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Mami
– Staffel 8 –

E-Book 1798-1807

Gloria Rosen
Eva-Maria Horn
Lisa Simon
Isabell Rohde
Myra Myrenburg
Christine Weyden
Edna Meare
Rosa Lindberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74094-609-8

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5 Kinder brauchen einen Vater

Fünf Kinder - na und?

Roman von Horn, Eva-Maria

  Jonathan Nolde schnaufte vor Behagen. Es war wirklich eine brillante Idee von ihm gewesen, das Sommerhäuschen zu mieten. Hier störte ihn niemand. Das nächste Dorf war eine gute Fußstunde entfernt. Kaum jemals verirrte sich ein Feriengast hierher, dafür war der Weg über die Dünen viel zu beschwerlich. Außerdem hatte er Schilder anbringen lassen:

  Privatgelände. Kein Zugang zum Strand.

  Jonathan, von seinen Freunden wurde er nur Jo genannt, öffnete das Fenster. Es störte ihn nicht, daß es ein wenig schief in den Angeln hing. Alles in diesem Häuschen war reparaturbedürftig. Er wollte nichts weiter, als hier in Ruhe sein Manuskript zu Ende schreiben. Darum hatte er seine behagliche Wohnung in der Stadt verlassen, hatte sich von einem Freund dieses Haus besorgen lassen. Hier konnte er in Ruhe arbeiten, hier wurde er nicht von lästigen Besuchern, vom Telefon und vom Lärm der Straße gestört.

  Er hielt sein Gesicht der Sonne entgegen. Sie strahlte von einem tiefblauen Himmel. Verspielte kleine Wölkchen segelten wie weiße Schiffe über die bizarre Dünenlandschaft. Wenn er den Kopf ein wenig reckte, konnte er das Meer sehen. Aber er hörte es immer, auch wenn er an dem weißgescheuerten Tisch saß und schrieb. Das monotone Geräusch der Wellen unterstrich die köstliche Stille, war in seinen Ohren wie Musik. Das Kreischen der Möwen mischte sich darunter.

  Mit geschlossenen Augen atmete er den würzigen Duft in sich hinein. Er schmeckte das Salz des Meeres auf der Zunge, er glaubte den Duft des Sanddorns, der winzigen Blumen, zu riechen.

  Ja, er war glücklich. Vollkommen glücklich, er vermißte nichts. Warum belastete sich der Mann eigentlich mit so viel Unnützem, dachte er, während er seine Schreibmaschine zurecht schob und ein Blatt einspannte. Was brauchte der Mensch eigentlich zum Leben? Doch nur das, was er hier besaß. Ein Bett zu schlafen, ein Herd, ein Kühlschrank war nicht unbedingt Luxus. Aber all das andere Zeug war nur Ballast. Beinahe verächtlich dachte er an seinen gefüllten Kleiderschrank, in dem Garderobe für jede Gelegenheit hing. Hier trug er nur die bequeme Cordhose, die an den Knien schon ausgebeult und glänzend war. Aber bequem war sie.

  Er scheuchte die Gedanken aus seinem Kopf. Willig machten sie sich davon, um Platz für seine Phantasiegestalten zu schaffen.

  Wenn du dein Pensum geschafft hast, Jo, versprach er sich, dann kannst du schwimmen gehen. Es war ein köstliches Gefühl, mit den Wellen zu kämpfen, sich von ihnen tragen und wiegen lassen. Später kannst du vor deiner Hütte bei einem Glas Rotwein sitzen, lesen und die Stille genießen.

  Es war einfach köstlich, nicht gestört zu werden.

  Jo arbeitete intensiv. Es war, als lebten die Figuren seines Romanes, längst hatten sie Gestalt angenommen, er hörte sogar ihre Stimmen.

  »Der Kinderlärm war für Roberts geschwächte Nerven unerträglich«, schrieb er.

  Jo hörte den Lärm so deutlich, daß er gequält die Stirn runzelte. Unter den Lärm mischte sich Hundegekläff, die Luft schien erfüllt davon zu sein. Jetzt endlich begriff Jo, daß der Kinderlärm und das Hundebellen Wirklichkeit waren. Der Lärm hatte nichts mit seiner Phantasie zu tun.

  Einen Moment blieb er wie betäubt sitzen, aber dann sprang er auf, getrieben von einer Wut, die ihn selbst erschreckte.

  Er wollte gerade aus dem Haus stürmen, um den Störenfrieden eine geharnischte Predigt zu halten, als er das Quietschen des Gartentörchens hörte.

  Bevor Herr Karsten die Tür öffnen konnte, hatte Jo sie schon aufgerissen. Herr Karsten war der Bauer, dem das Ferienhäuschen gehörte. Zweimal in der Woche kam er zu Jo und brachte ihm das, was er bei ihm bestellt hatte.

  »Grüß Gott…«, mehr konnte der Bauer nicht sagen, da schnitt Jo ihm schon das Wort ab.

  »Haben Sie die Leute gesehen?« wollte er wütend wissen.

  »Welche Leute?« Heimlich schüttelte der Bauer über den aufgebrachten Städter den Kopf. Der Mann hatte doch überhaupt keine Nerven. Das kam davon, wenn man de ganzen Tag nicht arbeitete und nur am Schreibtisch hockte und auf der Maschine herumhämmerte.

  »Hören Sie denn den Lärm nicht? Sie sind doch nicht taub? Sollte der Wind etwa das Schild umgeworfen haben?«

  »Welches Schild?«

  »Herrgott, Mann. Sind Sie so begriffsstutzig oder tun Sie nur so? Das Schild, das ich aufstellen ließ. Privatgelände. Wenn die Feriengäste einmal den Weg hierhergefunden haben, wird eine Invasion dieser lärmenden Menschen einsetzen.«

  »Den Herrgott lassen Sie man aus dem Spiel.« Karsten nahm seelenruhig den Rucksack vom Rükken, schob die Blätter zur Seite und legte ihn auf den Tisch. Jo hatte das Gefühl, er müßte platzen. Die Ruhe des Bauern war ihm ebenso unerträglich wie der Lärm der Kinder, der die Luft füllte. Nur dem Hund war offensichtlich sein eigenes Bellen zuviel geworden.

  »Das sind keine Gäste aus dem Ort. Das sind Feriengäste, die das Häuschen dort drüben gemietet haben.«

  Jo starrte den Mann aus seinen braunen Augen an, als verstehe er kein Wort.

  »Das Häuschen gemietet«, murmelte er tonlos.

  »Ja, sie haben das Häuschen gemietet.« Dem Bauern wurde es bei dem Gesicht des Mannes, den er ja sowieso für verrückt hielt, unbehaglich. »Es ist eine junge Frau mit fünf Kindern. Sie haben das Haus für den ganzen Sommer gemietet.«

  Jo hatte ein Gefühl, als wäre ein Stein auf seinen Kopf gefallen.

  »Fünf Kinder. Für den ganzen Sommer.«

  Warum sprach der Kerl denn alles nach? Er war doch kein Papagei.

  »Ja. Es sind sehr nette Kinder und eine angenehme junge Frau«, glaubte er, den Mann beruhigen zu können.

  Jetzt endlich kam Leben in Jo. Er sprang auf, stand breitbeinig vor dem Mann, dem der Schrecken bei diesem Anblick in die Glieder fuhr. Blitzschnell maß er die Entfernung zur Tür. Er hatte nur den einen Wunsch, sich vor diesem Verrückten in Sicherheit zu bringen.

  »Sie haben den Vertrag gebrochen«, brüllte der Mann. Seine Stimme mußte weithin zu hören sein. »Ich habe das Häuschen von Ihnen gemietet, um meine Ruhe zu haben. Ich will hier arbeiten, verstehen Sie?«

  »Ich bin ja nicht taub«, knurrte Karsten gekränkt. Hätte er doch nur seinen Hund mitgenommen.

  »Fünf Kinder, sagen Sie? Sie werden von morgens bis abends herumlärmen. Ich will arbeiten. Ich brauche meine Ruhe. Ich reise noch heute ab.«

  Karsten fuhr der Schrecken in die Glieder. Aber jetzt nicht, weil er sich vor dem Mann fürchtete. Er dachte an das Geld, das der von ihm zurückfordern würde. Es wurde ihm ganz heiß.

  »Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal«, riet er ihm väterlich. Er öffnete den Rucksack, schnell ging das nicht, weil seine Hände so zitterten. Wenn das so weiterging, war er bald genauso ein Nervenbündel wie dieser Mann. Er holte aus dem Rucksack eine dickbauchige Flasche, hielt sie hoch und versuchte seinen Mund zu einem Lächeln zu verziehen.

  »Die Flasche haben Sie zwar nicht bestellt, aber ich habe sie trotzdem mitgebracht. Es ist Jenever. Ein vorzüglicher Magentrunk. Hilft immer. Ist nicht nur für den Magen gut, beruhigt auch die Nerven. Ich hol mal rasch Gläser aus der Küche.«

  Die Küche war genauso groß wie die Stube. An der spartanischen Einrichtung hatte der Mann, der mit einem tollen Sportwagen angefahren kam, nichts auszusetzen gehabt.

  Karsten füllte die Gläser, der Mann war ihm in die Küche gefolgt und ließ sich auf die Eckbank fallen.

  Nachdem Jo das Glas mit einem Zug ausgetrunken hatte, goß Karsten nach und bemühte sich um einen beruhigenden Ton, als spreche er mit einem kranke Kind.

  »Es sind wirklich nette Kinder. Sie sind doch gerade erst angekommen, da sind sie natürlich außer Rand und Band. Sie leben in Berlin, mitten in der Großstadt. In einem Haus, das ohne Sonne ist. Überlegen sie mal. Die Kinder müssen bei dieser Hitze irgendwo auf eiem Hinterhof spielen. Außerdem ist es nicht mein Häuschen, das vermietet wurde. Sie können mich also nicht dafür bestrafen, daß mein Nachbar sein Ferienhaus vermietet.«

  Jo trank auch das zweite Glas leer. Der Bauer musterte ihn ängstlich. Dachte er noch immer daran, sofort abzufahren? Sein Wagen stand in der Scheune und wurde von seinen Kindern mehrmals am Tag bestaunt.

  »Ich bin ganz sicher, daß die junge Frau mit sich reden läßt. Sie ist ausgesprochen liebenswürdig. Sie wird ganz sicher dafür sorgen, daß die Kinder ruhig sind. Lärm machen und sich austoben können sie am Strand. Außerdem steht heute der Wind ungünstig; bei Westwind werden Sie von dem Häuschen drüben überhaupt nichts hören, Westwind haben wir doch beinahe immer.« Auf eine kleine Notlüge kam es dem Bauern nicht an. »Sie dürfen sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen lassen«, mahnte er ihn.

  »Sie verstehen das nicht.« Jo strich erschöpft über sein Gesicht. »Ich glaube, Sie verstehen es nicht.« Jos Stimme klang mutlos. »Wie sollten Sie auch? Ich bin hierher gekommen, um ungestört zu arbeiten. Mich lenkt jedes Geräusch ab, ich kann mich nicht in meine Arbeit vertiefen, wenn Lärm um mich ist.«

  Er sah in das wettergegerbte Gesicht des Bauern und seufzte resigniert. »Wahrscheinlich halten Sie mich für verrückt.«

  Herr Karsten erschrak. Sah man ihm wirklich so deutlich seine Gedanken an?

  »Wer denkt denn so was?« wehrte er entrüstet ab. »Ich stelle es mir entsetzlich schwer vor, Bücher zu schreiben. Nicht, daß ich viel lese, dafür habe ich keine Zeit. Aber meine Frau steckt ständig ihre Nase in ein Buch.« Er hütete sich zu sagen, daß er oft ärgerlich darüber war und von Zeitverschwendung murrte. »Sie werden Ihre Ruhe haben, das verspreche ich Ihnen. Ich gehe gleich zu der Frau rüber und spreche mit ihr. Ich zeige ihr sogar den kleinen Tümpel zwischen den Felsen, wo die Kinder toben und baden können, ohne daß es gefährlich für sie ist. Ihnen würde so ein Tag unten am Strand auch gut tun«, setzte er mit einem mitleidigen Blick auf Jo hinzu. »Als Sie herkamen, sahen Sie viel frischer aus.«

  Jo erhob sich. Der Kerl hat ’ne gute Figur, stellte Karsten bei sich fest. Mit den breiten Schultern müßte er einen guten Arbeiter abgeben. Nach einem Tag auf dem Feld würde er abends müde ins Bett fallen, und nach wenigen Tagen wären seine Nerven besser beieinander.

  Jetzt begann der Hund wieder zu kläffen, ohrenbetäubend laut klang es. Jo hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten.

  »Es ist ein Boxer«, glaubte Karsten erklären zu müssen. »Der arme Kerl wird vor Freude, endlich über einen weichen Boden laufen zu können, außer sich sein. Hören Sie nur, wie glücklich sein Bellen klingt.«

  »Für meine Ohren klingt es wie eine nervtötende Sirene. Ich kann es nicht ertragen.«

  Kinderstimmen jauchzten, überschlugen sich vor Übermut und übertönten das beruhigende Geräusch der Wellen.

  Jo ging ins Zimmer zurück und knallte das Fenster zu. Das hätte er nicht tun dürfen, so eine Behandlung duldeten die Fensterrahmen nicht, die schon Jahrzehnte dem Wetter getrotzt hatten.

  Verdutzt starrte er auf den Flügel, den er in der Hand hielt, und sah anklagend auf den Bauern, der tadelnd seinen Kopf schüttelte.

  »Das geht aber nicht, daß Sie Ihren Ärger an den Fenstern auslassen. Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben. Jetzt kann ich eine Zeit damit vertun, die Sache wieder zu reparieren. Dabei hätte ich wirklich wichtigeres zu tun.«

  Jo floh aus dem Zimmer. Er riß eine Jacke vom Haken, der als Garderobe diente, und stürmte hinaus. Für den verwilderten Garten hatte er nicht einen Blick, er rannte über den Weg zu den Dünen hinunter, zertrat die strohigen Gräser. Nachdem er eine halbe Stunde gerannt war, war er nicht nur außer Atem, er wurde auch ruhiger. »Es bringt nichts, sich aufzuregen, alter Knabe«, redete er sich zu, »abwarten. Wenn du nicht arbeiten kannst, suchst du dir einfach etwas anderes.«

  Aber es graute ihm davor. Noch einmal in eine fremde Umgebung eintauchen zu müssen, erschien ihm als schreckliche Zeitverschwendung.

  Er hatte den Strand erreicht, er setzte sich auf einen großen Stein, streckte die Beine über den Sand und hielt das Gesicht der Sonne entgegen. Ruhe umfing ihn. Er hörte den Wellen zu, sie liefen über die Steine, flossen zurück, der monotone Gesang streichelte seine Nerven. Er sah einer Möwe zu, die eifrig zwischen den Steinen pickte, den Kopf hob und schrille Schreie ausstieß, als kreischte sie dem Himmel ihre Beschwerde entgegen.

*

  »Hast du schon mal geangelt?« Jo war so in Gedanken vertieft gewesen, daß er das Kind nicht wahr genommen hatte. Er zuckte zusammen und starrte auf das kleine Wesen.

  »Was hast du denn? Du zuckst ja zusammen, als hätte ich einen Schuß abgefeuert. Du siehst mich richtig komisch an.«

  Ich muß mich wirklich mehr zusammennehmen, rief Jonathan sich zur Ordnung.

  »Entschudlige«, bat er das Kind, »ich habe dich nicht kommen gehört.«

  »Nee? Das kommt sicher daher, weil ich keine Schuhe anhabe. Aber ich kann dir sagen, die Steine picken ganz erbärmlich. Wie die Indianer das machen, ständig barfuß herumzulaufen, das kapier ich nicht.«

  »Sie sind es einfach gewohnt«, erklärte Jo dem Kind. War es ein Junge oder ein Mädchen? Das Wesen trug winzige, verwaschene Shorts, ein buntes Hemd und hatte so zerkratzte Beine, wie Fridolin sie noch nie gesehen hatte.

  »Ich heiße Lea«, erklärte das Kind, als könnte es Gedanken lesen. »Ich will angeln. Ich habe nämlich zum Geburtstag eine Angel geschenkt bekommen. Ich dachte, es ist ganz leicht, ich dachte, hier gibt es haufenweise Fische. Aber es beißt keiner an. Irgendwas muß ich falsch machen. Darum frage ich dich, ob du schon mal geangelt hast. Ich stelle es mir Spitze vor, wenn wir zum Mittagessen selbst gefangenen Fisch braten können.«

  Er sah in das unglückliche Gesichtchen, das von großen braunen Augen beherrscht wurde. Etwas in diesem Gesicht rührte ihn an; was es war, hätte er nicht zu sagen gewußt.

  »Hast du einen Köder an den Haken gemacht?«

  »Eine Köder?« Der Mund blieb vor Erstaunen geöffnet. Ein Schneidezahn fehlte. »Was ist das denn?«

  »Würmer. Würmer, die du hier suchen kannst. Wenn das Wasser zurückgeht, kannst du nach Wattwürmern graben. Du kannst natürlich auch Mehlwürmer in der Zoohandlung kaufen, ich weiß aber nicht, ob es so ein Geschäft hier im Dorf gibt.«

  »Was meinst du mit Watt? Was meinst du damit, wenn das Wasser zurückgeht?«

  »Hast du noch nie etwas von Ebbe und Flut gehört?«

  Jo saß entspannt auf seinem Stein, für den Augenblick hatte er seinen Ärger vergessen. Die Kleine war zu drollig. Etwas rührend Schutzbedürftiges strahlte sie aus. Wie erwartungsvoll, ja gläubig ihn die braunen Augen ansahen.

  »Nee. Doch, warte mal«, ein Finger wurde gegen die Stupsnase gedrückt, als ließe es sich so besser denken. »Irgendwer hat mal was davon erzählt. Aber ich hab’s vergessen. Erzähl du es mir.« Die Kleine lächelte ihn treuherzig an, ließ sich einfach auf den Sand fallen, hockte da im Schneidersitz und sah zu ihm auf. Nicht eine Spur Scheu oder Zurückhaltung legte die Kleine an den Tag, sie sprach mit ihm, als wären sie längst vertraut.

  »Ebbe und Flut nennt man auch Gezeiten, oder Tiden«, erklärte er dem Kind und merkte gar nicht, daß er mit dem Mädchen sprach, als wäre es erwachsen. »Infolge der Anziehungskraft von Mond und Sonne, verursacht durch rhythmische Schwankungen des Meeresspiegels, der Atmosphäre und der festen Erdoberfläche mit einer Periode von 12 bis 13 Sonnenstunden. Die Gezeiten werden in den Pegeln beobachtet…«

  »Ich verstehe nur Bahnhof«, unterbrach ihn Lea. Sie hatte die Kinderstirn gekraust und schüttelte ein über das andere Mal den Kopf. »Ich bin bestimmt nicht schwer von Begriff, aber das kapier ich nicht. Nicht mal die Hälfte.«

  Er stutzte und lachte dann reuevoll.

  »Du hast recht. Wie solltest du das auch verstehen? Du bist hier an der Nordssee, hier sind Ebbe und Flut sehr stark. Bei Ebbe geht das Wasser zurück, bei Flut kommt es. Es ist nie ratsam, bei Ebbe ins Wasser zu gehen«, glaubte er noch mahnend sagen zu müssen. »Und was haben der Mond und die Sonne damit zu tun? Das kapier ich nicht. Mond und Sonne sind doch am Himmel und das Meer ist auf der Erde.«

  »Das eben ist die Anziehungskraft des Mondes. Bei der Bildung der Gezeiten überwiegt die Anziehungskraft des Mondes. Das ersieht man aus der regelmäßigen Wiederkehr der Gezeiten innerhalb von 24 Stunden und 50 Minuten. Der Einfluß der Sonne macht sich vorwiegend in dem Gezeitenhub bemerkbar.«

  »Hör auf«, die Kleine hielt sich kopfschüttelnd die Ohren zu. »Ich kapiere es einfach nicht. Aber wenn du es sagst, wird es schon stimmen. Das beste ist, ich frag Susanne heute abend. Wenn Susanne was erklärt, kann es sogar unser Stöpsel verstehen, und der ist erst drei Jahre alt. Du machst ein Gesicht, als wenn du sauer bist. Das darfst du nicht. Vielleicht hast du keine Kinder, dann kannst du natürlich auch nicht so sprechen, daß man es kapiert. Wenn man nur mit Erwachsenen zusammen ist, spricht man ganz anders, das ist ja klar.«

  Es war zu drollig, wie die Kleine versuchte, ihn zu trösten. »Wichtig ist ja eigentlich nur, daß das Wasser wiederkommt, wenn es wegläuft.«

  Mit gekraustem Näschen starrte das Kind auf das Meer. Die Wellen hatten lustige kleine Schaumkrönchen, sie trugen ein Brett heran. Immer wenn Lea glaubte, jetzt würde es an den Strand gespült, nahmen sie es wieder mit sich.

  »Die Wellen spielen mit dem Brett wie eine Katze mit einer Maus«, rief das Kind und schüttelte die blonden Haare, die naß und strähnig das Gesicht umtanzten. »Bei dem Wasser sieht das lustig aus, wenn eine Katze das macht, finde ich es grauselig.«

  »Ich auch«, nickte der Mann und studierte das Kind, als wollte er es zeichnen. Bisher war er selten mit Kindern zusammen gekommen. Er fand sie laut und lästig, unberechenbar, und man ging ihnen besser aus dem Weg. Aber dieses Kind interessierte ihn einfach. Wahrscheinlich war es in einem kritischen Moment in sein Leben gehüpft.

  »Jetzt ist also Flut, weil das Wasser kommt«, überlegte Lea und bohrte die nacken Zehen in den steinigen Sand. »Jetzt kann ich also keine Würmer finden. Da muß ich warten, bis Ebbe ist.«

  »Du hast es ja doch verstanden«, freute Jo sich und lachte auf das Kind hinunter. Lea grinste, zog den Mund auseinander, daß er noch eine weitere Zahnlücke sehen konnte.

  »Toll. Na, die werden gleich staunen, wenn ich den anderen einen Vortrag halte. Mensch, denen werden die Augen aus dem Kopf fallen.«

  Jo kam sehr unsanft in die Wirklichkeit zurück.

  »Du wohnst in dem Ferienhaus oben am Weg?«

  »Klar, da wohnen wir seit heute. Ich und meine Geschwister und Susanne.«

  Sein Interesse für das Kind hatte einen argen Dämpfer bekommen. »Nennst du deine Mutter Susanne? Sie ist doch deine Mutter, oder seid ihr ohne Mutter hier?«

  Das Kind zögerte nur einen Augenblick.

  »Nee, nee. Wir sagen Susanne zu ihr. Du glaubst doch nicht, daß Kinder allein ein Ferienhaus mieten könnten. Nee, das geht nicht. Wenn du willst, kannst du ja mitkommen. Wir sind fünf und mit Susanne sechs. Das Haus ist nur klein, aber wir finden es super. Wir werden bestimmt viel Spaß haben, das kannst du mir glauben. Susanne hat versprochen, daß wir abends grillen, und der Bauer hat uns erlaubt, ein Feuer in dem Gärtchen zu machen, das werden wir tun und dann singen wir und Susanne spielt auf ihrer Laute. O Mensch, ich könnte platzen, so freu ich mich. Und du, wohnst du im Dorf? Das Dorf ist ja ganz hübsch, aber es ist viel zu weit vom Wasser entfernt, da könnten wir ja nie allein zum Meer hinkommen.«

  Warum fiel es ihm denn so lächerlich schwer, auf diese normale Fragen zu antworten? Er brauchte doch keine Angst zu haben, daß die Kinder zu ihm kamen, der Bauer würde schon dafür sorgen, daß man Abstand hielt und ihn nicht belästigte.

  »Ich wohne nicht im Dorf. Da ist es mir viel zu eng und viel zu laut. Ich wohne eurem Häuschen direkt gegenüber.«

  Weiter kam er nicht. Die Kinderaugen strahlten ihn an. Goldene Pünktchen glitzerten darin.

  »Wirklich? Das ist ja super. Wir haben das Haus gesehen, es sieht genauso drollig aus wie unser Haus. Nur hast du grüne Fensterläden und wir blaue. O Mann, das ist wirklich Spitze. Dann können wir uns ja immerzu besuchen, und wenn Susanne was extra Gutes gekocht hat, dann winken wir dich einfach rüber. Ich kann laut schreien, du hörst das bestimmt.«

  Darauf legte er nun wirklich nicht den geringsten Wert.

  »Weißt du, Lea, ich habe wenig Zeit«, erklärte er behutsam. Das Kind hatte eine Art, ihn anzublicken! »Ich schreibe an einem Buch, und da brauche ich sehr viel Ruhe.«

  Die Kinderaugen staunten ihn ehrfürchtig an. »Wird es ein dickes Buch? Mensch, das ist ja, das ist ja wahnsinnig. Ein richtiges Buch! Dann bist du wohl ein Dichter? Aber Dichter sind doch auch Menschen und müssen essen und sich mal ausruhen.«

  »Natürlich. Aber in erster Linie brauchen sie Ruhe. Und ich esse, wenn ich Hunger habe, und halte mich nicht an eine Zeit.«

  »Aber das ist sehr ungesund«, mahnte ihn das Kind. »Vielleicht rauchst du sogar.« Die braunen Augen musterten ihn altklug.

  »Nur Pfeife. Aber meistens kaue ich auf dem kalten Pfeifenstiel herum.«

*

  »Lea, wo bleibst du denn? Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«

  Sofort sprang das Kind auf die Füße und rief schuldbewußt: »Sei nicht sauer, Susanne. Ich hab einfach die Zeit vergessen.«

  Jonathan drehte den Kopf, und vor Staunen vergaß er, den Mund zu schließen. Das sollte eine Mutter von fünf Kindern sein? Unmöglich. Dieses Wesen war gertenschlank, hochgewachsen und wirkte mit ihren blonden Haaren, die bis zu ihrer Schulter reichten, wie ein junges Mädchen.

  Blaue Augen, so blau wie der Himmel, musterten ihn abwartend. Jonathan erinnerte sich an seine gute Manieren und erhob sich langsam, wie in Zeitlupe.

  »Das ist der Mann, der unserem Haus gegenüber wohnt«, sprudelte Lea hervor, sie lief auf Susanne zu, umklammerte ihre Hand und strahlte sie an. »Ist das nicht toll? Weißt du, daß er ein Dichter ist? Einer, der ein dickes Buch schreibt.«

  Jonathan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, es blitzte in seinen Augen, als er zu Susanne hinübersah. Natürlich war sie nicht die Mutter der fünf Kinder, vermutlich hatte er Lea falsch verstanden.

  »Nolde«, stellte er sich vor und senkte eine Winzigkeit den Kopf.

  »Jetzt muß du auch deinen Namen sagen, Susanne. Nein, das mach’ ich für dich. Sie heißt Susanne Schöne, wie wir auch, weil sie ja unsere Mutter ist.«

  Susanne verzog nur ein wenig den Mund, vielleicht sollte es ein Lächeln sein. Jo musterte sie unverwandt, er dachte gar nicht daran, daß es sehr unhöflich war, jemanden so anzustarren.

  Sie war nicht nur schlank und jung, sie war auch von einer besonderen Schönheit. Es war keine Schönheit, die grell ins Auge fiel. Es war eine Schönheit, die man entdecken mußte. Nichts an diesem Wesen wirkte aufdringlich.

  »Sie haben einen berühmten Namen.« Ihre Stimme klang ein wenig heiser. Sie hatte den Arm um Leas Schultern gelegt, das Kind schmiegte sich zärtlich an sie.

  Jonathan war enttäuscht. Sie strahlte so eine Natürlichkeit aus, aber sie war nicht anders als die jungen Damen, über die er ständig stolperte.

  Gleich würde sie ihm sagen, daß sie all seine Bücher gelesen hatte und von ihnen begeistert wäre. Er kannte diese Art der verlogenen Konservation.

  »Ach ja?« Er musterte sie abwartend.

  »Ich denke an den Maler und Graphiker Emil Nolde.« Irrte er sich, oder schwang Spott in ihrer Stimme mit? »Sie wissen doch sicher, daß er der Hauptmeister des deutschen Expressionismus war. Von einem Schriftsteller dieses Namens habe ich noch nie gehört.«

  Einen Augenblick verschlug es ihm die Sprache.

  Sie wollte ihn ärgern, er wußte nur nicht warum. Er mochte Frauen mit spitzen Zungen nicht, er liebte sie sanft und anschmiegsam, und wenn sie ihm lästig wurden, dann machte er sich davon. Jonathan war anständig genug, den Damen das sofort, gleich zu Anfang der Beziehung, zu sagen. Keine Bindung, meine Liebe. Wenn es anfängt, eheähnlich zu werden, mach ich mich aus dem Staub. Und keine Tränen.

  »Ich schreibe nicht unter dem Namen Nolde«, erklärte er ihr gekränkt.

  »Das interessiert mich nicht.« Sie war wirklich abscheulich. Besaß das Gesicht eines Engels und die Zunge eines Teufels. Er haßte rechthaberische Frauen.

  »Herr Karsten war soeben bei uns…« Ach, daher wehte der Wind. Ihre Augen funkelten ihn herausfordernd an. Trotz seines Ärgers begeisterte ihn ihr sprechendes, temperamentvolles Gesicht.

  »Ach ja?«

  »Fällt Ihnen keine andere Bemerkung ein?« fuhr sie ihn böse an. »Ach ja ist nicht sehr viel. Herr Karsten erzählte mir, daß Sie wegen des übermütigen Lachens der Kinder einen Tobsuchtsanfall bekommen haben, und als Sie hörten, daß fünf Kinder Ihre Nachbarn sind, sollen Sie einen Nervenzusammenbruch gespielt haben.«

  »Vergessen Sie das Bellen des Hundes nicht.« Er schob die Hände in die Taschen seiner ausgebeulten Hose, er war sich gar nicht bewußt, daß er mit den Füßen wippte. Für Susanne war er der arroganteste, schlecht erzogenste Mensch, dem sie je begegnet war. Wie unverschämt er sie musterte.

  »Meint er Charlie?« fragte das Kind ängstlich und sah von Susanne auf den Mann, den sie eben noch so nett gefunden hatte.

  »Ja, Lea. Er meint unseren Charlie. Er ist ihm zu laut, und euer Lachen stört ihn auch.« Es klang, als knirschte sie bei den Worten mit den Zähnen.

  »Wir haben das Haus gemietet, es war mühsam genug, ein Haus zu finden, in dem wir uns alle wohl fühlen und mit Lärm und Lachen niemanden stören«, fuhr sie ihn mit blitzenden Augen an. »Die Kinder haben diese unbeschwerten Ferien bitter nötig.« Einen Moment brach ihre Stimme, sie schluckte, fuhr aber kampfbereit fort: »Wir lassen uns nicht vertreiben, wenn mir Herr Karsten auch von einem Häuschen im Dorf erzählte. Wir bleiben. Wenn Kinderlachen sie dermaßen stört, dann… dann müssen Sie sich eben etwas anderes suchen.«

  Er hielt dem Blick ihrer wütenden Augen stand. Der Ärger auf dieses unverschämte Wesen wurde übermächtig.

  »Ich danke gar nicht daran, mein Domizil aufzugeben. Ich sitze mitten in einer schwierigen Arbeit und brauche meine Ruhe. Darum kam ich hierher, um in Ruhe und Frieden meine Arbeit zu vollenden.«

  »Das klingt ja, als ob Sie schon mit einem Fuß im Grab stehen«, höhnte sie. »Wenn Sie ein solches Nervenbündel sind, dann sollten Sie sich irgendwo im Wald verkriechen. Aber vielleicht stört Sie da das Zwitschern der Vögel, und wenn der Wind durch die Zweige fegt, fühlen sie sich vermutlich persönlich gekärnkt.«

  »Meint er, wir sind zu laut, und meckert er genauso über uns wie Frau Winter? Die sich sogar über unseren Krach beschwert, wenn wir gar nicht im Garten sind?«

  Sie strich der Kleinen mit einer zärtlichen Geste das Haar aus der Stirn.

  »Hören Sie«, erklärte er gereizt, bevor sie dem Mädchen antworten konnte. »Ich habe nichts gegen Kinder, schon gar nichts gegen Hunde. Aber als ich heute morgen den unerwarteten Lärm hörte, war ich natürlich außer mir. Ich steckte mitten in der Arbeit und hatte das Gefühl gut voranzukommen. Aber vielleicht verstehen Sie das nicht.«

  »Ich gebe mir auch keine Mühe«, war ihre patzige Antwort, und ihre Augen wurden nicht eine Spur freundlicher. Daß er ihr einen Friedenszweig geboten hatte, nahm sie einfach nicht zur Kenntnis. »Die Kinder haben den Urlaub bitter nötig. Sie sollen sich austoben, sie sollen sich wohlfühlen. Ich kann auch Charlie nicht das Maul zubinden.«

  »Bloß nicht«, warf Lea erschrocken ein. Unglücklich sah das Kind von einem zum anderen und begriff nicht, warum sie redeten als wären sie verfeindet. Das sah Susanne doch überhaupt nicht ähnlich.

  »Susanne, uns predigst du immer, wir sollen uns vertragen«, murmelte das Kind vorwurfsvoll.

  »Halte bitte den Mund, Lea. Das verstehst du nicht. Wir haben nicht die beschwerliche Reise hinter uns gebracht, um eine zweite Frau Winter ertragen zu müssen.«

  »Können Sie einmal einen Moment still sein?« fuhr Jo sie an. Sie zuckte zusammen, aber dann funkelte sie ihn an, ihre Augen schossen Blitze. Und wie ein wütendes Kind stampfte sie mit dem Fuß auf den Boden.

  »Nein. Und tausend Mal nein. Wir haben das Haus gemietet, wir wollen hier unbeschwerte Ferien genießen. Sie verstehen ja gar nichts«, fuhr sie aufgebracht auf ihn los. Einen Moment glaubte er, Tränen in ihren Augen zu sehen. »Ich werde den Teufel tun und Ihnen versprechen, daß wir uns bemühen, leise zu lachen, ich denke gar nicht daran. Sie müssen sehen, wie Sie mit uns zurecht kommen. Ich verspreche Ihnen, daß uns Ihr Schreibmaschinengeklapper, und wenn es mitten in der Nacht ist, nicht stört. Ich bin nicht schuld, daß hier die Geräusche meilenweit zu hören sind. – Komm, Lea.«

  »Sie sind sehr unhöflich«, brauste er aufgebracht los. »Hat man Ihnen nicht beigebracht, daß man den anderen ausreden lassen muß?«

  Sie warf einen spöttischen Blick zurück. Mit dem Kind an der Seite schritt sie davon.

  »Offensichtlich nicht. Es ist gut, daß Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben. Keineswegs mit einer Frau, die vor einem Schriftsteller vor Ehrfurcht in die Knie sinkt, sondern mit einer Frau, die sich ihrer Rechte sehr bewußt ist.«

  Das Kind lief nur zögernd neben ihr. Aber sie ging mit weit ausholenden Schritten, ihr Haar wehte im Wind. Er starrte ihr nach, er war wahnsinnig wütend auf sie. Am liebsten wäre er ihr nachgerannt und hätte sie geschüttelt.

  Und doch war er sich ihrer Anmut bewußt. Sogar von hinten strömte sie Charme aus. Dabei hielt sie den Rücken gerade, den Kopf gereckt, deutlicher konnte man nicht zeigen, wie unversöhnlich man war.

  Zum Teufel mit dieser Person. Mußte ihm das passieren? Er war doch nun wirklich ein friedfertiger Mensch. Und ausgerechnet er mußte einer solchen Xanthippe begegnen.

  Er würde sich nicht mit dieser Person anlegen, dazu hatte er weder Lust noch Zeit. Wer war sie überhaupt, daß sie einen solchen Ton anschlagen konnte? So sprach niemand mit ihm.

  Sah aus wie 20 Jahre. Keinen Tag älter, und hatte fünf Kinder. Und von einem Mann war nicht die Rede gewesen!

  Ein nettes Früchtchen war sie. Jawohl. Mädchen, die so hübsch waren wie sie, waren entweder strohdumm oder unverschämt, wie sie es war. Jawohl.

  Er setzte sich wieder auf den Stein und starrte auf das Meer. Aber er sah nicht, daß das Wasser eine andere Farbe angenommen hatte. Es schillerte jetzt nicht mehr silbern mit lustigen weißen Krönchen auf den Wellen. Es wirkte schwarz, und dunkel wurde auch der Himmel. Es paßte zu seiner Stimmung.

*

  »Erzähl’ das noch mal«, forderte Johann seine Schwester auf. »Aber hör auf, so ein Gesicht zu ziehen, als ob du Zahnschmerzen hast.« Johann war der Älteste der fünf Schönekinder. Bei allen Streichen war er der Anführer, mit seinen neun Jahren wußte er sich bei seinen Geschwistern Respekt zu verschaffen. Wenn es nicht mit Worten ging, dann hatte er andere Mittel. Aber trotz seiner rauhen Schale liebte er seine Geschwister, aber noch mehr liebte er Susanne. Er fühlte sich für alle verantwortlich, schließlich war er nicht umsonst der Älteste.

  »Ich hab doch schon alles gesagt.« Lea fühlte sich sehr unglücklich. »Sie war furchtbar wütend auf ihn. Aber zu mir war er sehr nett, er hat mir gesagt, wo ich Wattwürmer suchen kann.«

  »Hör auf mit deinen Würmern, das hätte ich dir auch sagen können. Er beschwert sich also über uns, er will uns vielleicht sogar von hier vertreiben. Er will uns loswerden. Aber da ist er schief gewickelt.« Johanns Bubengesicht verzog sich angriffslustig. Er war der Einzige, der seinem verstorbenen Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war. Sein schmales Gesicht mit den dunklen Haaren und den braunen Augen vergaß man nicht so schnell. Er war lang aufgeschossen und wirkte älter, als er war.

  »Der wird sich wundern«, knirschte er rachsüchtig. »Was fällt dem denn ein, Susanne zu ärgern? Gleich am ersten Tag.«

  Sie hockten in dem Schlafzimmer, saßen auf dem Bett, zwei hockten auf dem Fußboden. Sie hörten Susanne in der winzigen Küche hantieren. Sie hatte ihnen zum Abendessen Hefeklöße versprochen.

  Wieviel Arbeit das machte, war den Kindern nicht klar. Ihnen war nur wichtig, daß Susanne lachte und nicht traurig war. Traurig waren sie viel zu lange gewesen. Als die Koffer gepackt waren und Susanne das Auto aus der Garage holte, hatte Johann seinen Geschwistern eingeschärft:

  »Geheult wird nicht mehr. Verstanden? Wenn einer wieder einen Rappel kriegt, soll er das gefälligst so machen, daß Susanne es nicht sieht. Sonst kriegt ihr es mit mir zu tun.«

  Draußen regnete es, nachmittags war ein heftiges Gewitter losgebrochen. Susanne hatte mit ihnen in dem Zimmer gesessen, das jetzt ihr Wohnzimmer war. Susanne verstand es, mit wenigen Mitteln Behaglichkeit zu zaubern, das spürten sogar die Kinder. Sie hatte ihnen vorgelesen, sie hatte ihnen erklärt, wie ein Gewitter entstand. Sie hatte es geschafft, daß nicht einmal der dreijährige Fridolin, der Benjamin, Angst hatte. Er saß auf ihrem Schoß, den Daumen im Mund und hörte zu.

  Nur Charlie hatte sich unter den Tisch verkrochen, und bei jedem Donner stieß er ein angstvolles Heulen aus.

  »Er ist dumm«, hatte die fünfjährige Laura nachsichtig erklärt. »Er kapiert nicht, daß man vor dem Donner überhaupt keine Angst haben muß. Dafür ist er schließlich auch nur ein Hund.«

  Jetzt hielten die fünf Kriegsrat, wie sie es nannten, und Johann führte das Wort.

  »Das ist klar wie Kloßbrühe«, erklärte Johann großspurig. Er streckte seine langen Beine über den Flickenteppich, Fridolin lag bäuchlings darauf, seinen Teddy im Arm und flüsterte etwas in das angenagte Ohr. Er war der einzige, der nicht zuhörte.

  »Also, wir werden uns Dinge ausdenken, die hinhauen müssen. Wir werden ihm Streiche spielen und ihn vergraulen, das ist ja klar. Aber es darf nie herauskommen, daß wir es waren, wir wollen ja nicht, daß Susanne Ärger kriegt.«

  »Aber er ist nett, wirklich.« Lea rückte von Johann ab. »Susanne ist eine Erwachsene und er auch, manchmal können Erwachsene furchtbar dumm sein.«

  »Quatsch keine Opern«, fuhr Thomas sie an. »Er ist unser Feind. Basta. Wir haben ihm hiermit den Krieg erklärt. Aber kein Wort zu Susanne, kapiert? Sonst setzt es was.«

  Sie streckte ihm die Zunge heraus, war aber froh, daß Thomas nicht neben ihr saß. Er war schon acht Jahre, er war so alt, wie Lea schrecklich gern wäre. Mit acht Jahren durfte man eine halbe Stunde am Abend länger aufbleiben. Es war hart, daß Susanne alle Regeln der Eltern übernommen hatte.

  »Jeder denkt nach«, bestimmte Johann, »wie wir ihn ärgern können. Heute nacht habt Ihr alle Zeit genug dafür. Wir müssen schon morgen mit unserer Arbeit beginnen. Schließlich haben wir nur fünf Wochen Ferien. Fünf Wochen gehen viel zu schnell herum.«

  Bis auf Fridolin und Lea waren sie alle Feuer und Flamme. Nur für Johann war es kein übermütiger Spaß, ihm war es ernst. Er mußte diese kleine zusammengeschrumpfte Familie verteidigen. Er durfte nicht zulassen, daß jemand Susanne ärgerte oder ihr auch nur ein Haar krümmte. Er wußte, wie dankbar sie sein mußten, daß Susanne jetzt ihre Mutter war.

  Johann würgte an dem Elend, das sein Herz schwer machte. Aber weinen durfte er erst, wenn er in seinem Bett lag, niemand es hörte und er allein war. Allein mit seinem großen Kummer. Es gab nur einen Trost: Susanne war da.

*

  Eigentlich konnte Jonathan bei Gewitter sehr gut arbeiten. Überhaupt störte ihn nicht der Lärm, den die Natur verursachte. Aber anstatt zu arbeiten, stand er am Fenster, das Herr Karsten notdürftig und unter Brummen repariert hatte, und genoß das Schauspiel. Blitze zuckten im grellen Zickzack über den Himmel und landeten im Meer, Donner füllte die Luft.

  Immer wieder spähte Jonathan zu dem kleinen Häuschen hinüber, das im unheimlichen Licht beklagenswert aussah, so, als könnte der Wind es umblassen und davontragen.

  Die Kinder kamen aus der Stadt, so ein Naturschauspiel hatten sie gewiß noch nie gesehen. Er holte sein Fernglas vom Bord und spähte hinüber. Nichts war von ihnen zu sehen. Natürlich fürchteten die Kinder sich, wahrscheinlich hockten sie angstvoll im dunklen Zimmer.

  Eine irrsinnige Idee von dieser Mutter, mit fünf Kindern in diese unwirtliche Gegend zu ziehen. Aber was konnte man auch schon von einer Mutter, die wie ein junges Ding aussah, erwarten?«

  Jonathan wußte, daß beide Häuschen einmal von Vogelwarten bewohnt gewesen waren. Aber auf für Menschen unerklärliche Weise hatten die Möwen ihre Brutstätten verlassen und bewohnte jetzt die Dünen hinter dem Wall. Auch das Meer konnte hier dem Land nicht mehr gefährlich werden. Vor ungefähr hundert Jahren war gerade diese Dünenlandschaft häufig überschwemmt worden, ja, das Wasser war sogar bis zum Dorf gekommen, Tafeln an Hausmauern erzählten noch davon.

  Jetzt kam das Wasser nicht einmal mehr bei Springflut bis zu den Höhlen im Felsen, bei Ebbe lief es weit zurück.

  Jonathan ertappte sich bei dem Gedanken, daß er der kleinen Lea gern davon erzählen würde. Er erinnerte sich an die großen, wißbegierigen Augen. Er sah sogar das Lachen darin.

  Das Gewitter hatte sich verzogen, jetzt strömte der Regen aus dunklen, tiefhängenden Wolken, als wollte er das Land überschwemmen. Seufzend setzte sich Jonathan an den Tisch. Natürlich gab er dem Drang nicht nach, der ihn vom Schreiben abhielt. Auf keinen Fall ging er zu den Kindern hinüber. Ja, wenn sie allein wären, dann wäre es ja sogar seine Christenpflicht gewesen. Dann müßte er sich um sie kümmern.

  Die Hände lagen auf den Tasten der Schreibmaschine. Er hatte das Licht angezündet, wie gut, daß die Häuschen wenigstens Strom besaßen. Jetzt konzentriere dich, Jonathan Nolde.

  Wie spöttisch diese Person gesagt hatte: ein Schriftsteller dieses Namens ist mir nicht bekannt…

  Aber wie zärtlich hatte sie den Arm um die Kleine gelegt und ihr das Haar aus dem Gesicht gestrichen.

  Hatte er nicht doch die Pflicht, sich um die sechs zu kümmern? Die junge Frau war doch diesem rauhen Leben gar nicht gewachsen.

  Aber er ging nicht. Er schob die Maschine von sich, holte seinen Rotwein aus dem Schrank. Er vertiefte sich in sein Lieblingsbuch und hatte Glück, daß der Roman ihn gefangennahm.

  Er schlief nicht sehr gut in dieser Nacht. Einmal glaubte er sogar, Stimmen gehört zu haben, ja, es war ihm, als schlichen Menschen um sein Haus. Wenn ihm seine Nerven einen Streich spielten, dann war das der letzte Kriminalroman, den er schrieb.

  Strahlender Sonnenschein umfing ihn, als Jonathan unausgeschlafen sein Haus verließ. Er reckte gähnend die Arme über den Kopf und blinzelte. Der Himmel war tiefblau, das Meer lag wie ein silbrig blitzendes Tuch darunter. Selbst die Möwen machten weniger Lärm.

  Und überhaupt kein Laut klang vom Häuschen herüber. Die kleinen Fensterscheiben blitzten wie lachende Augen in der Sonne. Es kam auch kein Rauch aus dem Schornstein.

  Unbehagen faßte ihn. Er wollte gerade zu der höheren Düne gehen, um das Haus besser betrachten zu können, als er einen entsetzten Satz zur Seite machte. Er hatte auf etwas getreten, und ein ohrenbetäubender Knall war die Antwort gewesen.

  Er stutzte, machte einen Schritt und wollte das rote Etwas, was unschuldig im Sand lag, in Augenschein nehmen, als noch ein Knall losbrach.

  Knallbonbons, hatten sie als Kinder dazu gesagt. Er bückte sich und betrachtete das Corpus delicti interessiert. Aber anstatt sich zu ärgern, schmunzelte er. Er hockte auf dem Sand, spähte über den Weg und entdeckte noch drei der Dinger. Vorsichtig nahm er sie auf. Vergnügt pfeifend ging er zu seinem Haus zurück.

  Also hatte er sich die flüsternden Stimmen nicht eingebildet. Aber nicht darum war er so vergnügt. Das war also die Antwort der Kinder. Sie spielten ihm Streiche.

  Jonathan fühlte sich wunderbar belebt. Seine Augen funkelten vor Begeisterung. Von ihm aus konnte das Spiel beginnen. Er machte mit.