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Birgit Sandkaulen

Jacobis Philosophie

Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische
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eISBN (PDF) 978-3-7873-3629-6

eISBN (ePub) 978-3-7873-3691-3

www.meiner.de

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In memoriam Stephan Otto

Inhalt

Vorwort

I. Leitmotive

1. Jacobis »Spinoza und Antispinoza«

2. Fürwahrhalten ohne Gründe. Eine Provokation philosophischen Denkens

3. Wie »geistreich« darf Geist sein? Zu den Figuren von Geist und Seele im Denken Jacobis

4. Zwischen Spinoza und Kant: Jacobi über die Freiheit der Person

5. Dass, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen

6. Bruder Henriette? Derrida und Jacobi: Dekonstruktionen der Freundschaft

7. »Ich bin und es sind Dinge außer mir«. Jacobis Realismus und die Überwindung des Bewusstseinsparadigmas

8. Das »leidige Ding an sich«. Kant – Jacobi – Fichte

II. Bezüge

9. Ichheit und Person. Zur Aporie der Wissenschaftslehre in der Debatte zwischen Fichte und Jacobi

10. Fichtes Bestimmung des Menschen – Eine überzeugende Antwort auf Jacobi?

11. Dieser und kein anderer? Zur Individualität der Person in Schellings Freiheitsschrift

12. System und Zeitlichkeit. Jacobi im Streit mit Hegel und Schelling

13. Dritte Stellung des Gedankens zur Objektivität: Das unmittelbare Wissen

14. Metaphysik oder Logik? Die Bedeutung Spinozas für Hegels Wissenschaft der Logik

Siglenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Erstveröffentlichungsnachweise

Personenregister

Vorwort

Heinrich Heine, wie Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) ein Sohn der Stadt Düsseldorf, nennt Jacobi ein »altes Weib«, das als gefühlsselige »Marketenderin einer Glaubensarmee« durchs Land gezogen sei. Ein fatales Fehlurteil, das ganze Serien späterer Fehlurteile und Marginalisierungen vorweggenommen hat. Geht man hinter die Wirkungsgeschichte solcher Einschätzungen zurück, ist einer der prominentesten und auch gegenwärtig interessantesten Repräsentanten der klassischen deutschen Philosophie zu entdecken.

Als Intellektueller, nicht als akademisch bestallter Professor der Philosophie, greift Jacobi in alle wesentlichen Debatten der Zeit ein, die er genau genommen sogar initiiert und seine Zeitgenossen damit in Atem hält. Wie »ein Donnerschlag vom blauen Himmel herunter« (Hegel) beginnt das mit der großen Auseinandersetzung um die Philosophie Spinozas, dessen Aufstieg zu einem Klassiker der Philosophie wir Jacobi verdanken. Es setzt sich fort mit der Debatte um die kritische Philosophie Kants, die Jacobi folgerichtig und mit wiederum größter Resonanz im Streit mit Fichte und Schelling weiterführt. Nicht nur in deren Werk haben diese Debatten tiefe Spuren hinterlassen. Auch die Philosophie Hegels ist ohne Jacobis Anstöße gar nicht denkbar, wie Hegel selbst vielfach bezeugt. Als »mit Kant gleichzeitiger Reformator in der Philosophie« (Fichte) ist Jacobi die graue Eminenz der Epoche.

Warum sich dem zum Trotz der Schatten der Fehlurteile auf sein Werk gelegt hat, wäre eine eigene Untersuchung wert. Offenbar hat Jacobi weder in die Raster der Philosophiegeschichten gepasst, die im 19. Jh. im Milieu einer zusehends akademisch professionalisierten Philosophie entstehen, noch auch in Geschichten, wie Heine sie erzählt. Dafür ist sein Werk zu widerspenstig und zu provozierend gewesen, denn Jacobi tritt hier durchweg in einer Doppelrolle auf: Einerseits bewundert und unterstützt er den Erklärungsanspruch konsequenter Systemphilosophie, andererseits deckt er im Widerspruch eines »Salto mortale« als einer der scharfsinnigsten und hellsichtigsten Kritiker der Philosophie lange vor Kierkegaard deren Blößen auf. Im Sinne dieser Doppelrolle bezeichnet Jacobi sich selbst in der Debatte mit Fichte als »privilegierten Ketzer«: Privilegiert, weil er ein philosophischer Insider ist, dessen konzeptionell und sprachlich wirkmächtiger Einfluss auf die ganze klassische deutsche Philosophie am Tage liegt, und doch ein Ketzer, der im existentiellen Interesse personaler Freiheit mit seinen Analysen bewusst gegen nicht wenige philosophische Grundüberzeugungen verstößt.

War für solche Provokationen der Preis zahlloser Fehleinschätzungen zu zahlen, so geschieht seit einiger Zeit vieles, um diese Lage der Dinge zu ändern. Jacobis Werke liegen inzwischen vollständig in einer kritischen Edition vor. Die kritische Edition seines Briefwechsels, des reichsten philosophischen Korrespondenzcorpus der Epoche, das einen integralen Teil von Jacobis Werk bildet, ist über die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig erneut ins Akademienprogramm aufgenommen worden. Im Rahmen des Akademieprojekts wird auch ein »Wörterbuch Online« entstehen, das Jacobis Gesamtwerk – die philosophischen Schriften, die beiden Romane »Allwill« und »Woldemar« sowie die umfangreiche Korrespondenz – einschließlich der Rezeption Jacobis in der Epoche anhand signifikanter Schlüsselbegriffe erschließt. Daneben ist eine Reihe von Publikationen auf neuem Forschungsstand greifbar. Ein »Geheimtip« ist Jacobi insofern längst nicht mehr, aber anders als im Fall Kants oder Hegels ist sein Werk auch noch nicht millionenfach umgewälzt worden. In seinen Potentialen bleibt es historisch und systematisch fruchtbar zu machen.

Der vorliegende Band, der eine Auswahl meiner Aufsätze zu Jacobi enthält, erscheint anlässlich des 200. Todestags Jacobis im März 2019. Im ersten Teil des Bandes werden »Leitmotive« der Philosophie Jacobis entwickelt, im zweiten Teil folgt die Diskussion von »Bezügen«, die im Fokus der Auseinandersetzung mit Jacobi zu zentralen Werken Fichtes, Schellings und Hegels führen. Der sachliche Zusammenhang in der Komposition des Bandes stellt es frei, ihn entweder wie eine durchgehende Monographie zu lesen oder je nach Interesse einzelne Beiträge oder Schwerpunkte herauszugreifen. In den Fußnoten wird jeweils auf passende Anschlüsse innerhalb des Bandes verwiesen. Die ausgewählten Texte, darunter ein noch unveröffentlichter Text sowie zwei bisher in Japan und Spanien erschienene Aufsätze, wurden durchgesehen und in Formatierung und Zitierweise vereinheitlicht. Hier und da wurden Hinweise auf Forschungsliteratur ergänzt und zur leichteren Übersicht Zwischenüberschriften eingefügt, ansonsten wurde der Textstand unverändert übernommen. Dem Verlag Felix Meiner danke ich für die Aufnahme der »Philosophie Jacobis« in die Blaue Reihe, für ihre redaktionelle Mitarbeit bedanke ich mich bei Markus Gante, Tilman Schmidt und Daniel Elon. Für seine Mitwirkung bei der Entstehung des Bandes gilt mein besonderer Dank Oliver Koch.

Berlin, im Oktober 2018

Birgit Sandkaulen

I.

Leitmotive

1. Jacobis »Spinoza und Antispinoza«

»Was meinen Spinozaund Antispinoza angeht« (Spin: JWA 1,1, 274): mit diesem Wort hat Friedrich Heinrich Jacobi seinen philosophischen Ansatz kurz und treffend charakterisiert. Und sogleich ist klar: Einfach kann die Sache nicht sein, die ich im Folgenden vorstellen möchte. Einfach liegen die Dinge, wenn jemand eine Theorie oder eine Auffassung vertritt. Wenn aber jemand eine Doppelphilosophie verfolgt, dann handelt es sich unvermeidlich um eine komplexe Angelegenheit. Genau darin liegt das Besondere von Jacobis Position.1 Er spricht sich zugleich für Spinoza und gegen Spinoza aus. Einerseits bezieht er den Standpunkt Spinozas und andererseits ist er der Gegner Spinozas – und diese beiden gegensätzlichen Positionen lassen sich nicht voneinander trennen, sondern sie gehören in Form der Doppelphilosophie untrennbar zusammen. Wie soll man das verstehen?

Das möchte ich in drei Schritten zeigen. Im ersten Schritt berichte ich kurz vom historischen Ereignis der Spinozabriefe. Im zweiten Schritt lege ich die inhaltlichen Gesichtspunkte von Jacobis Doppelphilosophie frei, um im dritten Schritt dann ins innere Zentrumdieser Konzeption zu führen.

I. Das Ereignis der Spinozabriefe

Jacobis Doppelphilosophie des »Spinoza und Antispinoza« ist höchst ungewöhnlich und provokativ und hat eine immense Wirkung nach sich gezogen. Das ist das erste, was man festhalten muss. Tatsächlich lässt sich die Bedeutung Jacobis kaum überschätzen. Nicht allein ist ihm die sogenannte »Spinoza-Renaissance« gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu verdanken – wenn wir heute Spinoza als einen Klassiker der neuzeitlichen Philosophie studieren, dann geht dies ursprünglich auf Jacobi zurück, der Spinoza imoffiziellen Diskurs der Philosophie verankert hat. Über die Spinoza-Renaissance hinausgehend ist Jacobi auch von bahnbrechendem Einfluss auf die Ausbildung und Weiterentwicklung der nachkantischen Philosophie im Ganzen gewesen. Fichte, Schelling und Hegel, um nur die prominentesten Philosophen der nachkantischen Epoche zu nennen, wären gar nicht denkbar, wenn es die provokativen Anstöße Jacobis und die Auseinandersetzung mit seiner Doppelphilosophie nicht gegeben hätte. Die enorme Bedeutung Jacobis ist insofern vergleichbar mit der Bedeutung Kants. Beide, Kant und Jacobi, haben um 1800 – auf je unterschiedliche Weise – eine neue Epoche der Philosophie begründet: Kant mit seinem Grundwerk der Kritik der reinen Vernunft und Jacobi mit einem Buch, das den Titel Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn trägt.

Dieses Buch, von dem ich im Folgenden unter dem Kurztitel Spinozabriefe sprechen werde,2 ist erstmals 1785 erschienen und macht sofort eine ungeheure Sensation. 1789 publiziert Jacobi eine zweite erweiterte Auflage, in der erwesentliche Texte hinzufügt. Jacobi nennt diese Ergänzungen »Beilagen«, aber hier darf man sich nicht täuschen. Was normalerweise wie eine Zugabe klingt, die wenigerwichtig ist als der Haupttext, gehört im Falle Jacobis konstitutiv zum Haupttext hinzu. Insbesondere die »Beilage VII« ist von größter Relevanz, auf die ich später zurückkomme.

Zunächst aber kann man dem Titel des Buches wie auch der Erweiterungumdie sogenannten »Beilagen« entnehmen, dass nicht nur sein Inhalt – die erwähnte Doppelphilosophie »meines Spinoza und Antispinoza« –, sondern auchdie Formder Darstellung ungewöhnlich ist. Tatsächlich dürfte kaum jemals ein Buch einen solchen Effekt gemacht haben, das eigentlich gar kein »Buch« im strengen Sinne ist. Weit entfernt von einer durchgehend argumentierenden oder gar more geometrico demonstrierenden Abhandlung ist es in dieser Hinsicht weder mit Kants Kritik der reinen Vernunft noch mit Spinozas Ethik zu vergleichen. Vielmehr setzt sich Jacobis Buch aus einer Reihe verschiedener Text-›Bausteine‹ zusammen, und dies hat vor allem mit seiner spezifischen Entstehungsgeschichte zu tun. Nicht gänzlich, aber größtenteils ist die Publikation aus einem Briefwechsel hervorgegangen, den Jacobi – so steht es ja im Titel – »über die Lehre des Spinoza« mit Moses Mendelssohn geführt hat.

Anlass dieser Korrespondenz zwischen Jacobi und dem prominenten Vertreter der rationalistischen Berliner Aufklärung und engen Freund Lessings war eine brisante Nachfrage Jacobis: Ob Mendelssohn wisse, dass Lessing ein »Spinozist« gewesen sei (Spin: JWA 1,1, 8). Da Mendelssohn nichts davon weiß, übermittelt ihm Jacobi die Aufzeichnung seines Gesprächs mit Lessing, das 1780 in Wolfenbüttel stattgefunden hat und mit der Publikation der Spinozabriefe berühmt geworden ist. Nach Jacobis Darstellung besteht an Lessings Bekenntnis zu Spinoza kein Zweifel, und auch die wesentlichen Motive von Jacobis eigener Doppelphilosophie werden hier bereits greifbar. Auf diesen zentralen Text kommeich zurück, der gleichsam die älteste Schicht der Spinozabriefe bildet. An diesem Gespräch entzündet sich aber nun auch die Auseinandersetzung mit Mendelssohn, die unter dem Namen »Spinozastreit« in die Geschichte eingegangen ist. Es ist dies der erste große Streit, den Jacobi ausgetragen hat (später folgen dann nicht weniger wirkmächtig die Auseinandersetzung mit Fichte im Kontext des sogenannten »Atheismusstreits« und der »Streit um die göttlichen Dinge« mit Schelling). Das bedeutet: Mendelssohn ist – nach Lessing – der erste, der in statu nascendi das provokative Potential von Jacobis Doppelphilosophie zu spüren bekommt. Und dabei stellt sich heraus, dass er weder hinlängliche Kenntnis von Spinoza besitzt noch in der Lage ist, sich Jacobis Doppelposition des »Spinoza und Antispinoza« verständlich zu machen. Der Streit zwischen Mendelssohn und Jacobi kreist in der Folge daher wesentlich um die Frage, worin eigentlich die »Lehre des Spinoza« besteht und welche Optionen es gibt, sich zu dieser Lehre zu verhalten. Aber obwohl Jacobi eine Reihe weiterer Anstrengungen unternimmt, um die Sachlage zu verdeutlichen (darunter ein fiktiver Dialog mit Spinoza und eine dichtgedrängte Darstellung der Grundgedanken der Ethik in 44 Paragraphen), führt dies nicht zum Erfolg. Im Ergebnis scheitert Mendelssohn an dieser Debatte. Mit den Mitteln, über die er verfügt, den Mitteln des schulphilosophischen Rationalismus, kann er die für ihn ganz neuartige Konstellation nicht mehr bewältigen.

Auch deshalb wirkt die Veröffentlichung der Spinozabriefe 1785 als eine Sensation. Die Welt erfährt von Lessings Spinozismus, sie erfährt von Jacobis Doppelphilosophie, und sie sieht den bislang aus dem offiziellen Diskurs verbannten Spinoza überraschend und ungemein attraktiv auf die philosophische Bühne gestellt. Und in einem damit erfahrt die Welt eben auch, dass der Rationalismus Mendelssohns definitiv an sein Ende gekommen ist. Bereits Kant hatte diesen Rationalismus durchgreifend kritisiert. Jetzt und ganz anders als bei Kant liegt vollends am Tage, dass diese rationalistische Richtung des Denkens gescheitert ist. Um auf der Höhe der Zeit zu sein, das ist die Botschaft der Spinozabriefe, muss man hinter den schulphilosophischen Rationalismus ins 17. Jahrhundert zurückgehen: Man muss zurückgehen auf Spinozas verfemte und totgesagte Ethik. Diese revolutionäre Botschaft hat die intellektuelle Welt nach Hegels Worten »wie ein Donnerschlag vom blauen Himmel herunter« erschüttert.3

Eine alles in allem singuläre Geschichte, über die man immer von neuem staunen kann. Und ohne das Ereignis dieser Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Spinozabriefe vor Augen zu haben, kann manüber Jacobis Buch tatsächlich nicht sprechen. Das gilt im Übrigen auch für alle späteren Schriften Jacobis – nie hat er ›reine‹ Monographien geschrieben, immer hat er sich dialogisch mit anderen Positionen auseinandergesetzt: Er hat öffentliche Streitsachen geführt und genau damit die philosophische Entwicklung vorangetrieben. Was das Studium Jacobis betrifft, liegt darin allerdings auch eine Gefahr oder so etwas wie eine Verführung, der die Forschung zur klassischen deutschen Philosophie zu ihrem eigenen Schaden lange aufgesessen ist. Soweit Jacobi nicht seiner immensen Wirkung zum Trotz aus dem Kanon relevanter Texte schlicht verdrängt wurde, wurde er in der Hauptsache nur aus der Perspektive des Anregers wahrgenommen: aus der Perspektive all der vielen Zeitgenossen also, die im Bann des Ereignisses der Spinozabriefe standen. Und dabei hat man Jacobis eigene Position kurzerhand mit dem Reflex identifiziert, wie er in der Rezeption (bei Mendelssohn, Kant, Goethe, Herder, Fichte, Schleiermacher, Novalis, Reinhold, Schelling, Hegel usw. usw.) als seine vermeintlich eigene Position jeweils zur Sprache kam.

So aber kann man methodisch nicht verfahren. Zweifellos ist die Rezeption Jacobis ungemein wichtig, dies habe ich ja selbst mehrfach betont – aber man muss sich hüten, das wirkungsgeschichtliche Ereignis der Spinozabriefe mit Jacobis authentischer Position zu verwechseln. Dieser Zugang eröffnet keinen Weg zu Jacobis Denken: aus dem einfachen Grund, weil das Interesse der Zeitgenossennicht darin bestand, Jacobis Überlegungen zu folgen, sondern vielmehr darin, das Provokationspotential seines »Spinoza und Antispinoza« zu entschärfen. Dieses Interesse hat unweigerlich zu Fehlverständnissen, Auslassungen und Umdeutungen von Jacobis Doppelphilosophie geführt, die die Wirkungsgeschichte der Spinozabriefe in vielfacher Hinsicht prägen. Es ist hochinteressant, die Serie solcher Fehlverständnisse zu verfolgen, die alle mit dem Versuch zusammenhängen, der Problemdiagnose Jacobis zu entkommen. Damit erschließen sich ganz neue Forschungsperspektiven, die sich aber ihrerseits auch nur dann erfolgreich bearbeiten lassen, wennman grundsätzlich zwischen Jacobis authentischen Anliegen und der Rezeption seines Buches unterscheidet. In diesem Sinne rücke ich jetzt sozusagen in Klammern, was aus Jacobis »Spinoza und Antispinoza« im Fortgang der klassischen deutschen Philosophie geworden ist, und widme michder Konstellation bei Jacobi selbst.

II. System und Freiheit

»Was meinen Spinoza und Antispinoza angeht« – aus welchen Gründen spricht sich Jacobi sowohl für als auch gegen Spinoza aus? Warumvertritt erden Standpunkt Spinozas und warumist er zugleich der Meinung, man müsse auf die Seite des Antispinoza wechseln? Und wie hängen diese beiden Positionen miteinander zusammen? Offenbar liegt es in der Struktur dieser Konstellation, dass man die Frage nach der Position des »Antispinoza« nur dann beantworten kann, wenn zunächst einmal die Frage des »Spinoza« geklärt ist. Und dies ist bereits eine wesentliche Auskunft über Jacobis Denken. Er widmet sich Spinozas Ethik keineswegs aus bloß historischem Interesse. Es geht ihm nicht um die Beschäftigung mit einer Philosophie der Vergangenheit, sondern er behauptet, dass man sich die Position Spinozas vergegenwärtigen und wirklich aneignen muss. Was begründet diese These?

Die Antwort Jacobis lautet: Spinozas Metaphysik der Immanenz ist das einzigartige Paradigma eines schlechthin konsequenten Denkens. Sie ist der Inbegriff eines in sich geschlossenen und lückenlosen Systems – einer »Philosophie aus Einem Stück«.4 Diese Auffassung ist ganz neu, bisher hatte niemand dergleichen über Spinozas Ethik gesagt. Im Gegenteil: Bekannt war die Behauptung von Christian Wolff, dass Spinozas Lehre insgesamt nicht schlüssig sei. Auch und nicht zuletzt wegen dieser sogenannten »Widerlegung Spinozas« durch Wolff war Spinoza aus dem offiziellen Diskurs der Philosophie verdrängt. Allerdings hatte sich Wolff dabei auf die geometrische Methode der Ethik bezogen. Er hatte also das buchstäbliche Beweisverfahren der Sätze geprüft und als unzureichend verworfen.

Ganz anders verfährt Jacobi. Zu seiner neuen Auffassung gelangt er deshalb, weil er sich nicht auf die geometrische Form der Ethik bezieht. Ob mit Recht oder nicht hält er diese Form nur für eine äußerliche Einkleidung, hinter die man zurückgehen muss, um die innere Stringenz des Spinozanischen Monismus zu entdecken. Im Gespräch mit Lessing wird dieser neue Zugriff auf Spinozas Text ganz deutlich. Auf die Frage Lessings, was Jacobi für den »Geist des Spinozismus« halte, »den, der in Spinoza selbst gefahren war«, antwortet Jacobi:

»Das ist wohl kein anderer gewesen, als das Uralte: a nihilo nihil fit; welches Spinoza, nach abgezogenern Begriffen, als die philosophirenden Cabbalisten und andre vor ihm, in Betrachtung zog. Nach diesen abgezogenern Begriffen fand er, daß durch ein jedes Entstehen im Unendlichen, unter was für Bilder man es auch verkleide; durch einen jeden Wechsel in demselben, ein Etwas aus dem Nichts gesetzet werde. Er verwarf also jeden Uebergang des Unendlichen zum Endlichen […] und setzte an die Stelle des emanierenden ein nur immanentes Ensoph; eine inwohnende, ewig in sich unveränderliche Ursache der Welt, welchemit allen ihren Folgen zusammengenommen – Eins und dasselbe wäre.« (Spin: JWA 1,1, 18)

Jacobi kennt den Text der Ethik (und übrigens auch Spinozas Briefwechsel) sehr genau; alle seine Behauptungen kann ermit Zitaten aus Spinoza belegen – er ist, das kann man ohne Übertreibung notieren, der beste Kenner Spinozas in der ganzen Epoche, und der erste, der Spinozas Philosophie in ihrer inneren Folgerichtigkeit rekonstruiert. Aber noch einmal: Dem geometrischen Gang der Sätze folgt er dabei nicht. Anstatt den schrittweisen Beweis Spinozas dafür nachzuvollziehen, dass es nur eine Substanz geben kann und alles andere als interne Differenzierung der göttlichen Substanz in Attribute und Modi begriffenwerdenmuss, zielt Jacobi auf Anhieb ins Zentrum des spinozanischen Monismus: auf das entscheidende Theorem der göttlichen causa immanens als dem »lautere[n] Prinzipium der Würklichkeit in allem Würklichen, des Seyns in allem Daseyn« (Spin: JWA 1,1, 39).5

Dies ist kein willkürliches Vorgehen. Es verfälscht auch nicht Spinozas Philosophie. Jacobi überlegt nämlich, welchem Motiv diese Philosophie entsprungen ist, und völlig richtig führt er dieses Motiv auf das basale Interesse zurück, eine universale und vollkommen rationale Erklärung des Gesamtzusammenhangs der Welt und des Lebens der Menschen in dieser Welt zu geben. Aus diesem Grundinteresse universaler Erklärung heraus ist Spinozas Ethik aber nicht nur konzipiert – sie befriedigt dieses Interesse auch auf singuläre Weise. Eine erfolgreiche metaphysische Theorie muss auf innere Kohärenz zielen. Sie muss also eine Begründung des Endlichen auf eine Weise leisten, die jeglichen ontologischen Bruch oder »Übergang« zwischen Unendlichem und Endlichem vermeidet. Sie muss sich von jeglicher transzendenten Schöpfungslehre und auch vom neuplatonischen Emanationsdenken befreien, die beide einen rational nicht begreifbaren Anfang der Welt unterstellen. Dies ist Spinoza in der radikalen Umsetzung des Theorems »a nihilo nihil fit« auf einzigartige Weise gelungen.

Damit wird die Pointe von Jacobis ganz neuartigem Zugriff auf Spinoza klar. Indem er in Spinozas Metaphysik das Paradigma konsequenter Rationalität am Werke sieht, behauptet er zugleich, dass sich die inhaltlichen Aussagen Spinozas ebenso konsequent und in direkter Abhängigkeit daraus ergeben. Das epistemische Erklärungsinteresse und die ontologischen Aussagen dieser Metaphysik bilden einen unauflöslichen Zusammenhang. Der spinozanische Monismus konstituiert sich in genau diesem onto-logischen Zusammenhang und genau darin besteht Jacobi zufolge seine singuläre Stärke und Überzeugungskraft. Folgerichtig sind aus dem Grundtheorem der göttlichen Immanenz auch alle weiteren Aussagen Spinozas abzuleiten, wozu insbesondere die Parallelität der Attribute Denken und Ausdehnung sowie mitfolgend auf der Ebene der endlichen Modi die Parallelität von Geist und Körper und nicht zuletzt der damit verbundene Ausschluss der causa finalis gehören. Weder für Gott noch für den Menschen kann es so etwas wie ein intentionales Handeln geben, ein Handeln, das sich auf die Freiheit des Willens gründet und auf ein bewusst gesetztes Ziel hin entworfen ist. Dass Spinoza die Annahme der causa finalis im Gegenteil als das grundlegendste menschliche Vorurteil kritisiert und komplett aus seinen Überlegungen verbannt hat, ist, wie Jacobi unterstreicht, völlig konsequent und zwingend gedacht.

Und weil es sich so verhält, analysiert Jacobi die Metaphysik Spinozas nicht nur in ihrer rationalen Stringenz, sondern er bewundert sie auch. Er ist fasziniert von diesem Entwurf und der kompromisslosen Haltung Spinozas. Überaus bezeichnend ist seine Replik auf Lessings berühmt gewordenen Ausspruch, dass die »Leute doch immer von Spinoza wie von einemtodten Hunde [reden]«: »Sie würden vor wie nach so von ihm reden«, vermerkt Jacobi.

»Den Spinoza zu fassen, dazu gehört eine zu lange und zu hartnäckige Anstrengung des Geistes. Und keiner hat ihn gefaßt, dem in der Ethick Eine Zeile dunkel blieb; keiner, der es nicht begreift, wie dieser große Mann von seiner Philosophie die feste innige Ueberzeugung haben konnte, die er so oft und so nachdrücklich an den Tag legt. Noch am Ende seiner Tage schrieb er: … non præsumo, me optimam invenisse philosophiam; sed veram me intelligere scio. – Eine solche Ruhe des Geistes, einen solchen Himmel im Verstande, wie sich dieser helle reine Kopf geschaffen hatte, mögen wenige gekostet haben.« (Spin: JWA 1,1, 27)

Aber ist es nun etwa verwunderlich, dass Lessing daraufhin fragt: »Und Sie sind kein Spinozist, Jacobi!« (Spin: JWA 1,1, 27)? Alles deutet doch darauf hin, dass Jacobi ein rückhaltloser Vertreter der spinozanischen Position ist. Einen größeren Bewunderer und Verteidiger der Ethik als Jacobi kann es gar nicht geben. Und dennoch und gerade deshalb kommt jetzt die Wende. Jacobi ist kein Spinozist, sondern bezieht in genau diesem Augenblick die Position des »Antispinoza«. Wiederum zitiere ich wörtlich, wie er diese nach allem erstaunliche und gleichwohl ihrerseits konsequente Wende begründet:

»Ich liebe den Spinoza, weil er, mehr als irgend ein andrer Philosoph, zu der vollkommenen Ueberzeugung mich geleitet hat, daß sich gewisse Dinge nicht entwickeln lassen: vor denen man darum die Augen nicht zudrücken muß, sondern sie nehmen, so wie man sie findet. Ich habe keinen Begriff der inniger, als der von den Endursachen wäre; keine lebendigere Ueberzeugung, als daß ich thue was ich denke, anstatt, daß ich nur denken sollte was ich tue. Freilich muß ich dabey eine Quelle des Denkens und Handelns annehmen, die mir durchaus unerklärlichbleibt. Will ich aber schlechterdings erklären, so muß ich auf den zweyten Satz gerathen, dessen Anwendung auf einzelne Fälle, und in seinem ganzen Umfange betrachtet, kaum ein menschlicher Verstand ertragen kann.« (Spin: JWA 1,1, 28)

Drei Momente sind hier entscheidend. Erstens erfahren wir, worauf Jacobi in seiner Auseinandersetzung mit Spinoza inhaltlich zielt, nämlich auf das intentionale Handeln. Es ist ihm völlig bewusst, dass Spinoza ein solches Handeln nach Endursachen als eine menschliche Illusion verworfen hat und konsequenterweise auch verwerfen musste. Aber dies ändert nichts daran, dass es für Jacobi die »lebendigste Überzeugung« ist, die er hat. Damit ist zweitens klar, dass Jacobi nicht irgendeinen rein intellektuell-theoretischen Einwand gegen Spinoza erhebt, sondern aus der lebensweltlichen Praxis heraus spricht. Spinozas Metaphysik eröffnet den »Himmel im Verstande«, aber eben darum formuliert er eine »Ethik«, die direkt an den Lebensnerv rührt. Was Spinoza verlangt, ist eine so radikale Revision der lebensweltlichen Überzeugung freien Handelns, sie betrifft so sehr die Fundamente unseres Selbstverständnisses als handelnde Personen, dass die Vorstellung, seine Konzeption in den Lebensvollzug umzusetzen, zu einer ganz unerträglichen Vorstellung gerät.

Der dritte Punkt, der jetzt noch zu erwähnen ist, ist vielleicht der wichtigste von allen. Denn er zielt auf die epistemische Konsequenz in Jacobis Überlegungen. Wenn es nämlich so ist, dass Spinoza eine durch und durch rationale Theorie aufgestellt und aus diesem Grund das intentionale Handeln ausgeschlossen hat, dann folgt daraus, so argumentiert Jacobi, dass man ein solches Handeln nun nicht seinerseits mit rationalen Gründen verteidigen kann. Die »lebendige Überzeugung«, dass ich frei handle, indem »ich tue, was ich denke«, lässt sich nicht begründen. Sie ist ein Faktum lebensweltlicher Praxis, das »unerklärlich« bleibt. Denn sobald man in den Begründungsprozess eintritt, erweist es sich, wie Spinoza stringent gezeigt hat, als unrettbare Illusion.

So ist schließlich in den ersten entscheidenden Zügen deutlich geworden, worumes bei Jacobis »Spinoza und Antispinoza« geht und welche philosophische Provokation damit wirklich verbunden ist. Für die Seite Spinozas spricht der Inbegriff rationaler Stringenz – hier ist das Paradigma eines metaphysischen Systems in aller Konsequenz formuliert. Gegen Spinoza spricht die Erfahrung menschlicher Praxis – die »Teilnehmerperspektive«, wie man heute sagt. Und wiederum für Spinoza spricht, dass die Ethik aufgrund ihres konsequenten Zusammenhangs zwischen dem Interesse an vollständig rationaler Erklärung und den daraus folgenden ontologischen Aussagen zu genau der zentralen Einsicht verhilft, dass ein System einerseits und die Freiheitsüberzeugungen menschlicher Praxis andererseits nicht miteinander vereinbar sind. »Jeder Weg der Demonstration geht in den Fatalismus aus« (Spin: JWA 1,1, 123) – oder anders gesagt: Ein System der Freiheit kann es nach Jacobis Problemdiagnose nicht geben. Es genügt, dies so zu formulieren, um zu erahnen, was die nachkantischen Systemanstrengungen Fichtes, Schellings und Hegels in Atem halten wird.

Tatsächlich kommt die Provokation Jacobis vollends zum Vorschein, wenn ich jetzt noch den berühmt-berüchtigten »Salto mortale« ins Spiel bringe – den Sprung also, mit dem Jacobi von der Position des »Spinoza« auf die Seite des »Antispinoza« wechselt. »Ich helfe mir durch einen Salto mortale aus der Sache«, sagt Jacobi im Gespräch mit Lessing. Und nachdem Lessing wissen will, was es damit auf sich hat, erläutert Jacobi: »Sie mögen mir es immer absehen. Die ganze Sache bestehet darin, daß ich aus dem Fatalismus unmittelbar gegen den Fatalismus, und gegen alles, was mit ihm verknüpft ist, schließe.« (Spin: JWA 1,1, 20) Was ich eben dargestellt habe, ist also nichts anderes als genau dieser Sprung. Der Sprung ist ein praktischer Vollzug, der die Überzeugungen der lebensweltlichen Praxis verteidigt. Und es kann dies nur ein Sprung sein, weil es unmöglich ist, gegen ein konsequent rationales System seinerseits logisch zu argumentieren. Jacobi hat diesen fundamentalen Sachverhalt auch noch in folgender Weise zum Ausdruck gebracht: Danach ist die »Lehre des Spinoza« »unwiederleglich«, aber »nicht unwidersprechlich« (Spin: JWA 1,1, 290).

Zwischen Widerlegung und Widerspruch muss man also unterscheiden. Spinozas Metaphysik kann man nicht widerlegen; man kann nicht mit rational-logischen Einwänden gegen sie vorgehen – könnte man es, würde es sich nicht um das einzigartige Paradigma eines perfekten Systems handeln. In strenger Konsequenz heißt das, dass man nach der Diagnose Jacobis die Konzeption Spinozas weder in irgendeiner Weise ›verbessern‹ oder in demein und anderen Punkt ›ändern‹ noch und schon gar nicht eine Alternative zu Spinoza konstruieren kann, die ebenso rational und monistisch geschlossen wäre wie Spinozas Ethik selbst. All dies ist aufgrund der Logik der Sache unmöglich. Einwände gegen Spinozas Philosophie sind damit nicht ausgeschlossen. Um sie zur Geltung zu bringen, bleibt aber nur die Figur eines praktischen Widerspruchs. Aufs Ganze besehen bedeutet das, dass man sich entscheiden muss. Tatsächlich zielt Jacobi auf eine solche Entscheidung. Entweder steht man auf dem Standpunkt Spinozas und akzeptiert seine Position mit allen dazugehörenden Konsequenzen. Oder aber man widerspricht seinem System im Interesse freien Handelns und vollzieht dann diesen Widerspruch im Sprung aus dem System heraus auf die Seite des »Antispinoza«.

Offenkundig ist dies eine provozierende Konstellation. Dass keiner von Jacobis Zeitgenossen der Aufforderung zum Sprung gefolgt ist, wundert in gewisser Weise nicht. In jedem Fall ist es aber ein Missverständnis, den Sprung für einen irrationalen Akt zu halten. Was Jacobi im Auge hat, ist kein irrationaler Befund, sondern der Aufweis von Grenzen der Rationalität. Nicht alles, was bedeutsam ist, was sich im Leben als bedeutsam aufdrängt, ist rational erfassbar. Dafür hat Jacobi im Gespräch mit Lessing eine eindrucksvolle Formel geprägt, die in die Wirkungsgeschichte der Spinozabriefe eingegangen und sogar noch bei Feuerbach zu finden ist: »Nachmeinem Urtheil ist das größeste Verdienst des Forschers, Daseyn zu enthüllen, und zu offenbaren … Erklärung ist ihm Mittel, Weg zum Ziele, nächster – niemals letzter Zweck. Sein letzter Zweck ist, was sich nicht erklären läßt: das Unauflösliche, Unmittelbare, Einfache.« (Spin: JWA 1,1, 29) Enthüllen: das heißt ›Aufdecken‹ oder ›Zeigen‹. Dies ist der Modus, in dem uns in letzter Instanz, wie Jacobi überzeugt ist, die Fundamente unseres Lebens zugänglich werden, in dem wir uns der Gewissheit freien Handelns versichern.

III. Die Vermischung von Grund und Ursache

Bisher habe ich vom Sprung aus dem »Fatalismus« gesprochen, aber noch nicht erwähnt, dass sich in Jacobis Spinozabriefen auch dieser Satz findet: »Spinozismus ist Atheismus« (Spin: JWA 1,1, 120). In der Wirkungsgeschichte des Buches hat er besonders viel Aufsehenerregt, was zunächst einmal verständlich ist. Als solche, das ist klar, sind die Vorwürfe sowohl des »Fatalismus« als auch des »Atheismus« völlig konventionell – diese Kritik an Spinoza hat es immer schon gegeben. Nach Jacobis Analyse erhalten sie aber ein ganz anderes Gewicht. Denn die Negation der Willensfreiheit und einer transzendenten Vorstellung Gottes erscheint ja nun nichtmehr als beliebige – undvor allem verwerfliche – Ansicht Spinozas, sondern als notwendige und unvermeidliche Konsequenz stringenter Rationalität. Im Vergleich mit Kants Vernunftkritik wird die Provokation dieser These noch einmal deutlicher. Gegenstände rationaler Erkenntnis sind Freiheit und Gott auch bei Kant nicht mehr. Aber immerhin sind sie noch »Ideen«, auf die die Vernunft im Interesse der Letztbegründung des Bedingten im Unbedingten stößt und die zu denken zumindest nicht widersprüchlich ist. Jacobi hingegen bestreitet auch noch diese Option – konsequente Rationalität führt nicht zu Kants »kritischer« Metaphysik, sondern zu Spinozas Metaphysik der Immanenz zurück.

Allerdings habe ich den sogenannten Atheismus-Vorwurf Jacobis bisher ganz bewusst nicht erwähnt. Gerade er hat das besonders gravierende Missverständnis veranlasst, als reklamiere Jacobi gegen Spinoza das traditionelle Weltbild des christlichen Glaubens. Davon kann aber gar keine Rede sein. Zwar gehört der Bezug auf eine »verständige persönliche Ursache der Welt« (Spin: JWA 1,1, 20) – als Kontrastfigur zur spinozanischen causa immanens – zur Position des »Antispinoza« hinzu. Jedoch hat dies nichts mit der Beschwörung traditioneller Religion zu tun. Im Gegenteil habe ich im zweiten Schritt gezeigt, wie Jacobi wirklich operiert: Sämtliche »Überzeugungen«, die er gegen Spinoza geltend macht, wurzeln in der Erfahrung menschlichen Handelns. Auf diesen elementaren Bezug auf die lebensweltliche Praxis kommt es in jeder Hinsicht an.

Dies möchte ich, soweit es an dieser Stelle möglich ist, in meinem dritten und letzten Schritt untermauern, der anhand der schon erwähnten »Beilage VII« nun vollends ins innere Zentrum der Doppelphilosophie führt. Auch in diesem Text stellt Jacobi zunächst die paradigmatische Gültigkeit von Spinozas Metaphysik heraus und belegt diese These sogar noch durch eine philosophiegeschichtliche Skizze: Alle Probleme, die von der Antike bis hin zu Descartes ungelöst geblieben waren, vermag Spinozas Philosophie erfolgreich zu lösen. Aber, so heißt es dann weiter, was Spinoza »eigentlich zu Stande bringen wollte: eine natürliche Erklärung des Daseyns endlicher und successiver Dinge, konnte durch seine neue Vorstellungsart so wenig, als durch irgend eine andre erreicht werden« (Spin: JWA 1,1, 251).

Auf den ersten Blick scheint diese Behauptung in eklatantem Widerspruch zu dem bisher Gesagten zu stehen. Ging es nicht gerade darum, dass es Spinozas Monismus gelungen ist, das endliche Dasein »natürlich«, nämlich als Modifikation der göttlichen Substanz und ihrer immanenten Kausalität zu erklären? Darum ging es in der Tat, und davon nimmt Jacobi jetzt auch nichts zurück. Was er jetzt jedoch radikaler hervorhebt als im Gespräch mit Lessing (wo davon durchaus auch schon die Rede war), ist ein Problem, in das sich sogar das perfekte System verstrickt – gerade weil es die endlichen Dinge erfolgreich als Produkte der causa immanens begründet. Worin besteht dieses Problem? Es besteht darin, dass die endliche Welt, die Welt der Natur und die Lebenswelt der Menschen, eine zeitlich verfasste Welt ist. Jacobis durchgreifende These lautet, dass an eben diesem Phänomen der Zeit jede, auch Spinozas Metaphysik scheitert.

Im Falle von Spinoza läuft dies nach Jacobis Analyse nicht darauf hinaus, dass die Zeit einfach negiert und alles in Ewigkeit aufgelöst wird. Das Problem ist dramatischer: Spinozas Ontologie gerät in die paradoxe, in sich widersprüchliche Bestimmung einer »ewige[n] Zeit« (Spin: JWA 1,1, 251), über die sie sich zugleich auch noch hinwegzutäuschen sucht. Dass Jacobi mit dieser Diagnose eine glänzende Problembeschreibung liefert, kann ich hier nur andeuten.6 Die endlichen Dinge haben laut Spinoza ein ewiges Wesen und eine Existenz in der Zeit. Wenn aber unter monistischen Bedingungen gelten soll, dass nichts außer Gott sein und gedacht werden kann, dann kann auch die zeitliche Existenz nicht aus der göttlichen Immanenz herausfallen. Und das bedeutet, dass es keinen offenen Zeitverlauf geben kann. Die zeitliche Sukzession, das Phänomen also, dass endliche Dinge entstehen und vergehen, muss wie das ewige Wesen der Dinge in der göttlichen Einheit begriffen sein: womit sich das Phänomen zeitlicher Veränderung aufhebt in einer »ewigen Zeit«, in der »die Dinge entstehen können, ohne daß sie entstehen; sich verändern, ohne sich zu verändern; vor und nach einander [sind], ohne vor und nach einander zu seyn« (Spin: JWA 1,1, 256 f.).

Jacobi stößt aber mit dieser Problemdiagnosenicht nur in den Kern der Ethik vor. Er liefert auch ein treffscharfes Argument dafür, wie es zu dieser Aporie der »ewigen Zeit« kommt. Spinoza, so lautet dieses Argument, hat den Begriff der Ursache mit dem Begriff des Grundes vermischt – ratio sive causa heißt es in der Ethik. Diese Gleichsetzung oder Vermischung von Grund und Ursache ist für die Konzeptionder spinozanischen Metaphysik einerseits notwendig und andererseits ist sie zugleich verantwortlich für ihre unauflösbare Problematik. Welcher »wesentliche Unterschied« (Spin: JWA 1,1, 256) der beiden Begriffe wird hier vermischt? Jacobis Antwort lautet: Der Begriff des Grundes ist ein logischer Begriff – er impliziert das logische Abhängigkeitsverhältnis von Grund und Folge. Der Begriff der Ursache hingegen ist völlig anderer Art. Er verweist auf das reale Abhängigkeitsverhältnis von Ursache und Wirkung und damit auf eine Differenz in der Zeit. Als eine Bestimmung nicht der Logik, sondern der zeitlich verfassten Wirklichkeit ist der Begriff der Ursache ein »Erfahrungsbegriff«, den wir dem Bewusstsein unseres Handelns verdanken. Wir erfahren uns als Akteure, als handelnde Personen, die ursächlich eine Tat – eine Wirkung – in der Welt hervorbringen (Spin: JWA 1,1, 255ff.).

Ausgehend von dieser Erläuterung sind im Folgenden fünf Punkte zu beachten. Erstens ist mit Blick auf den Begriff der Ursache zusehen, dass Jacobi wiederumdie Erfahrungsdimension des Handelns ins Spiel bringt, die er jetzt auchnochausdrücklich mit dem Phänomender Zeit verknüpft – denn »eine Handlung, die nicht in der Zeit geschähe, ist ein Unding« (Spin: JWA 1,1, 257). Auf die Konstellation der Doppelphilosophie bezogen, heißt das zweitens, dass die Seite des »Antispinoza« nun noch genauere Konturen gewinnt. Jacobi geht es um die Verteidigung unseres Welt- und Selbstverständnisses, von dem die Erfahrung der Zeit nicht abgetrennt werden kann. Damit nimmt er offenkundig das Anliegen der modernen Existenzphilosophie in wesentlichen Aspekten vorweg.

Im Kontrast dazu gilt für die Seite Spinozas drittens, dass ermit der Vermischung von Grund und Ursache ein logisches Verhältnis mit der Handlungserfahrung realer Kausalität fälschlich identifiziert. Die reale Ursache wird vermeintlich zum logischen Grund und der logische Grund schreibt sich in die zeitliche Differenz zwischen Ursache und Wirkung ein, als handle es sich umdie Abhängigkeit einer Folge. So entsteht die Paradoxie der »ewigen Zeit«. Dass aber Spinoza so verfährt und ganz fraglos zwischen die Bestimmungen von »ratio« und »causa« ein »sive« setzt, ist kein Zufall, sondern konstituiert geradezu seine ganze Konzeption – die Grundlegung seiner Metaphysik in der göttlichen causa immanens also, die sich der beschriebenen Vermischung der Hinsichten von Grund und Ursache verdankt.

Hätte Spinoza sich beschränkt auf die Hinsicht des Grundes, dann hätte er eine reine Logik verfasst ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit. Hätte er sich hingegen ausschließlichauf die Bestimmungder Ursache konzentriert, hätte er auf das Interesse vollständiger Erklärung verzichten und von Gott als einempersonalen Akteur sprechenmüssen, der intentional handelt. Nichts aber ist Spinoza ferner gelegen als das. Mit anderen Worten: Soll die Ethik eine onto-logische Bedeutung haben, soll sie vollständig rational sein und sich zugleich auf die Wirklichkeit beziehen, dann ist sie zur Vermischung von Grund und Ursache im Zentrum des Monismus gezwungen – und scheitert dennoch und eben deshalb, weil sie die genuine Wirklichkeit der zeitlichen Welt nicht trifft. Im Zentrum der causa immanens herrscht Verwirrung: Die göttliche Substanz ist der Grund, aus dem alles folgt (sequi); und zugleich wird Gott eine Ursache genannt, der ein Handeln zugeschrieben wird (agere). Im Resultat bezeichnet Jacobi den Gott Spinozas als »blind actuoses Wesen« (Spin: JWA 1,1, 265). Ich halte dies wie gesagt für eine großartige Analyse der Ethik7 – und wenigstens im Vorbeigehen sei vermerkt, dass Fichte, Schelling und Hegel, wenn sie auf diese Analyse der »Beilage VII« geachtet hätten, vielleicht etwas vorsichtiger mit der Behauptung gewesen wären, Spinozas System der Substanz durch ein System des Subjekts ersetzen zu können, das Jacobis Einwänden hinreichend Rechnung trägt.

Zum vierten Punkt: Ich habe eben mit Blick auf die Doppelphilosophie gesagt, dass Jacobi die zeitliche Erfahrungsdimension des Handelns auf der Seite des »Antispinoza« verteidigt. Das ist völlig richtig, und doch muss man noch einmal genauer hinschauen. Dann ist nämlich ausdrücklich festzuhalten, dass Spinoza seinerseits die Begriffe von Grund und Ursache gar nicht hätte vermischen können, wenn nicht auch er – in Gestalt der Ursache – den Erfahrungsbefund des Handelns implizit vorausgesetzt (und dann explizit logisch überformt) hätte. Tatsächlich ist genau dies Jacobis ungemein bedeutsame These. Das heißt: Die Doppelphilosophie des »Spinoza und Antispinoza« stellt nicht einfach zwei gegensätzliche Positionen nebeneinander. Vielmehr legt sie auf der Seite des »Spinoza« selbst die Fundamente menschlicher Praxis frei und zeigt zugleich, dass und wie sie auf dieser Seite des Systems dem Prozess der Rationalisierung unterworfen werden. Was Jacobi, wie vorhin zitiert, »Dasein enthüllen« nennt, ist somit auch für die Auseinandersetzung mit der Position des »Spinoza« relevant.

Damit komme ich zum fünften und letzten Punkt: nämlich zu Jacobis in der »Beilage VII« im einzelnen entwickelten Überzeugung, dass in die Erfahrung unseres Handelns eine metaphysische Dimension eingeschrieben ist. Ursächliches Handeln aus Freiheit setzt den Anfang einer Veränderung in der Welt. Und obwohl wir als endliche Wesen den Bedingungen der Natur unterworfen sind, gewinnen wir im freien Handeln das Bewusstsein von etwas Unbedingtem, das aus den Bedingungen des Endlichen nicht abzuleiten ist und das deshalb als ein unerklärbares Faktum die menschliche Existenz auf etwas absolut Unbedingtes, auf den Anfang einer absoluten Ursache verweist. Nicht aus der traditionellen Religion, sondern im Bewusstsein freien Handelns »enthüllt« Jacobi mithin, was zur Position des »Antispinoza« wesentlich hinzugehört: den Bezug auf Gott als »verständige persönliche Ursache der Welt«. Aber das ist nicht alles, was zuletzt zu sagen bleibt, denn wiederum ist die Konstellation der Doppelphilosophie zu beachten. In Form einer Frage formuliert: Wie ist denn Spinoza eigentlich auf den Gedanken gekommen, im Interesse einer universalen Erklärung den Gesamtzusammenhang der Welt im Unendlichen, in einer absoluten göttlichen Substanz zu begründen? Die Antwort Jacobis ist klar: Wann und wie immer metaphysische Systeme auf die Dimension des Absoluten zielen, liegt ihnen dasjenige Bewusstsein des Unbedingten zu Grunde, das Menschen in der Erfahrung des Handelns gewinnen.

1Vgl. zum Folgenden ausführlich Sandkaulen 2000. Zuerst hat Dieter Henrich von Jacobis »Doppelphilosophie« gesprochen (Henrich 1993).

2Ausdrücklich verwende ich nicht den Titel »Spinozabüchlein«, der von Matthias Claudius stammt und sich in der älteren Forschung leider eingebürgert hat. Es ist klar, dass Jacobi kein »Büchlein« vorgelegt hat, sondern ein gewaltiges Grundlagenwerk der ganzen klassischen deutschen Philosophie.

3Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, TWA 20, 316f. Der »Donnerschlag« war im Übrigen umso gewaltiger, als Jacobi sogleich auch die Vernunftkritik Kants in die Auseinandersetzung einbezogen hat. In diesem Band gehe ich darauf an verschiedenen Stellen näher ein.

4Diese Formulierung prägt Jacobi im Brief an Fichte (1799) (JF: JWA 2,1, 200), in dem er Fichtes Wissenschaftslehre als Verklärung der spinozanischen Metaphysik analysiert. Strukturell aufschlussreich ist zugleich, dass die Konstellation des »Spinoza und Antispinoza« im Kontext Fichtes in die Konstellation zwischen »Alleinphilosophie« und »Unphilosophie« übersetzt wird. Siehe zum Diskussionskomplex Jacobi-Fichte die Texte Nr. 8, 9 und 10 in diesem Band.

5Wie viele andere Passagen ist auch diese Formel vom »Sein in allem Dasein« höchst wirkmächtig geworden. Eine zentrale Rolle spielt sie in Hegels Seinslogik (vgl. GW 21, 100 und GW 20, § 86). An einer Stelle wie dieser zeigt sich zugleich, wie sehr Jacobi mit der Übersetzung der scholastischen Sprache Spinozas in eine neue philosophische Sprache auch begriffs- und sprachbildend tätig gewesen ist. Jacobi war, das ist nicht zu vergessen, nicht nur Philosoph, sondern auch Autor von zwei viel beachteten Romanen (Allwill und Woldemar) – ein Schriftsteller also, der über eminente stilistische Qualitäten verfügte.

6Siehe dazu den Text Nr. 12 in diesem Band.

7Einzubeziehen ist hier Jacobis strukturgenauer und differenzierter Rekurs auf Giordano Bruno, dem er die Beilage I der Zweitauflage der Spinozabriefe gewidmet hat (vgl. Otto 2004).

2. Fürwahrhalten ohne Gründe. Eine Provokation philosophischen Denkens

Eines der denkwürdigsten und folgenreichsten philosophischen Gespräche ereignet sich 1780 in Wolfenbüttel, ein Jahr vor dem erstmaligen Erscheinen von Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Gesprächspartner sind Lessing und Jacobi, den Gegenstand ihrer Unterhaltung bildet die Philosophie Spinozas. Keiner dieser drei ist ordentlicher Professor der Philosophie, was für die Unterredung von nicht unerheblicher Bedeutung ist. Primär scholastische Fragen interessieren hier nicht. In zwangloser Eleganz den Sitten des 18. Jahrhunderts angepasst sind dementsprechend die Umstände. Der wichtigste Teil des Gesprächs findet Jacobis Aufzeichnung zufolge während der morgendlichen Prozedur des Ankleidens und Frisierens statt. Kann man sich in einer solchen Szenerie auf ein seriöses Sujet konzentrieren? Ganz offenbar – man kann: Der Ton ist leicht bis ironisch, das wechselseitige Vergnügen an einer freien tour d’esprit knistert zwischen den Zeilen, aber die Sache ist nichtsdestotrotz gewichtig.