BERNARDO TEIXEIRA

 

 

Blumen für den Henker

 

 

 

Roman

 

Apex Horror, Band 29

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

BLUMEN FÜR DEN HENKER 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

Siebenundzwanzigstes Kapitel 

Achtundzwanzigstes Kapitel 

Neunundzwanzigstes Kapitel 

Dreißigstes Kapitel 

Einunddreißigstes Kapitel 

 

Das Buch

 

Raoul de Remillon ist ein junger, erfolgreicher Architekt mit einem riesigen Vermögen im Hintergrund, das ihm seinen aufwendigen Lebensstil ermöglicht. Die ganze Welt steht ihm offen - bis er schließlich Cassandra kennenlernt. Niemand weiß, woher die geheimnisvolle, schöne Frau kommt. Doch Raoul verfällt ihr sofort. Er hat plötzlich keine Kraft, keinen eigenen Willen mehr. Nach jeder Liebesnacht wird seine Abhängigkeit von Cassandra stärker, obwohl er genau weiß, dass sie ihn eines Tages vernichten wird...

 

Blumen für den Henker von Bernardo Teixeira, erstmals im Jahr 1982 erschienen, gilt als moderner Klassiker des Hexen-Romans – und ist darüber hinaus ein unglaublich dicht geschriebenes Meisterwerk der Horror-Literatur.

Der Apex-Verlag veröffentlicht Blumen für den Henker als durchgesehene Neuausgabe in seiner Reihe APEX HORROR. 

BLUMEN FÜR DEN HENKER

 

 

 

  »Ich hatte noch nie so viel Zärtlichkeit, so viel Wärme und zugleich so viel Qual im Körper einer Frau erlebt, die sich mir hingab. Ich hatte noch niemals so viel Lust gefunden... Und ich war noch niemals so sicher gewesen, dass als Preis für diese Lust sich das Verderben nahte.« 

 

»Nichts in ihrem Gesicht wies auf Böses hin, und doch war das Böse da und umgab uns. Ich wusste es. Sie hatte meinen Geist und zugleich mein Fleisch versklavt.« 

 

»Dieses Böse, was immer es auch war, hat wahrscheinlich meine Schwester in Washington und beinahe auch unsere Mutter getötet. Dieses Böse tötete höchstwahrscheinlich auch meine Großmutter vor vielen Jahren in St. Moritz.«

 

»Der starke Hass auf sie und das noch stärkere Verlangen nach ihr rissen mein Herz in Fetzen. Ich wünschte so sehr, sie Zusehen und zu berühren, und zugleich wünschte ich, ich hätte die Macht, sie zu vernichten...«

 

»Ich war besessen, das wusste ich.«

 

Chi cerca mal, mal trova. 

Wer nach dem Bösen sucht, wird es auch finden.

(Italienisches Sprichwort)

 

A tard crie I'oiseau quand il est pris.

Zu spät schreit der Vogel, wenn er gefangen ist.

(Französisches Sprichwort) 

  Erstes Kapitel

 

 

Der wichtigste Mensch in meinem Leben war meine bezaubernde junge Halbschwester Claudine. Ich liebte sie. Meine Liebe war sicherlich nicht rein brüderlich, aber sie zielte auch nicht unbedingt auf körperliche Erfüllung. Wir waren ineinander verliebt, seit sie ein Kind war. Doch falls das bei zwei eigentlich sehr sinnlich veranlagten Menschen möglich ist, war unsere Liebe eher ein ständiges geistiges Verlangen füreinander. Es kann aber sein, dass ihre Gefühle für mich nicht so erhaben waren, weniger wolkenstürmerisch, eben normaler. Wenn ich heute zurückblicke auf die schrecklichen Ereignisse, die sie mir geraubt haben, frage ich mich oft, ob es nicht gerade der platonische Charakter meiner Liebe war, der sie so gefährlich nah zu Cassandra getrieben hatte. Cassandra war für sie die Versuchung des Fleisches, zumindest am Anfang. Aber das ist bloße Spekulation. Claudine war damals erst achtzehn, ziemlich reif für ihr Alter, aber doch noch leicht zu beeindrucken wie ein Kind.

Das Auftauchen jenes geheimnisvollen, rätselhaften Wesens Celeste war das Gefahrensignal gewesen, aber ich erkannte es damals nicht. Zwar spürte ich es, aber es gab nichts, was ich dagegen tun konnte.

Doch ich greife der Geschichte vor. Es begann alles im August 1977, an der Algarve im Süden Portugals. Claudine, zehn Jahre jünger als ich, war aus Paris gekommen, um den ganzen Monat bei mir zu verbringen. Ich arbeitete an der Algarveküste als Architekt (ich gab vor, als Architekt zu arbeiten, wäre wohl eine bessere Beschreibung gewesen). Claudine hatte gerade das Lyzeum in Paris abgeschlossen und wollte im Herbst am Mount Vernon College in Washington mit dem Studium beginnen. Ihr Vater, Leon d’Harcourt, war Legationsrat an der dortigen französischen Botschaft. Ihre Mutter, Gisella d’Harcourt, (geborene Borghini), war auch meine Mutter. Sie hatte einmal Gisella de Remillon geheißen, aber mein Vater, Hauptmann Roger de Remillon von der französischen Luftwaffe, hatte sie als junge und schöne Witwe zurückgelassen.

Meine Mutter, die mich ebenso liebte wie ich sie, hatte aber, was mich betraf, einen seltsamen Komplex. So sehr sie es genoss, Claudines Mutter zu sein, so sehr sträubte sie sich, meine zu sein. Doch das war einfach eine Frage der Arithmetik. Als ich achtundzwanzig war (zu der Zeit, als die schrecklichen Ereignisse begannen), war sie achtundvierzig, aber sie sah aus und benahm sich, als sei sie dreißig, wahrhaftig nicht alt genug für einen so großen, erwachsenen Sohn. Deshalb zog sie es vor, dass ich nicht so oft bei ihr auf tauchte, und wenn wir irgendwo waren, wo niemand uns kannte, gab sie mich als ihren jüngeren Bruder aus. Ich sträubte mich nicht gegen diese etwas manipulierte Zeitrechnung, und sie war mir dankbar dafür.

Der frühe Tod meines Vaters war die Folge seiner übergroßen Liebe zu Flugzeugen. Als junger Hauptmann in der französischen Luftwaffe hatte er darauf bestanden, eine Experimentalversion des Mirage-Jets zu testen, die eigentlich von einem Piloten der Herstellerfirma hätte getestet werden sollen. Nach einem brillanten Start und einem ebenso brillanten Flug verpatzte er die Landung, und das Flugzeug explodierte. Er hinterließ mir ein beträchtliches Vermögen und seiner Witwe die Erinnerung an eine kurze Ehe. Ich war damals zwei Jahre alt. Mein sehr reicher Onkel, Guy de Remillon, wurde zum Verwalter meines Vermögens bestellt, das er stetig vermehrte.

Nach einigen Jahren Witwenschaft heiratete Mutter einen jungen französischen Diplomaten mit aussichtsreicher Zukunft, Leon d’Harcourt. Meine Mutter kam aus einer alten Mailänder Familie; französische Flieger ebenso wie französische Diplomaten scheinen einen Hang zu norditalienischen Schönheiten zu haben. Das jungvermählte Paar war viel auf Reisen, und Claudine, ihr einziges gemeinsames Kind, wurde irgendwo unterwegs gezeugt.

In jenem Sommer 1977, als Claudine an die Algarve kam, hatte ich ein hübsches Häuschen in Vale do Lobo, komplett, mit kleinem Swimmingpool und Segelboot am Kai von Vilamoura. Das Wetter war perfekt - heiß, trocken, sonnig und abends angenehm kühl. Eine Besonderheit der Algarve ist, dass hier die Sommer oft tatsächlich so wie in denTouristenprospekten sind. Eine andere Besonderheit der Algarve ist ihre Landschaft: Wenn man zweihundert oder dreihundert Meter draußen auf See ist und seine Augen die Küste entlanggleiten lässt, dann erblickt man die Pinienwälder, die den Strand begrenzen, den weißen, endlosen Sand, die Felsformationen, die in kapriziösen Mustern das Wasser durchbrechen, die blaue und grüne Klarheit dieses Wassers, die weißen Villen, die sich an die Klippen klammern, und die stillen Städtchen wie Carvoeiro, das wie ein römisches Amphitheater ausschaut. Dann denkt man, dies sei eine der schönsten und friedlichsten Gegenden der Erde. Aber wenn man auf den Klippen der Küste steht und landeinwärts schaut, erblickt man ein halbtrockenes, melancholisches Land, und man fragt sich, warum man eigentlich hier ist. Aber natürlich fährt man an die Algarve der Küste wegen, nicht e auch immer man sie aber betrachtet: Die Algarve ist eine besondere Welt, sie hat ihre maurische Seele im dreizehnten Jahrhundert verloren und seitdem keine neue gefunden.

Claudine war während des ganzen Monats sehr fröhlich. Nur einmal erschien sie beunruhigt, und das war genau vier Tage vor ihrer Abreise nach Washington. Zu jener Zeit hatte das für mich nur eine amüsante Note. Wir hatten mein Boot vor dem halbprivaten Balaia-Strand verankert, der seinen Namen von dem Luxushotel gleichen Namens hat. Claudine beschloss, an Land zu schwimmen, um nach Bekannten am Strand Ausschau zu halten, während ich an Bord blieb und eine Winsch zu reparieren versuchte. Als sie zum Boot zurückgeschwommen kam, erschien sie verwirrt und unsicher. Ich gab ihr ein Handtuch und ein kaltes Bier.

»Ich verstehe das einfach nicht«, murmelte sie, als ob sie zu sich selbst spräche.

»Was verstehst du nicht, Liebling?«, fragte ich. »Hast du am Strand keine Bekannten getroffen?«

»Nein, das meine ich nicht«, sagte sie. Sie schien unwillig fortzufahren.

»Nun rede schon, Claudine. Hast du ein Gespenst gesehen?«

»Nein, aber ein sehr schönes Mädchen.«

»Was ist so ungewöhnlich daran? Davon muss es am Balaia-Strand doch einige geben. Aber erzähl mir doch!«

»Also, lach' bitte nicht, Raoul... Ich traf diese netten Freunde von dir, Luis und Carmo Norton, und habe mich eine Weile zu ihnen gesetzt. Dann bemerkte ich dieses Mädchen. Sie war ganz allein, vielleicht fünfzehn Schritte von uns entfernt. Sie nahm ihre große dunkle Sonnenbrille ab, blickte mich an und lächelte. Diese Art von Lächeln konnte nur eines bedeuten: Sie fand mich nett und flirtete mit mir! Ich spürte, wie ich rot wurde. Ich habe früher schon erlebt, wie Mädchen mit mir flirteten, aber ich bin noch nie dabei rot geworden, weil es mich nicht interessierte. Aber dieses Mal konnte ich einfach nicht wegschauen. Sie ist das hübscheste Ding, das ich je gesehen habe! Was für ein liebliches Gesicht, und was für eine Figur! Sehr dunkle Hautfarbe, wie eine Südseeprinzessin. Und ihr langes schwarzes Haar schien wie schwarzblauer Samt in der Sonne. Sie trug einen brasilianischen Mini-Bikini und saß auf einem leuchtend blauen Handtuch. Ich fühlte mich fast wie hypnotisiert. Was soll ich dir mehr erzählen?«

»Du hast gerade meinen Appetit geweckt, Claudine. Mach weiter«, drängte ich.

»Ehrlich, Raoul, ich hätte nie vermutet, dass ich irgendwelche lesbischen Tendenzen habe, aber dieses Mädchen - was für ein Erlebnis! Ich meine, das Gefühl, das ich empfand. Ich fragte Carmo Norton, wer sie ist, doch sie wusste es nicht. Das Mädchen war heute zum ersten Mal am Strand. Aber jemand mit dieser Bräune muss von irgendeinem anderen Badeort kommen, Marbella oder Ibiza oder Mallorca. Luis sagte, sie habe am Strand ganz schön Aufsehen erregt - kein Wunder - und ein paar Eroberertypen versuchten, ihre Bekanntschaft zu machen, blitzten aber alle ab. Doch mit mir flirtete sie ganz offen. Um mich ein wenig abzukühlen, sozusagen, ging ich ins Wasser, um zum Boot zurückzuschwimmen. Sie folgte mir. Ein paar Meter vom Ufer drehte ich mich um. Sie schwamm dicht hinter mir. Ich war verblüfft. Sie sagte: »Du bist ein sehr hübsches Mädchen, Claudine.« Was für eine Stimme! Was für ein Lächeln! Ich schmolz fast weg, schließlich raffte ich mich zusammen und fragte: »Wer bist du?« Sie lächelte nur, sagte au revoir, warf mir einen Handkuss zu und schwamm zurück zum Strand. Oh, Raoul, was ist los mit mir? Irgendetwas an diesem Mädchen hat mich tief berührt. Bin ich eine latente Lesbierin oder so etwas, gerade ich, wo ich doch immer gedacht hab, ich wäre verrückt nach Männern?«

»Sie hat also deinen Namen gewusst?«

»Ja. Aber den konnte sie leicht erfahren. Du bist schließlich hier überall bekannt. Nun, vielleicht ist sie nur eine einsame Brünette, die eine blonde Freundin wie mich braucht!«

Ihre letzte Bemerkung brachte uns beide zum Lachen.

»Ich muss sie mir ansehen«, sagte ich und holte mein Fernglas.

Aber so sehr ich auch den kleinen Strand absuchte, ich fand das Mädchen in dem schmalen Bikini auf dem blauen Handtuch nicht. Ich reichte Claudine das Fernglas.

»Ah, da geht sie die Treppe zum Hotel-Swimmingpool hinauf. Jetzt ist sie weg«, sagte sie. »Jetzt kannst du sie nicht mehr sehen.«

»Lass uns morgen zum Balaia-Hotel fahren, wir können sie auf das Boot einladen«, schlug ich vor. »Ich bin ebenfalls sehr neugierig.«

»Sei nicht albern!«, antwortete Claudine mit einem ärgerlichen Unterton. »Ich habe keine Lust, sie noch einmal zu sehen. Es war eine ungewöhnliche Erfahrung für mich. Aber dabei soll es bleiben.« Doch Claudine hatte in mir eine unwiderstehliche Neugier erweckt.

Am nächsten Abend veranstaltete Alvaro Frances eine Party, und Claudine und ich waren eingeladen. Alvaro, ein brillanter und reicher internationaler Anwalt des Jetset, besaß ein großzügiges Sommerhaus in der Nähe von Vale do Lobo. Es war eine Mischung von Hollywood und römischem Palast, ein rundes Haus, in dem und um das herum alles andere auch rund war, vom Schwimmbecken über die Badewannen, die Zimmer, die Tische bis hin zu Alvaros Picasso und zu seiner eigenen expandierenden Figur.

Im letzten Augenblick aber beriefen die Geldgeber meines Bauprojekts ein Treffen für den gleichen Abend ein. Claudine ging deshalb allein zu Alvaros Party, ich gab ihr meinen Wagen. Vor Mitternacht war sie schon wieder zurück, kurz nachdem auch mein Treffen geendet hatte.

»So früh zurück?«, fragte ich, »war die Party so langweilig?«

»Nein. Die meisten Leute sind noch immer da. Aber ich war müde«, antwortete sie. Ich wandte mich um und blickte sie an. Auf ihrem Gesicht war der gleiche verwirrte und unsichere Ausdruck wie am Tag zuvor, als sie vom Strand zum Boot zurückgekommen war.

»Das Mädchen vom Balaia war wohl auch auf der Party«, bemerkte ich beiläufig.

»Ich hasse es, wenn du meine Gedanken liest«, sagte sie mit gespieltem Zorn, aber dann lächelte sie und gab mir einen Kuss. »Sie war tatsächlich da, aber nicht lange. Sie kam mir auf der Treppe zum Swimmingpool entgegen, als ich gerade eintraf; sie war im Aufbruch, und draußen wartete ein Taxi. Wir haben nur gerade höfliche Hallos ausgetauscht.«

»Wer ist sie eigentlich?«

»Ich habe wirklich keine Ahnung, Raoul. Und ich habe auch niemand auf der Party nach ihr gefragt.«

»Willst du etwa behaupten, dass sie nicht versucht hat, mit dir in Kontakt zu kommen, ich meine über ein paar freundliche Hallos hinaus, als ihr euch auf der Treppe begegnet seid?«, fragte ich skeptisch.

»Genau das versuche ich dir ja klarzumachen«, antwortete Claudine ungeduldig. »Und wenn du an meinen Worten zweifelst, finde ich das sehr ärgerlich.« Ich machte eine beschwichtigende Geste, und das war das letzte Mal, dass meine Schwester und ich über die geheimnisvolle Fremde sprachen. Ich war jedoch entschlossen, herauszufinden, wer sie war.

Zwei Tage darauf, am Donnerstag, dem 1. September, fuhr ich Claudine zum Flughafen nach Faro. Sie wollte über Lissabon nach New York fliegen. Genau wie ihre Mutter hielt sie sich so lange mit dem Packen auf, dass wir beinah zu spät zum Flughafen kamen. Silvio Caldas, ein Architekt und Kollege, der das gleiche Flugzeug nahm, wartete schon ganz aufgeregt an der Sperre. Ich hatte kaum Zeit, ihr einen Abschiedskuss zu geben.

Vom Flughafen fuhr ich zu Alvaros Haus, um mich nach der geheimnisvollen Schönen zu erkundigen, die sein Partygast gewesen war. Meine Neugier war zur unwiderstehlichen Obsession geworden. Wie üblich fand ich meinen Freund Alvaro am Swimmingpool, eine Zigarre im Mund, während zwei junge Damen im Wasser plantschten.

»Ich habe keine Ahnung, wer diese femme fatale ist«, erklärte er mir. »Sie kam und ging wie eine Vision. Ich habe kaum ihr Gesicht gesehen. In den wenigen Minuten, in denen meine Augen die Gnade ihrer Erscheinung genossen, waren sie eher auf ihren unwahrscheinlichen Körper konzentriert. Egas Zeffero, unser fahrender Ritter der portugiesischen Diplomatie, brachte sie mit. Sie blieb aber höchstens zehn oder fünfzehn Minuten und vermied es, irgendjemandem vorgestellt zu werden. Sie schaute sich kurz im Haus um, erzählte dann Zeffero, sie fände es hier langweilig, und bestellte sich ein Taxi, um zum Balaia-Hotel zurückzufahren. Sie ging hier ungefähr zur gleichen Zeit weg, zu der Claudine ankam.«

»Also Zeffero kennt sie... Wie heißt, sie denn?«

»Das ist ja das Verrückte daran, Raoul. Zeffero kennt sie eben nicht. Auf dem Weg hierher hat er kurz beim Balaia- Hotel gehalten, um für jemanden eine Nachricht zu hinterlassen, und da bemerkte er dieses herrliche Geschöpf, das in voller Abendgarderobe in der Hotelhalle saß. Wenn seine Frau nicht da ist, sticht ihn ja oft der Hafer, er ging also einfach zu ihr hin und fragte, ob sie auf jemanden warte. Sie verneinte und sagte, sie versuche gerade zu entscheiden, ob sie im Restaurant des Hotels zu Abend essen oder Heber ausgehen solle. Da hat Zeffero sie natürlich prompt zu meiner Party eingeladen. Als Köder malte er ihr meinen einfachen Strandpalast in den glühendsten Farben aus. Sie war einverstanden. Aber in den zwanzig Minuten, die die Fahrt hierher dauerte, bekam er nichts aus ihr heraus außer Gemeinplätzen: wie herrlich die Algarve sei, welch wundervolles Wetter herrsche und so weiter. Sie weigerte sich sogar, ihm ihren Namen zu sagen oder woher Sie komme. Sie wolle ja auch nicht seinen Namen oder seine Herkunft wissen, meinte sie nur. Also beschloss er, sie Celeste zu nennen - die Himmlische, das Himmelsgeschenk. Zeffero nahm an, dass sie verheiratet sei und auf Diskretion Wert lege. Gestern ging er dann wieder ins Balaia, aber er zog eine Niete. Sie war nicht da. Lieber Raoul, das ist alles, was ich über sie weiß, und auch alles, was Zeffero weiß.«

»In welcher Sprache haben Zeffero und du mit ihr gesprochen? Und welche hat sie benutzt?«

»Ich habe sie auf Portugiesisch begrüßt, und sie hat auf Französisch geantwortet. Da bin ich auch zu Französisch übergewechselt, und sie hat auf Portugiesisch geantwortet. Ein neckisches Spielchen. Aber ich möchte schwören, dass sie weder Portugiesin noch Französin ist. Zeffero hat sich natürlich im Auto länger mit ihr unterhalten. Das gleiche Spiel. Sie wechselte dauernd vom Portugiesischen zum Französischen, dann vom Französischen ins Spanische und vom Spanischen wieder zurück ins Portugiesische. Alles ausgezeichnet gesprochen, aber mit einem leichten Akzent. Unserer Vermutung nach ist sie Italienerin oder Griechin. Ja, und um die Sache noch verwirrender zu machen, hat sie sich auf Englisch von mir verabschiedet, in perfektem Englisch, aber auch wieder mit einem südländischen Akzent. Zeffero spekulierte, sie könnte eine Brasilianerin sein, die für den CIA arbeitet. Aber diese Berufsdiplomaten glauben ja bei jedem, dass er entweder für den CIA oder den KGB arbeitet. Ich persönlich glaube eher, dass sie eine Edelnutte ist, die auf eigene Rechnung arbeitet.«

»Aber wenn das der Fall wäre«, fragte ich, »warum hat sie sich auf der Party nicht einen deiner reichen Freunde oder sogar dich aufgegabelt?«

»Vielleicht hatte sie später am Abend noch eine Verabredung mit einem arabischen Ölscheich, da hätten wir wohl kaum mithalten können«, meinte er philosophisch.

Von Alvaro fuhr ich zum Balaia-Hotel, um den Empfangschef zu befragen, der ein guter Bekannter von mir war. Nein, die unbekannte Schöne war nicht Gast des Hotels - er war in diesem Punkt sehr entschieden. Er hatte sie ein paar Mal in der Hotelhalle gesehen, aber das war nicht ungewöhnlich: Sie konnte in einem der Strandbungalows in Quinta da Balaia wohnen, oder vielleicht kam sie zum Hotel nur, um Freunde zu treffen. Wahrscheinlich war sie eine Freundin von Dr. Zeffero, er hatte sie vor ein paar Tagen zusammen Weggehen sehen. Aber ich könne ja den Manager der Strandbungalows nach ihr fragen.

Ich ging also zu besagtem Manager. Nein, er kannte alle Mieter und ihre Gäste und er war ziemlich sicher, dass eine Dame dieser Beschreibung in keinem der Bungalows wohnte. Ich ging hinunter zum Strand und hatte das Glück, meine Freunde Luis und Carmo Norton dort zu treffen.

»Oh, du meinst diese unnahbare Schöne?«, fragte Luis. »Heute ist sie noch nicht erschienen. Wir haben sie zum ersten Mal vor ein paar Tagen gesehen, als Claudine vom Boot herübergekommen war. Aber bleib doch ein bisschen, vielleicht kommt sie noch. Doch glaube ich nicht, dass du Chancen bei ihr hast, wenn du gesehen hättest, wie sie andere eroberungslustige Typen abblitzen ließ...«

»Wie kannst du das nur sagen, Luis?«, bemerkte Carmo mit sardonischem Lächeln. »Kein Mädchen, das seine fünf Sinne beisammen hat, würde so ein schönes und brillantes Exemplar von Mann wie unseren Raoul hier zurückweisen!«

»Ganz ehrlich, Carmo, glaubst du, ich bin attraktiv genug für unsere geheimnisvolle Fremde? Ich habe immer meine Zweifel bezüglich meines Aussehens.«

»Du Heuchler! Du erinnerst mich an mein längst verstorbenes Idol Errol Flynn. Du bist vielleicht ein paar Zentimeter kürzer, hast einen französischen Akzent und französische Manieren. Und du hast geradezu unverschämt blaue Schlafzimmeraugen, furchterregende schwarze Augenbrauen und den Kopf voller schwarzer Locken. Mit anderen Worten, die geheimnisvolle Fremde wird dir zu Füßen sinken, sobald sie dich erblickt!«

»Vielen Dank, Carmo. Da kann ich ja hoffen und warten.«

Ich wartete und wartete, aber Celeste tauchte nicht auf. Ich kehrte auch am folgenden Tag zum Balaia zurück, und am übernächsten. Celeste blieb verschwunden. Während der nächsten fünf oder sechs Tage (ich verstand diesen verrückten Eifer selbst nicht) suchte ich alle Strände und besseren Hotels der Algarve nach ihr ab. Ein totaler Fehlschlag. Schließlich versuchte ich, die geheimnisvolle - und augenscheinlich verschwundene - Fremde zu vergessen und mich meiner Arbeit und meinem Boot wieder zuzuwenden. Ich schrieb in mein Tagebuch:

 

»Ich gebe die Suche nach Celeste auf. Sie muss wohl eine dieser Abenteurerinnen sein, die im Sommer von einem Strand Südeuropas zum nächsten ziehen. Aber was sucht sie? Sicher nicht einen reichen Mann, da hatte sie auf Alvaros Party Auswahl genug, aber sie war nicht interessiert daran, zu bleiben oder mit jemandem zu sprechen. Hat sie vielleicht eine hübsche Blondine wie Claudine gesucht? Absurd! Dafür ist die Algarve wohl kaum der geeignete Platz. Celeste könnte aber Dutzende schöner Blondinen in Marbella, Ibiza, Mallorca oder St. Tropez finden... Und warum beschäftigt mich jemand so, den ich noch nie gesehen habe? Nur weil sie mit meiner Stiefschwester geflirtet hat? Lächerlich. Das kann nicht der wirkliche Grund sein, das ist mir klar. Aber wenn ich an die nie gesehene Celeste denke - und aus irgendeinem seltsamen Grund denke ich viel an sie - dann habe ich das Gefühl, mich auf gefährlichem Boden zu bewegen. Solche Vorahnungen haben sich bei mir schon oft bestätigt...«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Am Montag, dem zwölften September, kehrte Silvio Caldas an die Algarve zurück, nachdem er seine geschäftlichen Angelegenheiten in Lissabon erledigt hatte. Am nächsten Tag aßen wir zusammen zu Mittag, als er mich plötzlich fragte: »Raoul, wer ist eigentlich diese umwerfende brünette Freundin deiner Schwester, die mit uns auf dem gleichen Flug war - ich meine, als Claudine und ich nach Lissabon geflogen sind?«

Ich ließ meine Gabel fallen und hätte fast meinen Wein umgeschüttet.

»Eine Freundin von Claudine?«, rief ich.

»Ich dachte, sie sei eine gewesen«, sagte er. »Jedenfalls haben die beiden lange miteinander gesprochen, als wir in Lissabon auf das Gepäck warteten...«

Nach kurzem Zögern sagte ich: »Ich habe keine Ahnung, wer das Mädchen gewesen sein könnte.«

»Dann hast du wirklich etwas versäumt, Raoul«, meinte er. »Claudine ist ja wirklich ein sehr hübsches Mädchen, aber diese Dunkelhaarige sieht aus wie die Sexgöttin persönlich!«

Zufälle, komische Zufälle, dachte ich voll Unbehagen. Celeste erschien zum ersten Mal am Balaia-Strand an dem Tag, als Claudine dort an Land schwamm. Dann tauchte sie auf Alvaros Party an dem Abend auf, an dem Claudine allein hinging. Und als nächstes war sie im gleichen Flugzeug wie Claudine, bei ihrem Flug nach Lissabon. Waren diese Zufälle etwa geplant? Von wem? Zu welchem Zweck? Ich konnte es mir nicht erklären. Nur eine wunderschöne Brünette - lesbisch oder bisexuell - die hinter einer sehr attraktiven Blondine her war? Nein. Zu simpel. Warum all die Geheimnistuerei, wenn es nur darum ging, eine hübsche Blondine ins Bett zu kriegen - lesbische Liebschaften waren heutzutage im Jetset so allgemein verbreitet, dass sich niemand mehr Mühe gab, sie zu verbergen. Nein, es musste etwas anderes sein, etwas, das weit darüber hinausging. Am gleichen Abend schrieb ich an Claudine einen langen Brief und erwähnte darin unter anderem - so taktvoll wie möglich dass ich gehört hätte, Celeste sei im Flugzeug nach Lissabon gewesen und dass sie, Claudine, sich mit ihr angefreundet habe. Wer sei sie eigentlich? Und woher stamme sie?

Zwei Wochen später erhielt ich Antwort. Ein ungewöhnlich kurzer Brief von Claudine, der mich nur noch mehr verwirrte:

 

Liebster Raoul,

ich habe wirklich alle Hände voll damit zu tun, mich hier im College einzuleben, also erwarte im Moment von mir keine langen und häufigen Briefe. Aber das beeinträchtigt nicht meine Liebe zu Dir. Du bist der liebste Stiefbruder, den ich habe - und Du würdest viel mehr für mich sein, wenn die Verhältnisse anders wären.

Zu Deiner ziemlich dummen Frage: Ich habe das Mädchen vom Balaia tatsächlich getroffen, nachdem wir in Lissabon gelandet waren und auf das Gepäck warteten. Wir haben ein paar höfliche Worte gewechselt, aber nicht einmal unsere Namen und Adressen ausgetauscht. Vielleicht habe ich ihr Verhalten am Strand falsch interpretiert. Sie war unterwegs nach Paris und ich nach New York. Wirklich, Raoul, ich mag Deinen unausgesprochenen Verdacht nicht, dass ich irgendeine Affäre hinter Deinem Rücken hätte. Wenn Du von diesem Mädchen, das Du noch nicht einmal gesehen hast, so besessen bist, warum gehst Du nicht los und suchst sie? Also, lassen wir das Thema bitte fallen, ja?

Mutter und Vater lassen Dich grüßen. Mutter beschwert sich wie immer, dass Du stets nur an mich schreibst und so selten an sie. Also schreib ihr auch mal. Sie mag ja nicht zugeben, dass sie einen so alten Mann zum Sohn hat, aber sie liebt Dich trotzdem. Ich habe ihr Deinen Brief mit den Fragen über das Mädchen natürlich nicht gezeigt. Das würde ihren bezaubernden, aber verwirrten Kopf nur noch mehr verwirren.

Alles Liebe und viele Küsse - Claudine.

 

Nachdem ich den Brief mehrmals sorgfältig gelesen hatte, kam ich zu dem Schluss, dass Claudine log - etwas, das sie mir gegenüber früher nie getan hatte. Warum? Die Frage war spannend und verwirrend zugleich. Ich kannte meine Schwester zu gut, und ein Satz in ihrem Brief war aufschlussreich: »Lassen wir das Thema bitte fallen, ja?« Das klang überhaupt nicht wie sie. Wenn ihr Zusammentreffen mit dem Mädchen am Lissaboner Flughafen so zufällig und folgenlos gewesen war, wie sie behauptete, dann hätte sie die Geschichte bestimmt aufgegriffen und sich über meine »Besessenheit« bezüglich des Mädchens ausgiebig lustig gemacht. Und wenn das Ganze nur ein Spaß auf meine Kosten wäre, hätte sie bestimmt Giselia meinen Brief gezeigt, so dass beide über mich hätten lachen können.

Warum also die Lügen? Jedenfalls war Claudine sehr stolz und auf Unabhängigkeit bedacht. Ich musste äußerst vorsichtig sein, falls ich mehr von ihr erfahren wollte. Daher schrieb ich ihr in leichtem Ton zurück und erklärte, mein Interesse an dem Mädchen vom Balaia-Strand sei rein künstlerisch. Ich hätte als neues Hobby das Malen entdeckt und plane ein Portrait einer unbekannten Schönheit. Vielleicht könne mir Claudine mit ein paar bildhaften Einzelheiten in Bezug auf Celeste weiterhelfen? Die Antwort meiner Schwester bestand auch diesmal wieder nur aus ein paar kurzen Zeilen:

 

Liebster Raoul,

ich glaube beinahe, Du leidest an vorzeitiger Vergreisung. Aber mal nur drauflos, wenn es Dir Spaß macht. Das Mädchen, wie ich sie in Erinnerung habe, sah aus wie eine Mischung von Sophia Loren in ihren besten Jahren und Greta Garbo in Grand Hotel (ich habe den Film letztes Jahr im Pariser Filmmuseum gesehen), nur war sie besser gekleidet als die beiden. Ist das genügend Inspiration für Dein Bild? Warum malst Du nicht lieber mich, falls Du neuerdings dieses Talent tatsächlich bei Dir entdeckt hast?

 

Kein weiteres Wort über das Mädchen vom Balaia-Strand.

Ich versuchte, mögliche vernünftige Gründe für Claudines ausweichende Antworten zu finden. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass etwas Ungesundes, vielleicht sogar Gefährliches hinter ihrer Geheimniskrämerei steckte. Ich konnte diese unbewusste Furcht nicht verdrängen. Wenn sie einen Flirt mit dieser Celeste gehabt hatte, würde sie sich nicht die Mühe machen, mich anzulügen. Sie wusste, dass ich in diesen Sachen keine Vorurteile hatte, und wir hatten solche Fragen bisher immer offen diskutiert. Ich war mir ganz sicher, dass sie eine Menge vor mir verbarg. Warum dieser Schleier von Geheimnis über etwas, das einfach ein Flirt zwischen zwei außerordentlich attraktiven jungen Frauen war? Claudine war ein intelligentes, vorurteilsfreies modernes Mädchen, die Heuchelei in Sexfragen genauso verachtete wie ich. Warum dann die Lügen, die Geheimnisse?

Ich konnte das geheimnisvolle Mädchen einfach nicht aus meinen Gedanken verdrängen. Welche seltsame Verbindung bestand zwischen ihr und Claudine? Ich schien zugleich Eifersucht und Furcht zu empfinden. Eifersucht auf Claudine oder Eifersucht auf Celeste? Furcht wovor?

Claudines kurze Briefe an mich wurden seltener, ihre Ausrede war, dass sie zu viel im College zu tun hatte. Die Vertrautheit, die unsere Briefe früher bestimmt hatte, war verschwunden, und ich vermisste sie sehr.

Ich hatte geplant, Weihnachten mit der Familie in Washington zu verbringen. Aber daraus wurde nichts: Ich musste stattdessen nach Griechenland, wo sich die Chance für ein großes Projekt zu bieten schien, aus dem dann allerdings doch nichts wurde. Mutter war sehr enttäuscht, dass ich nicht kommen konnte, aber Claudine schrieb mir nur ein paar Zeilen mit Weihnachtsgrüßen und den besten Wünschen für Griechenland. Vielleicht könne ich ja Ostern nach Washington kommen, meinte sie. Die Zeit verging, und ich versuchte die geheimnisvolle Celeste aus meinen Gedanken zu verdrängen. Nicht immer mit Erfolg. Obwohl ich sie nie gesehen hatte, gab es an diesem Mädchen etwas, das mich zugleich anzog und beunruhigte.

 

Am frühen Nachmittag des 26. Februar 1978, einem Sonntag, fühlte ich mich ohne einen erkennbaren Grund auf einmal todmüde. Ich beschloss, gleich nach dem Mittagessen ins Bett zu gehen, und schlief fast augenblicklich ein. Ein furchtbarer Alptraum überfiel mich im Schlaf. Ich konnte kaum mehr atmen, mein Kopf schmerzte fürchterlich, und in diesem Traum ertrank ich in schlammigem Wasser. Das Telefon neben meinem Bett klingelte laut und ohne aufzuhören. Ich wachte schweißgebadet auf, immer noch mit Kopfschmerzen, und nahm den Hörer ab. Es war Silvio Caldas mit irgendeiner harmlosen Frage. Ich schaute auf den Wecker: fünfzehn Uhr zehn. Das hieß, in Washington war es jetzt zehn Minuten nach zehn am Vormittag.

Am Nachmittag des nächsten Tages, Montag, dem 27. Februar, erhielt ich ein Telegramm: CLAUDINE VERUNGLÜCKT STOP KOMM SOFORT STOP MITTEILE ANKUNFTSZEIT STOP TREFFE DICH AM FLUGHAFEN LEON.

Es war ein Schock. Ich sah meine schöne, geliebte Claudine vor mir, wie sie einen Autounfall hatte; ihr herrliches Gesicht prallte gegen die Scheibe ihres kleinen Sportwagens. Was für ein Unfall? Warum hat dieser blöde Leon denn nicht angerufen? Ich eilte zum Telefon, aber merkte bald, dass es hoffnungslos war, ohne stundenlange Voranmeldung nach Washington durchzukommen. Und selbst dann standen die Chancen nur fünfzig zu fünfzig, dass man wirklich Anschluss bekam. Damals gab es noch keine Direktwahl von der Algarve ins Ausland oder umgekehrt. Natürlich hatte Leon die gleichen Schwierigkeiten gehabt, mich zu erreichen.

Wie ein Verrückter fuhr ich zum Faro-Flughafen. Im Winter gab es nur zwei Flüge täglich nach Lissabon, und der an diesem Abend fiel auch noch aus. Ich buchte für den nächsten Morgen, mit Anschluss am gleichen Nachmittag nach New York und weiter vom Kennedy-Airport nach Washington.

In dieser Nacht ging ich nicht schlafen. Ich trank unzählige Tassen Kaffee und schrieb Claudine zusammenhanglose Liebesbriefe, die ich ihr im Hospital vorlesen wollte - denn dort musste sie wohl sein, vielleicht sogar auf der Intensivstation. Wenn sie nicht in Gefahr wäre, hätte Leon mich sicher nicht nach Washington gerufen. In einem dieser Briefe schrieb ich, für den Fall, dass ihr Gesicht bei einem Unfall zerstört worden war: »...Für mich wirst Du immer die Allerschönste bleiben. Ich werde Dich stets genauso oder sogar noch mehr lieben wie früher. Heiraten werde ich nie, das schwöre ich. Ich werde an Deiner Seite bleiben, bis ich sterbe. Wenn Du nicht laufen kannst, werde ich Dich tragen. Wenn Du nicht sehen kannst, werde ich für Dich sehen...«

 

Ein ernst blickender Leon d’Harcourt erwartete mich am Washington National Airport. Mutter war nicht dabei, und ich wusste sofort, dass Claudine tot war. Ich sank in Leons Arme und begann, wie ein Kind zu schluchzen. »Oh, mein Gott! Claudine!« war alles, was ich hervorbrachte. Er drückte mich an sich, aber er weinte nicht. Seine formelle Diplomatenschulung hatte ihn gelehrt, mit starken Gefühlen fertigzuwerden. Trotzdem wusste ich, dass er Claudine so liebte, wie man sein einziges Kind nur lieben kann. Als er mich aus dem Flughafengebäude zum Wagen führte, fragte ich: »Wo ist sie?«

»Wir haben sie heute Morgen zur Ruhe gebettet.«

»Aber ich habe doch erst gestern Nachmittag dein Telegramm erhalten!«

»Ich habe fast vierundzwanzig Stunden damit vergeudet, dich telefonisch erreichen zu wollen.«

»Oh, Gott, Leon, ich werde sie niemals Wiedersehen! Ich hasse den Gedanken, und ich hasse mich, weil ich noch lebe. Bitte, sag mir, wie ist es passiert?«

 

Meine Mutter war erstaunlich ruhig, als sie mich in ihrem Haus in Georgetown in die Arme schloss.

»Es war Gottes Wille«, sagte sie und küsste mich. »Claudine war ein Engel. Sie wird einen Platz im Himmel erhalten. Aber du siehst schrecklich müde aus, mein Sohn. Du musst etwas essen und dann gleich ins Bett.«

Ich lehnte jegliches Essen ab, doch Leon brachte mir einen steifen Whisky, den ich akzeptierte. Mutter saß in einer Ecke des Salons und versuchte, sich von der Welt abzuschirmen, indem sie sich auf ein Buch konzentrierte, das auf ihrem Schoß lag. Aber ein Schleier von tiefer Traurigkeit verhüllte ihre jugendlichen, schönen Züge, und ihre Augen waren rot vom Weinen. Offensichtlich war sie nicht bereit, über die Tragödie zu sprechen. Nach ein paar Minuten küsste sie mich noch einmal und ging in ihr Zimmer hinauf. Leon und ich standen da und sahen einander an, als ob wir beide versuchten, von einem Alptraum zu erwachen.

»...Es war ein ganz beispielloser Unfall«, sagte er irgendwann, aber ich konnte mich einfach nicht auf das konzentrieren, was er sagte: »...Die Chance war eins zu einer Billion oder Trillion, bei so einem Unfall umzukommen...« Dann fragte er mich etwas. Ich konnte ihn nicht hören.

»Entschuldige, Leon, was hast du gesagt?«

»Deine Mutter geht morgen Mittag noch einmal zum Hospital, um das andere Mädchen zu sehen. Möchtest du gerne mitgehen?«

»Ja. Werden wir mit ihr sprechen dürfen?«

»Ich glaube. Deine Mutter war heute Nachmittag nach dem Begräbnis dort. Das Mädchen ist wieder bei Bewusstsein und scheint außer Gefahr. Aber ich bezweifle, dass du irgendetwas von ihr erfahren kannst. Ihr Gedächtnis ist anscheinend vollständig ausgelöscht. Das heißt, sie kann sich an nichts mehr erinnern, das vor dem Unfall liegt. Nicht einmal an Claudines Namen oder an ihren eigenen. Eine sehr tapfere junge Dame, muss ich sagen.«

»Ja, ja, sehr tapfer, und alles ist sehr tragisch. Aber sie lebt, und Claudine ist tot!«

»Das ist ungerecht, Raoul. Aller Wahrscheinlichkeit wäre sie jetzt auch tot, wenn nicht die zwei Jurastudenten rechtzeitig vorbeigekommen wären.«

»Und diese schrecklichen Kinder, was hat man mit denen gemacht?«

»Was soll man schon machen? Einer der Jungen ist acht und der andere sieben. Ihre Eltern sind nett, sie waren beim Begräbnis und haben geweint.«

»Wie heißt das Mädchen im Hospital eigentlich?«, fragte ich.

»Cassandra. Jedenfalls ist das der Name, den Claudine ihrer Mitstudentin nannte, von der sie das Rad für das Mädchen ausborgte.«

»Also weiß niemand, wer sie ist?«

»Bis jetzt nicht. Vielleicht ist sie eine ausländische Studentin von einem der anderen Colleges.«

»Leon, ich bin sehr müde, ich glaube, ich gehe zu Bett.«

»Ja, natürlich. Gute Nacht, Raoul.«

Ich nahm zwei Beruhigungstabletten, aber der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Mein Geist wehrte sich gegen die brutale Wirklichkeit von Claudines Tod, vor allem angesichts der absurden Begleitumstände des Unfalls. Inzwischen hatte ich von Leon erfahren, dass der Unfall sich am Sonntagmorgen, ein paar Minuten nach zehn ereignet hatte. Fünfzehn Uhr zehn in Portugal. Genau der Moment, in dem ich meinen Alptraum gehabt hatte, den Alptraum, dass ich in schlammigem Wasser ertrinken würde, mit schrecklichen Schmerzen im Kopf - in genau diesem Moment war Claudine in dem schlammigen Wasser des Georgetown-Kanals gestorben. Wie eng war doch die Verbindung zwischen Claudine und mir, es schien, jeder trug ein Stück der Seele des anderen in sich! Ich hatte keinen Zweifel, dass Claudines Gedanken mich in jenem schmerzvollen Augenblick über eine Entfernung von Tausenden von Meilen hinweg erreicht hatten. Aber jetzt war sie tot. Würde sie mich trotzdem erreichen können? Ich konnte darauf hoffen, aber das war eben nur Hoffnung - eine dürftige Hoffnung.

Die seltsamen Begleitumstände des Unfalls - wie Leon mit seinem disziplinierten Kopf sie mir berichtet hatte - waren tatsächlich bizarr. Ich schob sie in Gedanken hin und her wie ein kompliziertes Puzzle, dem mehrere wichtige Teile fehlen.

An jenem schicksalhaften Sonntag, dem 26. Februar, hatte Claudine von einem anderen Mädchen ein Fahrrad ausgeborgt. Es sei für eine neue Freundin, hatte sie gesagt, eine Italienerin, die sie kürzlich getroffen habe. Mit dieser Cassandra, so heiße das Mädchen, wolle sie eine Radtour entlang des Kanals unternehmen. Claudines Studienkollegin sah Cassandra nur kurz, als die beiden kamen, um das Rad abzuholen. Sie hatte Claudine vorher niemals den Namen erwähnen hören.

Die beiden Mädchen radelten den Fußweg am Kanal entlang und überholten dabei zwei Studenten der Georgetown- Universität, Abruzzo und Epstein, zwei Jogger. Die Radfahrerinnen waren ungefähr bei Fletchers Bootshaus angelangt, die Jogger waren knapp hundert Meter hinter ihnen, als der Unfall geschah. Claudines Rad, das etwas vor Cassandras war, schien auf ein unsichtbares Hindernis zu treffen; sie wurde nach vorn und seitwärts geschleudert. Ihr Kopf traf auf eine flache Uferbefestigung aus Beton, und dann verschwand sie in den trüben Fluten des Kanals. Das Wasser war schlammig, denn am Tag zuvor war ein Unwetter niedergegangen. Es war an der Stelle etwa zweieinhalb Meter tief.

Auch Cassandra fuhr gegen das unsichtbare Hindernis, aber sie fiel direkt auf den weicheren Boden des Fußweges. Abruzzo und Epstein hörten sie etwas rufen. Sie war sofort wieder auf den Beinen, sah, was mit ihrer Freundin geschehen war, und tauchte hinter ihr her in den Kanal. All dies geschah so schnell und unerwartet, dass die zwei Jogger, die alles gesehen hatten, einen Augenblick überrascht stehenblieben, bevor sie den Ernst der Situation begriffen und zur Unfallstelle liefen. Als sie dort ankamen, konnten sie weder Claudine noch Cassandra erblicken. Anscheinend tauchte diese im schlammigen Wasser nach ihrer Freundin. Dann tauchte sie auf, Haare und Gesicht voller Schlick, und verschwand gleich wieder.

Abruzzo und Epstein sprangen gleichfalls in den Kanal, um zu helfen, aber sie konnten zuerst keins der Mädchen finden. Dann tauchte Cassandra wieder auf, sie zog Claudine an den Haaren mit empor. Beide Mädchen waren von Schlamm bedeckt. Die beiden jungen Männer zogen sie aus dem Wasser auf den Fußweg. Cassandra würgte schlammiges Wasser hervor, dann brach sie zusammen. Claudine erschien leblos. Abruzzo versuchte es bei ihr mit Mund-zu-Mund-Beatmung, während Epstein Cassandras Leib massierte, um den Rest des schmutzigen Wassers aus ihr herauszupressen. Cassandra lebte, war aber bewusstlos.

Die Wiederbelebungsversuche an Claudine blieben ohne Erfolg.

Die beiden jungen Männer sahen dann auf der anderen Seite des Kanals einen Mann aus dem Bootshaus kommen, und Epstein brüllte hinüber, er solle Hilfe holen. Ein Funkwagen der Polizei kam nach fünf Minuten, eine Ambulanz nach zehn. Sie brachte die beiden Mädchen ins Hospital der Georgetown-Universität. Dort wurde Claudines Tod festgestellt. Cassandra kam auf die Intensivstation. Sie lag im Koma.

Abruzzo hatte bemerkt, dass aus einem kleinen Loch in Claudines rechter Schläfe, direkt neben dem Ohr, Blut tröpfelte. Die Polizei fand später einen großen rostigen Nagel, der aus dem Beton der Uferbefestigung hervorstand. Der Arzt, der die Autopsie vornahm, gab als Todesursache an, dass dieser Nagel in Claudines Gehirn eingedrungen war, als ihr Kopf auf dem Beton aufschlug. Sie war schon tot gewesen, als Cassandra noch verzweifelt auf dem Kanalgrund nach ihr tauchte.

Und die Polizei hatte auch die Ursache des seltsamen Unfalls ermittelt: Ein dünner, aber fester Draht, schmutzig-braun angestrichen, in der gleichen Farbe wie der Pfad. Zwei kleine Jungen aus der Nachbarschaft hatten diesen Draht zwischen zwei Pflöcken zu beiden Seiten des Pfades ausgespannt, etwa einen halben Meter über dem Boden - der bräunliche Draht war gegen den Hintergrund des Bodens praktisch unsichtbar, bis man gegen ihn stieß. Der Draht war nicht für Radfahrer gedacht gewesen, von denen gab es zu dieser Jahreszeit nur wenige. Sie hatten damit die Jogger ärgern wollen. Die beiden Jungen hatten sich in einem Gebüsch in der Nähe versteckt, um das Schauspiel zu genießen. Als sie das Ergebnis ihres Streiches sahen, gerieten sie in Panik und liefen weg. Später fand die Polizei sie bei ihren Eltern. Der eine war acht Jahre alt, der andere sieben.

Ungewöhnlich und tragisch, sicherlich. Die Chance war eins zu tausend, dass die Mädchen auf ihren Rädern die Stelle vor einem von all den vielen Joggern passieren würden, die den Pfad entlangliefen. Und die Chance war eins zu einer Million, dass Claudine bei ihrem Sturz den hervorstehenden Nagel treffen würde (der dort ohnehin nicht hingehörte), und auch noch mit dem empfindlichsten Teil ihrer Schläfe. Es war, so hieß es, eben ein tragisches Ereignis, eine Verkettung unglücklicher Zufälle...

Aber in meinem Kopf erschien mir das alles immer noch wie ein Puzzle, bei dem einige Teile fehlten. Claudine hatte Radfahren immer gehasst, sie zog ihren Sportwagen vor. Sie besaß zwar ein Rad, das ihr Vater ihr zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte, eher aus einer scherzhaften Laune heraus, aber sie benutzte es eigentlich nie, höchstens mal spielerisch im Garten während des Sommers. Und dann hasste sie auch kaltes Wetter. Die Vorstellung, dass Claudine an einem kalten Februarmorgen freiwillig eine Radtour unternehmen könnte, war absurd. (Gisella und Leon würden das vielleicht nicht für so absurd halten, denn für sie erschien es so, dass Teenager stets das Absurde tun und es zum Normalen erklären. Aber ich kannte meine Halbschwester weit besser als sie ihre Tochter; sie wechselte ihre Vorlieben und Abneigungen nicht so rasch.) Und trotzdem sah es so aus, als sei sie frohen Mutes zu einer Radtour angetreten, auch noch bei kaltem Wetter, das sie so verabscheute, und als habe sie auch noch extra ein Rad für ihre neue Freundin besorgt!

Und dann dieses Mädchen - dieses (allen Berichten nach) so tapfere Mädchen, das ihr Leben riskierte, um Claudine zu retten - diese »Italienerin«, die nicht auf dem College war, die keine von Claudines Mitstudentinnen kannte, eine Freundin, von der Claudines Eltern nie gehört hatten - ob sie wohl die fehlenden Teile des Puzzles liefern konnte?

Mit schmerzlichem Eifer suchte ich mir einzureden, dass es für die Absurditäten eine logische Erklärung geben müsse, aber mein Unterbewusstsein sträubte sich gegen jeden bequemen Ausweg. Die Wirklichkeit, die grausame Wirklichkeit war, dass meine geliebte Claudine nicht mehr da war und dass ich sie nie zurückgewinnen konnte. Das war es, was zählte, der Schmerz, der brennende Schmerz des Verlustes, der mich wahrscheinlich mein Leben lang begleiten würde. Claudine war so sehr ein Teil meines Lebens und meiner Gedanken gewesen, seit ihrer frühesten Kindheit, dass ich ohne sie nicht mehr der gleiche Mensch sein konnte.

Ich entschloss mich, Giselia am nächsten Tag ins Hospital zu begleiten, um das überlebende Mädchen zu sehen. Sie hatte keinen offensichtlichen Schaden davongetragen, jedenfalls nicht nach dem Bericht des Arztes an Leon, aber ihr Gedächtnisverlust, der wohl durch emotionalen Schock bewirkt war, würde noch eine Weile anhalten. Der Arzt wollte zu diesem frühen Zeitpunkt darüber noch keine Prognose abgeben.

Ein Zustand der Dissoziation lautete die neurologische Erklärung; das bedeutet, so verstand ich es, einen Identitätsverlust. In ihrem Fall war er begleitet von einem kurzfristigen Gedächtnisverlust, der die Zeit des Unfalls betraf. Sie erinnerte sich an nichts mehr. Aber diese »Dissoziation« blockierte nach Auskunft des Arztes nichts von ihrem übrigen Wissen und ihrer Bildung.

Trotz meiner Erschöpfung konnte ich nicht einschlafen. Bilder der lebendigen, liebenswerten Claudine schossen mir durch den Kopf, vermischt mit Visionen des schrecklichen Unfalls, den ich ja gefühlt hatte, obwohl ich im Moment ihres Todes Tausende von Kilometern entfernt war. Diese blitzartige Gedankenübertragung, hatte sie etwas zu bedeuten gehabt?

Mitten in der Nacht stand ich auf. Schweiß stand auf meiner Stirn, hinter ihr rasten meine Gedanken. Ich ging hinüber zu Leons Schlafzimmer (er und Giselia schliefen getrennt) und rüttelte ihn wach.

»Was ist los, Raoul?«, fragte er erschreckt und setzte sich im Bett auf.

»Was macht dich so sicher, dass diese Cassandra wirklich Italienerin ist?«, fragte ich. Ich wusste, dass ich etwas verwirrend auf ihn wirkte.

»Wie - was - was spielt das denn für eine Rolle?« Er blinzelte mich an. »Nun, das hat die arme Claudine ihrer Mitstudentin erzählt. Und auch Dr. Barnes - er ist der Neurologe - er hat mir gesagt, als sie wieder zu Bewusstsein kam, da hat sie zu den Schwestern Italienisch gesprochen, und erst als sie merkte, dass die sie nicht verstanden, ist sie ins Englische übergewechselt...«

»Aber hat sie behauptet, dass sie Italienerin ist?«

»Anscheinend hat sie überhaupt keine Idee, was sie ist, aber sie glaubt, dass sie Italienerin sein muss, weil die Sprache ihr so vertraut ist«, sagte Leon. »Dr. Lanza, ein Arzt am Hospital, der in Italien geboren und auf gewachsen ist, hat auch mit ihr gesprochen. Ihrem Akzent und ihrer Sprechweise nach, so glaubt er, müsse sie aus der italienischen Oberschicht stammen, wahrscheinlich aus Norditalien. Was ist denn so seltsam daran? Schließlich ist deine Mutter auch eine Italienerin aus der Oberschicht, nicht wahr?«

»Ich finde es sehr seltsam«, hörte ich mich sagen, »ich finde es sogar äußerst seltsam, dass Claudine ihre italienische Freundin niemals ihrer italienischen Mutter gegenüber erwähnt hat. Und niemand hat sie bislang identifiziert? Ihr Photo war doch gestern in den Zeitungen, nicht wahr?«

»Ja, das Photo, das im Hospital auf genommen wurde. Aber Raoul, wenn das Mädchen im Ausland lebt und hier nur zu Besuch ist und dann ganz zufällig Claudine getroffen hat, dann kann es doch schon ein paar Tage dauern, bis ihre Familie oder ihre Bekannten von dem Unfall erfahren. Vielleicht leben die ja gar nicht in Washington.«

»Äußerst seltsam! Ich glaube, sie ist eine Griechin.«

»Warum Griechin?«, fragte Leon.

»Cassandra war Griechin, nicht wahr? Die Unglücksprophetin.«

»Bist du verrückt, Raoul?«

»Vielleicht bin ich das«, gab ich zu und verließ sein Zimmer.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Als ich ihr Gesicht auf den weißen Laken des Hospitalbettes erblickte, war mir klar, dass sie eines der schönsten und aufregendsten Mädchen war, die ich je im Leben gesehen hatte. Eine Welt von Fragen schien in ihren haselnussbraunen Augen zu liegen, und ein Schleier, gemischt aus Geheimnis und Furcht, schien sie von uns zu trennen. Dennoch lächelte sie Giselia freundlich und schüchtern an, als sie sie erkannte, und Mutter beugte sich über sie und küsste ihre Stirne.

»Wie fühlst du dich heute, Liebes?«, fragte Giselia zärtlich. »Viel besser, danke, Madame d’Harcourt, aber ich bin so betrübt über das, was Sie mir gestern erzählten, dass ich letzte Nacht viel geweint habe«, antwortete sie.