Verena Schindler
Evas Spiel
Eine tödliche Inszenierung
Verena Schindler
Evas Spiel
Eine tödliche Inszenierung
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962815-25-7
null-papier.de/630
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Prolog
8. Januar
10. Januar
22. März
23. März
4. Februar
24. März
9. Februar
4. März
11. Februar
25. März
22. März
13. Februar
26. März
27. März
12. März
2. April
3. April
7. April
8. April
9. April
20. April
14. März
22. Mai
Hinter den Kulissen – Anmerkungen und Dank der Autorin
Und wenn sie wirklich sterben würde? Einen richtigen, wahrhaften Bühnentod? Den niemand einkalkuliert hat. Ein Abgang wie beim Blut spuckenden Molière in seiner Glanzrolle des Eingebildeten Kranken.
Vorhang zu. Das war’s dann. Weiter gehen als andere zuvor. Selbst eine Marina Abramović hat diese Grenze bisher nie gänzlich überschritten – die der auch physiologisch messbaren Selbstentgrenzung. Vollständige Authentizität. Würde ihr stehen, oder?
Stellt sich nur die Frage: Wer sind die anderen Protagonisten dieses, ihres letzten Dramas? Wer mimt den Zeugen, wer spielt den Trauernden und – vor allem – wer vollstreckt?
Ein Konflikt wird natürlich auch noch benötigt oder ein Motiv, wie der Kriminalist sagen würde. Rache? Eifersucht? Was sind die Triebfedern menschlichen Handelns, die uns in die Abgründe führen? Und wie bringt man einen Menschen dazu, das Tor zu diesen Abgründen zu öffnen?
Wie verhält es sich mit der Schuld? Wie viel wiegt die Idee gegen die Ausführung? Trägt der Regisseur die Verantwortung oder die Schauspieler, wenn schlecht gespielt wird? Ist am Ende nicht auch jeder Schauspieler Regisseur? Jeder Privatmann Inszenator seines eigenen Lebens? Oder vielleicht doch eher Autor? Am Anfang war das Wort …
Nein, die wohl größte Macht liegt beim Rezipienten. Ob Leser, ob Zuschauer. An ihm ist es, die Büchse der Pandora aufzutun und sich zu positionieren in der Flut der Deutungen, die sich mit allem Laster über ihn ergießen.
Der Vorhang ist geöffnet. Die Karten gelegt.
Das Spiel möge beginnen.
»Lampenfieber?« Eva Schuberth lächelte. »Wahrscheinlich lügt jeder Schauspieler, der behauptet, völlig frei davon zu sein. Mal ist es mehr, mal weniger. Aber wenn die ersten Sätze gesprochen sind, dann ist es vorbei mit der Aufregung. Dann lebe ich nur noch für das, was auf der Bühne passiert.« Sie blickte zu Victor, der links neben ihr auf dem Podium saß und sie aufmerksam beäugte. Victor Hund, der namhafte Regisseur, der mit seinen Inszenierungen regelmäßig zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde und bereits zahlreiche Auszeichnungen für sein Schaffen erhalten hatte.
Der Jugendliche, der Eva die Frage gestellt hatte und offenbar zu einer Schulklasse gehörte, war noch nicht zufrieden mit ihrer Antwort. »Aber gibt es denn nicht auch Situationen, in denen es schwierig wird? Haben Sie zum Beispiel schon mal Ihren Text vergessen?«
»Nein«, antwortete Eva amüsiert. »Das ist mir tatsächlich noch nie passiert. Und falls doch, haben wir ja für den Notfall eine Souffleuse.« Victor sah genervt in Richtung Dramaturgin. Annette Ludwig war verantwortlich für die Publikumsgespräche – so auch für dieses im Anschluss an die Vorstellung von »Hexenjagd«. Sie hatte zuvor auf ihn eingeredet, dass es mal wieder an der Zeit wäre, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Mit Widerwillen hatte Victor zugestimmt und bereute es nun.
»Gibt es denn noch Fragen direkt zur Inszenierung?«, wandte sich Annette diplomatisch in Richtung Zuschauer.
Ein bärtiger Mittvierziger, offenbar der Lehrer der Schulklasse, wandte sich an Victor: »Herr Hund, Millers Stoff ist doch ein historischer. Warum haben Sie das Stück nicht entsprechend inszeniert? Denken Sie wirklich, so etwas wie Hexenverfolgung wäre auch in der heutigen Zeit denkbar?«
Victor nahm sich Zeit für seine Antwort. »Es war mir ein Anliegen, den Stoff nicht in einer bestimmten Zeit zu verorten. Sicherlich haben Sie bemerkt, dass wir sowohl Kostüme als auch Bühnenbild, vor allem aber die Sprachgestaltung so weit wie möglich zeitlos gehalten haben. Miller nannte es Hexenverfolgung, spielte mit seinem Stück aber auf die Kommunistenjagd in der McCarthy-Ära an. Und ich wage zu behaupten, dass sich derartige Missstände, wie sie das Stück aufzeigt, auch heute noch finden lassen. Sehen Sie doch hinaus in die Welt …«.
Zwei der Schüler kicherten. Der Lehrer wurde rot. Da meldete sich ein Herr zwei Reihen hinter ihm zu Wort: »Frau Schuberth, warum ist Ihre Abigail so unschuldig? Fast bekommt man Mitleid mit ihr, sieht sie als Opfer, obwohl sie doch Schuld trägt am Lauf der Geschehnisse und den Hinrichtungen.«
Eva blickte den Herrn aufmerksam an. Die erste vernünftige Frage an diesem Abend. Ihr zuvor fast maskenhaftes Lächeln verwandelte sich in ein Strahlen. In ihrem dünnen, weißen Kleidchen, das ihre Fragilität unterstrich, schien sie zwischen Dramaturgin und Regisseur, beide unauffällig in Schwarz gekleidet, förmlich aufzuleuchten. Ihr rötlich-blondes Haar reflektierte golden das Scheinwerferlicht. Der Fragesteller rieb sich nervös hinter dem rechten Ohr, als er nicht sofort eine Antwort erhielt. Auch Annette Ludwig blickte in Evas Richtung, prüfend, ob sie der Nachwuchsschauspielerin bei der Antwort zur Seite springen sollte. Aber da begann Eva zu sprechen: »Sie haben recht. Wissen Sie, für mich war das der grundlegende Aspekt beim Erarbeiten dieser Rolle. Auf der einen Seite ist Abigail schuldig. Natürlich. Sie beschuldigt andere, nimmt sogar deren Tod in Kauf – um ihre eigene Haut zu retten. Andererseits ist sie alleine, hat Angst, ist ja noch ein Kind. Mir ging es darum, zu zeigen, dass Schuld und Unschuld nahe beieinander liegen. Ich würde sogar behaupten, dass es selten klassische Täter und Opfer gibt. Wenn man sich die Kriege ansieht, die tagtäglich da draußen passieren – kann man da wirklich noch bestimmen, wer Schuld hat und wer nicht? Dort, wo manipuliert, unterdrückt, gefoltert wird, nimmt fast jeder früher oder später beide Rollen an. Wird erniedrigt und erniedrigt selbst. Wenn ich …«
Victor legte ihr behutsam, aber bestimmend, seine Rechte auf ihren linken Arm. »Vielen Dank, Eva. Ich denke, du hast unserem Publikum sehr eindrucksvoll unsere Interpretation deiner Rolle erklärt. Wenn keine weiteren Fragen mehr …« Eine Antwort wartete Victor schon gar nicht mehr ab, sondern erhob sich und zog Eva mit sich. »Dann bedanken wir uns für Ihr Interesse und bitten Sie, uns zu entschuldigen. Die Arbeit …«. Einzelne Zuschauer setzten zu einem sparsamen Applaus an. Victor winkte ab.
»Ja, dann vielen Dank auch von meiner Seite. Und wir freuen uns, Sie bald wieder zu einer unserer Vorstellungen begrüßen zu dürfen«, fügte Annette schnell hinzu.
Eva schluckte. Gerade, als es spannend wurde … Sie versuchte, den Herrn, der die letzte Frage gestellt hatte, noch einmal ausfindig zu machen. Da! Er schien direkt auf sie zuzukommen. Sie ging ihrerseits zwei Schritte auf ihn zu, als sie von Victor unsanft am Arm gepackt und in die entgegengesetzte Richtung zum Seitenausgang neben der Bühne gezogen wurde. Sie spürte seinen harten Griff. Ehe sie etwas sagen konnte, schnitt er ihr schon das Wort ab. »So, Evita, wäre doch schade, wenn wir unseren schönen Abend mit diesem ahnungslosen Plebs vergeuden. Da fallen mir doch ganz andere Dinge zum Zeitvertreib ein.« Er grinste.
Eva lächelte unsicher zurück.
»Siehst du. Es ist schon viel zu lange her seit unserem letzten Abend zu zweit.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Dann zieh dich schnell um. Ich erwarte dich am Bühneneingang.« Die letzten Worte hatte er ihr direkt ins Ohr geflüstert. Sie seufzte.
Er hatte ihr heute Blumen in die Garderobe gestellt. Das tat er nur selten. Schon gar nicht zu irgendeiner x-beliebigen Vorstellung, allenfalls zur Premiere. Weiße Rosen. Eine schöne Geste. Dennoch war sie sich nicht sicher, ob sie sich darüber freuen sollte. Es war so anstrengend mit ihm geworden in letzter Zeit. Und wehe, sie machte nur einen klitzekleinen Fehler. Dann konnte seine Verzückung sekundenschnell in abgrundtiefe Verachtung umschlagen. Seit diesem einen Abend im Dezember versuchte sie, Victor auf Abstand zu halten. Andererseits: war es klug, ihn zurückzuweisen? Sie hatte ohnehin nichts vor heute Abend. Und das wusste er auch. Sie stand schon lange in seiner Gunst. Das durfte sie sich nicht kaputt machen. Zu viel stand auf dem Spiel.
22.10 Uhr. Der Sekundenzeiger der Uhr, die einer Bahnhofsuhr glich, bewegte sich unerbittlich tickend vorwärts. Überhaupt erinnerte die Atmosphäre stark an Bahnhof. Ein Kommen und Gehen, kurzes Warten, flüchtige Begegnungen. Stimmengewirr. Und nicht zu vergessen die Durchsagen. »Letztes Bild. Ariane und Paul bitte bereit machen. Dritter Aufgang.«
Aus einer Ecke in der Theaterkantine war ein abfälliges »So eine perfide Gans!« zu hören, vom Tisch gegenüber kam schallendes Lachen. Zwei Tische weiter erhob man das Glas und stieß an auf … Das wusste wahrscheinlich niemand so genau. Am Theater gab es schließlich immer was zu feiern!
Gedankenverloren blieb der Blick einer ca. 40-jährigen, bereits vom Leben gezeichneten Frau an der bereits merklich geleerten Flasche ihres Kollegen hängen. Lediglich ein Hauch Mascara verlieh ihrem Gesicht ein wenig Ausdruck. Still in sich hineinseufzend wandte sie sich, kaum noch imstande, den müden Blick ihrer Augen zu verbergen, wieder ihrem Gegenüber zu: einem graumelierten, ebenfalls in die Jahre gekommenen Möchtegern-Dandy mit zu kantigem Gesicht, zu fahrigen Bewegungen und zu wolfsartigem Blick für ebendiese Rolle.
Victor goss sich erneut ein Glas Whisky ein. Um das toxikologische Gleichgewicht wieder herzustellen, zündete sich Annette im Gegenzug die sicherlich zehnte Zigarette des Abends an und pustete Victor den Rauch ganz unverhohlen ins Gesicht. Ohne den Blick abzuwenden, hüstelte Victor kurz und starrte sie, wie schon minutenlang zuvor, nachdenklich an. »Ich sage dir: der Faust ist eine Nummer zu groß für uns.«
Annette seufzte: »Victor. Wer bitte, wenn nicht du, wäre dem Stoff denn sonst gewachsen? So viele haben das Stück schon inszeniert.«
»Eben.«
»Du weißt genauso gut wie ich, dass du aus der Nummer nicht mehr rauskommst. Die Premiere ist lange angekündigt.«
Victor leerte sein Glas. »Im Faust, da ist so viel Konflikt. Das muss Schmerzen bereiten.«
Annette nickte wortlos.
»Gleichzeitig ist da aber auch ganz viel Lust. Begierde. Das liegt so nahe beieinander.«
Wieder nickte Annette.
»Wenn ihr wirklich wollt, dass ich das mache, dann müsst ihr euch darüber im Klaren sein, dass das die Zuschauer polarisieren wird.«
»Das tun deine Inszenierungen doch immer.«
»Ja, aber dieses Mal werde ich weitere Grenzen sprengen. Anders kann ich den Faust nicht machen.«
»Man wird aber schon noch erkennen, dass es Goethes Faust ist, den du da inszeniert hast?«, grinste Annette.
»Und wenn nicht, wäre das ein Verlust?«
»Na ja, andernfalls würde ich mich fragen, ob du überhaupt noch eine Dramaturgin brauchst, wenn du sowieso alles ganz anders machen willst?«
Victor umfasste Annettes Hand: »Du wirst mich nicht im Stich lassen. Überleg dir schon mal, wie wir die Gretchentragödie auch textlich mehr in den Mittelpunkt stellen können.«
»Geht’s dir um Gretchen oder um Eva?« Annette rutschte auf ihrem Stuhl zurück. Das hätte sie besser nicht sagen sollen.
Victor funkelte sie an. »Um was es mir geht, ist meine Sache. Ihr wollt, dass ich den Faust mache. Ich liefere euch meine Inszenierung. Fertig.«
Erneut goss Victor sich Whisky ein und schüttelte sich angewidert, nachdem er das Glas in einem Zug ausgetrunken hatte.
»Du hast ja recht, Victor. Ist auch schon spät. Zeit für mich …«
Annette erhob sich, aber Victor zog sie zurück auf ihren Platz. Völlig unerwartet setzte er zu einem breiten Grinsen an: »Wie? Das meinst du doch nicht ernst? Du kannst mich jetzt nicht alleine lassen! Mit den bösen, bösen Menschen … Guck, da kommt schon einer!« Victor winkte Johnny herbei, der eben die Kantine betreten hatte.
»Na, böser Mensch, wie isses gelaufen?«
»Hey, Victor, es war einfach geil. Wir hatten so viel Spaß! Es war … die reinste Ekstase!«
Victor blickte triumphierend zu Annette: »Siehst du, das ist, was unsere Schauspieler brauchen! Ekstase, Euphorie! – Komm Johnny, setz dich, mein Freund.« Johnny ließ sich auf den freien Stuhl an der Querseite des Tisches nieder.
Victor schob ihm sein wieder gefülltes Whiskyglas hinüber, welches Johnny mit hastigem Zug hinunterstürzte.
»Und wie schaut’s aus? Können wir beim Faust auch wieder so richtig auf die Kacke hauen?«
Victor blickte süffisant in Annettes Richtung. »Wenn unsere Frau Generalfeldwebel uns lässt …«
Johnny runzelte die Stirn. »Oh nee, aber nicht so ’ne Biedermeier-Nummer …«
»Wer hat denn was von Biedermeier gesagt?«, kritisierte Annette. »Dazu wäre Victor doch gar nicht in der Lage.«
»Interessant, liebe Frau Dramaturgin. Du glaubst also, ich wäre nicht imstande, irgendeine dieser austauschbaren Stadtbühnen-Inszenierungen zu produzieren?«, hakte Victor nach.
»So war das doch nicht gemeint. Aber du hast doch selbst gesagt, dass du es ganz anders machen willst …«
»Ja, das werde ich. Echter.«
»Echter?« Annette blickte ihn fragend an.
»Ja, wahrhafter.«
Annette nickte stumm.
Victors Gesicht färbte sich rot. »Was ist? Traust du mir das nicht zu?«
»Doch, doch. Natürlich.«
»Ach ja? Und warum ist da so ein Zweifel in deinen Augen?«
Annette räusperte sich. »Na ja, in vielerlei Hinsicht sind deine Inszenierungen unschlagbar. Aber wenn ich was kritisieren müsste, dann …«
»Ja, was? Dann?«
»Ich bin der Meinung, dass … Oft habe ich das Gefühl, du meinst nicht ernst, was du da auf die Bühne stellst.«
»Pah!« rief Victor aus. »Habt ihr das gehört? Das lasse ich bestimmt nicht auf mir sitzen! Wer, wenn nicht ich, Victor Hund, inszeniert denn bitte Auth … Authentizität?«
Annette blickte Victor ruhig und gelassen ins Gesicht. Nach ihrer anfänglichen Unsicherheit, fand sie allmählich Gefallen an ihrem kleinen Zwist: »Wenn du glaubst, du erreichst Authentizität, indem du deine Schauspieler sich ausziehen oder bei ihren realen Vornamen ansprechen lässt, hast du sicherlich recht. Trotzdem stimmen deine Inszenierungen nicht. Der Kern, eben das Wahrhafte, das fehlt einfach.«
Victor begann zu brodeln: »Gut, Frau Dramaturgin, dann sag du mir, wie ich das Wahrhafte inszeniere! Dann geh morgen mit mir zur Probe und erklär meinen Schauspielern, was sie tun müssen! Ich bin gespannt, wie du das anstellst!«
Johnny, der sich das zweite Glas Whisky eingoss, lenkte beschwichtigend ein: »Hey, bleibt mal locker! Das kriegen wir schon gebacken. Ist doch schon spät heute … Stoßt lieber noch mal mit mir an! Prost.« Er trank auch dieses Glas in einem Zug aus.
Victor und Annette jedoch ließen sich nicht beirren und starrten sich weiter feindselig an.
Johnny setzte erneut an, die gespannte Situation aufzubrechen: »Wie sieht’s denn eigentlich mit der Besetzung aus?«
Victor warf Annette einen letzten eindringlichen Blick zu, ehe er sich Johnny zuwandte: »Du kriegst den Faust!«
Johnny brach in Lachen aus. »Wie? Das ist ein Witz, oder? Ich meine, klar, wir spielen Faust. Aber auch klar, dass ich auf jeden Fall den Mephisto spiele, oder?«
Annette blickte ihn an. »Keineswegs. Du wirst unser Faust-Darsteller.«
Johnny japste nach Luft. »Aber … das … wer von uns hat jetzt zu viel getrunken? Und wer bitte spielt dann den Mephisto?«
»Johannes!«, sprachen Annette und Victor ungewollt vereint aus.
»Ich fass’ es nicht! Unser Kardinal Johannes soll diesen geilen Bock darstellen? Was hat euch denn da geritten? Wie soll das denn gehen, wo der schon im wirklichen Leben daherkommt wie die Betschwester Eulalia?«
»Johnny, es reicht«, konterte Victor scharf. »Wir werden einen Faust machen, der anders ist als all das, was du je auf der Bühne gesehen hast. Es geht nicht darum, was du willst, sondern um Kunst. Da muss man eben Opfer bringen.«
»Kunst, Kunst, … Ihr geht mir langsam auf die Eier mit eurer Kunst!«, unterbrach Johnny wirsch. »Als ob es jemals überhaupt darum gegangen wäre! Dabei versuchen wir doch einzig und alleine, unsere sesselpupsenden Zuschauer zufriedenzustellen, spendieren ihnen eineinhalb Stunden lang ein geruhsames Nickerchen und becircen hinterher die Presse, damit die Publicity stimmt!«
Victor, der trotz seines Alkoholkonsums von einem Moment auf den anderen wieder völlig klar schien, blickte Johnny entsetzt an. »Jetzt sag nicht, dass du das ernst meinst!« Die Männer blickten sich kampfeslustig an. Annette wurde zunehmend nervöser.
Kurz bevor die geladene Stimmung vollends kippte, wurden sie durch lautes Lachen unterbrochen. Die zwei jungen Frauen, die soeben die Kantine betreten hatten, schienen sich köstlich zu amüsieren: die Schauspielerin Eva Schuberth, zusammen mit der Inspizientin Kathi Weber. Es wurde des Öfteren gemunkelt, ob nicht eine gewisse Liaison zwischen den beiden bestünde … Neben den anderen Affären mit zahlreichen männlichen Verehrern, die man der attraktiven Schauspielerin nachsagte. So genau ließ Eva sich allerdings nie in die Karten gucken, was sie wiederum noch interessanter machte.
Sichtbar beschwingt stolperten die beiden Frauen Arm in Arm zwischen die restliche Theaterschar. Eva sah sich um, winkte hierhin, zwinkerte dort jemandem zu und ließ sich von ihrer Begleiterin an den Nebentisch des Dreiergespanns steuern.
Sogleich trat Unruhe zwischen Victor und Johnny ein. Johnny beugte sich kess über seine Stuhllehne. »Na, Püppi, haste ’ne ordentliche Show abgezogen, da draußen?«
»Na, das glaubste aber!«, mischte sich Kathi sogleich ein. »Kennst doch unser Evchen!« Eva kicherte in sich hinein.
»Na, und bald wird das Evchen auch schon zum Gretchen!«, schäkerte Johnny weiter. »Da hab’ ich doch recht, Victor, oder?!«
»Ja, ja, das war der Plan«, brummelte Victor, sichtlich angewidert von Johnnys Flirtversuchen.
»Ach, Victor, wirklich?«, säuselte Eva dem Regisseur zu. »Wagen wir wieder einen Versuch zusammen?«
»Bleibt mir etwas anderes übrig, mein Goldkehlchen?«, kam es gönnerhaft von Victor zurück, in dem die Manneskraft nun auch erneut entfacht war. »Da würde ich mir ja ins eigene Fleisch schneiden, wenn ich unseren Kassenschlager von der Bildfläche verschwinden ließe …«
»Ich bin also nur dafür gut, dass der Rubel rollt, ja?!« gab Eva gespielt beleidigt zurück. »Wenn das so ist, sollten wir noch mal meine Gage verhandeln!«
»Damit habe ich nichts zu tun!« Victor lehnte sich zurück. »Dafür wendest du dich am besten an unsere Frau Dramaturgin! Auf dass sie ein gutes Wort bei unserem Finanzchef einlegt.«
»Tja, ich beiße bei ihm auf Granit. Nur für den Fall, dass hier andere Gerüchte kursieren …«, entgegnete Annette. »Aber ich bin sicher, auch er ist für weibliche Reize nicht ganz unempfänglich …«, ergänzte sie in Evas Richtung. Dieser Pfeil saß. Mit einem Ruck richtete Eva sich auf. »Du verstehst doch überhaupt nichts! Wenn du wüsstest …« Victor warf Eva einen warnenden Blick zu. Sie verstummte. Die zuvor schon im Raum liegende Spannung schien sich auszuweiten. Für einen Moment herrschte gebannte Stille. Sie wurde von Kathi durchbrochen. Locker-lustig fragte sie in die Runde: »Na, wie weit sind denn nun eure Pläne für den Faust? Eva spielt also das Gretchen … Und die anderen?«
»Gestatten, mein Name ist Faust. ›Habe nun, ach! Philosophie‹ …«, begann Johnny zu deklamieren.
»Das ist nicht dein Ernst!«, prustete Eva los. »Das wäre auch zu komisch!«
»Meine Liebe, das ist überhaupt nicht komisch«, blaffte Victor aggressiv dazwischen. »Johnny wird den Faust spielen, Johannes Mephisto und du Gretchen. Ende der Diskussionen!«
Eva, die nun ganz ruhig geworden war, ließ nur noch ein schnippisches »Interessant!« verlauten. »Machen wir endlich mal Kunst, ja?!«, konnte sie sich dann doch nicht verkneifen.
Victor packte sie am Arm und stieß zwischen den animalisch gebleckten Zähnen hervor: »Wehe, du fängst jetzt auch noch damit an … Wenn dir nicht passt, was ich mache, kannst du jederzeit gehen. Aber vergiss nicht, wo du ohne mich wärst. Vergiss das nicht.« Eva schluckte und blickte Victor hasserfüllt an.
Annette zog ihn sanft von der schmalen Schauspielerin fort. »Komm, es reicht! Wir haben alle zu viel getrunken …«
Victor wandte seinen starrenden Blick nicht von Eva ab. Johnny nutzte die Gunst der Stunde, erhob sich ruckartig und streckte Eva seine Hand hin: »Komm, mein Gretchen, ich bring’ dich nach Hause, ja?!« Eva nahm das Angebot sichtbar erleichtert an und verließ mit Johnny den Raum, ohne ihren Blick noch einmal auf die übrigen Anwesenden zu richten. Wie in Trance starrte Victor ihr hinterher, bis sie die Theaterkantine verlassen hatte.
»Da ist also immer noch mehr zwischen den beiden«, dachte Annette. Die Karrieren von Victor und Eva waren eng verknüpft, ihr jeweiliger Erfolg war nur als Erfolg einer Symbiose zu sehen. Was die beiden allerdings wirklich miteinander verband, war nur bedingt zu durchschauen.
Victors starrende Trance verwandelte sich in Wut. Sein eisiger Blick bohrte sich in die regungslose Fassade der Dramaturgin. Innerlich brodelnd, äußerlich die Ruhe selbst, wandte er sich an sie: »Gut, Annette, ich gebe dir hiermit mein Wort, dass ich mit dem Faust wahrhafte Kunst machen werde. Das wird die wahrhafteste Inszenierung, die Berlin, ach, was sag’ ich, die Welt je gesehen hat! Dir werden die Augen übergehen, das verspreche ich dir!« Der letzte Satz klang fast wie eine Drohung.
Annette verspürte eine unangenehme Kälte. »Zeit, dass ich nach Hause gehe«, murmelte sie, ehe sie fast lautlos aufstand und ging.
Da lag sie nun. Das Gretchen alias Eva Schuberth. 32 Jahre alt, mitten im Leben. Die Wangen glänzten rosig. Es sah aus wie der perfekte Bühnentod, hatte etwas fast Malerisches an sich. Aber irgendetwas störte. Das Blut, das da nicht enden wollend aus ihrem Oberkörper strömte, der merkwürdig abgeknickte Arm, der gerade noch eine Pistole gehalten hatte. Nach zwei Stunden dicht gedrängten Spiels um Sinnsuche, Gewissenskonflikte und todbringende Beziehungsdramen hatte sich das Ende erstaunlich schnell aufgelöst. Die Zuschauer hatten Mühe, die letzten Worte und Vorgänge überhaupt so schnell zu begreifen. Da dringt Faust in den Kerker ein, bewaffnet, will Gretchen mit sich fortnehmen, wird gedrängt von Mephisto. Plötzlich ertönt der Schuss. Mitten ins Herz. Gretchen am Abzug. Sie schwankt, sie stürzt. Blut. Dann geht das Licht aus. Nach zwei Sekunden Stille begann das Klatschen, das sich in Kürze in Johlen, Füßetrappeln und Standing Ovations ausweitete. Nach den letzten, umstrittenen Premieren, welche die Zuschauerschaft in mindestens zwei Lager geteilt hatten, herrschte nun Einigkeit. Es war großartig, was sich soeben auf der Bühne ereignet hatte. In den Ankündigungen war nicht zu viel versprochen worden. Der Saal tobte. Schauspieler und Zuschauer wurden eins. Nach und nach strömten die Darsteller auf die Bühne, versammelten sich um das immer noch still daliegende Eva-Gretchen, Glück in den Augen, euphorisch. Sie setzten zur Verbeugung an. Warum aber erhob sich die weibliche Hauptdarstellerin nicht? Lächelnd streckte Johnny-Faust seinen Arm nach ihr aus, war im Begriff, sie hochzuziehen. Erst jetzt wurde nicht nur ihm, sondern auch seinen Kollegen auf der Bühne sowie allen knapp sechshundert Zeugen im Zuschauerraum bewusst, was sich da wirklich vor aller Augen ereignet hatte. Johnny-Faust fiel auf die Knie, versuchte vergeblich, mit einem Taschentuch den Blutstrom einzudämmen, Stimmen nach einem Arzt wurden laut, die Sanitäter, die für den Fall der Fälle, der nie eintrat, hinter der Bühne saßen, sprangen mit ihrem Erste-Hilfe-Koffer herbei, stießen die umstehenden Schauspieler beiseite, ein älterer Mann, bebrillt, schwarzer Anzug, drängte nach vorne. Offenbar der verlangte Arzt. Der Vorhang wurde geschlossen, um die Gretchen-Darstellerin nicht länger den voyeuristischen Blicken des Publikums auszusetzen. Die Euphorie verwandelte sich in Tumult. Fassungslosigkeit breitete sich aus wie ein Feuer. Hektik machte sich breit. Entsetzen. Auch das Theaterpersonal war offensichtlich nicht auf solch ein Geschehnis eingestellt. Nach einigen Minuten, als der Saal sich schon um gut ein Drittel geleert hatte, stolperte Annette Ludwig auf die Bühne. Mit brüchiger Stimme verkündete sie, dass es offenbar einen Unfall gegeben habe und die Zuschauer den Saal verlassen mögen. Sie dankte für das Verständnis, das niemand ihr entgegenbrachte in diesem unerhörten Augenblick. Alle gingen, nach und nach, manche wie betäubt. Nur einer blieb. Er konnte den Blick nicht abwenden vom rot-samtigen Bühnenvorhang, hinter dem gerade die Schauspielerin, die er so sehr bewunderte, um die letzten Sekunden ihres kurzes Lebens rang. Er hörte das aufgeregte Geklapper und Geraschel der Rettungskräfte. Spürte die hilflosen Versuche, Eva wieder ins Leben zurückzuholen. Vernahm die aufgeregten Stimmen, draußen ein Martinshorn. Nervöse, laute Schritte. Wie in einem Alptraum zogen die unsichtbaren Ereignisse hinter dem Vorhang an ihm vorbei. Er spürte in seiner Erstarrung nicht, wie die Zeit verging. Irgendwann erlosch das Licht im Zuschauerraum, die Stimmen verklangen. Langsam fand auch er den Weg nach draußen, sah das schwarze Fahrzeug, die Männer, die einen Sarg trugen. Mit ihrem Körper. Eine Welt brach für ihn zusammen. Und gleichzeitig reifte der Entschluss, sie nicht einfach so gehen zu lassen.
Am nächsten Tag ging es durch alle Zeitungen. »Theaterskandal mit Todesfolge« blitzte es vom Titelblatt der BILD; »Tragischer Unfall bei Faust-Premiere« hieß es im Tagesspiegel. Der Tod von Eva Schuberth überschattete jegliches Lob auf Inszenierung, Regisseur und Schauspieler.
Fragen wurden laut – nach den genauen Umständen, den Hintergründen, einem Motiv? Tatsächlich ein Unfall? Wie aber kann es passieren, dass eine Schauspielerin mit einer geladenen Pistole die Bühne betritt?
Für 14 Uhr wurde eine Pressekonferenz einberufen. Von Seiten des Theaters waren Annette Ludwig, der Pressesprecher Leon Petersen sowie Willi Marinus Kleiber, der Intendant persönlich, anwesend. Über 30 Journalisten hatten den Weg zum Theater gefunden, eilig wurden weitere Stühle herangeschafft – ein Zustand, wie man ihn sich für die Vorstellung der neuen Spielzeit wünschte, nicht aber für diesen unerfreulichen Anlass. Zwei weitere Herren, die in Theaterkreisen nicht bekannt waren, saßen auf dem Podium und flüsterten mit dem Intendanten. Es handelte sich um Vertreter der Berliner Kriminalpolizei, die sogleich vorgestellt wurden, nachdem das Getuschel verebbt war und die Konferenz offiziell begonnen hatte: Alfred Hübner, Leiter der Mordkommission, mit einem seiner Kriminalbeamten, Eberhard Richter.
»Mordkommission?« hörte man es aus verschiedenen Ecken.
»Es wäre zu früh, voreilige Schlüsse zu ziehen«, versuchte Alfred Hübner die nervöse Menge zu beschwichtigen. »Wie sich der tragische Tod von Eva Schuberth im Detail ereignet hat und wie die Hintergründe aussehen, werden wir schnellstmöglich aufklären. Bevor wir jedoch zu einem Ergebnis kommen, möchte ich Sie bitten, von verfrühten Interpretationen Abstand zu nehmen.«
»Arbeiten Sie immer mit geladenen Schusswaffen?« provozierte der Reporter eines lokalen Fernsehsenders in der ersten Reihe. Leon Petersen setzte zur Antwort an: »Selbstverständlich tun wir das nicht. Unsere Requisiten unterliegen einer strengen Kontrolle und werden vor jeder Aufführung eingehend überprüft.« Hübner ergänzte: »Natürlich untersuchen wir, wie es dazu kommen konnte, dass Frau Schuberth trotz sicherheitstechnischer Überprüfungen mit einer geladenen Waffe die Bühne betrat.«
»Stimmt es, dass Eva Schuberth unter Depressionen litt?«
»Im Moment haben wir keine Hinweise auf eine psychische Erkrankung, aber auch das werden wir selbstverständlich prüfen«, erklärte Eberhard Richter.
»Wo ist Victor Hund? Warum ist er nicht hier? Immerhin ist er als Regisseur verantwortlich für das, was auf der Bühne passiert«, gab eine angegraute Mittfünfzigerin zu bedenken.
»Victor lässt sich entschuldigen. Er ist – wie wir alle – sehr betroffen vom Tod seiner Hauptdarstellerin«, erklärte der Intendant.
»Stimmt es, dass Herr Hund und Frau Schuberth liiert waren?«
»Wir werden hierzu keinerlei Aussage treffen und möchten Sie bitten, das Privatleben von Eva Schuberth und allen anderen Beteiligten aus dem Spiel zu lassen«, entgegnete Petersen eine Spur zu heftig.
»Aber wenn es eine Beziehungstat war?«, beharrte der Fragesteller auf seiner Theorie. »Dann spielt das Privatleben von Frau Schuberth doch eine Rolle. Oder sind Sie nicht daran interessiert, den potentiellen Täter möglichst schnell dingfest zu machen?«
»Wie bereits dargelegt, tun wir alles Menschenmögliche, diesen tragischen Unglücksfall schnell aufzuklären. Sie werden verstehen, dass wir dennoch Zeit benötigen, um dies gewissenhaft und gründlich zu tun«, erwiderte Hübner professionell ruhig, nachdem er den erregten Pressesprecher mit einer Beschwichtigungsgeste um Zurückhaltung gebeten hatte.
Als die Journalisten feststellten, dass ihnen zu wenig Futter für ein Eifersuchtsdrama, einen Mord aus Rache oder eine ähnliche Schlagzeile geliefert werden würde, suchte sich einer der gewieften Pressevertreter einen anderen wunden Punkt: »Was wird denn nun aus der groß angekündigten Faust-Inszenierung? Hieß es nicht, mit dem Erfolg dieser Inszenierung stehe oder falle auch die weitere finanzielle Situation Ihres Theaters?«
Der Intendant hatte mit dieser Frage gerechnet: »Ich möchte Sie bitten, zu Protokoll zu nehmen, dass wir bereits seit ein paar Monaten wieder schwarze Zahlen schreiben. Von einer angespannten finanziellen Lage kann also keineswegs die Rede sein!«
Knarzende Stühle, penetrantes Gehüstel und entnervtes Wispern markierten die Unruhe unter den Anwesenden. Nach längerem Schweigen sprang ein glatzköpfiger Mann mit Dreitagebart und hochrotem Kopf auf: »Wenn ich noch einmal zusammenfassen darf: Eine Schauspielerin stirbt bei der Premiere. Sie agiert mit einer geladenen Waffe, deren Herkunft sich niemand erklären kann. Keine Anzeichen für Suizid. Mordmotiv: nicht vorhanden. Trotzdem sitzen Sie, die Herren von der Polizei, hier oben. Und haben nichts. Das erzähle ich also meinen Lesern, ja? Bisschen dünne Story, meinen Sie nicht?« Zustimmendes Raunen unterstrich den vorgebrachten Einwand.
Gelassen ergriff Hübner das Wort. »Sie haben ganz recht. Eine Story ist das noch nicht. Wir sind eben nicht Hollywood. Möglicherweise handelt es sich um einen tragischen Unfall. Aber Sie können versichert sein: sobald es neue Erkenntnisse gibt, werden wir Sie das wissen lassen. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir Ihnen leider keine weiteren Informationen geben.«
Ein protestierendes »Phh« ausstoßend verließ der Mann mit dem Dreitagebart und einem inzwischen noch röteren Kopf das Sitzungszimmer des Theaters. Kopfschüttelnd folgten ihm einige Kollegen.
Fragend blickten die restlichen Anwesenden einander an.
Plötzlich wurde die Stille durchbrochen. Fast apathisch murmelte ein seriös gekleideter Mittvierziger mit Hornbrille: »Es war sicher kein Unfall.« Er hatte leise gesprochen, fast genuschelt, dennoch hatte es jeder gehört. Mit einem Mal war die Aufmerksamkeit wieder da und es wurde schlagartig still im Raum. Alle Blicke wandten sich zum äußersten Platz, ganz rechts, in der vorderen Reihe. Bis zu diesem Moment hatte es der Herr im grauen Wollpulli geschafft, in der Journalistenschar unterzugehen. Es war derselbe Herr, der am Abend zuvor als Letzter den Zuschauerraum verlassen hatte. Er räusperte sich und erst dann schien ihm klar zu werden, dass er, der sonst selten bemerkt wurde, mit einem Mal im Fokus des allgemeinen Interesses stand. Wieder ein Räuspern. »Entschuldigen Sie. Ich – nur ein Gedanke«, stieß er hervor.
»Hey, was weißt du?«, stieß ihn der BILD-Reporter von links in die Seite.
»Ich weiß, dass ich nichts weiß«, kam es so entrückt als Antwort, dass sich einige Anwesende das Lachen nur mit Mühe verkneifen konnten. Augenrollend konterte der BILD-Reporter: »Du hast ’ne Story, rückst sie aber nicht raus. Kapiert. Für welches Blatt schreibst du?«
Sein Sitznachbar, der schon wieder in eine andere Welt abgetaucht schien, machte keinerlei Anstalten, zu antworten. Um die erneut aufkeimende Unruhe zu unterdrücken, ging Petersen energisch dazwischen: »Meine Damen und Herren, ich denke, es wurde alles gesagt. Wie Herr Hübner Ihnen bereits mitgeteilt hat, werden wir Sie auf dem Laufenden halten. Die heutige Pressekonferenz ist hiermit beendet. Ich wünsche Ihnen noch einen erfolgreichen Tag und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.«
Nach und nach verließen die Pressevertreter in kleinen Grüppchen den Raum. Als sich mit einiger Verzögerung auch der Hornbrillen-Träger von rechts vorne langsam aus seinem Stuhl erhob, ging Hübner auf ihn zu: »Möchten Sie uns etwas mitteilen?«
Wie aus einer anderen Welt blickte sein Gegenüber den Polizeikommissar an. Es war ein langer, überlegender Blick aus traurigen Augen. »Es macht keinen Sinn mehr. Damit hat sich alles erledigt.«
Hübner war sichtlich irritiert von dieser Antwort: »Das verstehe ich nicht.«
»Ich war fast fertig. Und jetzt stirbt sie einfach. Damit ist alles zunichte.«
Hübner versuchte, den Herrn am Gehen zu hindern: »Natürlich ist ein Leben zunichte, wenn jemand stirbt. Ich vermute, Sie standen Eva Schuberth nahe?«
»Möglicherweise. So richtig bin ich ihr erst dreimal begegnet. Auch wenn ich das Gefühl habe, sie schon länger zu kennen. Ich habe jede Inszenierung mit ihr an diesem Theater gesehen. In der Regel mehrfach.«
Al