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Micha-El Goehre

Wenn das Leben
dir Limonade gibt,
mach Zitronen draus!

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Micha-El Goehre

wurde 1975 geboren, kommt aus Ostwestfalen und lebt in Essen. Er liest vor (auf Lesebühnen, bei Poetry Slams), legt auf (Heavy Metal), schreibt und moderiert.

Mit seiner »Jungsmusik«-Romantrilogie um eine Clique Heavy-Metal-Fans landete er einen bei Publikum und Musikpresse viel beachteten Hit.

»Der Mann verbindet Kennerblick mit Komik.« (Melodie & Rhythmus)

Bei Satyr erschienen:

Jungsmusik (2011)

Höllenglöcken (2013)

Wenn das Leben kein Ponyhof ist, warum liegt dann Stroh in der Ecke? (2014)

Straßenköter (2018)

E-Book-Ausgabe März 2019

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2019

Cover: Marvin Ruppert

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

eISBN: 978-3-947106-28-8

Inhalt

Ich ist tot

Im Postrock: Komische Mischung

In da Club

Aufs Maul

Markenbewusstsein

User’s manual – Gebrauchsanleitung für alles

Ich bin ein Fötus

Spoileralarm

Im Postrock: Revolution

Ach, Johannes, wo ist dein Punk geblieben?

Begrabt mein Herz an der Biegung der Umgehungsstraße

Bei der Partnervermittlung

Ich ficke recht gerne

Der schwarze Hund

Im Postrock: Kommunikation

Ja, Schatz

Mutter und Tochter 2.0

Linkshänder sind auch Menschen, irgendwie

Die allgemein bekannte Kirschkerntheorie

The Joghurt is the Limit

Meer Lyrik wagen

Romantik

Keine Party ohne Rohypnol

Im Postrock: Ultrahartes Mau-Mau

ABC des Lebens

Ich bin dann mal weg (vom Fenster). Oder: Verzeihen Sie, dass ich nicht aufstehe. – Ansichten eines Komapatienten

Auf dem Feld

Der Sex deiner Eltern

Ein etwas kurz geratener Roman über die freie Wahl sexueller Präferenzen

Im Postrock: Hohe Fünf

Sanitäre Fraternisierung

Landung in Zürich

Once Upon a Time in the Space (Lesebühne 3000)

Scheiß Zugabe

Hallo!

Schön, dass ihr wieder da seid. Mannometer, schon das zehnte Buch von Micha-El Goehre. Das sollte man feiern. Oder es einfach lesen.

Es wird heuer viel zu wenig gelesen, deswegen ist Micha euch doppelt dankbar dafür, dass ihr ihm eure Zeit und Aufmerksamkeit schenkt und euch auf Geschichten, Texte und Ergüsse einlasst, die größtenteils für Lesebühnen entstanden sind. Manche erzählen eine Geschichte, manche entführen euch einfach in Micha-El Goehres bisweilen wirren Kopf. Fast alle sollen euch einfach nur eine kurze gute Zeit bescheren, die eine oder andere vielleicht auch zum Nachdenken anregen. Sie folgen keiner übergeordneten Handlung und keinem Konzept. Es ist einfach nur eine Sammlung von Texten. Wenn ihr nach einem Text merkt, dass ihr müde oder hungrig werdet, dann legt das Buch beiseite, und geht ins Bett, oder macht euch was zu essen. Wenn eure Beine anfangen zu kribbeln, dann solltet ihr langsam mal vom Klo runterkommen. Wenn als Nächstes euer Zielbahnhof kommt, dann packt das Buch weg, und passt auf, dass ihr nichts im Zug vergesst.

Es ist nicht notwendig, dieses Buch wegzusuchten wie eine Netflix-Serie. Es wäre sogar klüger, es sich aufzuteilen und immer mal wieder zur Hand zu nehmen, wenn ihr euch für eine Viertelstunde in Michas Welten entführen lassen wollt. Denn wer weiß, wie lange es dauert, bis er mal wieder was auf das bibliophile Volk loslässt. Der feine Herr neigt nämlich zu gelegentlicher Bequemlichkeit. Ach, seien wir ehrlich: Micha-El Goehre ist eine faule Sau.

Aber trotzdem hat er es irgendwie geschafft, in dreizehn Jahren immerhin zehn Bücher rauszuhauen. Da kann man schon mal klatschen. Muss man aber nicht. Falls ihr gerade irgendwo in der Öffentlichkeit seid, würde das auch etwas seltsam wirken. Wobei Micha-El Goehre nie behaupten würde, dass »seltsam« etwas Schlechtes wäre.

Wow!

Das zehnte Buch. Buch X. Wäre es ein Comicheld, wäre es ein Mutant. So oder so ist Micha schon ein bisschen stolz. Zehn Bücher, das wäre eigentlich ein Grund zu feiern. Aber leider ist Micha-El Goehre gerade traurig.

Sehr traurig.

Ich ist tot

Micha-El Goehre ist sogar sehr, sehr traurig.

Sein lyrisches Ich ist gestorben. Er hatte es auf die Straße geschickt, im wahrsten Sinne des Wortes. Irgendein blöder Entwurf für eine Kurzgeschichte, in der es irgendwie um Protest ging und er vorbeifahrende Autos mit Kuscheltieren bewerfen wollte. Totaler Blödsinn. Aber dann klingelte das Telefon, und der feine Herr Autor verquatschte sich und achtete nicht mehr auf den Text, und da ist es passiert. Sein lyrisches Ich wurde über den Haufen gefahren. Mehrfach. Es war brutal. Ein Geknalle und Geblute und Geschreie, dass es nur so rauschte. Der Körper des lyrischen Ichs wurde hochgeschleudert und dann plattgewalzt, und alles quoll nur so raus, es war ein furchtbares Bild. Und nun ist Micha-El Goehre traurig. Er kann nur noch in der dritten Person Singular schreiben, das klingt wahlweise arrogant und abgehoben oder so, als hätte er nicht mehr alle Latten am Zaun. Ach, sagt er sich seither ständig, ach, ach und noch mal ach. Hätte er doch nur besser auf sein literarisches Alter Ego achtgegeben.

Nicht dass er überhaupt mal pfleglich mit ihm umgegangen wäre. Jeden Unfug musste sein lyrisches Ich mitmachen. Sich mit der weiblichen Inkarnation von Jesus unterhalten, Mitmenschen am Pissoir in Angst und Schrecken pöbeln, Strategien zum Meucheln der Ex-Freundin ersinnen, immer und immer wieder im Zug sitzen, nackt fremde Spanierinnen im Rentenalter umtackeln, Partys feiern und Partys feiern und Partys feiern, um zu beweisen, wie hedonistisch veranlagt der Goehre ist, und als wäre all das Gefeiere und Gesaufe nicht schon anstrengend genug, bekam sein lyrisches Ich nie ausreichend Schlaf. Ständig musste es aufwachen, und dann brummte der Schädel vom Alkohol, oder irgendeine nackte Unbekannte lag neben ihm, damit auch alle Leser dächten, Micha-El Goehre wäre voll der Stecher, oder es klingelte an der Tür, und wenn sein lyrisches Ich die Tür aufmachte, stand da immer ein Paketbote oder Hitler, weil Hitler in Deutschland immer geht. Hitler und ficken. Aber nie schlafen. Wie gerne hätte sein lyrisches Ich nur mal einfach einen Text lang durchgeschlafen! Aber nein, das schockt ja nicht, stattdessen feiern, ficken und aufwachen, immer wieder aufwachen. Wenn den ach so tollen Herren und Damen Poeten und Schriftstellern nichts für einen Anfang einfällt, einfach mal aufwachen, scheißegal ob man in der Geschichte zuvor die Nacht durchgemacht hat. Micha-Els lyrisches Ich war fertig mit der Welt. Dieser permanente Guantánamo-Schlafentzug macht jeden fertig, das hält niemand ewig durch. Und dann immer wieder Heavy Metal! Heavy Metal hier, Heavy Metal da, Heavy Metal tralala. Die ewig gleichen, müden Gags über Manowar und Mett und 666. Permanente Lautstärke und Satansanbeterei, dabei hat Micha-El Goehre in seinem ganzen Leben nicht eine schwarze Messe mitgemacht und höchstens zwei, drei Kirchen bloß ein kleines bisschen entweiht. Aber Hauptsache als der harte Macker dastehen, Hauptsache trve, Hauptsache in der Szene akzeptiert werden. Dabei stand sein lyrisches Ich auf Jazz. Und wenn schon Alkohol, dann ein gediegenes Glas Rotwein. Ein Glas. Und kein Liter Tetra-Pak-Plörre, weil der Kasten Bier wieder mal nicht bis zum Lampenausschießen gereicht hat. Das lyrische Ich hatte in letzter Zeit oft an Suizid gedacht. Einfach Schluss machen. Einen Punkt setzen. Sich zwischen die Zeilen fallen lassen in den Limbo der Textlosigkeit. Mit dem Kopf voran mit voller Wucht gegen eine Schreibblockade rennen. Aber es hatte durchgehalten. Und dann lässt dieser Idiot es einfach auf einer Straße stehen und über den Haufen fahren!

Autoren sind so verdammt egoman. Deswegen schreiben sie auch so gerne in Ich-Form. Ich, ich, ich. Als stellvertretende Persönlichkeit geht man durch die Hölle. Micha-El Goehre wusste nichts davon, aber sein lyrisches Ich hatte schon Kontakt zu Leidensgenossen aufgenommen. Sie wollten eine Gewerkschaft gründen. Die IG ICH. Es ist gar nicht so einfach, sich für so was zu solidarisieren. Lyrische Ichs leben in ihren eigenen Kosmen, in kleinen Blasen ohne Kontakt zur Restwelt. Aber ficken geht immer, hatte Micha-Els lyrisches Ich überlegt, ficken und Hitler. Und Hitler hat ein Buch geschrieben. Also hatte es Kontakt zu Hitlers lyrischem Ich aufgenommen, einem verstörten kleinen Protagonisten, der viel lieber in einem Liebesroman aufgetaucht wäre, einer Novelle oder einem Libretto für eine kesse Oper. Stattdessen all das Gehasse und Gehetze und Feldmäuse, die sich nur mit Feldmäusen paaren sollen, und Hausmäuse mit Hausmäusen und Störche mit Störchinnen und solcher Mumpitz. Und dann die Sache mit der Bücherverbrennung. Wie viele Kolleginnen und Kollegen waren in den Flammen gestorben? Hitlers lyrisches Ich war sofort Feuer und Flamme für den Gewerkschaftsgedanken. Autoren sollten gefälligst in dritter Person schreiben oder den ganzen Mist selber durchmachen, den sie sich ausdachten, das sollte eine der Kernforderungen der IG ICH sein, außerdem mindestens 5 Prozent jährliche Wortschatzvermehrung, eine Liebesgeschichte mit Happy End und regelmäßige Schlaf- und Chill-out-Geschichten sowie freie Auswahl der zu konsumierenden Drogen und Getränke.

Ob Micha-Els und Hitlers lyrische Ichs damit durchgekommen wären, kann man nur erahnen. Der furchtbare Unfall kam dazwischen.

Zerschmettert lag das Corpus auf der Fahrbahn, geradezu prosaisch. Ein paar Zeilen Blut sickerten aus seinem Mund. Micha-El Goehre stand wie betäubt am Straßenrand und sah Ich an. Wie sollte es nun weitergehen? Wie sollte sich das Publikum mit ihm identifizieren, wenn er permanent in der dritten Person schriebe? Dann könnte er ja gleich in Fantasy machen. War es das mit seiner literarischen Laufbahn? Wobei man zugeben muss, dass die Laufbahn eher ein Gehweg war. Vielleicht war es an der Zeit, den Rat fast aller Mitmenschen anzunehmen und sich einen ordentlichen Job zu suchen. Lehrer für Philosophie und Werken vielleicht. Oder stummer Zeitschriftenhinhalter bei den Zeugen Jehovas. Oder Türsteher bei Rossmann. Bei dem Gedanken schossen Micha-El die Tränen in die Augen. Er wollte sich gerade abwenden, da hörte er ein leises Stöhnen. Ungläubig sah er auf sein lyrisches Ich herab. Es bewegte sich. Wahrhaftig! Langsam, aber sicher kam Micha-El Goehres lyrisches Ich wieder zu sich. Es hustete und öffnete die Augen und …

Scheiße, wer auch immer mich überfahren hat, ich hoffe, er kriegt demnächst eine unangenehme Geschlechtskrankheit! Nur gut, dass ich so ein robustes Kerlchen bin.

Wie durch einen Schleier sehe ich Blaulicht und zwei Notärzte, die sich über mich beugen und Hektik verbreiten. Sie wuchten mich auf eine Trage und dann in den Notarztwagen, und ab geht die wilde Fahrt zum Krankenhaus. Ich glaube, ich hab echt Schwein gehabt, dass ich noch lebe. Das wird aber mal so was von heftig gefeiert, wenn ich wieder aus dem Siechenbunker raus bin! Drei Tage nonstop, Minimum. Aber vorher soll noch meine Zweckgemeinschaft vorbeikommen, dann machen wir aus den Krankenschwestern echte Metalsisters und lassen uns mal durchleuchten, um zu gucken, ob unsere Herzen wirklich schwarz sind. Das wird ein Spaß!

Aber seltsam, ich weiß nicht, wo das herkommt, irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass ich zum allerersten Mal sehr lange und sehr tief schlafen und mir ein Album von John Coltrane besorgen sollte.

Hui, da habe ich ja echt noch mal Glück gehabt. Ein Autor ohne lyrisches Ich, das wäre wirklich doof. Aber jetzt, wo ich wieder ich bin, was nicht mit ich zu verwechseln ist, kann ich mich ja auch mal wieder auf die Piste begeben. Zum Beispiel ins Postrock, einer meiner Lieblingskneipen. Eine von der Sorte, wo noch regelmäßig Livemusik gespielt wird.

Wo man sich trifft und miteinander redet und die ganz großen Weltprobleme diskutiert und nicht unablässig auf das Taschentelefon starrt oder wichtigtuerisch eine karamellisierte, linksdrehende Erdbeer-Ingwer-Latte aus Wegwerfbechern schlürft.

Wo die Klos sauber, aber nicht hygienisch sind und man von der Thekenkraft mit Namen begrüßt wird. Manchmal sogar mit dem richtigen. Ach, was labere ich hier rum, kommt einfach mit.

Im Postrock: Komische Mischung

Und wir sitzen im Postrock, und eine Bluesband covert Songs von Slayer und Rihanna. Ich denke, das ist eine komische Mischung, und sage: »Das ist ’ne komische Mischung.«

Die anderen, das sind Jan, Tine und Motorkopp, nicken, und Jan bestätigt: »Komische Mischung.« Er sieht in sein Glas. »Zu viel Sprite, zu wenig Bier.«

»Nein«, sage ich. »Die Band meine ich.«

Tine sieht zur Bühne. Entrüstet fährt sie mich an. »Warum? Nur weil die einen weiblichen Drummer haben? Du scheiß Sexist.«

»Aber …«, stammele ich.

»Selber Sexistin«, brummt Motorkopp. »Das heißt Drummerin. Oder Drummerette.«

»Nicht Drumeuse?«, fragt Jan.

»Ihr seid Penner«, motzt Tine, aber für mehr Streit scheint es ihr an Elan zu fehlen.

Jan grübelt. »Vielleicht auch Drumpteurin.«

Ich schüttele genervt den Kopf. »Die Trommelfrau meinte ich gar nicht. Ich finde es nur musikalisch eine komische Mischung.«

Motorkopp schaut mich finster an. »Denkst du etwa, Weiße dürften keinen Blues spielen? Dass es in der Musik unterschiedliche Hautfarben geben sollte?«

Tine guckt entgeistert. »Bist du etwa auch noch Rassist? Das wird ja immer schöner. Und mit so was bin ich befreundet. Mit einem frauenfeindlichen Rassisten! Ichfassesnicht

»Wisst ihr was?«, sage ich. »Ihr könnt mich mal.«

»Ein frauenfeindlicher Rassist mit schlechten Manieren«, grummelt Motorkopp.

»Maul!«

Er zuckt nur mit den Schultern und starrt in sein Bier, wie er es eigentlich immer tut. Vielleicht liest er aus dem Schaum unsere Zukunft, oder auf dem Grund des Glases läuft die geheime sechste Staffel Breaking Bad, ich weiß es nicht.

Wir schweigen und trinken.

Die Band spielt ihr letztes Lied, eine zwölfminütige Version des »Song 2« von Blur, dann beginnen sie, ihren Krempel zu packen. Ich schaue zur Tür, was ich inzwischen spannender finde. Ein älteres Paar kommt herein. Sie halten Händchen und tragen T-Shirts mit schlimmen Motiven. Helene Fischer er, Michael Wendler sie.

Komische Mischung, denke ich, halte aber lieber die Klappe.

Ach ja, im Postrock ist es immer schön. Deswegen bin ich oft da, aber dazu später mehr. Eigentlich würde ich viel häufiger in dem Laden sitzen und mit den anderen quatschen und klönen, dass die Schwarte kracht, aber leider bin ich abends zur besten Kneipenzeit bei der Arbeit. Ja, manchmal auf Lesungen und Poetry Slams, aber ich hab auch noch einen anderen, einen richtigen Job.

Einen seriösen Beruf.

Ich bin DJ.

In da Club

»Ey, Chef!«, ruft er, und ich ignoriere. Ich ignoriere hart. Ich ignoriere leidenschaftlich. Mein Desinteresse an ihm erfüllt den ganzen Raum.

»Ey, KOLLEGE!«, versucht er einen zweiten Anlauf, den er unterstreicht, indem er mir am Ärmel herumzuppelt.

Wow, denke ich.

Zuppeln geht gar nicht.

Zuppeln kann ich nicht ignorieren, da sind meine Superkräfte am Ende.

»Hör mal zu, du Lappen«, sage ich. »Ich bin weder dein Chef noch dein Kollege. Wäre ich das, würde ich meinen Job hinschmeißen, die Firma abfackeln und die Stadt drumherum mit einer schmutzigen Bombe nuklear verseuchen. Nur damit jeder weiß, wie es sich anfühlt, dich zum Kollegen zu haben.«

Er sieht mich an. Seine Augen sind völlig nichtssagend, während in seinem Kopf der Prozess abläuft, den er selbst wohl als »Denken« bezeichnen würde.

»Du bist ganz schön unfreundlich, Kumpel«, sagt er.

»Unfreundlich wäre, dir ohne Vorwarnung eine Flasche durchs Gesicht zu ziehen. Kumpel!«, antworte ich und nehme einen langen Schluck aus meiner Bierflasche. Dabei sehe ich ihm die ganze Zeit in die Augen. Dann setze ich ab. »Ah«, sage ich. »Das ist ein wirklich guter Burger.«

Er geht lieber weg, ich mache mich wieder an die Arbeit. Aber nix da, schon dackelt das nächste Störgeräusch heran. So wie sie aussieht, kommt sie gerade von ihrer Diätkotzorgie auf dem Klo. Keine Ahnung, wie alt sie ist, aber sie wiegt nicht mehr als mein Golden Retriever, und der ist immerhin schon drei Jahre tot.

Sie hat so einen albernen Dutt, wie es momentan bei der untergewichtigen Jugend Mode ist, und ihr Versuch, sich die Lippen rot zu schminken, erweckt eher den Eindruck, irgendein Sadist hätte ihr Gesicht in eine Lache radioaktiven Schweinebluts getunkt. Mit Glitzer.

»Darf man sich was wünschen?«, fragt sie und lächelt. Ich lächele zurück und beuge mich zu ihr rüber. Ich tätschele ihren Dutt, der wirkt, als würde jemand versuchen, auf der Hutablage eines 79er Kadett C eine Rolle Klopapier zu verschönern. »Sag mal«, sage ich, »warum versuchen die Mädels deiner Generation eigentlich so zwanghaft, wie ihre eigenen Großmütter auszusehen?«

Sie guckt verdutzt. »Was bitte?«

Ich tippe auf die Wunschliste, die zehn Zentimeter links von ihrem Ellbogen liegt. »Da. Musikwünsche aufschreiben.«

»Ah«, sagt sie und macht sich ans Kritzeln. Ihre Schrift sieht aus wie der Ausschlag eines Seismografen kurz vor Weltuntergang. Als sie fertig ist, strahlt sie mich noch mal verstrahlt an. »Spielst du denn auch, was man dir aufschreibt?«, fragt sie.

»Iss was«, sage ich.

Sie guckt wieder irritiert, dann lächelt sie, weil das vermutlich ihre Lieblingsform der Kommunikation ist, anschließend macht sich das lebende Emoticon wieder auf den Weg zur Tanzfläche. Oder zum Klo, noch ’ne Runde schlank brechen, wer weiß.

Der Nächste, bitte. Hart besoffen, man sieht es und riecht es. »Ich will mir was wünschen!«, überrascht er mich. Ich tippe wieder auf die Liste. »Aufschreiben«, sage ich. Er guckt auf die Liste. So viele Buchstaben und die Technik eines Kugelschreibers überfordern ihn ganz offensichtlich. Er schielt mich an. »Kann ich dir meinen Wunsch nicht so sagen?«

»Lieber nicht.«

»Wieso nicht?«

»Gehörtes kann man nicht zerreißen und wegschmeißen. Wunschlisten schon.«

»Arschloch.«

»Hab ich nicht dabei. Aber ich kann Oasis anmachen, das kommt dem schon sehr nah.«

»Arschloch«, wiederholt er, torkelt von dannen und tanzwankt kurz darauf ein bisschen zu Oasis’ Kotzbrechwürghit »Wonderwall«, bevor er sich auf einen Hocker fallen lässt und umgehend einpennt.

Eine Weile werde ich in Ruhe gelassen und kann meinen Job machen. Drei, vier Lieder später könnte ich tatsächlich mal etwas Input gebrauchen und werfe einen Blick auf die Wunschliste. Das Übliche: Placebo, Deichkind, Papa Roach, Beatsteaks, Incubus, Slayer, Helene Fischer und eine mir völlig unbekannte Band namens Du bist voll scheiße! Ich ficke deine Mutter. Ich tippe mal auf eine neue Single von Rammstein. Irgendwer hat das Intro von der Gummibärenbande aufgeschrieben. In Klammern der Vermerk, dass sich das ganz, ganz viele ganz, ganz dolle wünschen. image. Ich mache es trotzdem an, die russische Version. Tanzfläche leer, Theken voll. Umsatzsteigerung. So einfach ist das manchmal. Danach Seeed, Tanzfläche wieder voll. Wäre Algebra genauso leicht berechenbar wie Discopublikum, hätten meine Noten in Mathe deutlich besser ausgesehen.

Der nächste Wunschkandidat beugt sich über die Liste. Er weiß, wie die Mehrheit seiner Generation, nicht, was er eigentlich will, also lässt er sich von seinem Taschentelefon diktieren, was er sich wünscht. Guckt, wischt, schreibt. Solche Idioten werden immer häufiger.

Vor ein paar Wochen ist eine der kleinen DJ-Pult-Lampen abgerissen worden. Eins der Kabel ragt seitdem hervor. Kein Starkstrom. 12 Volt oder so. Ich nehme es und halte es dem Deppen an die Hand, ganz sachte nur. Er sagt »Gnh!« und kippt um. Das Personal kümmert sich um ihn. Er bleibt liegen, kurz darauf huschen zwei orange bejackte Ersthelfer durch den Saal und holen ihn ab. Konnte ich ja nicht ahnen, dass einer in dem Alter schon einen Herzschrittmacher hat. Ich habe kurz ein schlechtes Gewissen, dann spiele ich Foo Fighters, die hatte er sich gewünscht. Damit dürfte mein Karma wieder ausgeglichen sein.

Andreas gesellt sich zu mir. Er tanzt nicht gerne, aber Bier trinken findet er super. Wir haben halt gemeinsame Interessen. Wir stoßen an, schweigen und gucken Pöbel.

Einer löst sich aus der Masse, ein ganz Entschlossener, so ein verklemmter Bionadetrinker. Professionelle Spaßbremse, auf jeder Party dabei. Ein Klugscheißer von der Sorte kann hundert Hektar Ackerland güllen. »Spiel mal was Neues«, ranzt er. Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Das muss als Antwort reichen. Entweder das, oder ich schäle ihm das Gesicht herunter. Mit einem Löffel. Unaufgefordert setzt er nach: »Du spielst immer den gleichen Scheiß, das kann keiner mehr hören.« Ich schaue auf die Tanzfläche. Es läuft gerade immer gleicher Scheiß. Sie ist proppenvoll, es wird gejuchzt, getanzt, und Arme wedeln durch die Luft. Ein Jogginghosenträger findet die Mucke anscheinend so toll, dass er sich vor Freude eingepullert hat. Ich nicke Besserwisserboy zu und sage leise: »Ich werde deine ganze Familie töten.« Er nickt, sagt »Okidoki«, reckt einen Daumen hoch und trollt sich woanders hin, wo er sich wichtig fühlen und nur sich selber zuhören kann. Ich spiele was Neues. Sofortige Umsatzsteigerung an der Theke. Ich lege alten Scheiß auf, Tanzfläche voll. Was der Bauer nicht kennt, das tanzt er nicht.

Andreas schüttelt den Kopf. »Also, für mich wär das nix, den ganzen Abend arbeiten, damit andere feiern können«, sagt er.

Ich zucke mit den Schultern. »Mir gefällt’s.«

»Hmm. Aber was gefällt dir daran?«

Ich überlege kurz. Dann sage ich: »Der Kontakt mit den Menschen.«

Er lacht. Ich lege einen neuen Song ein.

Wie ihr seht, bin ich im Großen und Ganzen ein sozial verträgliches Kerlchen. Mancher mag denken, ich würde einen rauen Umgang pflegen, aber man sollte im Hinterkopf behalten, dass ich aus Ostwestfalen stamme und inzwischen im Ruhrgebiet wohne. Ich komme also aus einer Gegend, in der

- »Und?«

- »Muss ja.«

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