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Kompendium europäische Geschichte der Neuzeit

Christian Henrich-Franke

Globale Welt (1970–2015)

1. Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033248-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-033249-2

epub:    ISBN 978-3-17-033250-8

mobi:    ISBN 978-3-17-033251-5

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. 1 Chronologischer Überblick
  2. 1.1 Vorbemerkungen
  3. 1.2 Strukturbrüche der 1970er Jahre?
  4. 1.3 Gewandelte Grundlagen Europäischer Geschichte (1970er und 1980er Jahre)
  5. 1.4 Ende der geteilten Welt (1975/85–1992)
  6. 1.5 Transformatives Europa: Entgrenzt, Verflochten, Mobil (1990er und 2000er Jahre)
  7. 1.6 Aktuelle Herausforderungen
  8. 2 Staat
  9. 2.1 Vorbemerkungen
  10. 2.2 Europäische Staaten im globalen Umfeld
  11. 2.3 Staatlichkeit in Europa: Homogenisierung im Mehrebenensystem
  12. 2.4 Fazit
  13. 3 Recht
  14. 3.1 Vorbemerkungen
  15. 3.2 Grundsätzliches zum internationalen Recht
  16. 3.3 Entwicklung der internationalen Rechtssysteme
  17. 3.4 Internationale Rechtsprechung
  18. 3.5 Fazit
  19. 4 Wirtschaft
  20. 4.1 Vorbemerkungen
  21. 4.2 Konjunkturelle Entwicklungen und wirtschaftliche Verflechtungen im Überblick
  22. 4.3 Strukturelle Wandlungen der europäischen Wirtschaft
  23. 4.4 Multi- und transnationale Unternehmen
  24. 4.5 Fazit
  25. 5 Technik
  26. 5.1 Vorbemerkungen
  27. 5.2 Mobilität
  28. 5.3 Vernetzung
  29. 5.4 Fazit
  30. 6 Gewalt
  31. 6.1 Vorbemerkungen
  32. 6.2 (Asymmetrischer) Krieg und Terrorismus
  33. 6.3 Krieg in Europa
  34. 6.4 Staatliche Gewalt im Inneren
  35. 6.5 ›Terrorismus‹ und politischer Extremismus
  36. 6.6 Fazit
  37. 7 Gesellschaft
  38. 7.1 Vorbemerkungen
  39. 7.2 Formen des Zusammenlebens
  40. 7.3 Migration und Integration
  41. 7.4 Freizeit
  42. 7.5 Fazit
  43. Abkürzungen
  44. Literatur
  45. Abbildungsnachweis
  46. Index

1          Chronologischer Überblick

 

 

1.1       Vorbemerkungen

Für die Europäische Geschichte stellten die 1970er Jahre einen starken Einschnitt dar, der in vielerlei Hinsicht einen Bruch mit dem Zeitraum davor bedeutete. Sie werden in diesem Band als Zäsur und als Anfang einer neuen Phase der Europäischen Geschichte gesehen, in der Europa Teil einer global interdependenten und vernetzten Welt wurde. Seit den 1970er Jahren waren die meisten Staaten Europas immer stärker in grenzüberschreitende Verflechtungsprozesse eingebunden, die sich einerseits als globale Entwicklungszusammenhänge darstellten und andererseits nach innen eine Intensität erreichten wie niemals zuvor.

Der Zeitraum zwischen 1970 und 2015 lässt sich in drei mehr oder weniger abgeschlossene, sich aber durchaus überlappende Phasen gliedern. Diese erheben keinen Anspruch auf Exklusivität, vielmehr sollen sie als Binnendifferenzierung einen groben Orientierungsrahmen liefern:

(a)   Gewandelte Grundlagen Europäischer Geschichte (1970er/1980er Jahre);

(b)   Vom Ende der geteilten Welt (1975-1992);

(c)   Transformatives Europa: Entgrenzt, Verflochten, Mobil (1990er/2000er Jahre).

Hinzu kommen für die Zeit seit Mitte der 2000er Jahre aktuelle Beobachtungen und Entwicklungstrends der Europäischen Geschichte, die sich derzeit weder historisch fundiert bewerten lassen, noch als für sich abgeschlossen adäquat eingeordnet werden können.

In der ersten Phase ›Gewandelte Grundlagen‹ kristallisierten sich neue Basisdeterminanten Europäischer Geschichte heraus, in der zweiten Phase wurde die Teilung des Kontinents allmählich überwunden und es eröffnete sich so die Möglichkeit gesamteuropäischer Entwicklungen, bevor dann in der dritten Phase eine gesamteuropäische Transformation einsetzte, die mit den Schlagworten ›Entgrenzt, Verflochten, Mobil‹ umschrieben werden kann. Wenngleich die Auswirkungen der neuen Grundlagen sich in Westeuropa bereits zu Beginn der 1980er Jahre auszuwirken begannen – die neoliberale Politik der britischen Regierungschefin Margaret Thatcher ist hier als Paradebeispiel zu nennen –, so kann dennoch erst ab den 1990er Jahren von einem tatsächlich gesamteuropäischen Phänomen gesprochen werden. Bevor nun die groben Entwicklungslinien Europäischer Geschichte entlang dieser drei Phasen skizziert werden, wird zunächst der Strukturbruch der 1970er Jahre als solcher thematisiert, da mit diesem endgültig die Weichen in eine neue Entwicklungsrichtung auf der Basis gewandelter Grundlagen gestellt wurden.

1.2       Strukturbrüche der 1970er Jahre?

Die Zäsur in den 1970er Jahren lässt sich zunächst mit Verweis auf die wirtschaftlichen Entwicklungen begreifen. Schon in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre setzte die Schwierigkeit einer Aufrechterhaltung des Weltwährungssystems von Bretton-Woods ein, welches seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – zumindest in der ›nichtsozialistischen Welt‹ – eine wesentliche Grundlage der internationalen Wirtschaftsbeziehungen dargestellt hatte. Mit dem offiziellen Ende von Bretton-Woods im Jahr 1973 wurde nicht nur das Weltwährungssystem auf die Basis fluktuierender Wechselkurse festgelegt, sondern vielmehr begann Europa, v. a. die Mitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinshaft (EWG), nun ökonomisch wieder mehr Eigenverantwortung zu übernehmen und sich über ein europäisches Währungssystem Gedanken zu machen, welche im Werner-Plan von 1970 eine erste Umsetzung erfuhren, um dann nach weiteren Zwischenstufen in der 1999 vollendeten Wirtschafts- und Währungsunion ihre bis dato endgültige Form anzunehmen. Darüber hinaus sorgten die Ölkrise und der intersektorale Strukturwandel weg von der Industrieproduktion für einen wirtschaftlichen »Strukturbruch der Industriemoderne« (Doering-Manteuffel/Raphael 2010). Es folgten nicht nur der Übergang in die Dienstleistungsgesellschaft mit einem substanziellen Abbau industrieller Produktionskapazitäten, sondern eben auch der Einstieg westeuropäischer Gesellschaften in die Sockelarbeitslosigkeit und die Staatsverschuldung. Mit der Tokio-Runde nach 1973 erreichte die Liberalisierung der Weltmärkte, d. h. der Abbau der Handelshemmnisse im Rahmen des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), wieder dasselbe Niveau wie vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914.

Politisch beendete die letzte Phase der Dekolonialisierung, v. a. in Afrika, eine Jahrhunderte dauernde Epoche der Europäischen Geschichte, die über die frühen Formen des Handelskolonialismus und dessen radikaler Veränderung im Imperialismus des 19. Jahrhundert den Aufstieg Europas zum global führenden Kontinent gebracht hatte. Mit der Unabhängigkeit der portugiesischen Kolonien in Afrika nach der Nelkenrevolution des Jahres 1974 beendete Europa auch symbolisch ein Kapitel seiner Geschichte, dessen Inhalt – die Führungsrolle in der Welt – es ohnehin längst verloren hatte. Die Notwendigkeit globale Gemeinschaftsgüter wie die Weltmeere, den Weltraum oder die Umwelt unter ›gleichberechtigter‹ Beteiligung aller Staaten zu verhandeln, zeugt ebenfalls davon, dass Europa seinen Platz in einer ›globalen Welt‹ neu bestimmen musste.

Nach innen stellte die erste Erweiterungsrunde der Europäischen Gemeinschaft (EG) um Dänemark, Großbritannien und Irland ebenso eine Zäsur dar, die von zunehmender Verflechtung deutet, wie auch die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die nach zweijährigen Verhandlungen in der Schlussakte von Helsinki am 1. August 1975 ihren ersten Höhepunkt hatte. War die EG-Erweiterung auf Westeuropa begrenzt, so brachte die KSZE erste konkrete Ergebnisse einer gesamteuropäischen Entspannung im Kalten Krieg. Wenngleich die aus der KSZE resultierenden gesellschaftlich-kulturellen Kontakte ebenso wie Formen wirtschaftlicher Zusammenarbeit, u. a. Gas- und Öllieferungen aus der Sowjetunion nach Westeuropa, hinter die Wahrnehmung des Kalten Krieges als ein dominant politisch-militärischer Konflikt zurücktrat, so haben geschichtswissenschaftliche Forschungen jüngerer Zeit doch herausgearbeitet, dass gerade diese Kontakte in ihrer destabilisierenden Wirkung für den real existierenden Sozialismus nicht unterschätzt werden sollten. Immerhin ging es der großen Mehrheit der friedlichen Demonstranten der Jahre 1989–1991 nicht darum, die sozialistischen Systeme schnellstmöglich durch kapitalistische zu ersetzen. Vielmehr wünschten sie in erster Linie Veränderungen, um die Freiheiten des Konsums oder des Reisens genießen zu können, die sie u. a. aufgrund gesellschaftlicher Kontakte durch die KSZE kennengelernt hatten. Insofern hat also auch die Überwindung des Kalten Kriegs in Europa eine Dimension, die bis in die frühen 1970er Jahre zurückreicht.

Die gewählte Zäsur lässt sich durch technische Entwicklungen weiter untermauern. Computerisierung und Digitalisierung, die auf der Erfindung des Mikrochip aufsattelten, läuteten den Übergang in die mobile Informationsgesellschaft mit vielfältigen technischen Innovationen im Kommunikationswesen ein. Die Inbetriebnahme des ›Advanced Research Projects Agency Network‹ (ARPANET) im Jahr 1969 als erstes Computer-Netzwerk, die massenhafte Implementation der Satellitentechnologie oder die Digitalisierung europäischer Telefonnetze stellten einen epochalen Einschnitt auf dem Weg von analoger zu digitaler Massenkommunikation dar.

Zu guter Letzt darf der vielfach betonte Wertewandel in den Gesellschaften Europas nicht unerwähnt bleiben, der im Kern aus einem Wandel von Pflicht- und Akzeptanz zu Selbstverwirklichungs- und Individualwerten führte. Zum einen etablierte sich zunächst in Westeuropa der einzelne Mensch zunehmend als idealtypischer Europäer, der entweder als Triebfeder von Mitbestimmung und Bürgerrechten oder als ›Bungee-Jumper‹, der seine individuelle Erlebnisgrenze austestet, erschien. Zum anderen rückte der einzelne Mensch im Neoliberalismus der Chicagoer Schule der 1970er Jahre ins Zentrum eines ökonomischen Dogmas, das Wirtschaft und Staat von Grund auf umkrempeln wollte.

Folgt man demgegenüber einem eher außenpolitisch-militärischen Narrativ, dann sprechen wiederum einige Argumente für die Jahre 1989–1991 als Zäsur, überwand doch das Ende des Kalten Kriegs die Trennung des Kontinents und brachte mit dem 2+4 Vertrag 1990 sogar den formellen Friedensvertrag mit dem 1945 besiegten Deutschland. Gegen eine strikte Zäsurierung der Europäischen Geschichte in den 1970er Jahren spricht auch das politisch-militärische Argument der erneuten Verschärfung des Kalten Kriegs gegen Ende der 1970 Jahre. Nachdem der US-Präsident Gerald Ford die Einbeziehung von Mittelstreckenraketen in die Abrüstungspläne des SALT-II Abkommen abgelehnt hatte, modernisierten die Sowjetunion bzw. der Warschauer Pakt mit den SS-20 Raketen und der Westen bzw. die Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft (NATO) mit den Pershing II ihre mobilen Waffenarsenale in Europa. In die ohnehin angespannte Situation fiel dann der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan im Dezember 1979, den der Westen mit einem Boykott der Olympischen Spiele in Moskau (1980) und der Osten mit einem Boykott der Spiele vier Jahre später in Los Angeles (1984) beantworteten. Letztlich scheiterten auch die ersten Abrüstungsgespräche für Waffenarsenale in Europa zwischen den USA und der Sowjetunion 1982 in Genf daran, dass sich die Kontrahenten nicht auf eine Definition des militärischen Gleichgewichts einigen konnten.

Nichtsdestotrotz, so bedeutsam die gesamten politisch-militärischen Aspekte für die Europäische Geschichte auch waren und so sehr sie strukturell in der unmittelbaren Nachkriegszeit verankert sind, so wenig vermögen sie doch die (langfristig) wirkmächtigen Veränderungen der grundlegenden Entwicklungsdeterminanten in den 1970er Jahren zu marginalisieren. Mit Blick auf eine vielschichtige Interpretation Europäischer Geschichte, die politische, wirtschaftliche, technische, gesellschaftliche und andere Faktoren gleichberechtigt nebeneinanderstellt, sprechen also viele Gründe für die gewählte Zäsur in den 1970er Jahren.

1.3       Gewandelte Grundlagen Europäischer Geschichte (1970er und 1980er Jahre)

Die für die 1970er und 1980er Jahre zu konstatierenden sich wandelnden Grundlagen historischer Entwicklung besaßen ganz unterschiedliche Ausprägungen und Facetten. Vereinfacht können sie in vier Feldern zusammengefasst werden: Europäische Wirtschaftsverantwortung, globale Interdependenzen, der einzelne Mensch und seine Entscheidungen und Weichenstellungen in eine vernetzte Welt.

1.3.1     Europäische Wirtschaftsverantwortung

In den frühen 1970er Jahren brachen wirtschaftliche Grundstrukturen in mehrfacher Hinsicht auf und zwangen Europa sich strukturellen Veränderungen zu stellen. Schon in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre geriet das auf dem Gold-Dollar-Standard fußende Weltwährungssystem von Bretton-Woods zunehmend unter Druck. War das System im Kern auf eine ausgeglichene Zahlungsbilanz der USA angewiesen, da alle Währungen an den Dollar gebunden waren, so wirkten sich ab Mitte der 1960 Jahre die Zahlungsbilanzdefizite der USA aufgrund der Finanzierung des Vietnamkrieges schnell auf Europa aus. Währungskrisen und Inflationsdruck innerhalb Europas waren die Folge, die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungen zwischen den Staaten Europas noch verschärften. Als die Bundesregierung im Mai 1971 schließlich einseitig die Parität zum US-Dollar aufgab und damit zu einem freien Wechselkurs umstieg, fiel nicht nur der Dollar gegenüber der DM um 9,3 %, sondern psychologisch war dies ein bedeutsamer Schritt, weil die Fähigkeit der USA, die Weltwirtschaft stabil zu halten, hinterfragt wurde. Die wirtschaftliche Dominanz der USA, die immerhin die deutsche und europäische Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg massiv mitaufgebaut hatte, stand damit im Bereich der Währungen zur Disposition. Der US-Präsident Nixon reagierte darauf im Juni 1971, indem er die Konvertibilität von Gold in Dollar aufgab, sich unilateral weigerte den Dollar abzuwerten und seine Maßnahme mit Einfuhrzöllen in die USA flankierte.

Die Aufkündung multilateraler Prinzipien stellte die Staaten Europas vor eine völlig neue Situation. Einige ließen ihre Währungen frei floaten, andere versuchten mit dem Washingtoner System (1971) oder auch mit dem Werner-Plan der EG (1970) die Währungsturbulenzen einzudämmen. Letztlich scheiterten diese Systeme aber (vorerst) an divergierenden nationalen Interessen. Nachdem in Folge unkontrollierbarer Devisenspekulationen in Europa zwischen dem 2. und 19. März 1973 die meisten Devisenbörsen geschlossen werden mussten, kündigten zunächst die Schweiz und Großbritannien das Abkommen von Bretton-Woods auf. Die anderen europäischen Staaten folgten. Mit dem Ende des Weltwährungssystems von Bretton-Woods verlagerte sich die Verantwortung für die Währungsstabilität in Europa von den USA auf eine Kollektivverantwortung der Europäer, die dann sukzessive von der Europäischen Gemeinschaft übernommen wurde.

Die Währungsturbulenzen trafen die europäische Wirtschaft zu einer Zeit, als diese sich ohnehin im Umbruch befand. Mit dem Kohle- und Stahlsektor leitete eine Industriebranche das Ende des Industriezeitalters in Europa ein, die lange Zeit als Symbol industrieller Prosperität gegolten hatte und noch in den 1950er und frühen 1960er Jahren ein zentraler Motor der wirtschaftlichen Erholung nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen war. Der ›Strukturbruch der Industriemoderne‹ bedeutete zwar kein Verschwinden der Industrie in Europa, aber die Beschäftigtenzahlen und die Wertschöpfung verlagerten sich in den Dienstleistungssektor. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, setzte spätestens in den 1970er Jahren die Verringerung der Produktion von Massengütern im Eisen- und Stahlbereich sowie in der Kohleförderung ein. In der weiterverarbeitenden Industrie sorgte zudem eine Kombination ansteigender Arbeitsproduktivität und stagnierender Nachfrage für eine sinkende Beschäftigtenzahl. Eine zentrale Rolle fiel dabei der Mechanisierung und dem zunehmenden Einsatz von Computern im Produktionsprozess zu. So baute alleine in der Bundesrepublik die Industrie zwischen 1966 und 1979 ca. 1,8 Millionen Stellen ab. In den 1970er Jahren überstieg in den westeuropäischen Staaten erstmals die Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungssektor diejenigen in der Industrie. Neue Arbeitsplätze erforderten neue Qualifikationsprofile, so dass es schwierig wurde, ehemalige Industriearbeiter in neue Tätigkeiten überzuleiten. Schwierige Anpassungsprozesse waren die Folge, die sich über eine ganze Generation hinzogen. Regional fielen die Auswirkungen sehr unterschiedlich aus, insgesamt änderten sich wirtschaftsgeografisch die Koordinaten innerhalb Europas aber dramatisch. Ehemalige Wachstumsmotoren der Schwerindustrie wie Mittelengland oder das Ruhrgebiet wurden zu wirtschaftlichen Sorgenkindern. Es folgte ein jahrzehntelanger Umstrukturierungsprozess, der mit dem Ende der Kohleförderung in Großbritannien 2015 sowie im Ruhrgebiet 2018 eine Art symbolischen Abschluss erlebt. Die betroffenen Gebiete haben sich jedoch bis heute noch nicht erholt und leiden unter hohen Arbeitslosenquoten. Der Strukturwandel zwang die Wirtschaften Europas seit den 1970er Jahren zu einem Umbau, damit die Europäer auf den Weltmärkten mit neuen Produkten und Dienstleistungen bestehen konnten. Die europäische Industrie musste sich dabei zunehmend auf Spezialprodukte fokussieren, deren Herstellung viel technisches Wissen erforderte.

Wie ein Katalysator für die Herausforderungen der europäischen Wirtschaft wirkten die Ölkrisen der Jahre 1973 und 1978. Wenngleich die Krisenanlässe politischer Natur waren – es ging vor allem um Reaktionen auf die Kriege im Nahen Osten wie etwa den Jom-Kippur-Krieg von 1973, der mit einer Erhöhung des Ölpreises um 400 % beantwortet wurde –, so waren die Krisen selber doch klare Zeichen für grundlegende Änderungen auf den Energiemärkten. Sie stellten ein Aufbäumen der erdölproduzierenden Länder gegenüber einem Markt dar, der von einem Oligopol westlicher Ölkonzerne kontrolliert wurde. Die Verstaatlichung von französischen Ölunternehmen in Algerien, die eigentlich die Energiebasis der französischen Wirtschaft ausmachen sollten, stellte beispielsweise die französische Regierung vor völlig neue Herausforderungen. Der Konflikt um die Rohstoffbasis zwang die Europäer nachhaltig über die eigene Energieversorgung nachzudenken. Immerhin beruhte diese in Westeuropa im Jahr 1972 zu 60 % auf Erdöl.

Die Staaten Europas und die Europäische Gemeinschaft reagierten in vielfacher Hinsicht auf die wirtschaftlichen Herausforderungen. Auf die Währungsturbulenzen antworteten sie mit dem Werner-Plan und mit den Ideen einer Europäischen Währungsunion verband sich in den 1970er Jahren die Vorstellung, aus Europa einen Stabilitätsblock zu machen. Zwar scheiterte der Werner-Plan aus dem Jahr 1970 noch an den nationalen Alleingängen der Regierungen, mit denen die währungspolitischen Turbulenzen bekämpft werden sollten. Doch gerade die Erfolglosigkeit individueller Maßnahmen ermunterte die EG-Mitglieder bereits 1977/78 einen erneuten Anlauf zu einer Wirtschafts- und Währungsunion zu nehmen. Auf Initiative des französischen Präsidenten Giscard D’Estaing und Bundeskanzler Helmut Schmidt wurde dann 1979 im Europäischen Währungssystem (EWS), ein System fester (aber begrenzt flexibler) Wechselkurse etabliert, das mit der Europäischen Währungseinheit (ECU) eine Kunstwährung auf der Basis der Wirtschaftskraft der einzelnen Volkswirtschaften hervorbrachte, um innerhalb der EG abrechnen zu können. Eventuelle Schwankungen zwischen den nationalen Währungen sollten durch Interventionen der Zentralbanken auf den Devisenmärkten unterbunden werden, wofür u. a. Stützungsfonds zur Verfügung standen.

Auf die strukturellen und weltwirtschaftlichen Veränderungen versuchte ebenfalls das deutsch-französische Tandem, d’Estaing und Schmidt, institutionelle Antworten zu geben. Zum einen fanden im Rahmen des Weltwirtschaftsforums und der G7-Treffen multilaterale Gespräche der sieben größten Industrienationen außerhalb der bestehenden UN-Institutionen statt. Die G7-Treffen dienten daneben aber auch dazu, die Folgen gestiegener globaler Interdependenz für die industrialisierten Staaten zu erörtern. Zum anderen nahm in den frühen 1980er Jahren Europa den Anlauf zum Binnenmarktprojekt. In der sich verändernden Weltwirtschaft organisierte sich Europa damit noch stärker im Inneren und wurde damit zum Vorreiter eines generellen Regionalisierungstrends der Weltwirtschaft. Das Ergebnis der Bemühungen waren die Einheitliche Europäische Akte (1986) und die Errichtung des Binnenmarkts (1992), die Europa immer stärker zu einem Wirtschaftsblock mit offenen Grenzen nach innen verflochten.

1.3.2     Globale Interdependenzen

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs stellte die Dekolonialisierung ein wichtiges Kapitel europäischer Geschichte dar, da die Staaten Europas finanziell, militärisch und politisch weder in der Lage noch tatsächlich daran interessiert waren, den Kolonialismus fortzuführen. Nachdem die europäischen Kolonialstaaten bereits in den 1940er Jahren koloniale Besitzungen in Asien aufgegeben hatten – so 19ndien und 1949 Indonesien – erfolgte ab den 1950er Jahren auf breiter Front die Dekolonialisierung Afrikas. Eine Reihe kolonialer Unabhängigkeitskriege wie der Algerienkrieg (1954–1962) oder der Mau-Mau-Aufstand in Kenia (1956) beförderten die Entwicklung, weil sie den Preis einer Fortsetzung des Kolonialismus weiter in die Höhe trieben. Insbesondere die 1960er Jahre sahen einen flächendeckenden Rückzug Europas aus dem afrikanischen Kolonialismus, der 1975 mit der Unabhängigkeit aller portugiesischer Kolonien und der finalen Trennung der Seychellen, Dschibutis und Simbabwes von Frankreich und Großbritannien zwischen 1976 und 1980 sein Ende fand.

Die Dekolonialisierung führte zu massiven Verschiebungen im internationalen Staatensystem, was sowohl die Strukturen der Zusammenarbeit als auch die dort behandelten Themen betraf und damit globale Interdependenzen teilweise neu konfigurierte. Strukturell resultierte die Dekolonialisierung in einer markanten Zunahme der souveränen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen. Umfasste diese Ende der 1950er Jahre noch 80 Mitglieder, so stieg deren Zahl bis zum Ende der Dekolonialisierung bereits auf 159 an. Die Entwicklungsländer organisierten sich innerhalb loser Verbünde wie die der Blockfreien Bewegung (1961) oder der Gruppe der 77 (1964), die in den 1970er Jahren an Bedeutung gewannen, weil sie nominell nicht nur eine absolute Mehrheit der Stimmen im internationalen Staatensystem innehatten, sondern die Kontrahenten beider Blöcke des Kalten Krieges gleichzeitig überstimmen konnten.

Mit der gewandelten Mitgliederstruktur stiegen ökonomische Disparitäten innerhalb der Vereinten Nationen radikal an und führten so zu einer Veränderung der Schlüsselthemen. Im Mai 1974 verabschiedete die UN Vollversammlung eine Erklärung über die Errichtung einer ›Neuen Weltwirtschaftsordnung‹ sowie einer ›Neuen Weltinformationsordnung‹. Darüber hinaus wurden die Vereinten Nationen von vereinzelt scharfen Auseinandersetzungen über ressourcenbasierte Machtpolitik oder den nachhaltigen Umgang mit endlichen Ressourcen oder Technologien erschüttert. Insbesondere in den technischen Sonderorganisationen der Vereinten Nationen führte dies in den 1970er Jahren so weit, dass der Gegensatz zwischen Entwicklungs- und Industrieländern den Kalten Krieg überlagerte und sich europäische Staaten über den Eisernen Vorhang hinweg abstimmten. 1975 trafen sich die führenden Industriestaaten nicht zuletzt deshalb in den G7, um Fragen der ›Neuen Weltwirtschaftsordnung‹ zu diskutieren.

Obwohl die Entwicklungsstaaten ihr nominelles Stimmengewicht mittel- und langfristig kaum zur Geltung bringen konnten, so änderten die Vereinten Nationen doch nachhaltig ihre Aufgabenfelder. Schon 1965 wurde das Entwicklungshilfeprogramm der Vereinten Nationen ins Leben gerufen und auch die europäischen Staaten nahmen sich des Themas an. Allerdings fehlte den Entwicklungsprogrammen inhaltlich die Sensibilität für gesellschaftliche Entwicklungsmuster jenseits des europäischen Wegs der Industrialisierung. Die Entwicklungsprogramme orientierten sich zu einseitig an den europäischen Erfolgsfaktoren und transferierten folglich vor allem in den 1970er und 1980er Jahren viel Geld in Programme und Initiativen, von denen keine nachhaltigen Entwicklungsimpulse ausgingen. Entwicklungshilfe wurde zu einem wesentlichen Bestandteil westeuropäischer Politik und manifestierte sich sogar in spezifischen Ministerien.

Die Dekolonialisierung erwies sich auch in der Frage des Umgangs mit globalen Gemeinschaftsgütern wie den Weltmeeren oder dem Weltraum, die in den frühen 1970er Jahren aufkam, als Triebfeder, forderten doch die Entwicklungsstaaten von den zumeist europäischen Industriestaaten eine neue Verteilungs- und Verantwortungsgerechtigkeit ein. So brachte der maltesische Botschafter Arvid Pardo 1967 erstmals in der UN den Gedanken des historischen Unrechts des Kolonialismus ein, mit dem er die Diskussion um einen Ausgleich von Entwicklungsrückständen anstieß. UN-Konferenzen beschlossen in den 1980er Jahren Abkommen, etwa über die Nutzung des Weltraums mittels Satelliten, die die Partizipationsansprüche im Namen der Generationengerechtigkeit festschrieben.

Parallel dazu gewann die Debatte über das ›gemeinsame Erbe der Menschheit‹ an Intensität, wobei es von einem gemeinsamen Schutzprinzip zu einem gemeinsamen Nutzprinzip transformiert wurde. Der Club of Rome veröffentlichte 1972 die Studie ›Grenzen des Wachstums‹, welche den verschwenderischen Umgang mit den endlichen globalen Ressourcen anprangerte und eine starke Aufmerksamkeit für das Thema herstellte. Die UN-Umweltkonferenz von Stockholm warf 1972 als erste Konferenz ihrer Art ökologische Probleme auf und brachte diese mit wirtschaftlichen und politischen Fragen in Verbindung. Die Konferenz gründete durch eine Resolution das UN-Umweltprogramm mit dem Ziel, Daten über die Klimaentwicklung zu sammeln. 1979 folgte in Genf die erste Weltklimakonferenz, allerdings waren diese ersten Ansätze beschränkt auf den wissenschaftlichen Austausch von Informationen und Daten, ohne sich jedoch tatsächlich auch auf die Politik oder die Öffentlichkeit auszuwirken. Sie stellten noch keine tatsächliche Etablierung von Regulierungsregimen dar, die sich mit der Ausschließbarkeit beschäftigten und Nutzungsrechte definierte. All diese Entwicklungen waren aber neben dem wachsenden Welthandel Phänomene zunehmender globaler Interdependenz, der sich die Staaten Europas stellen mussten.

1.3.3     Der einzelne Mensch und seine Entscheidungen

In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren begann der individuelle Mensch in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mit seinen Präferenzen, Vorlieben und Lebensentwürfen – aber auch seiner Pflicht zur Eigenverantwortlichkeit – eine zentrale Rolle im Selbstbild der Westeuropäer einzunehmen. Zuvor wirksame kollektive Organisationen wie der Staat, die Klasse oder die Parteien verloren demgegenüber an Bedeutung. Selbstverwirklichung und individuelle Wahlfreiheit sollten zu einer grundlegenden Neuausrichtung (west-) europäischer Wertewelten beitragen und sich vielfältig auf Staaten, Wirtschaften und Gesellschaften auswirken. Es ist indes unerheblich, ob sich die Individualisierung in neuen Formen politischer Partizipation wie den Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er Jahre, dem Neoliberalismus als neuer wirtschaftspolitischer Maxime oder der Neuen Subjektivität in der Literatur zeigte. Alle diese Erscheinungsformen, die in ihrer Zeit freilich auch nicht unumstritten waren, stehen für eine neue Selbstpositionierung des Menschen. Dabei spielt es für unsere Überlegungen keine Rolle, wie man sich in der wissenschaftlichen Debatte um Verlauf, Intensität und Ausprägung des Wertewandels positioniert. Unbestreitbar erlangten Individualität und individuelle Wahlfreiheit einen Bedeutungswandel, mit dem auch die Planungseuphorie früherer Jahre, d. h. die (keynesianistische) Vorstellung an eine zentrale Planung und Steuerung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, der Nährboden entzogen wurde.

Die politische Kultur der Teilhabe brachte dann in den 1970er Jahren in ganz Europa eine Reihe von Bürgerbewegungen hervor, die sich jenseits des etablierten Parteiensystems formierten. Deren Kernforderung lautete weniger Staat und mehr Bürgerbeteiligung, womit sich die sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen grundsätzlich nicht stark vom ebenfalls aufkeimenden Neoliberalismus unterschieden. Die Protagonisten der Bewegungen kamen zumeist aus jüngeren Segmenten der Gesellschaft sowie aus höheren sozialen Schichten. Es wurde mit neuartigen Formen der politischen Partizipation experimentiert, die in verschiedenen soziokulturellen Milieus verankert waren und unterschiedliche Ausprägungen erfuhren. Die politische Partizipation war nicht mehr auf Wahlen und Parteien beschränkt. Vielmehr stand das individualistische, kritische Engagement außerhalb des parlamentarischen Gestaltungsraums in kleineren Gruppen im Vordergrund, die sich durchaus wieder in umfangreicheren ›Bewegung‹ formieren konnten. Vielfältige Formen der direkten Demokratie wurden präferiert, etwa Demonstrationen, Bürgerinitiativen oder Unterschriftensammlungen. Es war dabei nicht das Ziel der großen Mehrheit der Neuen Sozialen Bewegungen den Staat abzuschaffen, sondern die Partizipation an politischen Entscheidungen zu verändern.

Wirtschaftspolitisch drückte sich die neue Bedeutung des einzelnen Menschen im sich allmählich durchsetzenden Neoliberalismus aus. Dieser leitete seine Forderungen aus der Grundüberzeugung ab, dass der einzelne Mensch in seinen Entscheidungen nutzbringender sei als der Staat. Die Vordenker der um den Ökonomen Milton Friedman versammelten Chicagoer Schule geißelten den Wohlfahrtsstaat und die Inflation als die größten Feinde der Wirtschaft. Sie forderten den Primat der Ökonomie gegenüber dem Staat und vertrauten auf das Menschenbild des Homo oeconomicus, nach dem der Mensch auf der Basis seiner individuellen Präferenzordnung versucht, rational seinen Nutzen zu maximieren. Grundsätzlich lassen sich eine Reihe von Einzelforderungen herausstellen, die in unterschiedlichen Kontexten in unterschiedlicher Intensität eingefordert wurden, aber im Kern alle die staatlichen Aktivitäten einschränken sollten, um dem individuellen Menschen mehr Gestaltungsfreiraum zu eröffnen. Erstens wurde für die staatliche Wirtschaftsordnung eine Reduktion der Staatsquote, der staatlichen Tätigkeit sowie der staatlichen Fürsorge eingefordert. Daraus folgerten zweitens für den Staat die Aufgaben der Sicherung von Recht und Ordnung, der Definition, Garantie und Durchsetzung von Eigentumsrechten sowie der Aushandlung und Durchsetzung der Regeln des Wettbewerbs, v. a. eine Verhinderung von Monopolen. Drittens sollte der Handel von Beschränkungen befreit und freie Wechselkurse garantiert werden. Viertens sollten die Zentralbanken unabhängig bleiben und ihre Politik rein auf die Währungsstabilität fokussieren.

Ab den 1980er Jahren wurden die ordnungspolitischen Konzepte des Neoliberalismus weitgehend umgesetzt. Weltwirtschaftlicher Freihandel, die weitgehende Liberalisierung der nationalen Märkte, die Privatisierung staatlicher Unternehmen und die Entbürokratisierung wurden zu den zentralen Reformbegriffen seit den Amtsübernahmen von Margarete Thatcher in Großbritannien (1979) und Ronald Reagan (1981) in den USA.

1.3.4     Weichenstellungen in eine vernetzte Welt

Zu den sich wandelnden Grundlagen Europäischer Geschichte zählte letztlich auch der Einstieg in die durch Verkehrs- und Telekommunikationssysteme vernetzte Gesellschaft. Eine zentrale Weichenstellung stellte die Errichtung von Satellitensystemen in den 1970er Jahren dar. Hatten bereits in den 1960er Jahren Einzelprojekte wie Telstar I, der 1962 als erster Satellit Fernsehübertragungen über den Atlantik realisierte, das Potential und die technischen Möglichkeiten aufgezeigt, so wurde dann in den 1970er Jahren mit der Errichtung komplexer Satellitensysteme begonnen. 1973 gründeten 80 Staaten die International Telecommunication Satellite Organisation (ITSO), um den globalen Nachrichtenverkehr zu organisieren. Weder technisch noch wirtschaftlich war es für die europäischen Staaten möglich eigene Systeme aufzubauen und so wurde die Vernetzung Europas mittels Satelliten zu einer gemeinsamen Anstrengung, die sowohl im Westen als auch im Osten Europas in Angriff genommen wurde.

Parallel dazu vollzog sich die Vernetzung von Computern mittels digitaler Telekommunikationstechnik. Bereits seit den 1960er Jahren wurden auf analoger Basis dezentrale Rechnernetze getestet, um größere Datenmengen zu speichern. Die Entwicklung der digitalen Technik, v. a. in den 1970er Jahren, ermöglichte es die Menge der zu übertragenden Daten durch (digitale) Datenkompression exponentiell zu steigern. Schritt die Verbesserung der Technik immer schneller voran, so beschlossen die europäischen Regierungen in den 1980er Jahren die Datennetze auf der Basis der bestehenden Telefonnetze zu errichten, womit der Grundsatz gefasst wurde, Vernetzung zu einem Massenphänomen in Wirtschaft und Gesellschaft zu machen. Dies ermöglichte auch eine neue Qualität der Dezentralisierung und Arbeitsteiligkeit, in deren Folge transnationale Unternehmen in größerem Umfang überhaupt erst entstehen konnten.

Die Staaten Europas wurden nicht nur vernetzter, sondern rückten durch die technische Entwicklung auch näher aneinander. Insbesondere der als Schlüsseltechnologie der Zukunft betrachtete Telekommunikationssektor zwang die Europäer, in der Technologiepolitik miteinander zu kooperieren. Sowohl die EG als auch die europäischen Regierungen untereinander entdeckten die Zusammenarbeit in der Forschung als notwendige Lösung, um den technischen Entwicklungsvorsprung der USA oder Japans aufzuholen. So entstanden bilaterale Forschungsprojekte, wie das deutsch-französische Satelliten-Programm Symphonie oder Technologieförderung der EG im Bereich von Datennetzen.

Einen ganz wesentlichen Beitrag zur Vernetzung leistete auch die Einführung und Ausbreitung des Containers als ein Transportmittel, das die einzelnen Verkehrsträger (Eisenbahn, Schiff, LKW) sehr effizient verband und so die Logistik revolutionierte. Der Einsatz von Containern veränderte Häfen und Verkehrssysteme und sorgte insgesamt dafür, dass Güter schneller und billiger transportiert werden konnten. Alles in allem vollzogen sich in Europa und der restlichen Welt eine Reihe von technologischen Entwicklungen, die die Wende hin zu einer massiven Vernetzung in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stellten.

1.4       Ende der geteilten Welt (1975/85–1992)

Galten die zuvor beschriebenen Wandlungen der Grundlagen Europäischer Geschichte primär – aber nicht ausschließlich – für die nichtsozialistischen Teile Europas, so gilt es nun zu klären, warum und wie sie gesamteuropäische Gültigkeit erlangten. Dabei gibt es viele Narrative, die das Ende des Kalten Kriegs beschreiben. Die einen betonen eher die lang- und mittelfristigen Zusammenhänge und Entwicklungen, während die anderen die besondere Bedeutung der kurzfristigen und situativen Anlässe in den 1980er Jahren hervorhoben. Hier sollen die einzelnen Erklärungszusammenhänge nicht gegeneinander abgewogen werden. Dennoch gilt es zu betonen, dass die wirtschaftliche Schwäche der sozialistischen Staaten eine entscheidende Größe gewesen ist, weil sowohl die gesellschaftliche Öffnung etwa durch Tourismus als auch die wirtschaftliche Öffnung des Ostblocks in weiten Teilen darauf abzielten, dringend benötigte Devisen zu beschaffen.

Langfristige Erklärungen setzen, sofern sie nicht mit generellen Konstruktionsfehlern des Sozialismus argumentieren, gerne bei gesellschaftlichen Erosionsprozessen an, die mit der KSZE zusammengebracht werden. Die KSZE schrieb nach dreijährigen Vorverhandlungen im August 1975 in ihrer Schlussakte eine Annäherung zwischen Ost