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Die Herausgeberinnen

 

Prof. Dr. Eva Büschi, Dipl. Sozialarbeiterin und Dipl. Verbands-/NPO-Managerin, ist seit 2004 Dozentin an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Sie hat an der Universität Fribourg Sozialarbeit, Ethnologie und Journalistik/Kommunikationswissenschaften studiert und an der Universität Zürich in Erziehungswissenschaft promoviert. Ihre Arbeitsschwerpunkte in Lehre, Forschung und Weiterbildung umfassen herausfordernde Verhaltensweisen von Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen, Gewalt, Trauma und Kooperative Prozessgestaltung sowie Projektmanagement.

 

Dr. Stefania Calabrese, Erziehungswissenschaftlerin, ist seit 2016 Dozentin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Sie hat an der Universität Zürich Sozial- und Sonderpädagogik, Pädagogische Psychologie und Kriminologie studiert und in Erziehungswissenschaft promoviert. Ihre Schwerpunkte in Forschung, Lehre und Weiterbildung sind: Herausfordernde Verhaltensweisen von Menschen mit Beeinträchtigungen, agogische Aspekte bei schwerer und mehrfacher Beeinträchtigung sowie Lebensqualität und Bildung im Kontext von Behinderung.

Eva Büschi, Stefania Calabrese (Hrsg.)

Herausfordernde Verhaltensweisen in der Sozialen Arbeit

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033816-6

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033817-3

epub:  ISBN 978-3-17-033818-0

mobi:  ISBN 978-3-17-033819-7

Vorwort zur Reihe

 

 

 

Mit dem so genannten »Bologna-Prozess« galt es neu auszutarieren, welches Wissen Studierende der Sozialen Arbeit benötigen, um trotz erheblich verkürzter Ausbildungszeiten auch weiterhin »berufliche Handlungsfähigkeit« zu erlangen. Die Ergebnisse dieses nicht ganz schmerzfreien Abstimmungs- und Anpassungsprozesses lassen sich heute allerorten in großvolumigen Handbüchern nachlesen, in denen die neu entwickelten Module detailliert nach Lernzielen, Lehrinhalten, Lehrmethoden und Prüfungsformen beschrieben sind. Eine diskursive Selbstvergewisserung dieses Ausmaßes und dieser Präzision hat es vor Bologna allenfalls im Ausnahmefall gegeben.

Für Studierende bedeutet die Beschränkung der akademischen Grundausbildung auf sechs Semester, eine annähernd gleich große Stofffülle in deutlich verringerter Lernzeit bewältigen zu müssen. Die Erwartungen an das selbstständige Lernen und Vertiefen des Stoffs in den eigenen vier Wänden sind deshalb deutlich gestiegen. Bologna hat das eigene Arbeitszimmer als Lernort gewissermaßen rekultiviert.

Die Idee zu der Reihe, in der das vorliegende Buch erscheint, ist vor dem Hintergrund dieser bildungspolitisch veränderten Rahmenbedingungen entstanden. Die nach und nach erscheinenden Bände sollen in kompakter Form nicht nur unabdingbares Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit bereitstellen, sondern sich durch ihre Leserfreundlichkeit auch für das Selbststudium Studierender besonders eignen. Die Autor/innen der Reihe verpflichten sich diesem Ziel auf unterschiedliche Weise: durch die lernzielorientierte Begründung der ausgewählten Inhalte, durch die Begrenzung der Stoffmenge auf ein überschaubares Volumen, durch die Verständlichkeit ihrer Sprache, durch Anschaulichkeit und gezielte Theorie-Praxis-Verknüpfungen, nicht zuletzt aber auch durch lese(r)-freundliche Gestaltungselemente wie Schaubilder, Unterlegungen und andere Elemente.

Das vorliegende Buch ist ein Beitrag schweizerischer Fachexpert/innen zu der Lehrbuchreihe. Es nimmt selbstredend Bezug (auch) auf Schweizer Recht und Schweizer Institutionen. Die landestypische Orthografie weicht gelegentlich leicht von den deutschen Regeln ab (z. B. Gebrauch des Doppel-s statt des ß).

 

Prof. Dr. Rudolf Bieker, Köln

Zu diesem Buch

Eva Büschi & Stefania Calabrese

 

 

 

In der Praxis wie auch in der Theorie werden für das Phänomen der herausfordernden Verhaltensweisen vielfältige Parallelbegriffe verwendet: Verhaltensauffälligkeiten, -probleme oder -störungen; auffälliges, abweichendes, aggressives oder originelles Verhalten, (psycho-)soziale Auffälligkeiten, bedrohliches sowie festgefahrenes Verhalten (vgl. Heijkoop 2014; Theunissen 2011; Schanze/Sappok/Kehrle 2014; Wüllenweber 2001). Die genannten Begriffe bringen rein vom Wortsinn her betrachtet zum Ausdruck, dass die damit gemeinten Verhaltensweisen als lästig, störend oder problematisch definiert und somit negativ gewertet werden. Zugleich werden die Verhaltensweisen stark personenbezogen betrachtet, über Zuschreibungsprozesse individualisiert und oft pathologisiert (Büschi/Calabrese 2018: 34).

Zwar sind Verhaltensweisen tatsächlich personengebunden, dennoch sind sie nicht als individuelles, personeninhärentes Problem zu bezeichnen. Vielmehr gilt es, sie als multifaktoriell bedingt zu verstehen und systemökologisch zu betrachten. Dabei sind besonders die Wechselwirkungen und Interaktionen zwischen Individuum und Umwelt zu fokussieren. Um tendenziell personenzentrierte Negativzuschreibungen zu vermeiden, wird daher nachfolgend auf die oben genannten älteren Begriffe verzichtet. Mit Störmer (vgl. 2014: 257) wird eine Flexibilisierung der starren Begrifflichkeiten postuliert, um kontextuelle, situative und interaktive Aspekte stärker zu berücksichtigen.

Im internationalen Fachdiskurs hat sich seit den 1990er-Jahren der Begriff »Herausfordernde Verhaltensweisen« (challenging behavior) durchgesetzt. Dieser Ausdruck ist jedoch bisher im deutschsprachigen Raum erst wenig etabliert, obwohl er die geforderte begriffliche Flexibilisierung und Dynamik zumindest in Ansätzen beinhaltet (vgl. Calabrese 2017: 22). Um die Terminologie im vorliegenden Band einheitlich zu handhaben, wurden alle Autorinnen und Autoren gebeten, den Begriff »herausfordernde Verhaltensweisen« zu verwenden. Nachfolgend wird erläutert, wie dieser Begriff verstanden wird.

Herausfordernde Verhaltensweisen können sehr unterschiedlich ausgestaltet sein und sich in vielfältigen Formen und Situationen manifestieren. Sie werden folgendermassen definiert:

•  Sie umfassen externalisierende (z. B. selbst- und/oder fremdverletzende oder sachbeschädigende, sexualisierte, verweigernde Verhaltensweisen, Bedrohungen, Provokationen) und internalisierende (z. B. Antriebslosigkeit, Passivität oder Rückzug) Verhaltensweisen.

•  Sie können sowohl verbal als auch nonverbal erfolgen und sich gegen die eigene Person, gegen andere begleitete Personen, gegen Mitarbeitende, Angehörige oder unbeteiligte Dritte richten.

•  Sie können sich mittels spezifischer Anzeichen ankündigen oder (scheinbar) abrupt und plötzlich eintreffen.

•  Sie können gezielt ausgeübt und gerichtet wirken oder aber eher impulsiv, unkontrolliert und unberechenbar (im Sinne eines Kontrollverlusts) (vgl. Büschi et al. 2015).

Laut Wüllenweber weisen diese Verhaltensweisen eine bestimmte Intensität auf, wiederholen sich regelmässig und über eine gewisse Dauer hinweg. Sie sind kritisch für die Personen selbst (durch Folgen wie Isolation, Einschränkungen in der Teilhabe und Partizipation an der Gesellschaft, Ablehnung, Ausschluss aus Institutionen) wie auch für das Umfeld (durch physische und psychische Belastung und Überforderung), woraus sich ein Unterstützungsbedarf auf beiden Seiten ergibt (vgl. Wüllenweber 2003; Wüllenweber 2009).

In der Praxis der Sozialen Arbeit werden gerade externalisierende Verhaltensweisen vielfach als besonders herausfordernd erlebt, da diese in der Regel eine unmittelbare (Krisen-)Intervention verlangen. Neben der Klientel sind Professionelle der Sozialen Arbeit oft direkt involviert (sei es als Opfer von Verletzungen, als Bedrohte oder als in der Situation Mitbeteiligte), und das wiederholte Erleben von herausfordernden Verhaltensweisen kann zu psychischen und physischen Belastungen führen. Nach Hastings (2002: 462) besteht einige Evidenz, wonach herausfordernde Verhaltensweisen mit Stress für die Begleitpersonen verbunden sind. Auch Habermann-Horstmeier und Limbeck (2016: 517), die Begleitpersonen in der stationären Behindertenhilfe in Deutschland befragten, stellten fest, dass herausfordernde Verhaltensweisen für gut einen Drittel der Begleitpersonen einen Belastungsfaktor darstellen. Gleichwohl gilt es, neben den oft fokussierten externalisierenden auch internalisierenden Verhaltensweisen in den Blick zu nehmen, sie zu verstehen und Interventionsmöglichkeiten zu deren Minimierung zu eruieren.

Die oben genannten Verhaltensweisen werden als herausfordernd bezeichnet, weil sie einerseits Ausdruck der subjektiv erlebten Herausforderung der Person selbst sind. Andererseits fordern solche Verhaltensweisen aber auch die soziale Umwelt (Mitarbeitende, Mitbewohnende, Angehörige und ganze Systeme) heraus – es handelt sich also um eine doppelte Herausforderung. Der Begriff eignet sich insbesondere, weil er die Vorstellung stützt, dass herausfordernde Verhaltensweisen nicht als individuelle Eigenschaften zu betrachten, sondern vielmehr multifaktoriell bedingt sind. In der Sozialen Arbeit appelliert diese Bezeichnung somit an die Professionellen, Fach- und Begleitpersonen, die eine Verhaltensweise als herausfordernd wahrnehmen, sich selber, das eigene Handeln und den Kontext, in dem die herausfordernden Verhaltensweisen gezeigt werden, zu reflektieren. Sie sind gefordert, Lern- und Bildungsprozesse der begleiteten Personen zu unterstützen, indem sie Bedingungen modifizieren, Strukturen verändern, Angebote anpassen etc. Herausfordernde Verhaltensweisen als ›neuer Begriff‹ bedeutet somit eine Veränderung der Sichtweise auf das Problem (vgl. Hennicke 2003: 71 f.):

»(Der Begriff verdeutlicht), dass für einige Menschen die verfügbaren Dienste für ihre Bedürfnisse nicht ausreichen. (…) Es geht um eine Herausforderung an die Gesellschaft und insbesondere an die Helfer, und nicht einfach um ein Problem, das jemand mit sich herumträgt. Es ist unsere Herausforderung, hilfreiche Wege für Menschen zu finden, sich in sozial akzeptabler Weise auszudrücken und zu verhalten« (Russell 1997, zit. in Hennicke 2003: 72).

Damit wird deutlich, dass es Aufgabe der professionellen Fachpersonen ist, die begleiteten Personen zu unterstützen, deren Lebensraum so zu modifizieren, dass sie alternative Verhaltensstrategien entwickeln können, die nicht als herausfordernd wahrgenommen werden. Der Begriff bringt die Notwendigkeit zum Ausdruck, den Blick nicht nur auf die Menschen mit herausfordernden Verhaltensweisen zu richten, sondern vielmehr zu berücksichtigen, dass die zur Verfügung stehenden Angebote offenbar ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten nicht gerecht werden. Durch diese Herangehensweise werden herausfordernde Verhaltensweisen zur Herausforderung, die an die Mitarbeitenden und die Institution gerichtet ist.

Da der Begriff Verhalten eher stabile, persönliche Eigenschaften einer Person meint, wird der Begriff Verhaltensweisen bevorzugt. Damit lässt sich stärker auf die Rahmenbedingungen und das Umfeld fokussieren, auf das sich das Verhalten bezieht. Zudem wird deutlich, dass Verhaltensweisen sinnvolle und in Bezug auf den spezifischen Kontext bedeutungsvolle Handlungsoptionen sind. Sie sind keineswegs als habituell per se zu bezeichnen, sondern vielmehr funktional zu betrachten (vgl. Feuser, 2008: 34).

Wie oben erläutert wird davon ausgegangen, dass herausfordernde Verhaltensweisen nicht als individuelle Eigenschaften von Personen zu betrachten, sondern multifaktoriell (und damit oft auch kontextuell) bedingt sind. Došen et al. (2010: 14) fordern, herausfordernde Verhaltensweisen grundsätzlich »als Ereignis einer ungünstigen Wechselwirkung zwischen Person (mit ihrem biologischen und psychologischen Substrat) und ihrer physischen und sozialen Umwelt« zu sehen. Um einen professionellen Umgang mit allen Formen von herausfordernden Verhaltensweisen etablieren zu können, ist fundiertes Erklärungswissen für Professionelle der Sozialen Arbeit unabdingbar.

In der Vergangenheit dominierten als Erklärungsansätze von herausfordernden Verhaltensweisen personenzentrierte, medizinische oder psychiatrische Modelle. Für pädagogische Bemühungen waren derartige, ausschliesslich personenbezogene Ansätze wenig dienlich, da sich daraus kaum Handlungsmöglichkeiten ableiten liessen und Umfeld spezifische Aspekte missachtet wurden (vgl. Calabrese 2017; Hejlskov Elvén 2015; Palmowski 2015; Theunissen 2011).

Theunissen (2001: 51) hält fest, dass eine rein personenbezogene Sichtweise »zu einer Vernachlässigung ›krankmachender‹ sozialer Faktoren« und zu Symptombehandlungen verleitet, die oft mit Einschränkungen von Freiheits- und Persönlichkeitsrechten einhergehen. Der Blick darf nicht nur auf die Verhaltensweisen einer Person gerichtet sein, sondern muss immer deren gesamte Lebenssituation berücksichtigen. Von zentraler Bedeutung sind die Wechselbeziehungen zwischen Individuum und Umwelt, denn diese Verhaltensweisen sind nicht »an einer Person festzumachen, sondern immer Ausdruck einer Störung des Verhältnisses zwischen Individuum und Umwelt« (Theunissen 2011: 61). Unter dieser systemökologischen Perspektive werden herausfordernde Verhaltensweisen als Ausdruck einer Individuum-Umwelt-Relation verstanden. Eine systemökologische Sicht von herausfordernden Verhaltensweisen ist in Bezug auf Veränderungspotenziale von Menschen optimistischer (vgl. Palmowski 2015: 67). Sie bietet im Gegensatz zur personenzentrierten Sicht Handlungsalternativen an (vgl. Theunissen 2001: 51). Sie ist dadurch charakterisiert, dass

a)  Beobachtungen und Zuschreibungen nicht nur auf Personen bezogen, sondern im dynamischen Beziehungs- und Situationskontext gesehen werden,

b)  die Funktionalität der herausfordernden Verhaltensweisen ergründet wird und

c)  nicht die Ursachen per se wichtig sind, sondern aufrechterhaltende Bedingungen und Zusammenhänge beleuchtet werden (vgl. Calabrese 2017: 32).

Systemökologisch werden herausfordernde Verhaltensweisen als multifaktoriell, kontextabhängig und relational verstanden. Diese Sicht wird auch im vorliegenden Band eingenommen. Entsprechend wird neben der Perspektive des Individuums auch dessen Umfeld fokussiert, so dass das Mikrosystem (Tätigkeiten, zwischenmenschliche Beziehungen und Rollen), das Mesosystem (Eltern/Familie/Angehörige, Arbeits-/Beschäftigungsbereich, Wohnbereich und Bekanntenkreis) und das Exosystem (Institution mit ihren Rahmenbedingungen als System höherer Ordnung, die den Lebensbereich des Individuums prägt) mitberücksichtigt werden (vgl. Bronfenbrenner 1981: 19–42).

In vorliegendem Sammelband wird in insgesamt acht Beiträgen der professionelle Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen, die von Klientinnen und Klienten aus unterschiedlichen Praxisfeldern der Sozialen Arbeit gezeigt werden, fokussiert.

Die Beiträge sind allesamt einheitlich aufgebaut: In einer Fallvignette wird zunächst ein anschauliches Praxisbeispiel dargestellt, indem eine konkrete Situation geschildert und die fallspezifischen herausfordernden Verhaltensweisen in einem spezifischen Kontext erörtert werden. Diese Fallvignetten haben nicht den Anspruch, für die jeweilige Zielgruppe repräsentativ zu sein, sondern dienen als exemplarischer Einstieg in die Thematik. Im Anschluss daran werden in einem diagnostischen Prozess unterschiedliche theoretische Erklärungsansätze für deren Entstehung aufgezeigt – dies mit dem Ziel, den Fall wissensbasiert genauer zu verstehen. Unter Beizug der Erkenntnisse aus diesem verstehenden Zugang heraus, werden zum Schluss des Beitrags konkrete Überlegungen oder Empfehlungen für einen professionellen Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen für das spezifische Praxisfeld formuliert. Um einen praxisnahen Einblick in den konkreten Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen von Klientel der Sozialen Arbeit zu erhalten, folgt jedem Beitrag ein Interview mit einer Fachperson aus dem jeweiligen Praxisfeld. Die Fachpersonen äussern sich jeweils zur Entstehung von herausfordernden Verhaltensweisen, zum Umgang damit und den Folgen davon auf Ebenen der Klientel, der Professionellen der Sozialen Arbeit und der Institution.

Damit eignet sich vorliegender Sammelband insbesondere für Studierende der Sozialen Arbeit, der Sozial- und Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Sozialpädagogik (Bachelor- und Masterstudiengänge), die sich einen Einblick in unterschiedliche Praxisfelder verschaffen möchten. Er ist aber auch an interessierte Fachpersonen aus der Sozialen Arbeit gerichtet, die sich besonders mit dem Phänomen der herausfordernden Verhaltensweisen und deren Diagnostik befassen. Weiter eröffnet er Fachpersonen einen Einblick in unterschiedliche Praxisfelder und kann daher Orientierung bieten beim Neueinstieg in ein spezifisches Praxisfeld. Auch Dozierende in Studiengängen für pädagogische und soziale Berufe an Berufsschulen, Hochschulen oder sonstigen Ausbildungseinrichtungen werden als Zielgruppe angesprochen.

Da das Praxisfeld der Sozialen Arbeit vielfältig und die Klientel bezüglich Lebensphase und Lebenslage sehr heterogen ist, wird nachfolgend auf acht spezifische Zielgruppen der Sozialen Arbeit eingegangen, die herausfordernde Verhaltensweisen im professionellen Setting zeigen können: Kinder und Jugendliche im Schulalter, Jugendliche in stationären Einrichtungen, Menschen mit Suchterkrankungen in der Sozialhilfe, Menschen im Asylwesen, Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, Menschen mit psychischen Störungen sowie Menschen mit Demenz.

In ihrem Artikel zu herausfordernden Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen im Kontext Schule beschreiben Uri Ziegele und Martina Good die Situation des Primarschülers Mori. Sie sehen Schule als ein verhaltens- und verhältnisorientiertes Handlungsfeld der Sozialen Arbeit mit dem Ziel, die gesellschaftliche Inklusion, Sozialisation und Kohäsion ihrer Anspruchsgruppen zu unterstützen. In ihrem Beitrag zeigen sie auf, wie Soziale Arbeit in der Schule mithilfe von Fallbeschreibung, Fallverstehen und theoretischen Grundlagen auf komplexe Ausgangslagen reagieren kann.

Sven Huber und Peter A. Schmid betrachten herausfordernde Verhaltensweisen von Jugendlichen in institutionellen Kontexten der Jugendhilfe. Sie stellen die Fallvignette des jungen Erwachsenen Nino ins Zentrum ihrer Überlegungen und greifen einige Themen aus der Vignette auf, reflektieren sie und stellen sie in einen grösseren Diskussionszusammenhang. Die gewählte Heuristik umfasst zentrale sozialpädagogische Zugänge und fokussiert auf die Fragen, wie es den Professionellen der Sozialen Arbeit gelingen kann, Öffnungsprozesse zu initiieren, die herausfordernden Verhaltensweisen in ihrer intersubjektiven und strukturell gerahmten Bewältigungsdynamik zu verstehen und dem problematischen Verhalten im Rahmen einer vertrauensvollen Beziehung Grenzen zu setzen. Sie nehmen neben individuellen auch die teamspezifische und die institutionelle Ebene in den Blick, da diese im Hinblick auf Interventionsmöglichkeiten eine grosse Rolle spielen.

Um herausfordernde Verhaltensweisen von suchtmittelabhängigen Menschen geht es im Beitrag von Heike Güdel. Am Beispiel des Falls von Frau Kieslig zeigt sie auf, wie mithilfe von Wissen und Methoden die Komplexität des Falls aufgeschlüsselt werden kann, um das Ganze zu erfassen. Als theoretische Rahmung greift sie auf den Ansatz »Integration und Lebensführung« nach Sommerfeld, Hollenstein und Calzaferri (2011) zurück und zeigt auf, wie »das Soziale« operationalisiert werden kann. Mithilfe von Systemmodellierungen stellt sie konkrete Problemdynamiken dar und nutzt diese als diagnostische Grundlage für die Planung des Weiteren Hilfsprozesses.

Luzia Jurt thematisiert herausfordernde Verhaltensweisen von Asylsuchenden. Am Beispiel von Familie Ylaz zeigt sie auf, mit welchen gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen Asylsuchende oft konfrontiert sind und wie diese ihren Handlungsspielraum einschränken. Sie legt dar, wie diese begrenzten Handlungsmöglichkeiten neben der unsicheren Zukunft und den strukturellen Bedingungen sowie unterschiedlichen Wertvorstellungen einen möglichen Erklärungsansatz für herausfordernde Verhaltensweisen bilden.

Auch in der justiziellen Straffälligenhilfe sind herausfordernde Verhaltensweisen ein Thema. Patrick Zobrist erläutert in seinem Beitrag diesen Zwangskontext, der mit Beschränkungen der Handlungsspielräume aller Beteiligten einhergeht. Als Handlungsrahmen für den Fall von Herrn Müller wählt er eine Justizvollzugsanstalt, in der sich herausfordernde Verhaltensweisen aufgrund der strukturellen Rahmenbedingungen zeigen können. Anschaulich erörtert er zunächst die im Fallbeispiel bestehende psychopathologische Diagnose und deren Auswirkungen, bevor er sozialwissenschaftliche Erklärungsansätze beizieht, um den Fall genauer zu erhellen und zu verstehen. Gestützt auf die Erkenntnisse leitet er daraus konkrete Handlungsempfehlungen ab.

Stefania Calabrese und Eva Büschi fokussieren herausfordernde Verhaltensweisen von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die in Institutionen der Behindertenhilfe leben. Sie zeigen am Beispiel von Frau Berger sechs ausgewählte Ansätze auf, die mögliche Erklärungen für ihre herausfordernden Verhaltensweisen bieten. Neben den eher personenbezogenen Individual- und Lerntheorien, wird besonders auf die Wechselwirkungen zwischen Individuum und Umwelt fokussiert, indem Ansätze aus Konflikt-, Trauma- und Interaktionstheorien sowie aus der Systemökologie beigezogen werden, um den diagnostischen Prozess zu vollziehen.

Um herausfordernde Verhaltensweisen von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen geht es im Beitrag von Marlis Baumeler und Pablo Philipp. Sie zeigen am Beispiel von Frau Kern anschaulich auf, wie schwierige Lebensereignisse und Umstände die Entstehung von herausfordernden Verhaltensweisen in Verbindung mit einer psychischen Störung fördern können. Anschliessend erläutern sie anhand unterschiedlicher Modelle die Entstehung einer psychischen Störung durch Wechselwirkungen zwischen Person und Umwelt. Dabei liegt der Fokus auf der stationären psychiatrischen Versorgung und der klinischen Sozialen Arbeit.

Nicole Gadient, Ingrid Cretegny, Regina Fischlin und Stefanie Becker erörtern herausfordernde Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz. Am Beispiel der 75-jährigen Frau Heiniger legen sie jene krankheitsbedingten Verhaltensweisen dar, die eine Demenzerkrankung am häufigsten begleiten und zeigen die Umgangsweisen damit auf. Dabei orientieren sie sich an den fünf Schritten der Serial Trial Intervention, woraus sie Empfehlungen für die Praxis ableiten.

An dieser Stelle möchten wir uns bei allen Autorinnen und Autoren und Interviewpartnerinnen und -partnern bedanken, die mit ihrer fachlichen Perspektive zum Gelingen dieses Sammelbandes beigetragen haben. Wir hoffen, dass der vorliegende Sammelband einen verstehenden Zugang zu herausfordernden Verhaltensweisen von Menschen mit Unterstützungsbedarf in der Sozialen Arbeit eröffnet und wünschen den Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre.

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Literatur

Bronfenbrenner, Urie (1981): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung, Stuttgart: Klett-Cotta.

Büschi, Eva et al. (2015): Schlussbericht zum Projekt HEVE, [online] https://www.fhnw.ch/ppt/content/prj/T999-0378/schlussbericht-zum-forschungsprojekt-zu-erwachsenen-mit-schweren-und-oder-mehrfachen-beeintraechtigungen-und-herausfordernden-verhaltens weisen-heve-im-bereich-wohnen [20.04.2018].

Büschi, Eva/Calabrese, Stefania (2018): Projekt HEVE: Eine qualitative Studie zu herausfordernden Verhaltensweisen von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen. In: Dagmar Domenig/Urs Schäfer (Hrsg.), Auffallend herausfordernd! Begleitung zwischen Selbstbestimmung und Überforderung, Zürich: Seismo Verlag, S. 33–56.

Calabrese, Stefania (2017): Herausfordernde Verhaltensweisen – herausfordernde Situationen: Ein Perspektivenwechsel. Eine qualitativ-videoanalytische Studie über die Gestaltung von Arbeitssituationen von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen, Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Došen, Anton et al. (2010): Praxisleitlinien und Prinzipien Assessment, Diagnostik, Behandlung und Unterstützung für Menschen mit geistiger Behinderung und Problemverhalten – Europäische Edition, Berlin: Eigenverlag der DGSGB.

Feuser, Georg (2008): Intensiv, herausfordernd, aggressiv? Auffälliges Verhalten von behinderten Menschen verstehen. In: Evangelisches Diakoniewerk (Hrsg.), 36. Martinstift-Symposium. An Grenzen kommen. Begleitung von behinderten Menschen mit herausforderndem Verhalten, Gallneukirchen: Evangelisches Diakoniewerk, S. 34–44.

Habermann-Horstmeier, Lotte/Limbeck, Kira (2016): Arbeitsbelastung: Welchen Belastungen sind die Beschäftigten in der Behindertenbetreuung ausgesetzt? In: Zeitschrift für Medizinische Prävention, Jg. o. A., Nr. 7, S. 517–525.

Hastings, Richard P. (2002): Do Challenging Behaviors Affect Staff Psychological Well-Being? Issues of Causality and Mechanism. In: American Journal on Mental Retardation, Jg. 107, Nr. 6, S. 455–467.

Heijkoop, Jacques (2014): Herausforderndes Verhalten von Menschen mit geistiger Behinderung. Neue Wege der Begleitung und Förderung, 6. Auflage. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

Hejlskov Elvén, Bo (2015): Herausforderndes Verhalten vermeiden. Menschen mit Autismus und psychischen oder geistigen Einschränkungen positives Verhalten ermöglichen, Tübingen: dgvt-Verlag.

Hennicke, Klaus (2003): Psychische Störung und aggressives Verhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung. In: Martha Furger/Doris Kehl (Hrsg.), »… und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt«. Zum Umgang mit Aggression und Gewalt in der Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung, Luzern: Edition SZH, S. 67–84.

Palmowski, Winfried (2015): Nichts ist ohne Kontext. Systemische Pädagogik bei »Verhaltensauffälligkeiten«. 3. Auflage, Dortmund: Verlag Modernes Lernen.

Schanze, Christian/Sappok, Tanja/Kehrle, Martina (2014): Verhaltensauffälligkeiten. In: Christian Schanze (Hrsg.), Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung. Ein Arbeits- und Praxisbuch für Ärzte, Psychologen, Heilerziehungspfleger und -pädagogen, Stuttgart: Schattauer, S. 233–256.

Sommerfeld, Peter/Hollenstein, Lea/Calzaferri, Raphael (2011): Integration und Lebensführung. Ein forschungsgestützter Beitrag zur Theoriebildung der Sozialen Arbeit, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Störmer, Norbert (2014): Herausfordernde Handlungsweisen. In: Georg Feuser/Birgit Herz/Wolfgang Jantzen (Hrsg.), Emotion und Persönlichkeit. Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Band 10. Stuttgart: Kohlhammer, S. 257–261.

Theunissen, Georg (2011): Geistige Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten, Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Theunissen, Georg (2001): Krisenintervention – Herausforderungen für einen interdisziplinären Ansatz. In: Ernst Wüllenweber/Georg Theunissen (Hrsg.), Handbuch Krisenintervention, Band 1: Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung. Theorie, Praxis, Vernetzung, Stuttgart: Kohlhammer, S. 49–75.

Wüllenweber, Ernst (2009): Handlungskonzepte und Methoden in Heilpädagogik und Behindertenhilfe und ihre Bedeutung für die Professionalität. In: Teilhabe, Jg. 48, Nr. 2, S. 75–81.

Wüllenweber, Ernst (2003): Krisen und Verhaltensauffälligkeiten. In: Georg Theunissen (Hrsg.), Krisen und Verhaltensauffälligkeiten bei geistiger Behinderung und Autismus, Stuttgart: Kohlhammer, S. 1–16.

Wüllenweber, Ernst (2001): Reaktanz und Problemverhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung unter besonderer Berücksichtigung der Selbstbestimmung. In: Georg Theunissen (Hrsg.), Verhaltensauffälligkeiten – Ausdruck von Selbstbestimmung? Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 105–114.

Inhalt

  1. Vorwort zur Reihe
  2. Zu diesem Buch
  3. Eva Büschi & Stefania Calabrese
  4. 1          Herausfordernde Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen im Kontext Schule
  5.             Uri Ziegele & Martina Good
  6. 1.1       Fallvignette
  7. 1.2       Erklärungsansätze und Fallverstehen
  8. 1.3       Soziale Arbeit in der Schule – ein Handlungsfeld der Sozialen Arbeit
  9. 1.4       Empfehlungen zur Fallarbeit
  10. 1.5       Interview mit Fachperson
  11. 2          Herausfordernde Verhaltensweisen von Jugendlichen in institutionellen Kontexten der Jugendhilfe
  12.             Sven Huber & Peter A. Schmid
  13. 2.1       Fallvignette
  14. 2.2       Erste Orientierung
  15. 2.3       Öffnungen und Anfänge
  16. 2.4       Verstehen
  17. 2.5       Grenzsetzung
  18. 2.6       Schlussfolgerungen für die Interventionsebene
  19. 2.7       Interview mit Fachperson
  20. 3          Herausfordernde Verhaltensweisen von suchtmittelabhängigen Menschen
  21.             Heike Güdel
  22. 3.1       Fallvignette
  23. 3.2       Erklärungen für das komplexe Zusammenspiel im Fall
  24. 3.3       Verschiedene fallspezifische Phänomene
  25. 3.4       Lebensbewältigung und Selbstverletzung
  26. 3.5       Beschreibung der Dynamiken, die die herausfordernden Verhaltensweisen im Fall von Frau Kieslig antreiben
  27. 3.6       Die Dynamiken im Fall von Frau Kieslig, die zu herausfordernden Verhaltensweisen führen
  28. 3.7       Handlungsleitende Überlegungen
  29. 3.8       Interview mit Fachperson
  30. 4          Herausfordernde Verhaltensweisen von Asylsuchenden
  31.             Luzia Jurt
  32. 4.1       Fallvignette
  33. 4.2       Erklärungen
  34. 4.3       Empfehlungen
  35. 4.4       Interview mit Fachperson
  36. 5          Herausfordernde Verhaltensweisen in der justiziellen Straffälligenhilfe
  37.             Patrick Zobrist
  38. 5.1       Fallvignette
  39. 5.2       Erklärungsansätze und theoriegestützte Handlungsempfehlungen
  40. 5.3       Erkenntnisse und Empfehlungen für die Soziale Arbeit
  41. 5.4       Interview mit Fachperson
  42. 6          Herausfordernde Verhaltensweisen von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen
  43.             Stefania Calabrese & Eva Büschi
  44. 6.1       Fallvignette
  45. 6.2       Herausfordernde Verhaltensweisen im institutionellen Kontext
  46. 6.3       Theoretische Zugänge zu herausfordernden Verhaltensweisen
  47. 6.4       Empfehlungen für die Praxis der Sozialen Arbeit
  48. 6.5       Interview mit Fachperson
  49. 7          Herausfordernde Verhaltensweisen von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen
  50.             Marlis Baumeler & Pablo Philipp
  51. 7.1       Fallvignette
  52. 7.2       Erklärungsansätze zu psychischen Störungen und herausfordernden Verhaltensweisen
  53. 7.3       Handlungsempfehlungen im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen
  54. 7.4       Interview mit Fachperson
  55. 8          Herausfordernde Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz
  56.             Nicole Gadient, Ingrid Cretegny, Regina Fischlin & Stefanie Becker
  57. 8.1       Fallvignette
  58. 8.2       Was ist Demenz?
  59. 8.3       Verhaltens- und psychische Begleitsymptome bei Demenz
  60. 8.4       Ursachen herausfordernder Verhaltensweisen bei Demenz
  61. 8.5       Behandlungsmöglichkeiten
  62. 8.6       Hilfe für Betreuende
  63. 8.7       Konkrete Überlegungen und Empfehlungen für die Praxis der Sozialen Arbeit
  64. 8.8       Schlusswort
  65. 8.9       Interview mit Fachperson
  66. Autorinnen- und Autorenverzeichnis

1          Herausfordernde Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen im Kontext Schule

Uri Ziegele & Martina Good

Die Soziale Arbeit in der Schule muss als ein verhaltens- und verhältnisorientiertes Handlungsfeld der Sozialen Arbeit verstanden werden. Innerhalb des Funktionssystems Erziehung hat sie – in transdisziplinärer Kooperation mit der Schule – zum Ziel, die gesellschaftliche Inklusion, Sozialisation und Kohäsion ihrer Anspruchsgruppen zu unterstützen. Es ist davon auszugehen, dass auch der Schüler Mori, der in der folgenden Fallvignette vorgestellt wird, in der Schule lernen, Freunde bzw. Freundinnen haben und stärkende Selbstwirksamkeit erleben möchte. Der nachfolgende Beitrag zeigt auf, wie die Soziale Arbeit in der Schule mithilfe von Fallbeschreibung, Fallverstehen und theoretischen Grundlagen auf diese komplexe Ausgangslage mit Unterstützung der direkt Betroffenen und professionell Beteiligten reagieren kann.

1.1       Fallvignette

Der Sozialarbeiter des Asylzentrums Herr Diethelm informiert die Schulsozialarbeiterin Frau Hess, dass mehrere Familien mit Asylstatus innerhalb kurzer Zeit der Gemeinde Dengdorf zugewiesen werden. Dies veranlasst die beiden, an einer Teamsitzung der Lehrpersonen im Schulhaus Höchi, in dessen unmittelbarer Nähe eine Asylunterkunft steht, das Thema aufzugreifen und mit diesen über Befürchtungen und Herangehensweisen zu diskutieren. Anschliessend wird gemeinsam ein kurzer informativer Text für die regelmässige schriftliche Elterninformation verfasst, in welchem die Familien willkommen geheissen werden. Unter anderen wird Familie Marun Segab in der Asylunterkunft einquartiert. Am ersten Morgen begrüssen die Schulleitung und Frau Hess Herrn Marun Segab und seine vier Kinder und informieren sie soweit wie möglich über den Schulbetrieb. Der Aufenthaltsort der Mutter ist unbekannt. Alle vier Kinder sind im schulpflichtigen Alter, wobei der jüngste Sohn Mori Marun die erste Klasse besucht und die drei weiteren Mädchen in der 3. und 6. Primarklasse sowie in der 2. Oberstufe eingeschult werden. Das älteste Mädchen wird im Anschluss an die Einführung in der Primarschule (in Deutschland mit der Grundschule vergleichbar) zusammen mit ihrem Vater im Oberstufenschulhaus der Gemeinde begrüsst.

Die Mädchen zeigen sich im Verlauf des Schuljahres zurückhaltend und beobachten den Schulalltag, während Mori nach kurzer Zeit deutlich herausfordernde Verhaltensweisen zeigt. Er kneift und boxt Mitschülerinnen und Mitschüler auch aus den höheren Klassen und stört sie während des Unterrichts und in der Pause bei ihren Tätigkeiten. Er randaliert im Schulhaus, stiehlt und demoliert persönliche Dinge und Kleidung der anderen Kinder und provoziert die Mitarbeitenden des gesamten Schulhauses mit wiederkehrenden Regelverstössen. In direkter Konfrontation gesteht Mori sein Fehlverhalten zwar jeweils ein, vermittelt jedoch nicht den Eindruck des Bedauerns. Während des Unterrichts in der Regelklasse und im Deutsch-Förderunterricht kann Mori sich kaum konzentrieren. Die Hausaufgaben erledigt er selten, und obwohl die Familie nur wenige Meter vom Schulhaus entfernt wohnt, hat er oft keine Pausenverpflegung dabei und vergisst seine Turn- bzw. Schwimmsachen. Manche Kinder sind etwas verängstigt oder verärgert und fangen an, sich von ihm zu distanzieren. Versuche, sein Verhalten durch pädagogische Massnahmen direkt zu beeinflussen, zeigen kaum Veränderungen.

Die Lehrerin von Mori, Frau Keller, ersucht nach kurzer Zeit um eine Klassenintervention durch die Schulsozialarbeiterin Frau Hess, um die Beziehungen in der Klasse zu stärken. Frau Keller informiert Moris Vater darüber. Dieser ist erst etwas skeptisch, zeigt sich dann jedoch dankbar für die Unterstützung. Die sprachlichen Schwierigkeiten erschweren das vorgängige Einzelgespräch von Mori bei Frau Hess. In diesem wird jedoch deutlich, dass er in der bisherigen Schulzeit in seinem Heimatland körperliche Gewalt durch die Lehrpersonen erleiden musste. Die initiierte Hausaufgabenhilfe verweigert Mori konsequent. Es erfolgen mehrere Gruppeninterventionen mit kooperativem Spielcharakter in unterschiedlichen Settings (jungenspezifisch, geschlechtergemischt, aktuell befreundete Kinder etc.). Frau Hess organisiert ein Familiengespräch zu Hause mit allen beteiligten Fachpersonen und einem Übersetzer. In diesem Gespräch zeigt sich Mori äusserst angepasst und gehorcht sehr gut. Der Vater und auch die Schwestern zeigen sich besorgt und überfordert mit seinem Verhalten in der Schule. Das Familienleben klappt gut, verständlicherweise kann ihm jedoch niemand bei den Hausaufgaben helfen. Ebenso finden gleichzeitig medizinische Abklärungen statt, da er an Enuresis leidet und eher unterernährt zu sein scheint. Es wird vereinbart, dass die Abklärungsergebnisse der Schule kommuniziert und danach über weitere, beispielsweise schulpsychologische Abklärungen entschieden werden sollte.

Ein Regel- und Informationskonzept wird festgehalten, bei welchem Mori, seine Familie, die Schule und die Asylorganisation involviert sind. Unter anderem wird vereinbart, dass Frau Hess und Frau Keller berechtigt sind, Mori nach Hause zu schicken, wenn er den Schulbetrieb zu sehr stört, sofern sein Vater oder eine der Schwestern zu Hause ist. Er wird aufgefordert, die Hausaufgabenhilfe in der Schule regelmässig zu besuchen und stimmt dem zu. Die Gruppenaktivitäten werden weitergeführt und zweimal wöchentlich ein kurzes Einzelsetting von Frau Hess mit Mori in der Schule oder zu Hause gemeinsam mit seiner Familie vereinbart. Frau Hess nimmt regelmässig am wöchentlichen Klassenrat teil, um die Veränderungen mitverfolgen zu können. Sie versucht, möglichst häufig die Klasse und Mori im Schulalltag zu begleiten.

Sein Verhalten gegenüber den Erwachsenen verbessert sich leicht. Die Beschwerden über Mori seitens der Mitschüler und Mitschülerinnen bleiben konstant hoch. Häufig argumentiert er, dass die anderen angefangen hätten, ihn zu provozieren, was diese jedoch verneinen und häufig nicht rekonstruiert werden kann. In der Hausaufgabenhilfe zeigt sich, dass Mori nur langsam Lernfortschritte macht und ihm offensichtlich enorm viel Schulstoff fehlt. Frau Keller und Frau Hess gewinnen zudem den Eindruck, dass Mori sich absichtlich grenzüberschreitend verhält, um bei seinem Vater zu Hause sein zu können.

Als Frau Hess ihn dabei beobachtet, wie er in der Pause zornig und fluchend Steine vom Boden aufnimmt, um seine Mitschülerinnen und Mitschüler damit zu bewerfen, begleitet sie ihn nach Hause. Mori berichtete nach kurzem Zögern, dass er und seine Familie von Mitschülern und Mitschülerinnen und deren Familien abschätzig behandelt werden und sich unerwünscht fühlen. Ebenso spricht er erstmals darüber, wie sehr er seine Mutter vermisst und dass er sich Sorgen um sie macht, da noch immer niemand weiss, wo sie sich aufhält, wie es ihr geht und wann er sie wieder sehen wird.

Die älteste Schwester, welche mittlerweile über einige Deutschkenntnisse verfügt, berichtet von einer geplanten Unterschriftensammlung einer ihrer Mitschülerinnen und deren Eltern zur Schliessung der Asylunterkunft. Die Familie Segab Marun wirkt gedemütigt und resigniert. Die medizinischen Abklärungen von Mori ergeben, dass er deutlich traumatisiert und eine Familientherapie dringend angezeigt ist. Die Abklärungen zur Finanzierung dieser Therapie stellen sich jedoch bei Kindern mit Asylstatus als komplex heraus. Aufgrund dessen ersucht der Kinderarzt Frau Hess, die bisherigen Bemühungen der Einzel-, Gruppen- und Klassengespräche und den Kontakt zur Familie beizubehalten und wenn möglich zu intensivieren, bis ein therapeutisches Setting veranlasst ist. Frau Hess, Frau Keller und Herr Diethelm sind sich einig, dass die herausfordernden Verhaltensweisen von Mori aufgrund der vielschichtigen Problematik bestehen und es intensivere und umfassendere Massnahmen braucht, um ihn und seine Familie zu unterstützen, damit sich sein Verhalten weiterhin positiv verändern kann.

1.2       Erklärungsansätze und Fallverstehen

Moris Situation wird in Anlehnung an das Lebenslagenmodell (vgl. Meier Kressig 2017: 4) dargestellt. Die individuelle wie familiäre Situation, die aktuellen und zukunftsgerichteten Perspektiven werden gemäss den jeweiligen Aussagen der Familienmitglieder und der Einschätzung der involvierten Fachpersonen differenziert betrachtet. Zudem erfolgen Überlegungen zu weiteren möglichen Hintergründen der Problematik. Aussagen über kausale Zusammenhänge von Ursachen- oder Wirkfaktoren können nicht gemacht werden, denn offensichtlich leiden Mori und seine Familie unter komplexen Belastungen. Um die Situation und Moris Verhalten verstehen zu können, muss die Komplexität des Bedingungsgefüges möglichst erfasst werden, um entsprechende und gelingende Lösungswege erarbeiten zu können.

1.2.1     Individuelle und familiäre Belastungsfaktoren

Mori und seine Familie haben aufgrund traumatischer Erlebnisse in ihrem Heimatland entschieden, in die Schweiz zu flüchten und ihre sozialen und familiären Kontakte zurückzulassen. Die fehlenden Sprachkenntnisse und die unterschiedlichen kulturellen Grundlagen, wie beispielsweise das Bildungssystem, sowie die finanzielle Notlage belasten die Familie. Die Unterbringung in der Asylunterkunft mit anderen Familien mit Asylstatus und das erschwerte Zusammenleben durch die kulturellen Unterschiede lassen kein Wohlbefinden aufkommen. Die Familie verfügt über keinerlei materielle Mittel oder persönliche Kontakte in der Gemeinde. Durch die Unterschriftensammlung zur Schliessung der Asylunterkunft fühlen sie sich abgelehnt und gedemütigt und sehen sich ausser Stande, sich dieser unangenehmen Situation zu entziehen, da sie ihren Wohnort nicht frei wählen dürfen. Während der Begleitung und durch die professionelle Beziehungsarbeit wird klar, dass sie in ihrem Heimatland eine angesehene Familie waren, Haushaltsangestellte beschäftigten und über gute Bildungschancen verfügten. Die Ausbildung und berufliche Erfahrung des Vaters werden nicht anerkannt und die älteste Tochter steht unter Druck, eine Anschlusslösung nach der obligatorischen Schulzeit zu finden. Die fehlende Zugehörigkeit und die grosse Unsicherheit über den Verbleib der Mutter belasten die Lebenssituation der Familie. Das komplexe Asylverfahren verunmöglicht es den Familienmitgliedern, zur Ruhe zu kommen und Stabilität zu entwickeln.

Moris Bewältigung der veränderten Lebenssituation zeigt sich nach aussen gerichtet. Ob seine Schwestern und sein Vater weniger belastet sind oder andere, weniger offensichtliche Strategien zur Bewältigung anwenden, kann nicht abschliessend beantwortet werden. Die schulischen Schwierigkeiten deuten darauf hin, dass Moris kognitiven Fähigkeiten zumindest momentan eingeschränkt sind. Die Flucht und das Zurücklassen der leiblichen Mutter haben bei Mori deutliche Unsicherheiten und Ängste hervorgerufen. Seine Befindlichkeit ist stark geschwächt und er zeigt psychosomatische Reaktionen. Die Anpassungs- bzw. Bewältigungskompetenzen seiner Schwestern oder seines Vaters können aufgrund des Alters oder der fortgeschrittenen Identitätsbildung weiterentwickelt sein und unterstützend wirken. Die älteren Schwestern können mehr Aufgaben in der Haushaltsführung übernehmen, womit sie den Vater entlasten und sich selbstständiger ein soziales Umfeld aufbauen. Anstehende Entwicklungsaufgaben und die Integration in die neue Lebenswelt stellen für Mori entsprechend grosse Herausforderungen dar, da er sich nach einer mütterlichen Bezugsperson sehnt. Sein familiäres Wohlbefinden ist gestört und die Sozialisation in die fremde Klassen- bzw. Schulgemeinschaft fällt ihm schwer. Auch die Rückmeldung, dass Moris Verhalten zu Hause weniger problematisch ist, kann ein Hinweis darauf sein, dass er unter schulischem, sozialem und gesellschaftlichem Druck ausserhalb des familiären Zusammenlebens leidet. Zudem scheint die Aufnahme einer regelmässigen Freizeitaktivität in einer Peergruppe aufgrund seiner herausfordernden Verhaltensweisen momentan nicht oder nur mit professioneller Begleitung möglich. Hinzu kommt, dass Moris bisherige Schulerfahrung gemäss seinen Äusserungen im Einzelgespräch von physischem und psychischem Druck geprägt waren und das kooperative Lernen eine völlig neue Erfahrung für ihn darstellt, was sein bisheriges Schulbild irritiert.

1.2.2     Aktuelle und zukunftsgerichtete Perspektiven der Beteiligten

Die Familienmitglieder müssen sich mit ihrer persönlichen, schulischen und beruflichen Weiterentwicklung auseinandersetzen, wobei im laufenden Asylverfahren jederzeit die Möglichkeit besteht, den Aufenthaltsstatus zu verlieren und ausreisen zu müssen. Die Familie äussert ihre Bedürfnisse nach Sicherheit und einem friedlichen Zusammenleben und dem Ziel, in der Schweiz eine gute Schul- und Ausbildung zu erhalten, um einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können. Dies ist hauptsächlich für den Vater zentral, der sich eine gute Zukunft für seine Kinder wünscht. Im Gespräch mit Mori wird klar, dass er die Rückkehr in sein Heimatland bevorzugt, in der Hoffnung, sein früheres Familienleben wieder pflegen zu können. Da er vermutlich unter einer eingeschränkten Aufnahme- bzw. Lernfähigkeit und unter anderen belastenden Faktoren leidet, kann er die schulisch geforderten Leistungen nicht erfüllen. Er ist aufgefordert, selbstständig zu lernen, Lerndefizite und Sprachkenntnisse zu verbessern, sein Schulmaterial selbstständig zu organisieren, sich mit den kulturellen und institutionellen Normen und Werten vertraut zu machen, diese einzuhalten und Konflikte mit Gleichaltrigen und Erwachsenen trotz sprachlicher Hürden konstruktiv zu lösen. Aufgrund seiner dunklen Hautfarbe verstärkt sich sein Selbstbild als Aussenseiter. Die laufenden medizinischen Abklärungen können weitere gesundheitliche Schwierigkeiten aufzeigen. Die Unterstützung eines positiven Selbstwertes ist für sein Wohlbefinden zentral, wird jedoch durch eingeschränkte Erfolgsmöglichkeiten und fremdenfeindliches Verhalten des Umfeldes erschwert. Für den Vater und die Schwestern wird klar, dass Mori für die Bewältigung dieser Belastungen professionelle Hilfestellungen braucht. Ihre eigenen Handlungs- und Entscheidungsspielräume sind äusserst eingeschränkt, da sie nicht über die Möglichkeiten verfügen, beispielsweise über ihren Wohnort zu entscheiden, und die Hemmschwelle hoch ist, sich persönlich zu wehren oder sogar rechtliche Schritte einzuleiten. Die eingeschränkten Ressourcen von Mori und seiner Familie auf der psychischen, physischen, familiären und sozialen Ebene stehen im Spannungsfeld zu den anspruchsvollen Entwicklungsaufgaben, emotionalen Belastungen und Anforderungen, welche schulisch und im sozialen Umfeld an ihn und seine Familie gestellt werden. Diese Diskrepanzen und die daraus resultierende Überforderung und Frustration kann ursächlich für sein herausforderndes Verhalten sein.

1.2.3     Überlegungen zu weiteren Hintergründen der Problematik

Herausfordernde Verhaltensweisen wirken sich auf die Beziehungsgestaltung im zwischenmenschlichen Bereich aus. Dadurch können sich Unstimmigkeiten und Konflikte innerhalb von Gruppen (z. B. Klassen) entwickeln und es können