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Manfred Maurenbrecher

Grünmantel

Roman

 

 

 

 

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

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© edition q im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2019

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

post@bebraverlag.de

Lektorat: Ingrid Kirschey-Feix, Berlin

Umschlag: Manja Hellpap (Foto: Johannes Eber)

 

ISBN 978-3-8393-2138-6 (E-Book)

ISBN 978-3-86124-725-8 (Print)

 

www.bebraverlag.de

1.

Wie der Mann stotterte, das tat ihr weh.

»D-d-dann hält dett an de-de Va de Va …«

Sie versuchte wegzuschauen, solange er festhing. Und schaute doch nur heftiger hin.

»… -schaalung, Va-schaalung …«

Er räusperte sich zufrieden. So leicht wurde er dieses Wort sonst nie los.

Sie dagegen hätte eigentlich gern noch ein bisschen gefachsimpelt über Außenklinker, Trockenkies oder Stützplatten – aber mit ihm hier war das wohl nicht zu machen.

Er rieb sich die Hände, dann schoss er umständlich ein Foto mit seinem Smartphone.

»S-so, hab hab dann alles. Den K-k-ko …«

»Kostenvoranschlag?«

Er nickte dankbar.

»Den mailen Sie mir einfach zu«, schlug sie vor.

Er nickte heftiger.

»Aber möglichst bald«, mahnte sie.

Zara fand ja, dass diese Männer, die kamen und sich das feuchte Haus samt blühendem Garten besahen und mit den Händen dann Ansichten von Stufen, Mäuerchen und neuen Wegen entwarfen, frische Flächen aus verschiedenstem Material dazuerfanden, dass die, so kraftvoll sich ihre Phantasien auch ausbreiteten, mit der Umsetzung dieser Bilder in Zahlen oft heillos überfordert waren. Die Begeisterung wich zerfurchten Stirnen, ein Achselzucken blieb übrig. Der Gewächs-hausspezialist hatte sich gar nicht mehr gemeldet. Die beiden leichtfüßigen Maurer, für die alles »keen Ding« gewesen war, sogar der Schwamm an der Küchenmauer nicht, hatten noch einmal übers Telefon etwas nachgefragt – dann Sendepause.

Drei Wochen war das jetzt her. Wollten die nichts verdienen?

Oder lag es an ihr?

Zara Mengeleng hatte mit dem Erwerb des alten Hauses am Dorfrand ihre finanziellen Mittel so gut wie ausgeschöpft. Vielleicht merkte man ihr das an. Und natürlich blieb sie die Zugereiste, die aus der Stadt – auch wenn sie den Ort hier kaum mehr verließ.

Und schon manchmal hatte sie als schmerzlich empfunden, dass Menschen sich von ihr abgestoßen fühlten – gerade, wenn sie insgeheim um sie warb.

Sie studierte die Kataloge gründlich, die die Handwerker mitbrachten. Aufmerksamer konnte man sich in den Unterschied zwischen Betonstein und lasiertem Holz, zwischen versiegeltem Untergrund und Lehmboden doch gar nicht vertiefen. Frage und Antwort, Pläne und Einschränkungen. Sie wurde gern zur Schülerin dieser Fachmänner, aber genauso liebte sie es, im nächsten Moment wieder zurückzuschalten und die Auftraggeberin zu spielen, die sie ja auch war.

Am liebsten hätte sie allerdings sofort mit losgelegt, gar nicht erst groß verhandeln, in die Hände gespuckt und dann buddeln und umbauen. Vielleicht war es das. Sie spürten die Absicht und zogen sich zurück.

»N-n-ne-chste W-wo …«

»Nächste Woche, ist gut.« Jetzt nickte sie.

Mit dem würde es keinen Spaß machen.

2.

Die beiden schnitten seit einer Weile den Drahtzaun auf. Ein junger Schmaler mit Kappe und ein Dicker, wendig und klein in Monteurshose. Sie hatten Mopeds dabei, die man eigentlich hier gar nicht fahren durfte. Die Stromzufuhr in den Zaun hatten sie gekappt. Jeder Handgriff saß, und so fix waren sie vorgegangen, dass die wertvolle Wildpferdfamilie, die auf der Koppel weit hinten im Schatten von Krüppelkiefern lagerte, noch gar nicht recht darauf aufmerksam geworden war. Schon befand sich dieses stattliche Loch im Zaun und lockte die Tiere zur Erkundung der Restwelt an.

Zara hatte zugeschaut und allmählich aufgehört, dabei Holunderblüten zu pflücken. Sie hatte ihr Rad noch mehr ins Schilf geschoben und gehofft, jetzt wäre sie unsichtbar. Nicht mal geraucht hatte sie. Sabotage im Nationalpark, das war mal was. Sie vermutete eine Abordnung der Agrargenossenschaft am Werk. Schließlich hatten die Bauern Weideflächen abgeben müssen für den Nationalpark und seinen Verein, irgendwie hatte es Streit deswegen gegeben, die Erbitterung wuchs, sie hatte davon gehört.

Es war nicht gut, hier jetzt aufzufallen. Gerade als sie das dachte, musste sie husten. Der Junge fuhr herum. Erstaunlicherweise sah er sie nicht. Sein Kollege ging sogar einen Schritt auf das Gebüsch zu, in dem Zara stand, doch fand auch er nichts Verdächtiges. Sahen die einfach durch sie hindurch?

Dann meldete sich das Handy des Dicken: Atemlos durch die Nacht – die ersten Takte. »Ja?« rief er in dem knappen märkischen Ton, der eigentlich fragt: Muss das sein? Dann änderten sich Tonlage und Körperhaltung. Ein bisschen galante Steifheit trat hinzu, ein bisschen schob er auch jemanden weg, zu dem er trotzdem freundlich sein wollte: »Nee, keen Problem. Wennde meinst … ja, jetz is offen, aber klar, wenn’t so sein soll, dann machn ma wieda, wieda zu, wa – nee, keene Sache …«

Der Schmale zeigte empört auf den sorgfältig aufgerissenen Zaun, knallte sich die Hand vor die Stirn und rief: »Ohne mich!«

Der Dicke zuckte die Achseln: »Na komm, is’n Auftrag, so oder so.«

Zara hatte plötzlich das Gefühl, dass der Anruf von einer Frau kam. Ganz ohne Widerspruch zu ernten hätte kein Mann, kein Boss eine solche Kehrtwendung anweisen können. Gegenüber dem Schmalen gelang es auch nicht, der schwang sich aufs Moped und ließ grußlos den ersten Gang heulen, so dass Vögel aufflatterten und die Pferdefamilie weit weg endlich die edlen Köpfe hob. Mit dem Zeigefinger tippte er sich an die Stirn, als er im Stehen wegbrauste. »Ohne mich!«, rief er noch mal.

Der kleine Dicke aber baute die Latten ab, flocht ruhig die Enden der Zaundrähte wieder zusammen und seufzte dabei. Zara wusste jetzt, dass er sie längst bemerkt hatte. Sie war sein Publikum. Das Klicken des Feuerzeugs ließ ihn grinsen.

»Man sagt ja, jede Arbeit ist besser als keine«, brummte er in ihre Richtung.

Sie zögerte, räusperte sich.

»Rauchpause?«, fragte sie dann und schob die Zigarettenschachtel vorsichtig durch das Gebüsch.

Der Dicke besah sich die Hand und die Marke, polnisch.

»Eigentlich schon sieben Jahre«, sagte er dann, »Rauchpause nämlich. Aber bei dem Angebot …« Er grinste immer noch.

»Und Sie machen jetzt alles wieder dicht?«, fragte Zara.

»Na logisch, sonst würden sich nachher die Pferdchen ja vergaloppieren«, zwinkerte er.

»Verstehe.«

»Det gloob ick allerdings kaum.«

Er hatte sich eine Zigarette genommen. Zara verließ das Gebüsch und hielt ihm die Glut ihrer fast gerauchten zum Anzünden hin. Sie überragte ihn um Kopfeslänge.

»Aber muss man ooch jar nich«, sagte er dann sehr deutlich, nahm einen tiefen Zug und wiederholte: »Muss man besser auch nicht.«

»Soll ich besser nicht nachfragen?«, nahm sie den Faden auf, »reden Sie deshalb grad hochdeutsch mit mir?«

Er zuckte wieder die Achseln. Verstaute sein Werkzeug. So schnell war er fertig geworden.

»Sie wohnen doch drüben am Graben«, fing er in einem anderen, gefälligeren Tonfall neu an und schaute etwas listig zu ihr hoch, »im Haus von Melchow, wenn ick nich’ irre …!?«

Sie nickte schnell. Dankbar, wenn jemand von den Alteingesessenen immerhin von ihr wusste.

Dann schaute sie zu ihm runter und ergänzte trocken: »Seit sieben Sommern. In dem Haus, das immer noch ›das von Melchow‹ genannt wird.«

»Es hat länger gebraucht, um die Bruchbude draus zu machen, in die Sie eingezogen sind«, grinste der kleine Alte, »und die Sie, ’tschuldigung, ja bestimmt mal wieder in Stand setzen werden. Außerdem«, lachte er, »das neue Jahrtausend legt ja ooch grad erst los, an ’nem Jahrtausend gemessen!« Er griff sich sein Moped, fing an, es zu schieben und lud sie mit einem Hüftschwung dazu ein, mitzulaufen.

Er wirkte jetzt wie ein fröhlicher Troll auf dem Heimweg.

»Ihre Chefin kann aber stolz auf Sie sein«, knurrte Zara halblaut und mehr an das Gebüsch gerichtet, aus dem sie ihr Fahrrad zerrte. Ihr war der Satz so gekommen und unvorsichtig gleich von der Zunge gerollt.

Der Dicke stellte sein Moped wieder ab, half ihr das Rad aufzurichten und schaute sie dabei erstaunt von der Seite an. »Chefin? Respekt.«

An der nächsten Biegung nahm er kurz ihren Arm und wies zurück auf das notdürftig geflickte Loch: »Wenn die Herrschaften jetzt wollten, dann könnten sie ja trotzdem da raus. Wenn ihnen denn danach wäre – dem königlichen Urviecherverband! Aber der alte Kubrik könnte da dann wirklich nichts mehr dafür.«

Der alte Kubrik. Den Namen kannte sie. Der hatte bei irgendeinem Museumsfest eine Rede gehalten, jetzt fiel es ihr wieder ein. Sie sagte: »Urviecherverband. Na, das klingt ja.«

3.

Auf den sandbraunen Bodenkacheln schwamm Wasser, wie immer, wenn Ibo mit sich selber Großreine machte. Abseifen, Haare waschen, Nachduschen, Eincremen und Rasieren – die ganze Prozedur, in deren nassem Verlauf er irgendwann das Zeitgefühl zu verlieren pflegte und erst wiedererlangte, wenn der feuchte Nebel wich. Wie blind tastete er gewöhnlich lange nach Dingen wie Geltuben oder Seifen. Kein Duschvorhang, keine Trockentücher. Von überall schwemmten Tropfen heran und rannen die Wände hinab, man glitt aus, wenn man nicht höllisch aufpasste. Kein Fenster im Bad, die Deckenfarbe schälte sich, seit er hier eingezogen war, das musste jetzt – er rechnete kurz nach – zwei Jahre, fünf Monate, ein paar Zerquetschte her sein.

Für den Übergang, hatte er damals gedacht, nur für den Übergang. Deshalb waren die Zimmer auch so geblieben, wie sie das junge Paar hinterließ, das damals Hals über Kopf nach Berlin gezogen war und von dem er das Haus übernommen hatte. Samt Garage, Schuppen und Wiese.

Er hatte eigentlich bloß mal feststellen wollen, wie es sich so allein und weit draußen wohl lebte.

War kleben geblieben. Nach dem Fiasko.

Beinah, jetzt wäre er beinah noch ausgeglitscht! Kein Handtuch. Er holperte nackt und tropfend zur Waschmaschine und dann sich rubbelnd weiter in den Raum, den er das Wohnzimmer nannte und der stockfinster war. Die Rollos runter bis über Mittag, so hielt er es.

Schon halb getrocknet goss er Wasser in die Maschine, knickte ein Filterpapier, füllte Kaffeepulver ein, ging dann mit dem Zimtstreuer drüber und ließ den Anschalter klicken. Er konnte sich die Tage gut so vertreiben, nicht mit Zurückdenken, sondern: Es geht voran. Und wenn alle meinten, der ist jetzt am Ende, Meister Ibo John in seiner Datsche, dann konnte er ganz vergnügt in der Dunkelheit hocken und die Geräusche da draußen belauschen.

Wie jetzt, während der Duft des entstehenden Nervengifts ihn mit Vorfreude füllte.

Er ließ sich so selten blicken, dass sie ihm die Benachrichtigungen an die Haustürklinke hängten. Manche grüßten verhalten, wenn er durch das Dorf schlich, andere schauten weg, ein paar wenige waren freundlich. Das Verständnis für jemanden, der Brücken hinter sich abbrach, war hier noch nicht ganz so verkümmert.

Und ein paar registrierten auch, dass er mal in der Öffentlichkeit herumgekreist war, in der Lokalzeitung hatte ein Bericht gestanden. Und ein anderes Mal, als er Bierkästen in den Panda wuchtete am Getränkemarkt, hatte ihn eine Dame angesprochen: Ob er denn der sei, den sie meine. Er hatte genickt, leider geschmeichelt. Ob er sich vorstellen könnte, im Ortsmuseum einen Abend mit seinen Texten zu bestreiten? Er konnte. Wie bald? Sie hätten nämlich einen Kulturverein gegründet, und die Idee sei gekommen, er könne doch dessen Tätigkeit quasi eröffnen. »Ein Ortskünstler sozusagen«, wie die Dame verlegen kicherte und sich dann vorstellte: »Kubrik. Wir wohnen hinterm Anger, wenn Sie wissen, wo das ist.«

Das wusste er nicht. Seine Zustimmung zu dem Vorhaben, mit einer vollen Bierkiste im Arm an den offenen Kofferraum gelehnt, gab er aber so eilfertig und prompt, dass die Dame gleich einschränkte: »Wir müssen das natürlich noch abstimmen, ich entscheide ja nicht allein …« Dabei wand sie ihm geschickt den Kasten aus den Händen und stellte ihn vorsichtig im Auto ab.

Seither hatte er nichts von der Sache gehört, zwei Monate war das her. Wenigstens hatte es keine andere Eröffnungsveranstaltung gegeben – lächerlich zwar, aber das beruhigte ihn.

Eilfertig und prompt. So war er. Gerade eben balancierte er ein Schlückchen H-Milch aus einer vollen Packung in seine breite Kaffeetasse, natürlich schwappten Tropfen über den Rand. Deswegen war er weg aus Berlin, weg von allem, wegen Eilfertigkeit und Promptheit. Maßlose Bereitschaft, bei Aufträgen hier und jetzt zu schreien und nachher zuverlässig und prompt abzuliefern. Beides hatte ihn so in die Knie gezwungen, dass er hockend wie blind vorangestürmt war. Eh das Fiasko kam. Blind wie beim Duschen in seinem Bad. Um ja nicht an gestern Nacht denken zu müssen, zum Beispiel.

Er griff sich Shorts und T-Shirt, mehr würde er heute nicht brauchen auf seiner Wiese. Zauberhafter Sommertag vermutlich. Der heiße Kaffee machte ihn zusätzlich glücklich. Er musste daran denken, wie nah beieinander es lag, Schönes und Schreckliches. Manchmal war er blind für den Unterschied zwischen beidem, und diese Blindheit könnte es ihm heute ermöglichen, gedankenfrei in den Tag zu schweben, während sie ihn damals hinterrücks niedergestreckt hatte. In den Tagen seiner Schande. Er hatte ein Exposé abzugeben gehabt für eine Fluchtserie im Vorabendprogramm, Straßen ins Nirgendwo, Planungsphase, er im Team mit fünf anderen, es galt einen Haufen Geld abzugreifen, seine Aufgabe die psychologische Skizzierung der männlichen Hauptfigur – ja, er sei vorangekommen, voll dabei, doch doch, fast durch, so seine Telefonate und SMSse ans Team. Stattdessen dachte er sich Spottlieder aus, trank Whisky und Rotwein, floh, flog für zwei Tage nach Pressburg, immer in bester Laune, übermütig. Ja, treffen wir uns, letzter Feinschliff noch, ich mail’s dann schon mal, in vier Stunden Deadline? … okay.

Er wird nie die Gesichter vergessen, die Augen, die unterschiedlichen Blicke.

Das weißgetünchte Großraumbüro mit den Modern-Art-Repliken, langer Arbeitstisch nach Bauhausart, sechzehn Holz-Leder-Stahl-Wippstühlchen, acht an jeder Seite, ein Sessel an der Front für die Generalin, siebzehn Plastikfläschchen mit kohlensäurefreiem Wasser. Tassen für Kaffee oder Tee, aber die anregenden Getränke durften immer erst nach Aufforderung der Generalin gereicht werden.

Diese Dame, die Kulturchefin des federführenden Senders, gebot über einen gewaltigen Fundus an Schreibern und Autorinnen. Sie führte ein Regiment mit strengsten Regeln: Ein schludriges Treatment und man war weg.

Als die Reihe an ihn kam, der nichts herumgeschickt, ausgedruckt oder sonstwie vervielfältigt hatte, verlas er nur diesen einen Satz, der sich ihm bei den Reden der anderen aus dem Kopf gewunden hatte: »Hauptfigur steigt ins Auto und sagt: Wird schon werden.«

Er war gleichzeitig ganz am Boden und voll gut drauf. Eine Minisekunde lang dachte er sogar: Vielleicht gefällt es ihnen. Aber er hatte ja Augen im Kopf. Erhob sich nach dem Satz, verbeugte sich, nahm sein Täschchen und ging.

Hatte all diese Blicke genau gesehen und bewahrt wie ein Sammler.

Jetzt schauderte ihn. Besser noch einen Kaffee. Und ein Blick unterm Rollo durch. Gleißende Helle da draußen, wie schön auch das. Ein Pferdefuhrwerk rappelte übers Kopfsteinpflaster – ja, sowas gab es hier noch – und ein komisches Paar folgte hinterdrein, Fahrrad und Moped, geschoben von kleinem dicken Mann und hochaufgeschossener Frau. Er kannte die, sie hieß Zora oder so, man war sich mal begegnet, auch mal vorgestellt worden, Zora und Ibo, das hatte lustig geklungen. Zwei Fremde auf einem Dorffest. Und von dem Mann vermutete er, dass er irgendwie in dem Ort eine Rolle spielte.

Ibo zog die Rollos nach oben, versuchte einen Kopfstand, aber sein Yoga war lange her, die Gelenke verrostet, er wusste auch das, aber so war es dann eben. Es ging voran. Er war niemandem etwas schuldig. Mochte an nichts mehr denken. Das hier war seins, da führte er sich auf, wie er wollte. Schluss.

Schreiend und lachend lief er hinaus.

4.

Karl Krassow ans Telefon zu kriegen war praktisch unmöglich. Man hörte nur eine automatische Ansage, was bei seiner Sprachhemmung nachvollziehbar war. Wer ihn kannte, wusste, dass er kaum zurückrufen würde, auch das war verständlich. Man hinterließ sein Sprüchlein auf dem Gerät und hoffte, dass die Nachricht ihm wichtig genug war, am nächsten Tag vor der Tür zu erscheinen.

Oder gleich. Oder gar nicht.

Er entschied das, kein anderer.

Gerade ließ er ein paarmal die Mitteilung dieser Frau Mengeleng laufen, der langen Zara, die genervt klang und bettelnd, aber in einem Tonfall, der ihm gefiel – tief, nach oben hin schneidend, mit einem Kickser bei Aufregung, der dann wieder eingefangen wurde und zurückgedrückt in das Kühle und Tiefe.

Noch einmal: »Hier Mengeleng. Sie waren Dienstag ausmessen bei mir. Nicht gestern, den Dienstag davor. Ich bräuchte mal Ihren Voranschlag, um mich entscheiden zu können. Und ich dachte, Sie bräuchten den Job. Vielleicht irre ich mich ja. Meine Mail lautet posteingang et zame de. Hoffe, wir kommen klar.«

»Irre« war das Kickserwort, danach ging die Stimme abwärts, und »klar« klang dann wieder tief wie eine sattgrüne Wiese am kühlen Regengrund. Angenehme Vorstellung angesichts der trockenschwirrenden Sonnenschlacht, die heute da draußen geschlagen wurde und die er gar nicht vertrug. Jetzt war schon Mittag vorbei.

Spätaufsteher schalten flotter als die wurmfangenden frühen Vögel, dachte er. Langsam und gemächlich. Wenn er es gewagt hätte, diesen einen Gedanken einmal laut auszusprechen – was für ein Durcheinander. Er würde nie an ein Ende kommen.

Nochmal ab »irre«, er spulte zurück.

Die andere Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hatte er nur einmal hören müssen, nüchtern und unerotisch kam sie rüber, inhaltlich umso klarer: Die Königspferdchen waren ausgebrochen. Der Informant hatte gleich wieder aufgelegt. Madame würde natürlich versuchen, es der Agrargenossenschaft anzuhängen, das war ihr Plan, aber ob er funktionierte?

Fröhliches Jagen, dachte Krassow. Ihn würden sie wohl nicht einspannen. Er war der Krüppel für alle, erstaunlich, dass er überhaupt informiert wurde.

Dass er sich bei Zara Mengeleng melden würde, heute noch, stand jetzt fest. Sie hatte ihre Arbeit in der Stadt verloren, das wusste er, war keine Angestellte mehr für Leute, die schlaue Bücher an der Universität schrieben. Wahrscheinlich rutschten die jetzt ohne sie in ein Alltagschaos. Wie sowas kommen konnte, hatte er selbst erlebt. Seit seine Mutter nicht mehr mit auf dem Hof saß, sah es bei ihm elend aus mit Buchführung, Akquise und Rechnungslegung. Aber so, wie er sich trotzdem gegen den Abwärtssog stemmte und wacker zurückschlug, so würden es die aufstrebenden Forscherlein in der Stadt wohl auch können, und es würde jetzt eben mal ohne Frau Mengeleng gehen.

Wie für ihn ohne Mama.

Diese Zara hatte ja kürzlich die letzte Hausrate beglichen, mit einer Abfindung aus ihrem Job, wie er vermutete. Das hatte alle erleichtert. »Yippie«, hatte Sabine Melchow, die alte Freundin aus Kindertagen, ihm jubelnd zugerufen, als das Geld so plötzlich auf ihrem Konto lag.

Seinerzeit hatte man den Handel nämlich voll altertümlich mit Handschlag, ohne Bank und Makler besiegelt. Noch mit Zaras damaligem Lebensgefährten. Und Krassow hatte gedacht: Ob das man gut geht. Aber statt laut zu unken, war er wie immer stumm geblieben.

Jetzt gab er sich einen Schwung und sagte stoßweise jubelnd: »Eins A.« Solche kurzen Worte brachte er manchmal fehlerfrei raus. Zum Beispiel auch das Wort »Bescheid«, das gelang ihm singend in einem Rutsch.

Eins A Bescheid weiß Karl Krassow, das wäre sein Werbebanner.

Wir hatten hier früher die Stasi, jetzt gibt es die NSA, lachte er in sich rein, aber Krassow schlägt sie alle. Denn er sammelt sein Wissen nur für sich selbst. Da wird nüscht geteilt, mit wem denn auch. Und alle halten mich trotzdem für einen Trottel, dachte er weiter. Weil ich nicht davon sprechen kann, was ich sehe.

Jeder andere hätte wahrscheinlich vermutet, dass Zara Mengeleng jetzt ein Leben auf dem Dorf vorhatte. Zukunftsleer in der großen Stadt, Bindungen gelockert, stattdessen für Scholle und Mauerwerk hier im Ort Wurzeln schlagend und neuerdings mit dem Hauskauf auch finanziell festgelegt, auf festen Beinen sozusagen.

Schöne lange Beine, wie Krassow fand, wenn auch immer noch ein bisschen bleich.

Eine Ehrenamtsstelle im Museum, sowas bot sich für die Dame zumindest an. Freie Fahrt für die Zugezogene.

Aber, was auf der Hand liegt, springt von der Hand. Ein Spruch seiner Mutter. Er musste aufpassen. Er beobachtete diese Zara mit dem dunklen Punkerschnitt schon so lange, beim Jäten, Gartentischdecken – seit sieben Jahren immer wieder –, verborgen in der Wildnis, die an ihr Grundstück grenzt und an deren anderem Ende er seinen Lagerplatz hat. Wer hinter dieser Wildnis wohnte, wusste sie nicht. Nur die unmittelbaren Nachbarn nahm sie wahr, das hatte er schnell gemerkt. Und dass ihr Haus sogar seine, Krassows, Kinderheimat gewesen war, wusste sie schon gar nicht. Krassow und Melchow, die Familien waren seit Jahrzehnten aneinander gekettet, Eltern und Kinder, Cousins und Cousinen.

Und er, der Stotterer. Wie es damals gewesen war, darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Was auf der Hand lag, sprang von der Hand.

Das hatte er Zara manchmal angesehen, wenn sie einen Gartentisch schmückte, hastig eine rauchte und auf Besuch wartete. Da war die Unruhe der Zuwanderin schon in ihr drin gewesen. Am Rhythmus erkannte man das. Wenn nämlich die Anlässe, in die Stadt zu fahren, immer weniger und die Zugezogenen hier nicht und dort nicht gebraucht wurden, wenn Besucher kurzfristig absagten, man nachts am Himmel weniger die Sternenpracht als die paar Flugzeuge suchte, die südwestlich flogen, auf die Riesenstadt zu – dann war es eigentlich schon zu spät. Wollten sie am liebsten wieder fliehen. Falls sie das dann noch konnten. Alles rückgängig machen.

Als sich diese Zara also zum Umbau des Hauses, zum Einrichten fest entschlossen und ihre Schulden getilgt hatte – dörfliche Häuslerin sozusagen –, in dem Moment war ihr Abgang fast schon besiegelt.

Krassow, der Schwarzseher. Aber vielleicht hätte er sich neulich doch nicht ganz so gleichmütig geben und den Kostenvoranschlag nicht ganz so lange verzögern sollen. Eile allerdings wäre verdächtig gewesen, na gut. Und allzu viel Entgegenkommen konnte auch jetzt noch aufdringlich wirken. Zara musste von selbst auf ihn zukommen – das war ihm gelungen, glaubte er. Also bloß keine zu hohe Summe jetzt fordern und kein Mehrwertsteuer-Geschummel – mittlerweile war sein Angebot für sie schmackhaft, das durfte er nicht verscherzen. Sonst blieben die Türen für ihn zu. Und er käme nicht in die alten Flure.

Würde nie dieses unauffällig angenagelte Brett am Rand der Treppe zum Heizungskeller aufbrechen können, um nachzuschauen, was dahinter noch übrig war.

5.

»Komm, dritter Gang«, lockte Kubrik, und der Lada schnaufte die Straße zum Vorwerk hoch. Garagenwagen, scheckheftgepflegt, drinnen wie draußen kein Kratzer, kein Stäubchen, aber die Berge nahm er einfach nicht mehr so wie früher. Seit Kilometerstand Zweihundertausendundzehn gab es die Unzuverlässigkeit, da hatte auch ein neuer Vergaser nicht wirklich was gebracht.

»Nicht wirklich – auch so’n Wort«, knurrte Kubrik. Lieselott, seine Frau schüttelte ratlos den Kopf. Eine sinnvolle Ergänzung des gerade geführten Gesprächs war das nicht.

»Wippt schön, wenn du schüttelst«, schob er hastig hinterher, das Auto hatte den höchsten Punkt erreicht und verfiel in Trab. Da konnte man problemlos in den Vierten wechseln.

»Die Locken, ja?«, fragte Frau Kubrik ein bisschen spöttisch, aber auch hoffnungsvoll. Ihre Locken waren weiß, frisch onduliert und an der Stirnseite zu frechen Fransen gezwirbelt.

»Hatse gut gemacht.« Sie nickte: »Hatse.«

Ihr Mann hätte jetzt liebend gern ein neues Thema nachgeschoben, fix wie den Kommentar zur Friseurin, sonst würde das Gespräch unweigerlich bei Lieselotts faltigem Hals, der zerfurchten Stirn, bei der Sinnlosigkeit vom kosmetischen Ringen angesichts der Zerstörungsprozesse des Alters anlangen.

Er ging vom Gas. Der Lada passierte im Schritttempo das Vorwerk der ehemaligen LPG – und da war es dann, das neue Thema.

Zwischen Mähdreschern und einem halb im Schlamm steckenden Bagger standen sie sich tatsächlich gegenüber: Friedhelm Benzler, der überhebliche Westler, Ex-Schuldirektor im Ort und immer noch Vorstand des Nationalparkvereins, und Frank Morgentau, seit Urzeiten Chef der LPG, der heutigen Agrargenossenschaft. Zwei Zwerge vor den Maschinen. Fuchtelnd, fäustedrohend, sich am Schlawittchen packend schrien die beiden Männer herum. Was man kaum hörte, denn Bagger und Mähdrescher heulten in Drehzahlsteigerung zu einem Hymnus auf, den ihre Fahrer zur Anfeuerung der Streitenden in kollektiver Gesinnung gerade erfanden. Es machte ihnen gewaltigen Spaß. Ein kürzlich gesendeter Fernsehbericht über den Einsatz von Treckermotoren als Musikinstrumente hatte sie offensichtlich dazu angeregt.

Kubrik hielt an.

Zwischen die Streithähne und in den Krach war jetzt noch Dagmar Wiesebau getreten, die Agrar-Sekretärin.

Sie hatte hier einen schweren Stand. Denn als Schwester seiner Exfrau gehörte sie sozusagen zur Verwandtschaft dieses Benzler, der den Nationalpark an sich gerissen hatte. Das machte ihr die Arbeit zwischen den Bauern nicht leichter.

»Wenn ditt Wieselchen nich sone patente Kraft wär, ick hätt se längst gefeuert bei der Mischpoke, ditt könnt’er glooben«, so hatte Morgentau sich mal beim Bier geäußert, Kubrik war dabei gewesen.

Jetzt schrie Dagmar Wiesebau ihrem Chef was ins Ohr. Der nickte und machte eine herrische Geste zum Tor hin. Dorthin, wo die Kubriks mit ihrem Lada die Ausfahrt versperrten. »Hausrecht«, formten Dagmars Lippen.

Das Traktorengeräusch nahm ab.

Da schossen die gepflegten Hände Benzlers plötzlich vor und nahmen die Handgelenke des Agrarchefs in die Zange, und Silbe für Silbe betonend sagte er: »Ich ge-he nicht! Ohne Schuldeingestä-ä-ndnis! Wer denn sonst? Wenn nicht ihr?«

Mit lässigem Schwung befreite Morgentau sich aus der Umklammerung: »Wie blöd sind wir? Euch eure Pferdchen stibitzen?? Es looft doch eh das Verfahren, würd’n wa uns doch voll ins Unrecht setz’n mit sowat, ’n Loch in’ Zaun … Wie bekloppt darf’s denn sein?«

Leiser zu Dagmar Wiesebau: »Watt sacht der Hauspolississt für ne Uhrzeit?«

»Tatzeit soll zirka sechzehn Uhr zwanzig gewesen sein.«

»Und bei uns, Wieselchen, sechzehn Uhr zwanzig?«

Sie hob ein Klemmbrett vor Augen und las zusammenfassend vor: »Gestern fünfzehn bis siebzehn Uhr Ernte Kartoffelfeld, Aussaat Wintergetreide, Werkstattarbeit – alle Kräfte im Einsatz.«

»Na, sach ick doch. Und ooch, wenn nich …«

»Das hat ein Nach-spiel …« Benzler stampfte mit den Füßen und wandte sich seinem Auto zu.

Morgentau schwoll der Hals noch mehr an.

»Ditt hat’s doch sowieso. Seit ihr mit der Pferdezucht losjeleecht habt. ›Horsemanshift‹. Watt ’ne Lachnummer. Zwangsweise habt ihr die Wiesen enteignet, als Naturschützer habt ihr euch vollgesogen, dann plötzlich selber auf Landwirt gemacht. Nationalparksverein – ein mieserer Trick ist kaum denkbar!«

»Das ist Ihre Sichtweise, Herr Morgentau, wir sind voll legal, und ich bestehe …«

»Ditt wär nicht mal früher soo glatt jegangen, ditt sach ick dir. Und die Biber fressen die Deiche weg. Mach dir vom Acker. Und fang deine Pferdchen ma’ wieda ein. Kannst ja rumfragen, ob dir wer hilft? Nachspiel, ditt ick nich lache …«

Morgentau zertrat die Zigarette, an der er geknautscht hatte und ging.

Benzler quetschte sich ungeschickt, weil mit möglichst hoch erhobenem Kopf, in sein neues gelbes Honda-Sportcoupé.

Dagmar Wiesebau winkte leise Kubrik zu, der schnell sein Fenster aufkurbelte und »Schön’ Feiera’mt« rief.

Auch Frau Kubrik winkte. »Haste da mitgedreht«, fragte sie scharf.

Kubrik ließ den Motor zu Wort kommen, erster Gang. »Lass ma’ die Einfahrt freigeben, sonst kommt hier keiner weg. Und die Geschäfte ha’m am Ende schon zu, wir finden kein’ Hut mehr für deine niedlichen Fransen.« Er fuhr ihr durchs Haar.

»Schau du mal schön geradeaus«, sagte Frau Kubrik und streckte sich auf dem Beifahrersitz aus.

6.

Wie Grünmantel da im Tal lag, sah es gar nicht aus wie ein einzelner Ort, das Dorf mit der Kirche rechts hinten, dem ehemaligen Rathaus in der Mitte und dem Schulbau aus Schalbeton links ganz vorn. Vor den Hügeln lag es, die schon zu Polen gehörten. Die dunklen Dächer der Häuser verdeckten den Grenzfluss, der jetzt im Sommer nur wenig Wasser führte, hier und dort blitzte er hinter den Bäumen hervor. Radfahrer auf dem Deich sah man, einen Kahn, an dessen Bug einer stand und mit der Stange ins Tiefe stocherte. Rauch stieg auf, trotz der Hitze, Hahnkrähen, Hundegebell.

Wie es so da liegt, dachte Dagmar Wiesebau, wirkt es wie hingetrudelt – mit dem Dorfbrunnen, dem Kindergarten und dem Museum, den zwei Sportplätzen, dem Kriegerdenkmal und Ärztehaus, mit dem Frischemarkt und seinen Haupt- und Nebenwegen, den toten Winkeln, uraltem Charme und rohem Verfall. Ursprünglich einmal drei Orte, deshalb kein Dorfkern, nichts wirklich Schönes, kein zentrales Fotomotiv. Immer noch lebten über tausend Menschen in Grünmantel, ein Drittel mehr waren es nach dem Krieg gewesen, es ging dörflich zu und trotzdem für Zugezogene fast anonym, und man musste sich schon sehr lange an diesem Ort aufgehalten haben, um alle zu kennen, die hier wohnten.