsche Tür, er hatte vorher kein Geräusch vernommen. Und nun seinen Gegner möglicherweise gewarnt.

Also der Eingang gegenüber. Diese Tür öffnete sich nahezu lautlos. Er schlüpfte in einen weiteren Raum voller Theaterutensilien. Ein ideales Versteck, um ihm aufzulauern. Am anderen Ende des Raumes erkannte er eine weitere Tür und war schon fast auf dem Weg zu ihr, als er bemerkte, dass ein schweres Schloss sie verriegelte. Serreau war hier also gefangen.

Hasenkamp lächelte. »Sie sitzen in der Falle!«

»Sie sind von bemerkenswerter Hartnäckigkeit«, ertönte eine Stimme hinter ihm. Leise, aber fest, wie die eines Mannes, der es gewohnt ist, dass Stille eintritt, sobald er spricht. Serreau.

Hasenkamp staunte über das akzentfreie Deutsch des Franzosen. Diese Fähigkeit würde jeden, der sein Gesicht nicht kannte, davon überzeugen, mit einem Landsmann zu sprechen. Der Franzose trat mit einem Revolver im Anschlag aus dem Schatten.

»Ach, nur ein einzelner Mann?« Es klang erheitert. Sein Gesicht verzog sich zu einem überheblichen Lächeln. »Ich glaubte mich schon in Schwierigkeiten.« Der herablassende Tonfall entsprach seinem arroganten Auftreten.

Sein Gesicht war lang und schmal. Nahezu weiße Haut spannte sich über fleischlosen Wangenknochen. Im Zwielicht der Katakombe glich sein Antlitz einem Totenschädel.

»Es überrascht mich, dass Sie Ihre Flucht nicht sorgfältiger geplant haben«, bemerkte Hasenkamp und wog insgeheim seine Chancen ab.

Der Mann grinste freudlos. »Flucht … war nicht geplant.«

»Ein Revolver? Ist ein derartig profanes Werkzeug eines dunklen Magiers würdig?«, spottete Hasenkamp in der vagen Hoffnung, seinen Gegner aus der Reserve zu locken. Er wies in gespieltem Amüsement auf ein unförmiges Gummigebilde an Serreaus Seite.

»Also nein! Auch noch eine Gasmaske! Sie enttäuschen mich mehrfach, Leutnant Serreau.«

Der Franzose schwieg. Vermutlich wollte er mehr erfahren. Trotz seiner zur Schau getragenen Selbstsicherheit konnte er nicht einschätzen, ob eine Vereitelung seines Plans möglich war.

»Nun, diese Maske deutet auf den Einsatz von Gas hin.« Hasenkamp versuchte Zeit zu gewinnen. »Ihre Maschine ist ein Meisterwerk.«

»Es handelt sich um eine chemische Reaktion«, erklärte Serreau wider Willen geschmeichelt. »Vermischen sich die zwei Komponenten, entsteht eine Art Nervengas, das meiner Mischung zur Erschaffung von Zombies ähnelt. Allerdings … sorgt dieses Gemisch nicht für eine Auferstehung. Obwohl der Gedanke durchaus verlockend war.« Er schüttelte ironisch bedauernd den Kopf. »Nun ja, man kann schließlich nicht alles haben. Aber einige tausend Tote, darunter viele führende Köpfe Ihres Landes, sind ja auch kein schlechtes Ergebnis.«

»Sie Teufel! Ich bin sicher, General-Leutnant von Thadden wird Ihren Plan vereiteln.«

»Selbst wenn es unserem fähigen General-Leutnant gelingen sollte, meine Maschine zu stoppen, so ist der Untergang Ihres Reiches nur eine Frage der Zeit.«

»Nun, das werde ich verhindern, indem ich Sie hier und jetzt aufhalte.«

»Ah ja, ein ehrenwertes Unterfangen, kleiner Soldat. Doch ich muss Sie enttäuschen. Ihr leider allzu junges Leben endet hier.« Serreau hob die Waffe und schoss. Hasenkamp spürte, wie Projektile ihr Ziel fanden. Er spürte den Aufschlag, doch statt in seinen Körper einzudringen, prallten sie mit metallischen Geräuschen ab. Serreau starrte fassungslos und feuerte weiter.

Jetzt war Hasenkamp am Zug. Er warf sich nach vorne, schlug dem überraschten Franzosen die Waffe aus der Hand und griff ihm mit der mechanischen Hand an die Kehle.

»Verdammt, geben Sie auf, Serreau!«, keuchte Hasenkamp. »Ich kann Ihren Kehlkopf zerquetschen.« Der Bokor lachte ihm höhnisch ins Gesicht. »Niemals!« Knackend biss er die Zähne zusammen und erschauerte. Sein Körper erschlaffte in Hasenkamps Hand. Der ließ ihn los und der Magier stürzte zu Boden.

»Kugelfischgift. Schnell … und wirksam.«

Die Stimme des Bokors klang heiser, Blut in seinem Rachen erzeugte gurgelnde Geräusche. »Kaiser Napoléon ist … schwach. Aber Frankreich werdet ihr … nicht besiegen.« Der Sterbende lächelte gequält und spuckte Blut. »Paris birgt noch … einige Überraschungen für Usurpatoren.« Dann erschauerte er ein letztes Mal und atmete nicht mehr.

Hasenkamp verließ den Toten und rannte zurück. Noch gab es keine Spur eines tödlichen Nervengiftes in der Luft. Das ließ auf einen Erfolg des General-Leutnants hoffen.

Als er in die Requisitenkammer stürmte, saß Von Thadden erschöpft auf einem maroden Sessel. In ihrer Hand hielt sie eine kleine Phiole mit einer dunkelroten Flüssigkeit. Sie prostete ihm zu und trank einen Schluck.

»Auf unseren Erfolg, Hauptmann!«, grüßte sie ihn. »Was hat Sie aufgehalten?«

»Leutnant Serreau weigerte sich, den Weg in die Gefangenschaft anzutreten«, erwiderte Hasenkamp. Von Thadden nickte.

»Das nenne ich eine gute Nachricht. Ich würde Ihnen ja gerne etwas davon anbieten, aber ich fürchte, Blut ist nicht ganz Ihre bevorzugte Geschmacksrichtung. Ich werde Ihnen stattdessen oben im Foyer ein Glas Wein spendieren.« Sie seufzte und erhob sich.

Hasenkamp lächelte. »Die Einladung nehme ich gerne an. Aber Serreaus letzte Worte bereiten mir Sorgen. Er sprach von Überraschungen, die in Paris auf uns warten würden.«
Von Thadden nickte ernst.

»Ja, ich weiß. Stieber hörte Gerüchte, die Pariser seien dabei, ein Batallion Werwölfe zu rekrutieren und auszubilden. Wie ich Otto kenne, lautet unser nächster Auftrag, dieses Vorhaben zu verhindern.« Sie ließ die leere Phiole unter ihren Röcken verschwinden.

»Wie kommen Sie mit den Erneuerungen Ihres Körpers zurecht?«

»Ausgezeichnet! Die kupferne Hülle um meinen Oberkörper hat die Kugeln aufgehalten«, erwiderte Hasenkamp. »Und ich kann immer noch Kinder zeugen.«

Von Thadden bedachte ihn mit einem langen gestrengen Blick, dann lachte sie prustend. »Vielleicht komme ich in Paris ja auf Ihr verlockendes Angebot zurück. Aber nun möchte ich mein erstes Versprechen einlösen. Oben kredenzen sie einen ausgezeichneten Château Lafite-Rothschild. Zumindest bei der Weinkelterung sind Franzosen unschlagbar.«

 

 

Akteneintrag #2

Die Geister, die ich rief

Corinna Schattauer | Mainz

 

Im Schein des flackernden Gaslichts schlenderte Eric die Mainzer Augustinergasse entlang. Der kühle Oktoberwind ließ ihn frösteln und so zog er die Schultern hoch und vergrub seine Hände tief in den Taschen seines Mantels. Es war schon spät und kaum noch ein Mensch war zwischen den eng beieinanderstehenden Fachwerkhäusern unterwegs. Einsam hallten seine Stiefeltritte über das unregelmäßige Kopfsteinpflaster.

Mit raschen Schritten folgte er dem Knick, den die Gasse machte und hinter dem sie sich zu einem kleinen Platz am Fuße des Hohen Doms zu Mainz erweiterte, dem Leichhof. Früher einmal war hier der Domfriedhof gewesen, doch nun wurde der Platz von Wohnhäusern und Geschäften eingerahmt, die sich direkt an die massigen Kirchenmauern aus rotem Sandstein schmiegten.

Eric lenkte seine Schritte zu dem unscheinbaren Laden auf der rechten Seite des Doms. Die Messingglocke über der Tür klingelte sanft, als er das Geschäft betrat. Er sog den wohlbekannten Duft ein: muffig, staubig. Und wie immer lag der leichte Geruch nach etwas Verbranntem in der Luft. Neben den ungewöhnlichen Maschinen, die in diesem Laden hergestellt wurden, hatte sich durch An- und Verkauf auch allerlei Krimskrams, Ramsch und Unfug über die Jahre angesammelt. Die Regale waren vollgestopft mit Zahnrädern in den verschiedensten Größen und Formen, Glasglocken, Kupferdrähten, Werkzeugen, Münzen, Erlenmeyerkolben, Reagenzgläsern, Zinnschüsseln mit seltsamen Flüssigkeiten oder Pulvern, kaputten Puppen, bunten Murmeln und so weiter und so fort. Wann immer Eric ein Ersatzteil oder ein außergewöhnliches Werkzeug für eine seiner Erfindungen suchte, wenn er mechanische Teile brauchte, die eigens angefertigt werden mussten, dann wusste er, dass er hier richtig war.

Aus der Werkstatt im Raum hinter dem Ladentisch hörte Eric das Geräusch eines Schweißgeräts. Funken sprangen ab und zu über die Türschwelle in den Verkaufsraum hinein. Das war nichts Außergewöhnliches. Cleo war leidenschaftliche Bastlerin. Solange Eric darauf wartete, dass sich jemand um ihn kümmerte, schlenderte er durch den Laden und sah sich einige der Ausstellungsstücke genauer an. Das meiste kannte er schon, zum Beispiel die mannshohe Messingkuppel, die auf Knopfdruck vollautomatisch eine Tasse frischen Kaffees zubereiten konnte, der nicht besonders gut schmeckte, oder den kleinen dampfbetriebenen Roboter, der mit ruckartigen Bewegungen über die Verkaufstheke watschelte und mit mechanischer Stimme verkündete: »Haben Sie noch einen Moment Geduld. Sogleich wird sich jemand um Sie kümmern.«

Eric hielt gerade eine mit ungewöhnlichen Muster aus Kreisen und Linien geschmückte Taschenuhr in den Händen, die ihm sehr gefiel, als er Schritte vernahm. Ungeöffnet legte er die Uhr zurück und wandte sich der Verkaufstheke zu.

»Diese Uhr hast du jedes Mal in der Hand«, begrüßte ihn Cleo. »Wann wirst du sie endlich kaufen?« Ohne den wilden Schopf roter Haare, der Cleo um die Schultern fiel, wäre es Eric zunächst schwergefallen, zu bestimmen, welche der beiden Ladenbesitzerinnen, Großmutter oder Enkelin, vor ihm stand. Eine grobe Schweißerschürze verdeckte den Körper der jungen Frau, lange Arbeiterhandschuhe ihre Arme und eine klobige Schutzbrille ihre Augen, von denen er aber wusste, dass sie blau waren.