Captum

Für meine Großeltern

Georg und Theresia Kritzer

Danke für all unsere Gespräche


Und für Sam,

damit wir alle David nicht vergessen

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Playlist

Beteiligt

Prolog

I. Aller Anfang

1. Vereinigte Mexikanische Staaten

2. Vereinigte Mexikanische Staaten

3. Vereinigte Mexikanische Staaten

4. Vereinigte Mexikanische Staaten

5. Vereinigte Mexikanische Staaten

6. Vereinigte Mexikanische Staaten

7. Vereinigte Mexikanische Staaten

8. Vereinigte Mexikanische Staaten

9. Vereinigte Mexikanische Staaten

10. Vereinigte Mexikanische Staaten

11. Vereinigte Mexikanische Staaten

12. Vereinigte Mexikanische Staaten

13. Vereinigte Mexikanische Staaten

II. Wiedergeboren

14. Vereinigte Staaten von Amerika

15. Vereinigte Staaten von Amerika

16. Vereinigte Staaten von Amerika

17. Vereinigte Staaten von Amerika

18. Vereinigte Staaten von Amerika

19. Vereinigte Staaten von Amerika

20. Vereinigte Staaten von Amerika

21. Vereinigte Staaten von Amerika

22. Vereinigte Staaten von Amerika

23. Vereinigte Staaten von Amerika

24. Vereinigte Staaten von Amerika

25. Vereinigte Staaten von Amerika

26. Vereinigte Staaten von Amerika

27. Vereinigte Staaten von Amerika

28. Vereinigte Staaten von Amerika

29. Vereinigte Mexikanische Staaten

30. Vereinigte Mexikanische Staaten

31. Vereinigte Staaten von Amerika

32. Vereinigte Staaten von Amerika

33. Vereinigte Staaten von Amerika

34. Vereinigte Mexikanische Staaten

35. Vereinigte Staaten von Amerika

36. Vereinigte Staaten von Amerika

37. Vereinigte Staaten von Amerika

38. Vereinigte Staaten von Amerika

39. Vereinigte Staaten von Amerika

40. Vereinigte Staaten von Amerika

III. Zwischen den Welten

41. Vereinigte Staaten von Amerika

42. Vereinigte Staaten von Amerika

43. Vereinigte Staaten von Amerika

44. Vereinigte Staaten von Amerika

45. Vereinigte Staaten von Amerika

46. Vereinigte Staaten von Amerika

47. Vereinigte Mexikanische Staaten

48. Vereinigte Staaten von Amerika

49. Vereinigte Staaten von Amerika

50. Vereinigte Staaten von Amerika

51. Vereinigte Staaten von Amerika

52. Vereinigte Staaten von Amerika

53. Vereinigte Staaten von Amerika

54. Vereinigte Staaten von Amerika

55. Vereinigte Mexikanische Staaten

56. Vereinigte Mexikanische Staaten

57. Vereinigte Mexikanische Staaten

58. Vereinigte Staaten von Amerika

59. Vereinigte Staaten von Amerika

60. Vereinigte Staaten von Amerika

61. Vereinigte Staaten von Amerika

62. Vereinigte Staaten von Amerika

63. Vereinigte Staaten von Amerika

64. Vereinigte Staaten von Amerika

65. Vereinigte Staaten von Amerika

66. Vereinigte Staaten von Amerika

67. Vereinigte Staaten von Amerika

68. Vereinigte Staaten von Amerika

69. Vereinigte Staaten von Amerika

70. Vereinigte Staaten von Amerika

71. Vereinigte Staaten von Amerika

72. Vereinigte Staaten von Amerika

IV. Tag der Abrechnung

73. Vereinigte Staaten von Amerika

74. Vereinigte Staaten von Amerika

75. Vereinigte Staaten von Amerika

76. Vereinigte Staaten von Amerika

77. Vereinigte Staaten von Amerika

78. Vereinigte Staaten von Amerika

79. Vereinigte Staaten von Amerika

80. Vereinigte Staaten von Amerika

81. Vereinigte Staaten von Amerika

82. Vereinigte Staaten von Amerika

83. Vereinigte Staaten von Amerika

84. Vereinigte Staaten von Amerika

85. Vereinigte Staaten von Amerika

86. Vereinigte Staaten von Amerika

87. Vereinigte Staaten von Amerika

88. Vereinigte Staaten von Amerika

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Vorwort

Krieg ist eines der Dinge, die uns Menschen zerfressen, von innen heraus. Die uns zerstören, ob wir es wollen oder nicht. Obwohl wir den Frieden lieben, scheint es uns immer wieder zur Gewalt hinzuziehen. Und diese kann in so vielen unterschiedlichen Formen auftreten, dass wir sie nicht alle ausrotten können. Würden wir es in diesem Augenblick schaffen, wäre sie im nächsten von Neuem erblüht. Sie ist in uns, ein Teil von uns, ebenso wie andere Instinkte. Schon ein Einzelner, der die Ordnung zerbricht, bringt das System dem Chaos einen Schritt näher. Das Einzige, was wir tun können, ist den Trieb zu kontrollieren. Doch selbst das beschreibt oft eine bloße Wunschvorstellung.


Überall auf der Welt kämpfen Menschen, innerlich und äußerlich sichtbar, gegen reale, greifbare Feinde und gegen die vielen unsichtbaren. Mögen die unter uns froh sein, deren tägliche Entscheidungen nicht über Leben und Tod richten müssen. Und mögen diejenigen Kraft finden, die sie benötigen, um ihren Aufgaben gerecht zu werden. Denn die Grenze zwischen Schatten und Licht ist ein fließender Übergang, der nur durch eines überwunden werden kann: Verständnis. Das sollte nie in Vergessenheit geraten.

Einleitung

Teile dieser Geschichte beruhen auf wahren Begebenheiten. Alle Orte, die sonstige Handlung und sämtliche Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit Bestehendem und lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig. Die erwähnten militärischen Dienstgrade sind an die Bezeichnungen der internationalen Armeen durch die »North Atlantic Treaty Organization« (NATO) angelehnt. Alle aufgeführten Waffen gehören zur Bewaffnung der US-amerikanischen Behörden. Das Kürzel der militärischen Bezeichnungen orientiert sich an den offiziellen Angaben des »US-Department of Defense« (DOD). Der geschichtliche und politische Hintergrund des Buches basiert auf willkürlich gezogenen Parallelen zu den Vereinigten Mexikanischen Staaten.

Playlist

Black or White – Michael Jackson


Bitte hör nicht auf zu träumen – Xavier Naidoo


Running up that hill – Placebo


Sound of Silence – Dami Im


Das ist der Moment – Die Toten Hosen


New World Coming – Benjamin Wallfisch & Disa


Straight Outta Compton – N.W.A.


In the Army Now – Status Quo


Atme den Regen – Kontra K


Coming Home – Diddy - Dirty Money & Skylar Grey


Legendary – Welshly Arms


Bonfire Heart – James Blunt


Hero of War – Rise Against


In the End – Linkin Park


Silver Lining – Imany


Pillowtalk – Zayn

Beteiligt

Die einen, die kümmert’s, die stören sich gar sehr

am Tod all jener, die unschuldig gestorben.


Die ander’n, die hören’s, mit einem Ohr in der Küche

und dem zweiten im Wohnraum.


Hab gelacht mit den Kameraden, gescherzt und gewitzt.

Sah dem Einsatz entgegen,

erfüllt von den Idealen einer Generation.


Hab’ den Krieg unterschätzt, das Grauen verhöhnt.

Starrte plötzlich in Augen, die gebrochen,

und auf Glieder, die verrenkt den Boden bedeckten.


Hatte keine Zeit zu begreifen, keine Zeit zu verweilen.

Kämpfte im Schleier gefangen mit rasendem Herzen

bis zum bitteren Ende.


Hatte Zeit, um zu heilen, eine Zeit ohne Hoffnung.

Wollte sprechen – mit der Familie, den Unbeteiligten

und hörte wie sie

doch nur die Stimme der Nachrichten.


Isabel Kritzer

Prolog

Vereinigte Staaten von Amerika

Zwei Namen

»Ich habe gelitten, ich habe geliebt und ich habe getötet, oft getötet«, sagte der alte Mann. Die Falten um seine Augen zeugten von einem bewegten Leben. Das blütenweiße Hemd steckte ordentlich in braunen Hosen mit Bügelfalte, die von einem schwarzen Ledergürtel gehalten wurden. Seine weißen Haare waren straff nach hinten gekämmt, er selbst frisch rasiert.

Er hielt den Rücken gerade, indes seine Arme entspannt auf den Lehnen des weißen Gartenstuhls ruhten, auf dem er saß, und schenkte seinem Gegenüber einen eindringlichen Blick.

Dessen hüpfender Kehlkopf zeigte, dass er nervös schluckte, bevor auch er seinen Gesprächspartner musterte. »Man hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass Sie mit mir sprechen möchten«, setzte er an. Nur zu gut erinnerte er sich an den nachdrücklichen Tonfall am anderen Ende der Verbindung, als er am Morgen den Hörer seines Festnetzapparats abgehoben hatte. Dementsprechend hatte er sich direkt auf den Weg hierher gemacht. Zum Teil aufgrund der Dringlichkeit, die unterschwellig herauszuhören gewesen war, zum Teil aus echter Neugier.

Eine adrett gekleidete Dame hatte ihn zuvor durch den schattigen Innenhof ins sonnige Freie geführt. Dort waren zwei identische Stühle auf gepflegtem Grün zurechtgerückt worden. Der alte Mann hatte ihn bereits erwartet.

Und da saßen sie nun.

»Ich weiß, dass Sie lange Jahre in der Armee gedient haben …«, fügte der Jüngere an seine einleitende Floskel, um dem Alten sein Anliegen zu entlocken. Das Satzende blieb fragend in der Luft hängen. Als wüsste er nicht recht, wie er diesen Besuch, einen unter vielen und doch irgendwie andersartigen, einzuschätzen hatte. Noch nicht.

Der alte Mann zog einen umfurchten Mundwinkel nach oben. Die blauen Augen darüber blieben ausdruckslos. »… und nun fragen Sie sich, ob ich am Ende meines Lebens für all meine Sünden Abbitte verlange; Vergebung, von Ihnen und Gott«, beendete er ruhig den Satz.

Der Pater richtete sich, wie auf ein Zeichen hin, auf und stützte die Ellenbogen auf die Armlehnen. Sorgenfalten auf der hohen Stirn wiesen ihn in seinem Einsatzgebiet, der menschlichen Seele, als kampferprobt aus.

Nach einer Minute der Stille zwischen ihnen, als diese bereits unangenehm wurde, beugte sich der Geistliche vor: »Und, wollen Sie, dass ich Ihnen die Beichte abnehme?«

Nun lächelte der alte Mann wahrhaftig. Doch die Emotion wirkte seltsam verzerrt – wie das Zähnefletschen eines sich öffnenden Haigebisses; kurz vor dem Zuschnappen.

Sie waren beide keine unbeschriebenen Blätter. Veteranen unterschiedlicher Berufsfelder, wenn man so wollte. Und doch hätten sie nicht verschiedener sein können.

Den Jüngeren beschlich die Ahnung, dass noch ganz andere, unausgesprochene Dinge in der Luft lagen. Einen Moment lang war er versucht zurückzuweichen. Dann erlegte er sich seine sonst so unerschütterliche, innere Ruhe bewusst auf. Der Mann vor ihm stellte keine Gefahr dar, sagte er sich.

Nicht für ihn.

Nicht mehr.

Nicht heute. Oder?

»Nun?«, fragte er also nach.

Der alte Mann streckte, statt zu antworten, seinem Gegenüber die Hand entgegen. Eine alltägliche Geste, die doch seltsam anmutete. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass eine Begrüßung bisher entfallen war.

Verblüfft schüttelte der Pater die ihm dargebotene Hand. Als er sich wieder zurückziehen wollte, hielt der Ältere allerdings seine Finger fest.

Der Pater zog noch einmal, doch seine Hand war wie in einem Schraubstock eingespannt.

Stille umhüllte beide.

Was in Gottes Namen wollte der Mann von ihm, fragte sich der Besucher zum dritten Mal. Welchem Problem sollte er hier den Zahn ziehen? Denn scheinbar litten auch Haie unter Zahnschmerzen! Aussprechen tat er die im Raum stehende Frage kein weiteres Mal, denn er war sich sicher, dass sein Gegenüber ausgezeichnet hörte.

Stattdessen taxierten die Männer einander.

»Sehen Sie, da beginnt mein Problem«, gestand der alte Mann schließlich und löste sowohl seine Hand als auch den Blickkontakt. »Direkt bei der Begrüßung. Ich weiß nicht einmal, welchen Namen ich Ihnen nennen soll.«

Langsam lehnte der Pater sich zurück, atmete aus und nutzte den wiedergewonnenen Freiraum, um die Information zu überdenken. »Haben Sie ein Doppelleben geführt?«, wagte er behutsam den ersten Schritt in Richtung einer verbalen Annäherung.

»Doppelleben.« Der alte Mann spuckte das Wort förmlich über das bisschen akkurat geschnittenen Rasen zwischen ihnen. »Ein anderer Begriff dafür, seine Frau zu betrügen und seine Kinder zu belügen, nicht wahr?«

Der Besucher schluckte. Die Aussage bediente nicht nur ein Klischee, sondern sagte auch viel über den Menschen vor ihm aus.

Über dessen Verständnis von Werten.

Über Verantwortungsbewusstsein und Treue.

Behutsam warf der Pater ein: »Ein Agent führt auch ein Doppel­leben, im Namen der guten Sache; um seinem Land zu dienen.«

Tatsächlich sprach sein Gegenüber daraufhin weiter. »Ist das so?« Er blinzelte. »Nein, das meinte ich nicht.« Abrupt verstummte er und starrte einer Fliege nach.

Resigniert sah der Pater in die Luft. Gleichzeitig beschloss er, noch einen Versuch zu wagen. »Was meinten Sie dann? Sie waren im Krieg, haben mindestens zwei Namen und das nach Ihrer Aussage nicht parallel. Also hatten Sie sie hintereinander«, schlussfolgerte er. »Waren Sie in einem Zeugenschutzprogramm?«

Die Frage verklang. Eine Weile saßen sie daraufhin einfach da. Der Ältere schwieg beharrlich. Der Jüngere sann nach einer neuen Taktik, um sein Gegenüber endlich aus der Reserve zu locken.

Das Gelände um sie war hermetisch abgeriegelt, das Personal wurde handverlesen. Besucher kamen nur auf Einladung. Wer hier untergebracht war oder sich aus freien Stücken dafür entschieden hatte, seinen Lebensabend hier zu verbringen, hatte entweder sonst niemanden mehr, wollte niemanden mehr sehen oder war schwer traumatisiert. Eine Gefahr für sich und andere. Das war zumindest zusammengefasst, was über die Jahre zur Anlage an die Öffentlichkeit gedrungen war.

Der Geistliche verbot sich zu spekulieren, zu welcher Gruppe der Alte vor ihm gehörte. Dessen Körpersprache schien abwartend, innerlich angespannt. Er selbst war das erste Mal hier und kam sich fehl am Platz vor.

»Ich möchte Ihrem Orden eine Schenkung machen«, fand just sein Gegenüber die Stimme wieder. Ein kleines Wunder.

Überrascht schaute der Pater auf. »Was für eine Schenkung?« Obwohl er die Skepsis aus seinem Tonfall zu nehmen versuchte, schwang ein guter Hauch davon mit.

Der alte Mann lächelte erneut, ohne dass jegliches Gefühl seine Augen erreichte. »Ein großes Grundstück mit einem Haus sowie ein kleineres Stadthaus als direkte Schenkung und Geld. Sauberes Geld. Hart erarbeitetes Geld«, antwortete er. »Sehen Sie es als zusätzliche Spende.«

»Eine Schenkung und eine Spende. Das ist …« Der Jüngere suchte nach dem richtigen Wort. »… großzügig«, endete er.

Der alte Mann nickte bedächtig. »Nach meinem Tod möchte ich, dass der Rest meines Vermögens an Ihren Orden fällt.«

Im Hinterkopf des Paters türmten sich die Gedanken. Nichts schien hier zusammenzupassen. »Welche Bedingungen sind damit verbunden und wie kann ich Sie unterstützen?«

Sein Gegenüber ließ sich auch dieses Mal Zeit zu antworten. So überlegte der Geistliche unwillkürlich, welche Höhe von der Spende zu erwarten war. Alles hier wirkte distinguiert, obwohl sich keiner der Bediensteten respektive der anderen Bewohner zeigte.

Schwierig. In jedem Fall blieb die Schenkung.

»Um die Unterlagen kümmert sich der Vermögensverwalter, den ich engagiert habe. Ich befand es allerdings als angemessen, Sie, stellvertretend für Ihren Orden, persönlich zu informieren«, riss ihn die Stimme des Alten aus den Gedanken.

Es schien, als kämen sie langsam dem eigentlichen Kern der Sache näher. Nicht der Schenkung, nicht der Spende, sondern dem Grund, warum er heute den wundersamen Anruf erhalten hatte. Zustimmend nickte der Pater und der alte Mann fuhr fort: »Ich habe mir Ihre Projekte angesehen. Es wird eine schriftliche Bestimmung meinerseits mit der Verfügung über das liquide Kapital einhergehen. Von Ihnen möchte ich heute nur, dass Sie zuhören.«

Wieder nickte der Besucher. Zuhören war genau sein Metier; doch zuerst wollte die Neugier endlich gestillt werden: »Weshalb wird meinem Orden diese Ehre zuteil?«

Offen sah der Alte den Jüngeren an. »Ich werde Ihnen jetzt eine wahre Geschichte erzählen und ich möchte nicht, dass Sie mich unterbrechen. Hören Sie genau hin. Wenn Sie am Ende Fragen haben, dürfen Sie mir diese stellen. Ich bin mir allerdings sicher, dass die, die Sie bereits vorgebracht haben, beantwortet sein werden. Falls Sie keine haben sollten, steht es Ihnen frei zu gehen, sobald ich geendet habe. Damit erfüllen Sie Ihren Teil bereits und ich werde den Rest regeln.« Er verstummte kurz. »Es wird eine Weile dauern, aber ich werde fertig sein, bevor die Sonne untergeht.« Auf seinem vom Leben gezeichneten Gesicht spiegelten sich unzählige Emotionen: Freude, Liebe, Hass, Trauer, Angst und Leid.

Echte Emotionen.

Wahrhaftige Emotionen.

Nach allem Vorhergehenden beunruhigte das den Pater. Unbewusst knetete er die Hände im Schoß. Der Joker machte sich bereit, die Maske fallen zu lassen.

»Einwände Ihrerseits?«, fragte dieser just.

Gänsehaut kroch dem Geistlichen unter der Kutte von den Händen aus die Arme empor. Ihn fröstelte trotz der mittäglichen Wärme. Bedächtig schüttelte er den Kopf, senkte seinen Blick und harrte der Dinge aus, die da kommen mochten.

I

Aller Anfang

»Für einen Herzschlag gab es nur sie beide.

Ihre dünnen Körper, die sich

Halt suchend aneinander pressten –

in ihrem Streben nach Hoffnung.«


Der Junge von damals

»Wenn man wahrhaftig liebt, hat man ihn – diesen einen Menschen, der einem mehr bedeutet als alles andere. Vielleicht sogar als man selbst. Für den jedes Regiment dieser Welt zu Fall gebracht, jede unerträgliche Qual erduldet und Unmögliches möglich gemacht werden würde, sollte dies vonnöten sein. Aber wenn es jemand gibt, für den man gar töten würde, und dieser stirbt vor den eigenen Augen, ohne dass man ihm helfen kann. Weil man zu spät kommt, weil man zu schwach ist. Weil die Möglichkeiten fehlen. Was macht das mit einem? Was macht das aus einem?«, fragte der alte Mann mit einer Eindringlichkeit, die den Pater schlucken ließ. Dabei begann die Geschichte gerade erst.

1

Vereinigte Mexikanische Staaten

Das Krächzen von Geiern

Als der kleine Junge die Augen aufschlug, hatten seine anderen Sinne die Umgebung längst wahrgenommen. Die Geräusche um ihn waren ihm so vertraut, dass er es, schläfrig, wie er war, nicht für nötig befand, sich zu rühren. Trotzdem beschleunigte sein Herz die Kontraktion, als Unruhe in ihm aufstieg. Er erschrak, tauchte vollends aus der Welt der Träume auf und schloss im nächsten Moment wieder matt die Lider.

Etwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht.

Und er wusste, nach kurzer Besinnungsphase, auch genau was. Es würde Ärger geben, das konnte er jetzt nicht mehr verhindern. Großen Ärger.

Vielleicht gar tödlichen Ärger.

Es fiel ihm schwer, das Ausmaß abzuschätzen. Und auf die Erkenntnis hin legte sich Beklemmung kalt und unvermeidlich wie eine eiserne Schlinge um seinen Kehlkopf. Zog sich zu und schnürte ihm fast die Luft ab.

Sein Magen fühlte sich wie ein tiefes Loch an. Ein rumorendes Loch, das nach Füllung gierte. Hunger. Er hatte Hunger!

Um sich abzulenken, schenkte er seine Aufmerksamkeit der Umgebung. Eine seiner Handflächen lag auf etwas Klebrigem, das sich bei genauerem Tasten matschig anfühlte. Mit viel Glück war es eine alte Bananenschale. Seufzend drückte er darauf herum, während er meinte, sich verschwommen daran zu erinnern, wie er hier gelandet war. Erschöpft hatten seine Beine gestern Abend auf der Suche nach etwas Essbarem plötzlich nachgegeben.

Wieder einmal hatte er sich, bereits wegdämmernd, gewünscht, stärker zu sein. Ein richtiger Superheld mit Superkräften. Einer, der beschützen konnte; mit bloßen Händen oder echten Waffen. Solchen, die große Löcher in böse Menschen rissen. Genauso wie die in den Geschichten, die Tante Hylu hin und wieder erzählte, wenn Tante Selda und Tante Yama nicht da waren.

Dann hatte ihn die Müdigkeit überrollt, bis gerade eben, bis er aufgewacht war.

Pfeifend entwich ihm der Atem. Hervorstehende Wangenknochen betonten die hohe Stirn auf besorgniserregende Weise. Unter seinem viel zu weiten, beschmutzten schwarzen T-Shirt hätte ein genauer Betrachter jede Rippe einzeln zählen können. Dazu trug der Junge ausgeleierte graue Sportshorts, die er sich mit der eingenähten Kordel um die dürren Hüften festgeknotet hatte. Durch dichte, dunkle Wimpern blinzelte er wie in Trance den gleißenden Strahlen der aufgehenden Sonne entgegen.

Diese verlieh der Szene eine unverdiente Milde und kündete gleichzeitig von einem weiteren anstrengenden Tag.

Das laute Krächzen von Geiern durchbrach die Stille. Ein wenig appetitliches Hackgeräusch folgte. Wahrscheinlich zerrupften sie den Kadaver eines toten Hundes oder die Leiche eines Kindes, das die Augen nicht wieder geöffnet hatte, und stritten sich um die besten Brocken Fleisch.

Über allem hing der Gestank von Fäkalien und Kunststoffdämpfen aus den Schwelbränden, die in den hohen Müllbergen vor sich hin glommen.

Gedankenverloren hob der Junge die rechte, schlammverkrustete Hand und strich sich eine Strähne seines fettigen Haars aus dem kindlichen Gesicht. Die Geste kostete ihn unendlich viel Kraft.

Er stand erst am Anfang seines Lebens, doch sein Körper war bereits am Ende jeglicher Möglichkeiten.

»David! David!«, riss ihn eine hohe Stimme aus der Versunkenheit. Mühsam hob er den Kopf und stützte sich schwer auf seine Unterarme.

Mit einem ebenso schmutzigen, ehemals rosafarbenen T-Shirt, das sie gerade so bedeckte, rannte ein kleines Mädchen den Abfallberg zu ihm hinauf. Die unwegsamen Hindernisse, die ihren Weg zum Slalomlauf machten, hielten sie nicht auf. Geübt wich sie scharfkantigem Unrat aus und sprang über einen modrigen Graben, den ein alter Sessel und ein zerschlagener Tisch bildeten.

Sie wirkte nicht beleidigt oder vorwurfsvoll, wie David es erwartet hätte. Ihr schwarzes Haar hing wie üblich rechts und links neben ihren Ohren, zu zwei Zöpfen gebunden, hinunter. Sie hätte dringend ein Bad nötig gehabt, darin stand sie ihm in nichts nach.

Für David allerdings war Mia in der lieblichen Morgenröte das schönste Geschöpf auf Erden.

Ihr rundes Gesicht leuchtete, als sie atemlos neben ihm zum Stehen kam. Die tief gebräunten Füße versanken zwischen einer roten und einer weißen Mülltüte. Zwei große grüne Augen funkelten über einem kleinen rosaroten Mund um die Wette.

Mias Hautfarbe war dunkel, Davids war hell. Hier interessierte das keinen. Jeder hasste jeden, solange er nicht Profit aus ihm schlagen konnte.

»Ich wusste, dass ich dich finde«, erklärte sie selbstzufrieden, indes sie sich auf den weichen Abfall neben ihm plumpsen ließ; auf eine unbeschwerte Art, wie es nur Kinder tun. Ihre zerkratzten Beine streckte sie dabei geübt nach vorne.

»Klar«, krächzte David aus trockener Kehle, sog so viel Luft wie möglich in seine Lunge und versuchte sich an einem dürftigen Lächeln.

Damit war die Unterhaltung vorerst beendet, denn er besah sich endlich das Ding unter seiner Hand. Leider überzog pelziger, fast dunkelgrüner Schimmel die Bananenschale. Diese fühlte sich dadurch lebendig an. Schnell zog er die Hand wieder weg.

Sein Magen rumorte. Ob vor Ekel oder weil er plötzlich den Drang verspürte, sich den braungrünen Matsch doch in den Mund zu schieben, wusste er selbst nicht genau. Er wollte seinen Bauch beruhigen. Nur wie?

Der Hunger war innerhalb der letzten Minuten ins Unermessliche gestiegen. Die schimmlige Schale lag in greifbarer Nähe. Er wusste allerdings genau, dass der pelzige Überzug ihn eher krank, denn satt machen würde. So viele Male hatte er es bei anderen beobachtet. Die Krämpfe, das Erbrechen.

Ihn schauderte. Der Druck auf seinen Brustkorb nahm zu, die Schmerzen in seinem Magen ließen ihn keuchen.

Trotzdem lieber kein Frühstück.

Das war nichts wirklich Ungewöhnliches. Und vielleicht war heute ja der Tag, an dem das Unvermeidliche eintreten würde. Die Dinge wurden stets schlimmer, nicht besser. Und David war sich nicht sicher, ob er dem Ärger, der ihn erwartete, und dem Hunger, der ihn schwächte, standhalten konnte.

Möglicherweise sollte es so sein.

Möglicherweise ging es heute zu Ende. Das Leid, das ihn wachhielt, bis die Bewusstlosigkeit ihn hinab in die Dunkelheit zog. Das Hoffen, das doch nie etwas brachte. Die Übelkeit, die seine Magenwände langsam zu zerfressen schien. Und all die Sorgen, die ihn wegen Mia plagten.

Nichtsdestotrotz stocherte er mit der Hand weiter im Müll, während Mia ihr Gesicht scheinbar sorglos in die Sonne hielt. Das dauerhafte Suchen mit Fingern und Augen war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Jedoch war das meiste von dem Berg, auf dem sie saßen, kaputt und wertlos. Alte Joghurtbecher, Obstschalen, Kissen, löchrige Decken, Glasscherben, Verpackungen, Plastikteile, Möbel, Reifen, Altmetall, zersplitterte Bretter, verrottetes Papier und unzähliges mehr wollte niemand. Deshalb war es hier: auf dem Müll. Nur in wenigen, glücklichen Fällen gab es etwas Essbares. Und ganz selten war etwas unbeschädigt und brachte auf irgendeine Art Geld ein. Das wusste David so gut wie alle anderen, die herkamen, trotzdem trieb die Hoffnung sie in den Müll.

Er schluckte bekümmert.

Seine Kehle tat weh. Die Glieder fühlten sich schwer, fast eingeschlafen, an. Selbst die Gedanken schienen ihre Kreise in seinem Kopf immer langsamer zu ziehen.

»Sind sie sehr böse auf mich?«, würgte er mit schwerer Zunge hervor und sah seine Freundin an.


Es war zum Verzweifeln. Aber Verzweifeln war keine Option; nicht, wenn es ums Überleben ging. Und überleben, da war er sich sicher, wollte er unbedingt. Sein Geist kämpfte gegen seinen Körper. Es war stets derselbe Ringelreigen, doch musste er vorsichtiger sein. Musste in Zukunft auf die Zeichen der Müdigkeit seiner Glieder hören. Aber was sollte er dann tun? Die tägliche Arbeit konnte er nicht unterbrechen, um sich auszuruhen.


Mia hatte indes aufgehört, mit ihren Zöpfen zu schlenkern. Sie legte den Kopf schief. Nachdenklich zwirbelte sie an einer losen Haarsträhne. Dann schenkte sie ihm ein breites Grinsen und schüttelte schnell den Kopf.

Ein warmes Gefühl, Erleichterung, breitete sich in Davids Bauch aus und verdrängte für einige Herzschläge den nagenden Hunger.

Mia rutsche hin und her. Sie plapperte dabei unbekümmert: »Ich hab das Geld abgegeben. Und dein Kasten stand ja auch da.«

Auf einmal verharrte sie reglos in der Bewegung. Ihre Augen weiteten sich. »Aber du wirst wohl diese Woche nichts mehr zu essen bekommen.« Zaudernd sah sie ihn an. Traurigkeit und Mitgefühl sprachen aus ihrem Blick ebenso wie Hilflosigkeit.

Inzwischen zu erschöpft, um zu sprechen, nickte David resigniert.


Am Abend nicht zur Hütte zu kommen und den Tanten kein Geld abzugeben, führte zu drastischen Strafen. Es stand an erster Stelle auf der Liste der Dinge, die man besser nicht tat. Und kam damit gleich nach: nach Hause zu kommen und kein Geld abzugeben sowie einen Teil des verdienten Geldes heimlich zu behalten – die Tanten fanden es immer heraus – oder eben nicht nach Hause zu kommen.

Ob eine Absicht bestanden hatte, war unwichtig. Wichtig war, ob es ein guter oder ein schlechter Tag war. Ob die Tanten am Abend zuvor genug Geld eingetrieben hatten, um die zwei grünen Flaschen, aus denen sie gelegentlich tranken, von dem schmierigen Mann, der am Rande der Mülldeponie einen kleinen Laden führte, füllen zu lassen.

»Mr Gibbon«, wie die Tanten ihn gurrend nannten, hatte etwas Unheimliches an sich. Mit seiner Hakennase und den blutunterlaufenen Augen sah er besonders Mia immer eine Spur zu eindringlich, zu begehrlich an. Den scheelen Blick konnte auch seine gepflegte Kleidung nicht wettmachen. Und so begleitete David Mia, wann immer sie dem Ladenbesitzer auf Geheiß der Tanten Flaschen und Geld bringen sollte, um auf sie zu achten.

War das der Fall, gab es abends genug Brot für alle und die Stimmung war fröhlich. Am nächsten Tag scheuten die Tanten das Sonnenlicht, vertrugen keinen Lärm und verhielten sich unausstehlich.

Das, was die Flaschen füllte, konnte nicht wirklich gut sein. Trotzdem ließen sich die Tanten, so oft es ging, zum Geschäft mit dem Mann hinreißen. Und es hatte neben dem Essen abends noch eine positive Seite, das musste dem »Alkohol« zugutegehalten werden. Endlich hörten die Tanten auf zu streiten und manchmal nahmen sie sogar eine oder einen von ihnen auf den Schoß – der Vorteil klein zu sein.

Groß zu sein brachte Nachteile. Während David momentan in der Gunst von Tante Yama stand und tagsüber einen Schuhputzkasten durch die Straßen tragen durfte, um Kundschaft zu finden, mussten die größeren Jungen auf dem Bau arbeiten. Es war schweißtreibende, harte, schlecht bezahlte Arbeit. Jedoch besser als gar keine Arbeit.


David erinnerte sich genau.


Als ein paar Mädchen schließlich zu alt geworden waren, waren sie von einem Tag auf den anderen verschwunden. Zwei von ihnen hatte er einige Wochen danach zufällig mittags auf der Veranda eines der größeren Häuser der Ansiedelung gesehen. Was darin vorging, war ihm ein Rätsel. Sie waren so hübsch herausgeputzt gewesen, dass er sie zuerst gar nicht erkannt hatte. Ihre bunten Sachen, die glänzenden Haare, die rosige Haut, die sie zeigten – all das war ihm fast unwirklich vorgekommen, denn die Sonne hatte an diesem Tag vom Himmel gebrannt.

Beide waren von heller Hautfarbe, genau wie er. Und David wusste aus eigener Erfahrung, wie weh ein Sonnenbrand tun konnte. Wenn sich nicht nur das Gesicht, sondern auch die Brust rot färbte, war die folgende Nacht unangenehm bis sehr schmerzhaft.

Verwirrt hatte er sich abgewandt. Jedes Rätsel klärte sich irgendwann. So würde auch die Zeit für diese Lösung kommen.

Mia war in Bezug auf die Haut klar im Vorteil, sie konnte dank ihrer von Natur aus dunklen Hautfarbe fast so lange in der Sonne herumtollen, wie sie wollte.


»Wir müssen gleich los«, riss ihre Stimme David aus seinen Gedanken. Noch immer betete sie mit ihrer Körperhaltung die Sonne an.


Mia sah in allem etwas Positives, sie machte aus allem etwas Gutes. Durch sie gewannen die Dinge für ihn an Farbe, Emotion und Wert.

Ihr Geld für die Tanten verdiente sie mit kleinen Tanzvorführungen an allen möglichen Ecken vor den wenigen Cafés und Läden oder zwischen den Häusern. Dabei sang sie. Keiner konnte der Anziehungskraft ihrer außergewöhnlichen Augen und der klaren Stimme widerstehen. Die Münzen rasselten stets mit einem fröhlichen Geräusch in die kleine gelbe Schale aus Plastik, die sie jeden Morgen liebevoll mit frischen Blumen vom Wegrand schmückte, bevor sie zusammen mit ihm loszog.


David nickte zustimmend, obwohl sie es nicht sehen konnte. Es war gut, sich gegenseitig im Blick zu behalten, um mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen. Wer wusste schon, was kommen mochte.

Schlagartig fiel ihm sein Hunger wieder ein. Beschämt hörte er, wie sein Bauch seltsame Geräusche von sich gab. Eigentlich sollte diese Phase längst vorüber sein.