Invydia

 

Lead by the

Hands of Fate

 

Mystery-Roman von

T. K. Alice

 

 

 

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Die Namen und Handlungen sind frei erfunden.

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www.verlag-der-schatten.de

Erste Auflage 2019

© T.K. Alice

© Coverbilder: Pixabay

Covergestaltung: © T.K.A-CoverDesign

© Bilder: Depositphotos jes2uphoto (Baum), starlight789 (Illustration Baum),

T.K. Alice (Autorenfoto)

Lektorat: Shadodex – Verlag der Schatten

 

© Shadodex – Verlag der Schatten, Bettina Ickelsheimer-Förster, Ruhefeld 16/1, 74594

Kressberg-Mariäkappel

ISBN: 978-3-946381-60-0

 

Inhalt

 

 

Prologue

Thread One: DEATH SENTENCE

Chapter 1: Good Night

Chapter 2: Sleep Tight

Chapter 3: All Alone

Chapter 4: Fear

Chapter 5: Trust

Chapter 6: Secrets

Chapter 7: Safe Haven

Chapter 8: Another Alias

 

Thread Two: SWEET LIFE O’ MINE

Chapter 9: Dog, the Happy Dog

Chapter 10: Problem Solved?

Chapter 11: Almost Normal Life

Chapter 12: What Hope We Have Left

Chapter 13: Animal Shelter

Chapter 14: Alive n’ Kicking

Chapter 15: Fateful Encounter

Chapter 16: Confessions

 

Thread Three: EYE OF THE BEHOLDER

Chapter 17: Halt & Catch Fire

Chapter 18: Burning Grounds

Chapter 19: Fate

Chapter 20: Codebreaker

Chapter 21: The Dangling Bird’s

Chapter 22: A Tale of Two Birds

Chapter 23: Green Label

Chapter 24: High Ambitions

 

Thread Four: PERFECT WORLD

Chapter 25: Welcome to the FAIRGROUND

Chapter 26: Miss Me, Father

Chapter 27: Hellhouse on Fire

Chapter 28: The Origin

Chapter 29: My Mother’s Keeper

Chapter 30: For a World After Tomorrow

 

Epilogue

 

Autorenvorstellung

 

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Glaubt ihr an das Schicksal? Nein?

Sam tat das auch nicht, bis es die Hände nach ihr ausstreckte.

 

 

Eine sterbende Welt. Die letzten Menschen leben unter einer Kuppel. Auch Sam und ihre Zwillingsschwester Melissa, die mit besonderen Gaben gesegnet sind. Kurz bevor Melissa der Lebenswille verlässt, bringt sie Sam auf die Spur eines großen Geheimnisses, welches ihr Leben gehörig durcheinanderbringen soll, denn Cole Crain, der große Wohltäter der letzten Menschen, ist wahrscheinlich für die weitere Zerstörung Welt verantwortlich.

Warum? Das gilt es für Sam, herauszufinden.

Auf ihrer Suche nach der Wahrheit, trifft sie nicht nur neue Freunde, sie muss auch erfahren, dass es sie nur aus einem bestimmten Grund gibt. Dieser brachte Melissa sogar dazu, sich zu opfern. Denn nur so kann sich Sams Schicksal erfüllen, an dem weit mehr hängt als nur ihr Leben.

 

 

»Invydia« ist ein dystopischer Mix aus Mystery und Science-Fiction, der das Thema »Umweltzerstörung« auf eine ganz neue Ebene hebt. Denn was wäre, wenn …

 

Prologue

 

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Als ich noch ein Kind war, hat man mir immer erzählt, dass ich aus einem bestimmten Grund geboren sei. Dass alles, was ich täte, einem Weg angehöre. Dem Weg, den ich beschreiten müsse, um einer Bestimmung Folge zu leisten, die mir in dieser Welt auferlegt wurde.

»Es ist Schicksal«, haben sie gesagt. Doch für mich war es nie mehr als ein Ammenmärchen. Eine leere Phrase, die man nur allzu gern zitierte, wenn es den Menschen mal wieder dreckig ging. Wenn die Welt an ihrem Abgrund stand und man eine Ausrede brauchte, damit die Bürger das Gefühl hatten, alles würde sich schon fügen, würde wieder besser werden.

Lange Zeit hat man mir versucht zu erzählen, alles würde auf ein Ziel zusteuern, nach dessen Erreichen sich alles richtigstellt. Dass, egal was geschieht, immer alles irgendwie in Ordnung sei. Für mich war es nur purer Zufall. So willkürlich wie das Leben selbst.

Manchmal frage ich mich allerdings, ob ich heute bereit wäre, daran zu glauben? Der Annahme erliegen, dass mein Leben einem höheren Zweck dient?

Wahrscheinlich wäre ich jetzt dazu bereit, so ziemlich alles zu glauben – selbst etwas so Idiotisches wie die Theorie des Schicksals.

Doch vielleicht sollte ich meine Geschichte – zu eurem Verständnis – lieber von vorn erzählen.

 

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Thread One: DEATH SENTENCE

 

 

Zwei Schwestern, in den Fäden des Schicksals gefangen.

 

 

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Chapter 1: Good Night

 

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»Du weißt doch genau, dass ich nicht wirklich eine Wahl habe, oder?«, frage ich beinahe nebensächlich, wobei ich mich zu meiner Schwester herumdrehe. Reflexartig rutscht mir ein »Autsch!« heraus, als ich einen kurzen Schmerz spüre. Wohl meine eigene Dummheit.

Melissa sitzt derweil hinter mir und lacht mich schallend aus, bevor sie sagt: »Selbst schuld. Ich versuche immerhin gerade, dir einen Zopf zu flechten. Hör einfach auf, so herumzuzappeln.«

Über diesen Kommentar kann ich nur die Augen verdrehen. »Ob ich wie tot dasitze oder nicht, die Haare ausreißen wirst du mir sowieso.«

Das ist zugegeben eine Lüge. Sie agiert seit jeher sehr sanft. Außerdem bezweifle ich, dass sie noch die Kraft besitzt, tatsächlich grob zu sein, selbst wenn sie es wollte.

»Hey, nicht ablenken!«, dringt es von dem Platz hinter mir an meine Ohren. »Du hast mir noch nicht geantwortet.«

»Doch, natürlich war das eine Antwort«, erkläre ich schlicht und etwas trotzig. »Was soll ich groß tun?«

Da ich sie kenne, bin ich mir sicher, dass sie jetzt gerade die Augen verdreht.

»Du weißt genau, was ich meine. Was würdest du tun, wenn du könntest? Oder willst du mir erzählen, du – ausgerechnet du – hast noch nie darüber nachgedacht?«

Zwar klingt Mels Stimme schwach, doch betrachtet man ihren Zustand, kann man sich leicht erdenken, wie energisch ihr kleiner Monolog klingen würde, müsste sie nicht nach jedem halben Satz nach Luft schnappen.

So lasse ich meine Gedanken mit einem leisen, jedoch hörbaren Seufzer abschweifen. Bloß das gelegentliche Ziepen an ein paar Strähnen hält mich weiter im Raum.

»Wenn ich nicht hier wäre …« Tja, wo wäre ich dann? Es ist eine Frage, die ich tatsächlich nicht beantworten kann. Wie sollte ich auch? Ich kenne es nicht anders als so, wie es eben ist, daher kann ich es mir auch nicht vorstellen. Und wieso sollte ich ausgerechnet Melissa diese Frage beantworten? Um ehrlich zu sein, wundert es mich, dass ausgerechnet von ihr so eine Frage kommt. Wenn eine von uns beiden sich mit ihrer Situation abgefunden hat, dann mit Sicherheit …

»So, ihr zwei!« Eine laute Stimme lässt uns zur Tür herumfahren. Sie unterbricht damit abrupt meine Gedanken.

Überraschend kommt sie trotz dessen nicht. Wir wissen immerhin beide einzuschätzen, wann es Zeit für uns wird.

»Für heute ist Schluss! Geht zu Bett. Ihr müsst morgen früh aufstehen. Melissa darf ihren Tagesplan nicht durcheinanderbringen. Ihre Gesundheit ist bekanntlich das Wichtigste!«

Klar. Ihre Gesundheit! Von wegen …

»Sie hat schließlich eine Aufgabe zu erfüllen«, sagt sie abschließend und eindringlich, wobei sie uns ins Visier nimmt. Vor allem mich – diesen lästigen Störfaktor, den man allerdings auch irgendwie noch braucht.

Ich muss an mich halten, um nicht genervt die Augen zu verdrehen wegen dieses lächerlichen Schmierentheaters, welches sich mir Tag für Tag bietet.

Immer wieder diese Märchen über Schicksal und Vorsehung … Unsere Aufgabe, hm? Nichts dergleichen ist daran schuld, dass wir heute hier sind. Nur ein Mann – und dieser Mann ist nicht Gott, auch wenn er es zu gern glauben möchte.

»Sie wäre gesünder, würde der Alte sie nicht die ganze Zeit ausnutzen«, murre ich vor mich hin, als mein Zwilling mein Haar fixiert und mir den fertigen Strang über die Schulter wirft, damit ich ihn inspizieren kann.

»Cool … Danke, Mel«, sage ich und erhebe mich von der Matratze mit dem weichen, rosafarbenen Bezug.

Als ich mich noch einmal zu ihr umdrehe, sehe ich genau in das Gesicht, welches ich schon so oft in meinem Leben gesehen habe. Dieses blasse Antlitz, welches der schalen Spiegelung auf der Oberfläche einer trüben Straßenpfütze gleicht – der matte, kaputte Spiegel meiner selbst.

Wenn ich sie so sehe, zieht sich meine Brust schmerzhaft zusammen. Ich weiß dann nicht, wie ich atmen soll. Wie ich ihr sagen soll, dass alles gut wird. Ich bin schließlich die Ältere. Und auch jetzt entkommt mir kein Wort des Mutes. Kein aufmunternder Zuspruch.

Ihr welliges, langes blondes Haar – meinem so ähnlich, doch ihres so schwach und spröde – fällt ihr sanft über die Schultern. Der Blick aus den grünen Augen wirkt müde, aber hoffnungsvoll, so wie das zarte Lächeln auf ihren trockenen, aufgeplatzten Lippen.

Wie eine zerstörte Puppe …

»Samantha! Nun komm schon mit.«

Diese Stimme! … Sie macht mich aggressiv.

»Ich komme ja schon!«, meckere ich, doch nach wie vor weiß ich nicht, was ich zu meiner Schwester sagen soll, außer: »Sorry, Mel, wir sehen uns morgen Früh.«

»Gute Nacht, Sam«, höre ich sie noch sagen, als ich den hellen, flauschigen Teppich überquere auf meinem einsamen Weg zur Tür und drehe mich noch einmal zu ihr um. Irgendetwas lag in ihrer Stimme, das ich nicht zu verstehen vermag, was mich jedoch stutzig macht.

Dennoch bleibt ein Gutenachtgruß von meiner Seite leider aus, ebenso wie die Frage nach dem Warum, da ich bereits auf dem Gang vor der Tür stehe und diese direkt vor meiner Nase zugeschlagen wird, als ich gerade den Mund öffnen will.

»Danke …«, ist daher alles, was ich vor mich hin murmle, während unsere hauseigene Cruella de Vil neben mir herläuft und mich bis zu meinem kleinen Zimmer eskortiert wie eine Gefangene, die ich irgendwie auch bin.

 

»Super! Schon wieder nur unsinniger Müll.« Mit diesen Worten werfe ich einen Stoß Zeitschriften achtlos in den für solcherlei Dinge vorgesehenen Eimer und seufze.

Manchmal frage ich mich, ob sie wirklich glauben, dass ich diesen Schund lese, und wenn ja, was sie sich davon versprechen. Dass es mir plötzlich gefällt, eingesperrt zu sein? Wie ein Vogel im Käfig?

Nein, das ist nicht ganz richtig. Der Vogel im Käfig … Das ist wohl eher Mel. Nur, was bin dann ich?

Eine Frage, auf die ich bis heute keine Antwort weiß, daher versuche ich sie einfach zu ignorieren, als ich mich kopfschüttelnd von der hellen Kommode abwende und in mein beschauliches Zimmer sehe. Es gelingt mir jedoch nicht ganz.

Was ich bin? … Ich bin das Nichts. Die Luft, die meine Schwester zum Atmen braucht. Doch gebe ich ihr nie genug, um auf Dauer überleben zu können. Es reicht einfach nicht aus, um sie zum Abheben zu bewegen. Ihre Flügel sind gebrochen. Verkrüppelt. Nicht fähig zu fliegen …

Ich selbst hatte nie flugfähige Flügel, schwebe nur so vor mich hin. Komme nicht vor und nicht zurück. Das ist zumindest die Art, wie ich mich beschreiben würde.

Schnaubend setze ich einen Fuß vor den anderen auf dem blanken Fußboden aus kalten, polierten und lackierten Holzbrettern. Parkett nannte man es, glaube ich. Doch der Begriff wird kaum noch gebraucht. Heute gibt es fast nur noch das Crain Wood. Einfach nur synthetisches Holz.

Mir ist klar, dass es ein unglaubliches Privileg ist, noch echtes Holz unter den Fußsohlen spüren zu dürfen. Genau deshalb habe ich auch keinen Teppich hier. Doch das Gefühl wird immer einen bitteren Nachgeschmack haben, solange ich lebe.

Als ich so darüber nachdenke, macht es mich wütend. Alles hier … Alles. Es ist falsch! Nichts weiter als Schein. Ein hübscher Glanz, doch nichts davon ist echt. Nicht die Kommode neben der Tür, auf der sich immer wieder diese dummen Zeitschriften stapeln. Nicht der Mülleimer daneben. Nicht der Schrank zu meiner Linken mit dem Spiegel darüber, den ich immer abdecke – nur um zu erkennen, dass, immer wenn ich den Raum verlasse und wieder zurückkehre, jemand das Tuch entfernt hat. Nicht der Fernseher, mit dem ich mir so oft die Zeit vertreibe. Und auch nicht das Bett unter dem einen Fenster, von dem aus ich meine Schwester dabei beobachten kann, wie sie Tag für Tag über den Hof zur Straße läuft, um dort joggen zu gehen – sich gesund zu halten –, um frei zu sein für einen kurzen Augenblick und um dann wieder zurückzukehren in ihren eigenen goldenen Käfig.

Ich trete an den Spiegel heran, um die Decke wieder drüberzuwerfen, als mir neben dem Kleinkram, der mir hin und wieder gebracht wird, eine unscheinbare Notiz auffällt.

»Pass gut auf deine Schwester auf – C«.

Nur eine Zeile. Und ich weiß genau, von wem sie kommt. Dafür muss man kein Genie sein.

»Das ist doch Schwachsinn!« Mit einer aufgebrachten Bewegung wische ich über die Fläche des Tisches und fege dabei den gesamten Bestand zu Boden. Alles. Die Notiz. Stifte. Einen Block. Die Fläschchen. Pillendöschen. Das alte Musikabspielgerät – MP3-Player, glaube ich. Ein paar Schminkutensilien. Sogar die Haarbürste und meine Haarspangen. Und es fühlt sich für einen Moment gut an, einfach dabei zu schreien. Es rauszulassen und nicht einmal zu wissen, wieso genau in diesem Augenblick.

Klar wird mir das Ausmaß meines Ausrasters erst, als ich mich mit den Händen auf der Oberfläche unter mir abstütze und schwer atme. Den Blick hebe ich nur aus Reflex zum noch nicht komplett verdeckten Spiegel.

Das Mädchen, das mich aus der klaren Oberfläche heraus anschaut, erkenne ich nicht wieder, obwohl ich sie jeden Tag sehe. Wann bin ich nur so schwach geworden? … Vielleicht war ich es einfach schon immer.

Meine eigenen grünen Seelenspiegel blicken mir ohne Hoffnung entgegen. Überdruss steht darin geschrieben. Wo ist der Sinn im Leben, wenn man sich immer nur versteckt? Und dann noch vor sich selbst. … Es ist erbärmlich.

Ohne zu wissen, was ich nun tun soll, ziehe ich mit einem Ruck die Decke nach unten, um auch den Rest des verräterischen Glases zu verhängen.

»Was soll es noch?« Meine blaue Jacke hänge ich über den Stuhl, der eigentlich zum Tisch mit dem Spiegel gehört und doch beinahe auf der anderen Seite des Raumes steht, während ich das Bett ansteuere und noch einmal einen Blick nach draußen erhasche.

Der Himmel über der Kuppel ist dunkel. Keine Sterne wie in den Geschichten. Wir sehen sie nicht mehr. In Zeiten wie diesen wünschte ich, ich könnte sie sehen für einen kurzen Augenblick – ehe der Nebel unserer zerfallenden Welt alles wieder verhängt. Aber das ist Schwachsinn. Wunschdenken.

Erschlagen werfe ich mich auf das Bett und strecke meinen Arm in Richtung Beistelltisch aus, um die helle Nachttischlampe auszuknipsen.

Morgen ist auch noch ein Tag. Wenn auch ein Tag wie jeder andere, fürchte ich.

 

»Die Crain Corporation ist unsere Zukunft – Ihre Zukunft, meine Damen und Herren. Wir werden auferstehen aus unserer eigenen Asche, wie der Phönix es einst getan hätte, als die Träume noch existierten. Und ich sage Ihnen, sie existieren noch immer, Sie müssen sich nur trauen! Vertrauen Sie mir, Cole Crain, ihrem Retter in der Not. Und Sie werden ein …«

Ich drehe den Ton des Fernsehgerätes herunter und rolle genervt mit den Augen. Muss ich diesen Kerl wirklich jeden Tag ertragen? Ich wollte mir eine alte Sendung anschauen. Doch in jeder Unterbrechung sehe ich sein Gesicht.

Seufzend raffe ich mich auf, stelle die Flimmerkiste ab und verlasse mein Zimmer, um die nächstbeste Person – die zufällig einen weißen Kittel trägt – anzusprechen: »Hey, wissen Sie, wo Diane ist?«

Die zickige Diane oder auch Cruella de Vil genannt. Irgendwie ist es immer seltsam, sie freiwillig aufzusuchen … Als würde ich sie sehen wollen! Schlimm genug, dass sie überhaupt existiert und ich diesen Fakt nicht verdrängen kann.

Der Blick meines Gegenübers wirkt kalt und grausam, als er auf mich herabsieht wie auf ein ekliges Insekt.

»Solltest du nicht in deinem Zimmer bleiben? Ich denke, du hast Hausarrest«, sind seine monotonen Worte. Nur sein offensichtlicher Unmut schwingt darin mit.

Eine Antwort bleibt er mir damit wohl schuldig. Außerdem meint er auch eher Zimmerarrest. Denn Hausarrest habe ich schon mein Leben lang.

»Nicht mehr seit gestern Nachmittag. Also, wo könnte sie sein?« Meine Stimme bleibt mir bei dieser höflichen Frage beinahe im Hals stecken, allerdings kann ich mir diesen Widerwillen gerade nicht leisten, so reiße ich mich zusammen.

Ein Schnauben ist zu hören. »Miss Aubrey wird heute nicht zugegen sein. Was heißt, dass du in deinem Zimmer bleiben wirst. Glaube ja nicht, dass Mister Crain dich allein durch die Gänge streifen lässt, nachdem du vor Kurzem wieder versucht hast abzuhauen. Nimm dir mal ein Beispiel an deiner Schwester und tu, was man dir sagt«, meckert er. »Und wenn du mich nun entschuldigen würdest. … Ich habe noch zu tun.«

Mit diesen Worten packt er mich grob am Arm und zerrt mich bis zu meiner Zimmertür, wo er mich einfach wieder in den Raum schiebt.

»Was soll das? Ich will zu meiner Schwester!«, schreie ich ihn an. »Das ist nicht fair!«

»Das Leben ist nun mal nicht fair. Das müssen wir alle irgendwann lernen. Je früher, desto besser.«

Kaum atme ich ein zweites Mal, schiebt er mich bereits ein Stück weiter in den Raum, und die Tür wird vor meinen Augen geschlossen, ohne dass ich etwas dagegen tun könnte.

Abgeriegelt. Eingesperrt.

Einige Augenblicke starre ich die Barrikade vor meinen Augen an, während meine Gedanken sich überschlagen.

Dagegenhämmern bringt nichts, das weiß ich. Das – und meine Schreie – wird sowieso niemand hören, denn der Raum ist mittlerweile schalldicht, damit ich niemanden störe.

In der Vergangenheit haben mir Momente wie diese immer Tränen in die Augen getrieben. Das Alleinsein, Eingesperrtsein … Die Verzweiflung hat an mir genagt wie die Ratten an einer Leiche. Heute ist es anders. Denn nun stehe ich hier und zähle leise bis zwanzig.

Ich weiß, dass dieser Kerl ein Arzt war, denn in diesem Gang gibt es nichts. Und damit meine ich wirklich: gar nichts. Nur noch das Zimmer von Diane. Das meiner Schwester ist weit weg. So weit weg, dass wir uns nicht ständig über den Weg laufen können. Doch ihr Raum ist über diese Gänge zu erreichen. Daher weiß ich, dass dieser Mann vom Zimmer meiner Schwester in die Laboratorien will. Wahrscheinlich Ergebnisse auswerten und festhalten. Danach wird er vorerst nicht wiederkehren, wenn er seinen Mustern treu bleibt.

Es wird ihr nicht gut gehen, wenn man seine Laune bedenkt, doch das kenne ich kaum anders. Es ging ihr gestern Abend schon mies. Und die Ärzte werden immer so grantig, wenn es ihr augenscheinlich mal wieder schlechter geht. Mich behandeln diese Leute immer gleich: wie Dreck. Es ist also nicht neu für mich, dass ich von einem angefahren werde. Doch das ist nicht einmal das Wichtige an dieser Begegnung. Es ist die Information, die ich bekommen habe. Wenn Diane nicht hier ist, wird dieser Gang nämlich leer sein.

Ich blicke zur Seite auf meinen Schreibtisch. Dort liegt … nichts – dafür auf dem Boden. Mit einem leicht beschämten Gefühl gehe ich auf die Unordnung zu, die ich gestern fabriziert habe. Alles, was ich brauche, ist eine Haarspange.

Ich habe das zwar schon mehrmals gemacht, doch noch nie mit einer Haarspange. Nur ein Mal wurde ich erwischt. Das gab riesigen Ärger. Seitdem sind mir einige Dinge nicht mehr zugänglich, doch eine Haarspange sollte es auch tun. Zumindest habe ich das gelesen. So wie ich viele andere Dinge gelesen habe in all der Zeit. Denn das ist alles, was ich habe, seit ich hier bin: Zeit – und ausreichend Langeweile.

Es dauert einige Momente, doch ein paar ungewollte Stiche in die Hand und etwas mehr Fingerspitzengefühl später höre ich das leise Klicken, welches mich aufatmen lässt.

Einen Schritt vor den anderen setzend schlendere ich ungewohnt frei durch den Gang. Keine Ahnung, wieso, aber ich habe das Gefühl, heute wird ein guter Tag. Vielleicht kann ich einige Zeit mit Mel Quatsch machen, auch wenn sie wahrscheinlich mal wieder nicht aufstehen wird. Ihre Schwäche hält sie davon ab, doch das ist okay. Ich habe mich daran gewöhnt. Und daran, nicht so auszusehen, als würde ich mir die ganze Zeit Sorgen machen und sie bemitleiden. Sie hat das schon immer gehasst.

Mit einer Hand an der kühlen, weißen Wand entlangfahrend sehe ich mich um.

Stille. Keine Menschenseele …

Mels Zimmer ist nun nicht mehr als einen Katzensprung von mir entfernt. So grinse ich in mich hinein, als ich darauf zugehe, nach dem Türknauf greife, mit Schwung den Raum betrete und rufe: »Guten Morgen, Schlafmütze! Na, wie geht’s uns denn heute?«

 

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Chapter 2: Sleep Tight

 

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Einen Moment stehe ich regungslos im Raum, starre lediglich geradeaus. So lange, bis ich mich endlich zusammennehme, mir einen Ruck gebe und den Kopf schüttle.

»Was ist los?«, frage ich, als ich meine Schwester, die in ihrem Bett liegt, betrachte. Das Gesicht ist so blass wie die Wand – blasser als sonst. Selbst ihr Haar scheint heller geworden zu sein – heller als ihr eigentliches Blond. Im Licht noch sehr viel mehr als gestern Abend – nicht wie sonst. Sie sieht kaputt aus – mehr als sonst. So viel mehr als sonst.

War ich gestern nicht gut genug?

»Nichts ist los. … Und du solltest nicht hier sein, oder?«, entgegnet sie kraftlos.

Ich zucke unwillkürlich etwas zusammen. Ihre Worte kommen langsam. Schwach. Doch hören kann ich sie trotz allem genau. Verstehe jede Silbe. … Jede falsche Silbe. Schnell schließe ich die Tür und eile an ihre Seite.

»Ist doch vollkommen egal!«, werfe ich beharrlich ein, als ich an ihren Kommentar denke, der gerade so fehl am Platz wirkt, ehe ich nach einer ihrer Hände greife. »Was ist?«

»Ich sagte doch: Nichts ist los. Schon gut!«

Der Schatten eines Lächelns ziert die farblosen, noch immer trockenen Lippen. Die dunklen Ringe um ihre müden Augen verdecken das glückliche Leuchten, das ich sonst so oft in ihnen gesehen habe, wenn meine Schwester gelächelt hat.

»Stimmt nicht!« Hier ist absolut gar nichts gut, so viel ist sicher. »Ich muss dir helfen! Komm schon …«

Ihre Hand in meiner fühlt sich ausgesprochen kalt an. Unnatürlich. Tot.

Was für ein blödsinniger Einfall! … Wie komme ich auf so etwas? Der Gedanke jagt mir eine eiserne Gänsehaut über den Rücken, doch ich widerstehe dem Drang, mich zu schütteln, um dem unangenehmen Gefühl entgegenzuwirken. Lasse mir nichts anmerken.

»Ich muss dir etwas sagen …«

Eine etwas kratzige Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Erst als ich wieder zu ihr sehe, bemerke ich, dass ich den Blick gesenkt hatte, und ich versuche mich an einem beruhigenden Lächeln.

»Nicht jetzt! Später …«, rede ich ihr sogleich ins Gewissen. Doch keine Chance, sie unterbricht mich bereits.

»Nein, jetzt. Es muss jetzt sein.«

Meine eigene Stimme mag nicht kratzig klingen, doch ist sie nicht minder schwach, als ich frage: »Wieso?«

Das Lächeln, sollte es je da gewesen sein, wankt nun mit Sicherheit.

»Das weißt du genau.« Leicht schüttelt sie den Kopf und schließt die Augen.

Der Moment scheint so lange anzudauern, dass ich für einen quälenden Augenblick eine Stimme in meinem Kopf höre wie ein dumpfes Hämmern. Eine Stimme, die mir sagt, dass sie die Lider nicht mehr aufschlagen wird. Eine Stimme, die ich nicht hören will. Aber dann – es lag möglicherweise nur ein Wimpernschlag dazwischen, der sich jedoch wie ein Jahrtausend anfühlte – sieht sie mich erneut an.

»Eigentlich haben wir es immer gewusst. Früher oder später … Wir würden hier sein. Zusammen.«

»Nicht in dieser Situation!«, erwidere ich etwas energischer als gewollt und greife nun auch nach ihrer anderen Hand, ehe ich mich weiter zu ihr lehne.

Meine Augen brennen. Dennoch versuche ich, mich zu konzentrieren. Ich kann das schaffen, ich weiß es.

Allerdings kommt es nicht dazu.

»Lass es …«, flüstert sie. »Es ist gut so.«

»Inwiefern?«, lautet mein tonloser Ansatz, während letztlich doch eine erste Träne über meine Wange kullert. In diesem einen Wort stecken nicht viele Buchstaben, doch viele Fragen. So viele Emotionen. Und so viele verzweifelte Gedanken.

»Wenn ich nicht mehr hier bin, dann … bist du frei.« Ihr Lächeln wird ein wenig fröhlicher, soweit das überhaupt möglich ist. »Wie ein Vogel. Einfach … frei. Dann kannst du endlich … fliegen.«

Ich schüttle nur den Kopf. Weitere Tränen fließen, die ich weder stoppen kann noch will. Denn ich weiß ganz genau, wie die Wahrheit aussieht.

»Das ist doch Blödsinn! Wenn hier jemand dem anderen ein Klotz am Bein war, dann war ich das! Wäre ich nicht gewesen, dann …« Für einen Augenblick halte ich inne. »Dann hättest du längst abhauen können. Du hättest frei sein können. Du hättest leben können.«

Auf meinen Einwand folgt eine seltsame Pause. Die Rastlosigkeit der Atmosphäre, die dennoch wie eine schwere Decke über uns beiden hängt, verwirrt mich zunehmend. Ist es doch meine kleine Schwester, die gerade so ertappt aussieht und nicht zu wissen scheint, was sie entgegnen soll.

»Nein, das ist es nicht! … Der Grund, warum ich blieb …«

Leicht unsicher und auch perplex sehe ich sie an und frage: »Wie meinst du das? Du hättest doch immer gehen können. Doch du kamst wieder. Immer wieder … Wieso?«

War es etwa nicht, weil ich dann vielleicht nichts mehr wert gewesen wäre und sie mich getötet hätten?

Diesen Satz kann ich nicht laut aussprechen.

Vielleicht habe ich meinen Wert überschätzt. Es war doch klar, dass ich nicht der Grund gewesen sein kann. Also warum fühle ich mich in diesem Moment so leer?

»Nein«, kommt es jäh vor ihr. »So war es nun auch nicht. … Du warst mir in jeder Sekunde meines Lebens unheimlich wichtig, daran darfst du niemals zweifeln. … Doch der wahre Grund …, der ist groß …« Ein plötzlicher Hustenanfall unterbricht ihren Satz und lässt mich zusammenzucken, ehe ich ihre Hände loslasse und nach ihren Schultern greife, um ihr aufzuhelfen.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie krümmt sich, und das Husten wirkt so hart, als käme gleich ihre Lunge mit heraus.

Es scheint, als würde mein Herz aussetzen – so lange, bis ich ein schwaches, geröcheltes »Geht schon wieder …« vernehme und sie zurück in die Kissen sinkt. Danach herrscht für einige Zeit Stille. Nur ihr schweres Atmen, welches durch den Raum hallt, ist noch zu hören.

»Also gut«, sage ich schließlich. »Wenn ich nicht der große Grund war, was war es dann?«

»Ich wusste, dass ich irgendwann dieses Gespräch führen werde. … Es ist wichtig. Größer als wir, Sam …« Fahrig sieht sie sich im Zimmer um. »Bitte, bring mir meine Jacke …«

Unbeholfen sehe ich mich im Raum um, ehe ich bemerke, dass Mel schwach mit ihrem Finger auf etwas zeigt, und erkenne die Jacke über ihrem Stuhl. Die rote Jacke, die auch ich habe – in Blau. Die rote Jacke, mit der sie immer joggen geht.

Langsam richte ich mich auf und greife danach.

»Diese? Was ist denn damit? Was ist so wichtig daran?« Gerade jetzt, in diesem Moment …

»Sieh in die Tasche! … Die linke Tasche.«

Gesagt – getan. Mit einer Hand schlüpfe ich in das kleine Säckchen aus rotem Stoff, bis ich etwas Hartes erfühle. Vorsichtig ziehe ich es heraus.

»Ein Handy? …Woher hast du das?«

Ein Relikt aus alter Zeit. Aber einige haben noch Mobiltelefone. Die Kuppel sorgt dafür, dass wir Empfang haben. Ich selbst habe keins. Auch bei Melissa kann ich mir keinen Reim darauf machen. Wen sollte sie schon anrufen? … Den Weihnachtsmann?

»Crain … Er hat es mir gegeben, als ich ihn danach fragte.«

Anscheinend versucht sie zu lachen. Leider kommt es nur halb bei mir an.

»Ich gab vor, dass ich es für Anrufe an ihn brauche. … Und um mich irgendwie … normaler zu fühlen.«

Mit jedem Wort, das sie spricht, wird sie langsamer. Kraftloser. Stiller.

Ich versuche die Schwere auf meiner Brust zu ignorieren, als mir die mittlerweile beinahe getrockneten Tränen auf meinen Wangen wieder schmerzlich bewusst werden und ich sie schnell mit einem Ärmel abwische.

»Okay. Also hattest du ein Handy. Na und? Wir werden dich jetzt erst mal wieder auf die Beine bringen, alles klar?«

»Nein«, versucht sie es mit Nachdruck, doch ich bin schon wieder an ihrer Seite.

»Wieso nicht?« Ich könnte es doch! … Bestimmt!

»Es würde dir nur ebenfalls schaden. Das ist es nicht wert.«

»Das kannst du doch nicht …«

»Und ob ich das wissen kann. … Es ist wie … in den Geschichten, die wir zusammen gelesen haben. Wenn die Menschen wussten …, dass es für sie Zeit wird. Vertrau mir …«

Schon in den Geschichten hielt ich dies für unglaubwürdig.

»Als ob das wirklich möglich wäre!« Schnell stecke ich das Handy zurück und setze ich mich neben sie. »Ich kann es zumindest versuchen. … Warum nicht? Komm schon!«

Ich weiß, ich könnte auch einfach versuchen sie zu heilen, ohne ihre Zustimmung dafür zu haben. Doch die Wahrheit ist … Etwas hält mich ab. Eine Stimme in meinem Inneren, die ich am liebsten nicht hören würde. Wieder!

»Melissa! Du bist doch … noch in Ordnung. Das kriegen wir wieder hin! Wie kannst du bitte so reden?«

»Sam …, das hier ist nicht …«

Einen Moment herrscht erneut Stille. Sie scheint regelrecht um ihre folgenden Worte zu ringen.

»Es ist nicht wie eine Krankheit. … Es ist … so viel mehr.«

»Na und?«

»Wenn ich einschlafe …, ist es vorbei. Mein Leben … Heute. Es ist einfach … verbraucht, verstehst du?«

»Aber du bist doch …« Keine Ahnung. So lebendig? Ich meine, ja, sie sieht heute furchtbar aus. Doch wieso sollte sie deshalb gleich …? So schlimm ist es doch noch nicht. Oder?

»Sam?«, murmelt sie, diesmal jedoch mit einem fragenden Unterton, und ergreift langsam meine Hand – vielleicht ist sie auch einfach zu müde, um sie schneller zu erfassen. »Sag …, wirst du bleiben? Nur einen Moment noch …«

»So lange, wie du willst«, antworte ich trotz all meiner Gefühle. Trotz allem, was mich dazu bringen müsste, ihr auf der Stelle helfen zu wollen. Und trotz jeder Faser in mir, die mir zuflüstert, dass es dafür längst zu spät ist.

So lege ich mich einfach neben sie. Nehme sie in den Arm, wie eine große Schwester es tun sollte.

Vielleicht war ich ihr nie eine besondere Hilfe oder Stütze. Doch auch mir ist klar, dass das hier das letzte Mal sein wird, dass ich die Chance bekomme, dies zu revidieren. Dass ich ihr zumindest ein einziges Mal Halt geben kann, wenn sie ihn braucht.

Es vergehen einige Minuten, in denen ich mich frage, wann wieder jemand diesen Raum aufsuchen und mich dann hinauswerfen wird. Ich von ihr weggezerrt werde. Weil auch ihnen klar wird, dass ich ihr nicht mehr helfen kann. Doch ich sage nichts dazu. Blicke nur starr vor mich hin.

»Weißt du …, es gibt Dinge, die du noch erfahren musst«, ist das Erste, das die seit einigen Momenten anhaltende Stille durchbricht.

»Was denn?«, frage ich, während ich weiter geradeaus starre. Zur Wand. Nicht einen Blick in ihre Richtung riskierend.

»Das Handy …«, beginnt sie. Ihre Stimme verschwindet beinahe. Wird mit jedem Ton leiser. »Du musst unbedingt hineinsehen.«

»Okay«, erwidere ich tonlos. Gar apathisch.

»Es … ist sehr wichtig. … Verschwinde von hier!«

»Okay«, wiederhole ich monoton.

Und wieder liegen wir dort, ohne einen Mucks zu machen. Bis die Glocken zu schlagen beginnen.

Ich kann die Ruhe neben mir spüren. Die Atmung wahrnehmen, die immer schwächer wird.

Die Turmuhr, die sich im selben Gebäude befindet, zeigt unterdessen an, dass wir zwölf Uhr mittags haben. Wie sie es jeden Tag tut – als wäre heute alles wie immer.

So verbleibe ich stumm und lausche. Lausche der Uhr. Dem langsam versiegenden Röcheln. Registriere die abklingenden Bewegungen. Bis zum letzten Glockenschlag.

Wie gelähmt erhebe ich mich dann von der Matratze. Mache das Bett. Lege meine Schwester ordentlich hin. Bedecke sie wie bei einer Totenwache. Ich kenne diese zwar nur aus Büchern oder Filmen, doch das macht nichts.

Der Anblick ihrer leblosen Gestalt fühlt sich einmal mehr leer in mir an. Schmerz, der ausbleibt. Gefühle, die ich nicht verstehe. … Ich habe noch nie jemanden verloren. Auf der anderen Seite hatte ich auch noch nie einen anderen Menschen als Melissa.

Es mag komisch klingen, doch sie war meine Welt. Und nun ist sie nicht mehr da. Auch weiß ich nicht, was nun aus mir werden wird. Ich bin mir jedenfalls sicher, nicht freigelassen zu werden. Nein. Sie werden mich nur nicht mehr brauchen. Vermutlich ende ich als Versuchskaninchen. Oder sie werden mich einfach so irgendwie los. Es ist mir ohnehin egal.

Früher habe ich immer gedacht, ich bleibe, damit Mel es leichter hat. Später wollte ich fliehen, weil ich dachte, dann könnte sie es auch. Dann wäre sie von mir befreit. Nun weiß ich, dass ich nicht der Grund war. Dass ich es nie gewesen bin. … Dabei fällt mir auch wieder ein, dass sie noch etwas sagte. Mein Verstand kann es jedoch nicht abrufen. Es will mir einfach nicht in den Sinn kommen. Ihre letzten Worte … Das Wichtigste, das ich je hörte – und jemals hören werde. Wie kann es sein, dass ich mich nicht erinnere?

Leise fallen Tränen bereits seit einiger Zeit. Meine Augen schmerzen, doch ich kann mich nicht rühren. Kann nicht recht hinsehen, aber auch nicht wegschauen.

Ich muss mich von ihr verabschieden, sie zurücklassen. Egal wohin ich jetzt gehe und wie mein weiterer Weg aussehen mag. … So betrachte ich sie zum letzten Mal. So lange, bis meine Sicht es nicht mehr zulässt, da meine Augen nur noch verschwommene Umrisse ausmachen. So lange, bis ich mich langsam abwende, nach ihrer roten Jacke greife und auf die Tür zugehe, einer unbestimmten Zukunft entgegen.

Sie werden mich auf dem Gang vermutlich abpassen. Wegschleppen. … Ja, so unbestimmt ist meine Zukunft eigentlich nicht, wenn man es genau bedenkt. Nur die Frage, ob ich gleich sterbe oder als Testobjekt vor mich hin vegetiere, stellt sich noch. Im Moment macht es mir keine Angst. Es tut nicht weh und macht mich auch nicht nervös. Ich fühle … nichts.

Meine Füße tragen mich durch den leeren Korridor, den ich noch vor Kurzem fröhlich durchschritten habe auf dem Weg zu meiner zweiten Hälfte. Der Hälfte, die jetzt nicht mehr ist.

Wer bin ich nun?

Eine Frage, die ich nie beantworten konnte. Und kaum war ich der Antwort so nah wie nie, entschwand sie mir wieder.

Wenn Melissa am Leben zu erhalten der Grund für meine Existenz war … Bin ich nun endgültig das Nichts? Zu gar nichts mehr zu gebrauchen?

Ich will es nicht glauben.

In meinen Gedanken versunken umklammere ich das bereits fast vergessene Stück Stoff fester.

Was nun?

Erst immer lauter werdende Schritte und schließlich eine große Gestalt, die sich genau in mein Blickfeld schiebt, lassen mich wirklich wach werden.

Das Herz in meiner Brust setzt aus, als ich das dazugehörige Gesicht verinnerliche.

»Hey, was machst du hier draußen?«, fragt ein mir nur allzu bekannter Mann und betrachtet mich mit einem Blick, den ich nicht zuzuordnen wage.

Jetzt ist das Spiel wohl vorbei.

 

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Chapter 3: All Alone

 

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Ich weiß nicht, was von jetzt an sein wird. Was nun ist. Was ich tun soll – so ganz allein.

Doch alles, was ich in dieser Sekunde weiß, ist, dass alles, was ich zuvor dachte, Blödsinn ist.

Der Gedanke mag dumm erscheinen, da es nicht lange her ist, da glaubte ich noch, dass es mir egal sei. Aber das ist es nicht. Das ist mir jetzt klar, in diesem Moment. Ich stehe vor vollendeten Tatsachen und weiß nicht, was ich tun soll.

Ich will frei sein. Nur ein Mal in meinem Leben.

Wenn ich mich jetzt von ihm mitnehmen lasse, dann …

»Also?«, hakt er nach.

Irgendwas an seinem Verhalten ist seltsam. Nicht wie sonst. Ich kann es allerdings nicht einordnen. Immerhin habe ich selten mit Crain gesprochen. Meist hat er sich nur mit Mel unterhalten.

Nicht recht wissend, was ich sagen soll, bleibt mir jeder Ton im Hals stecken, als ich den Mund öffne und mich zu äußern versuche.

Und dann, als könne es nicht noch skurriler werden, beginnt er zu lachen – schallend. Gut aufgelegt. Es wirkt beinahe so fehl am Platz wie eine blühende Blume in der Dead Zone. Nicht nur weil ich meine Schwester vor wenigen Minuten habe sterben sehen. … Nein, auch weil er es ist. Weil es Cole Crain ist, der mich anlacht.

Ist das irgendein krankes Spiel von ihm?

Aus irgendeinem Grund bin ich geneigt zu glauben, es sei nicht so. Doch irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Und zwar gewaltig.

»Der Arzt, der heute Morgen bei dir war, sagte mir, dass es dir nicht gut gehe. ›Wirklich verdammt schlecht‹ waren seine genauen Worte. Dass du aber deine Schwester nicht sehen wolltest. Ich dachte, ich komme mal vorbei und sehe nach dem Rechten«, erklärt er und mustert mich. »Der gute Doktor hat wohl maßlos übertrieben. Du siehst doch blendend aus. Gut, deine Augen sind ein wenig rot, aber ansonsten …«

»Was?«, ist alles, was ich etwas verwirrt äußern kann, nachdem ich ihn einige Sekunden nur angestarrt habe.

Ich verstehe kein Wort, das aus seinem Mund kommt – als würde er eine andere Sprache sprechen. Es will einfach keinen Sinn ergeben, obwohl es so einfach scheint.

»Na ja, du möchtest sicher ein wenig frische Luft schnappen. Doch wenn du joggen gehst, solltest du die Jacke lieber anziehen, anstatt sie bloß in der Hand zu halten. Wir wollen doch nicht, dass du krank wirst, oder?«

Er zwinkert mir zu, und ich zucke unwillkürlich etwas zusammen, denn jede Zelle meines Körpers schreit danach, ihn zu schlagen für das, was er Melissa angetan hat. Und zu weinen, weil er nicht einmal erkennt, dass eine andere vor ihm steht, obwohl Mel seine Lebensenergie war …

Nichts davon tritt jedoch nach außen. Ich verbleibe wie eine Porzellanpuppe: stumm.

Ein Teil von mir weiß, was nun geschehen wird. Weiß, dass er vermutlich annimmt, dass ich – Samantha – in meinem Zimmer eingesperrt sei. Und er glaubt, Melissa gehe es gut. Doch irgendwann wird er ihr Zimmer betreten. Und dann wird er es merken. Er wird sie sehen …

So habe ich nur diese Chance. Diese eine Gelegenheit – auch wenn es sich noch so falsch anfühlen mag.

»Aber sicher doch …, Vater«, presse ich heraus. Versuche, es so unscheinbar wie möglich klingen zu lassen, obwohl ich besonders das letzte Wort am liebsten ausgespuckt hätte.

Von ihm sehe ich nur ein Lächeln.

»Sehr schön. Viel Spaß, mein Schatz.«

Mir wird übel. Richtig übel. So gern würde ich ihm nun auf die Schuhe kotzen und noch viele andere Dinge tun, doch ich kann nicht, denn ich weiß, was die Folge wäre. So lächle ich ihm noch einmal zu und gehe dann an ihm vorbei, während ich Melissas Jacke überstreife.

Meine heute offenen Haare, die vom Zopf noch leicht wellig sind, schiebe ich währenddessen nach vorn. So, wie sie es immer tat, wenn sie sie anzog.

Die rote Jacke meiner Schwester mit dem kaum merklichen Gewicht eines Handys in einer der Taschen …

Erst in diesem Moment wird mir wieder klar, was das Letzte war, das sie zu mir sagte. Und komme, was wolle, ich werde dem nachkommen. Ich werde herausfinden, was so wichtig war, dass sie ihre Freiheit dafür opferte. Zu diesem Zweck werde ich von hier verschwinden, wie sie mir geraten hat.

Meine Schritte führen mich weiter den Gang entlang – es ist ein Gefühl, als würde ich schweben, denn mein Körper scheint leicht, beinahe schwerelos –, die Treppen hinab und schließlich zu einer großen Tür. Die Tür, die ich schon viele Jahre nicht mehr durchschritten habe. Es fehlt jedoch noch ein Stück, ehe ich endlich durchatmen kann.

Der Weg über den Hof ist auf seine Weise seltsam. Überall Kameras! Jeder Schritt bringt mich zwar näher an die Freiheit, doch wird jeder dieser Schritte beobachtet. Und jeder schiefe Blick jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken.

Wurde ich erkannt?

All die roten, kleinen Lichter. Diese zusätzlichen Augen …

Mein Puls rast. Die Augen zucken unruhig von einer Seite zur anderen, nur um dann wieder am Boden zu kleben.

Bloß nicht zu sehr auffallen …

Alles hier erscheint bedrohlich. Wirkt, als würde ich genau unter die Lupe genommen. Als wüssten alle, was ich hier gerade tu. Selbst die Arbeiter, die mich nur mäßig wahrnehmen und doch so scheinen, als würden sie meine Bewegungen auf das Genaueste analysieren …

Mein Hals ist wie zugeschnürt, als ich das kalte Pflaster überquere. Auch meine Lungen wollen sich noch immer partout nicht mit Sauerstoff füllen.

Trotz allem versuche ich, nach außen hin nicht zu nervös zu wirken. Mich so zu verhalten, wie Mel es in diesem Moment getan hätte. Wie sie es immer getan hat, wenn ich sie von meinem Fenster aus beobachten konnte. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass ich sie je nachahmen müsste. Jede ihrer Bewegungen scheint plötzlich so fremd.

Verhalte ich mich natürlich? Wirke ich zu steif? Fällt es jemandem auf? Und wie lange wird es noch dauern, bis eine Person mein Zimmer oder gar das meiner Schwester betritt und die grausame Wahrheit erfährt?

Endlich erreiche ich das nordwestliche Tor, welches eigentlich so nah ist und doch immer so fern wirkte.

Nervös muss ich um jeden Atemzug ringen, doch einer der Männer nickt mir zu und betätigt den Knopf, der mir die Pforte öffnen soll.

Das monotone Alarmsignal, das ebenjene Aktion hinterlegt und welches ich von meinem Fenster aus ein paarmal leise wahrnahm, dröhnt mir hier direkt in die Ohren. Es lässt mich beinahe bis auf die Knochen erzittern, als ich mit einer ausgewachsenen Gänsehaut am Körper wieder zum Joggen ansetze, um endlich diese verfluchte Anstalt zu verlassen. So verabschiede ich mich im Geiste von dem Tower, den ich hoffentlich nie wieder von innen sehen muss.

 

Allein streife ich durch die Straßen. Hier war ich noch nie. Die Gebäude sehen fast so aus wie in den Filmen. In der Realität allerdings wirken sie beängstigend.

Die Luft ist kühl. Es ist bereits spät am Abend. Dunkel. Keine Sterne am Himmel, doch das ist normal. Sie fehlen trotzdem in dem Bild, das ich von einer Stadt habe.

Wenn es nur nicht so kalt wäre …

Ein Problem ist, dass ich nur theoretisch weiß, wie Riven aufgebaut ist. Ich weiß es aus dem Fernsehen und von Karten aus der Bibliothek. Das heißt, ich weiß eigentlich nicht, wo ich bin. Nachdem ich das Tor passiert hatte, bin ich einfach losgerannt. Ich bin gerannt wie der Teufel, um aus Eve’s Garden herauszukommen.

Seit ich draußen bin – und das sind nun schon einige Stunden – habe ich nur Menschen, die aus einfachen Verhältnissen kommen, gesehen. Außerdem kann ich den Cold Creek nirgends entdecken. Ich bin also vermutlich im Black Meadow unterwegs. Doch auch diese Erkenntnis grenzt das Ganze lediglich auf die westliche Hälfte unserer kleinen Welt ein.

Als ich mich umsehe, erkenne ich Straßenschilder. Neben mir steht schwarz auf weiß: »Cornwall Street«. Offensichtlich eine etwas größere Straße.

Aus Überdruss an meiner Ratlosigkeit gehe ich nach rechts in eine der Abzweigungen, bis ich auch dort eine Kennung sehe: »Sandover Heights«.

Ich seufze, als ich mich umsehe. Nichts davon habe ich je zuvor gehört. Dazu bin ich allein hier. Ich weiß nicht, was ich tun oder wo ich hingehen, geschweige denn, wo ich heute Nacht schlafen soll …

»Hey, Miss«, vernehme ich eine dunkle Stimme, die mich zusammenzucken lässt, ehe ich mich zu ihr herumdrehe, denn schon seit einer Weile war mir auf meinem Weg keine müde Seele mehr begegnet.

Jetzt sehe ich einen Mann. Er kommt auf mich zu, die Schuhe schwer über das harte, synthetische Kopfsteinpflaster schleppend. Es ist ein groß gewachsener Kerl in schwarzer Kutte, der unstet in meine Richtung wankt. Betrunken? Ich kann es nicht sagen. Auch diesen Zustand kenne ich nicht aus erster Hand. Allerdings habe ich gehört, dass Alkohol wirklich teuer ist. Im Black Meadow kann man sich den bestimmt nicht leisten. … Oder doch?

»Kann ich Ihnen helfen?«, frage ich also stark verspätet und sehe ihn mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen an.

Er wirkt ungepflegt. Die Kleidung ist schmutzig und stinkt. In seinem Gesicht erkenne ich dunkle Schlieren – Ruß oder anderer Dreck. Und als er die etwas ergrauten, aufgeplatzten Lippen zu einem unangenehmen, breiten Grinsen verzieht, geben sie im fahlen Licht der vereinzelt aufgestellten Laternen seine faulenden Zähne preis.

»Wie ist Ihr Name?«, lallt er etwas unbeholfen und zieht die Worte dabei auffallend in die Länge. Kichert ein wenig.

Vielleicht ist es wirklich Alkohol. Oder einfach Frischluftmangel – ein Krankheitsbild, das es hier öfter geben soll.

Eigentlich sollte man nicht mit Leuten sprechen, die man nicht kennt, habe ich mal gehört – oder gelesen. Und den Namen einem wildfremden Menschen verraten, wenn man gerade nicht auffallen sollte …?

»Sam«, antworte ich dennoch zögerlich und wider besseren Wissens. »Samantha Wheeler.«

Sogleich werde ich dafür bestraft, denn der Mann beginnt zu lachen, wobei er mir stoßweise seinen gestauten Atem entgegenbläst. Der Gestank, der sich dadurch zunehmend verbreitet, droht meine Nebenhöhlen zu verätzen. Anmerken lasse ich mir diese Qualen jedoch nicht.

»Das ist witzig, weil …«, sagt er weiterhin träge lallend. »… ich deinen Namen kenne. Und er lautet nicht Sam.«

Vorsichtig trete ich einen Schritt zurück. Dann noch einen.

»Wie kommen Sie auf diese Idee?«, entgegne ich nervös, aber so klar wie möglich.

»Ich habe dich auf einer Art Suchplakat gesehen.« Wieder kichert er.

Das ist der Moment, in dem ich mit Entsetzen begreife, worum es hier eigentlich geht.

Erschrocken drehe ich mich um und renne los. Mein Instinkt sagt mir, dass ich verschwinden muss. Daher laufe ich einfach, so schnell ich kann, erst mal die Straße entlang.

Wo bin ich? Keine Ahnung. Doch ich laufe, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter mir her. Und sollte diese Steckbrief-Geschichte von meinem alten Freund Crain ausgehen, woran ich ehrlich gesagt keine Sekunde zweifle, dann ist der Vergleich nicht einmal allzu fern von der Wahrheit.

Nach einigen Minuten komme ich in irgendeiner Gasse wieder zum Stehen. Alles sieht gleich aus. Die Wände sind schwarz von der Dunkelheit, grau und trist auch da, wo das schwache Licht der Straßenlaternen sie noch erreichen kann. Sie sind nur aus gesteinsähnlichem Material. Finster und kalt. So wie dieser ganze Ort mir erscheint.

Würde es Sinn machen, um Hilfe zu rufen? Vorstellen kann ich es mir nicht. Immerhin kenne ich niemanden, den ich um Hilfe bitten könnte. Genauso wenig weiß ich, wie viele Leute noch einen Blick auf meinen Steckbrief geworfen haben.

Ein paar Schritte aus der Sackgasse heraustretend sehe ich mich um. Hier bin ich tatsächlich mutterseelenallein.

Wie war das vorhin? Er sagte, es gäbe einen Steckbrief und mein Name sei nicht Sam. Nicht Sam …

Kopfschüttelnd vergewissere ich mich, dass wirklich niemand hier ist. Dann greife ich in die Jackentasche, berge das kleine elektronische Gerät und schalte es ein.

Es ist mit einer PIN gesichert!

Wieso sagte sie mir, ich solle in ihr Handy sehen, wenn ich es gar nicht einsehen kann?

Auf der anderen Seite … Mel lag im Sterben. Ich wollte kaum noch zuhören. Vielleicht habe ich es nicht registriert. Oder sie hat nicht mehr daran gedacht.

Ein Seufzen dringt aus meiner Kehle, als ich es wieder ausschalte und wegstecke. Dann schließe ich kurz die Augen.

In diesem Moment spüre ich überraschend einen heftigen Schmerz in meiner Seite, ehe ich mit Wucht auf dem Pflaster aufschlage.

Für mehrere Sekunden bin ich blind und taub. Das Klingeln in meinen Ohren wie auch der Schmerz lähmt meine Bewegungen und meine Wahrnehmung.

Erst zwei starke Arme, die mich packen und nach oben reißen, nehme ich wieder wirklich wahr.

»Was … willst du?«, presse ich mühsam hervor, als ich die Augen öffne und versuche, die kleinen weißen Punkte, die in meinem Sichtfeld tanzen, wegzublinzeln, um den Mann vor mir deutlicher sehen zu können.

Es ist nicht der von zuvor. Sieht aber auch nicht viel anders aus. Besonders nicht gepflegter.

»Was ich will? … Dich, Schätzchen! Papi sucht dich schon überall«, erklärt er lachend und hält mir einen Fetzen Papier vors Gesicht.

Auf diesem Papier ist mein Gesicht – wie der Mann vorhin gesagt hatte. Doch dort steht tatsächlich nicht mein Name. Nein! Dort steht: »Melissa Crain«.

Für einige Momente starre ich dieses Blatt Papier an, ohne mich einen Deut für meine Situation zu interessieren.

Dieser Name, der weder meiner noch der meiner Schwester ist … Ihr Name ist – war – nicht Crain, sondern Wheeler.

Unser Vater war Jonathan Wheeler, und er war ein ehrlicher Bergarbeiter gewesen! Ein guter Mann, das weiß ich, auch wenn ich ihn nicht persönlich kennenlernen konnte.

Ich kann nicht zulassen, dass dieser Crain auch noch das letzte bisschen Familie beschmutzt, das wir je hatten!

In meinen Augen sammeln sich Tränen, als ich den Preis sehe. Für ihn ist das nichts, aber für die Menschen hier … Sie werden mich jagen. Und ich bin allein.

Ich weiß nicht, ob es mich mehr anwidert, dass er mich gerade teuer genug gemacht hat, um diesen erbärmlich lebenden Menschen einen Anreiz zu geben, sich an meine Fersen zu heften, oder dass ich ihm nicht genug wert war. Die gewählte Summe würde ihn nicht auch nur im Entferntesten kratzen. Außerdem ärgert mich, dass er meinen Namen geändert hat, womit er mich ausgerechnet als seine Tochter ausgibt.