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Titel der amerikanischen Originalausgabe What makes you not a Buddhist
Erschienen bei Shambhala Publications, Inc, P. O. Box 308, Boston, MA., 02117
© 2007 by Dzongsar Jamyang Khyentse
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Maike und Stephan Schuhmacher

Dzongsar Jamyang Khyentse wurde 1961 in Bhutan geboren. Er ist ein Schüler von Khenpo Appey Rinpoche. Als Oberhaupt des angesehenen Dzongsar-Klosters und der Dzongsar-Mönchsschule ist er verantwortlich für das Wohl und die Erziehung von etwa 1600 Mönchen, die in sechs verschiedenen Klöstern und Instituten in Asien leben.
Er leitet auch die Organisation Siddhartha’s Intent, zu der sechs Lehr- und Praxiszentren rund um die Welt gehören, sowie zwei ge­meinnützige Organisationen, die Khyentse Foundation und Lotus Outreach. Er schrieb das Drehbuch und führte die Regie zu zwei Spielfilmen: Spiel der Götter und Travellers and Magicians.
Weitere Informationen finden Sie auch unter www.siddharthasintent.de

Vollständige Ebookausgabe der im Windpferd Verlag erschienenen Erstausgabe Weshalb Sie (k)ein Buddhist sind

© 2007 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: KplusH, Agentur für Kommunikation und Design, CH-Amden
unter Verwendung einer Illustration von Frank Keller, Waldshut
Lektorat: Doris Wolter und Anja Quathamer

ISBN 978-3-86410-216-5
www.windpferd.de

Für den Sohn von Suddhodana,
den Prinzen aus Indien,

ohne den ich noch immer nicht wüsste,
dass ich ein Wanderer bin.

Inhalt

Einführung

1 Die Vergänglichkeit alles Zusammengesetzten

2 Gefühle sind Leiden

3 Alles ist Leerheit

4 Nirvâna – jenseits von Vorstellungen

Fazit

Danksagung

Postskriptum zur Übersetzung der Begriffe

Einführung

Einmal bekam ich auf einem transatlantischen Flug einen Mittelsitz im Mittelblock, und der wohlwollende Herr neben mir bemühte sich freundlich zu sein. Er hatte aus meinem geschorenen Kopf und meiner braunen Robe geschlossen, dass ich Buddhist sei. Als das Essen serviert wurde, bot er rücksichtsvoll an, mir ein vegetarisches Gericht zu bestellen. Er nahm an, dass ich als Buddhist kein Fleisch esse. Das war der Anfang unseres Gesprächs. Der Flug war lang, und um unsere Langeweile zu vertreiben, sprachen wir über Buddhismus.

Mit der Zeit ist mir klar geworden, dass die Leute Buddhismus und Buddhisten oft mit Frieden, Meditation und Gewaltlosigkeit assoziieren. Und viele glauben tatsächlich, ein safranfarbenes oder rotbraunes Gewand und ein friedvolles Lächeln machten jemanden bereits zum Buddhisten. Als fanatischer Buddhist sollte ich auf diesen Ruf stolz sein, insbesondere auf den Aspekt der Gewaltlosigkeit, der in diesem Zeitalter des Krieges und der Gewalt – besonders der religiösen Gewalt – so selten ist. In der gesamten Geschichte der Menschheit scheint Religion Brutalität erzeugt zu haben. Selbst heutzutage dominiert religiös begründete extremistische Gewalt die Nachrichten. Doch ich glaube mit Fug und Recht sagen zu können, dass wir Buddhisten uns in dieser Hinsicht bislang keine Schande gemacht haben. Gewalt hat in der Verbreitung des Buddhismus niemals eine Rolle gespielt. Als geschulter Buddhist bin ich jedoch auch nicht ganz einverstanden, wenn der Buddhismus mit nichts anderem als mit Vegetarismus, Gewaltlosigkeit, Frieden und Meditation in Verbindung gebracht wird. Prinz Siddhârtha, der alle Annehmlichkeiten und allen Luxus des Palastlebens opferte, muss nach mehr als nach Passivität und Grünzeug gesucht haben, als er sich aufmachte, Erleuchtung zu finden.

Auch wenn er in seiner Essenz recht einfach ist, lässt sich der Buddhismus doch nicht so leicht erklären. Er ist von einer fast unbegreiflichen Komplexität, Weite und Tiefe. Und obwohl er weder religiös noch theistisch ist, ist es schwer, ihn zu präsentieren, ohne sich theoretisch und religiös anzuhören. Während der Buddhismus sich in verschiedene Regionen der Welt ausbreitete, nahm er die kulturellen Charakteristika dieser Gegenden an, und das macht es noch schwieriger, ihn zu entschlüsseln. Theistisches Drum und Dran wie Räucherwerk, Glöckchen und bunte Hüte zieht die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich, kann aber gleichzeitig auch ein Hindernis sein. Die Leute glauben dann letztlich, dies alles mache den Buddhismus aus, und werden von seiner Essenz abgelenkt.

Zum Teil aus Frustration darüber, dass die Lehren Siddhârthas für meinen Geschmack nicht genug ankommen, manchmal aber auch aus eigenem Ehrgeiz, trage ich mich mit dem Gedanken, den Buddhismus zu reformieren, ihn einfacher – unkomplizierter und puritanischer – zu machen. Es ist abwegig und unangebracht sich auszumalen (und ich tue das manchmal), den Buddhismus auf genau definierte, berechnete Praktiken zu reduzieren, wie zum Beispiel dreimal am Tag zu meditieren, sich an eine bestimmte Kleiderordnung zu halten und bestimmten ideologischen Glaubenssätzen anzuhängen, wie etwa dem, dass die ganze Welt zum Buddhismus konvertiert werden müsse. Wenn wir versprechen könnten, dass solche Praktiken zu sofortigen und fassbaren Ergebnissen führten, gäbe es wahrscheinlich mehr Buddhisten in der Welt. Doch wenn ich mich von diesen Fantasien erhole (was ich selten tue), warnt mich mein nüchterner Verstand, dass eine Welt voller Menschen, die sich „Buddhisten“ nennen, nicht unbedingt eine bessere Welt wäre.

Viele Menschen glauben fälschlicherweise, Buddha sei der „Gott“ des Buddhismus; sogar einige Leute in allgemein als buddhistisch angesehenen Ländern wie Korea, Japan und Bhutan verstehen den Buddha und den Buddhismus auf diese theistische Weise. Darum verwenden wir in diesem Buch die Namen Siddhârtha und Buddha im Wechsel, um daran zu erinnern, dass der Buddha einfach ein Mensch war und dieser Mensch zu einem Buddha wurde.

Es ist verständlich, wenn einige Menschen denken, Buddhisten wären die Anhänger dieses Mannes namens Buddha. Doch der Buddha selbst hat betont, man solle nicht eine Person verehren, sondern vielmehr die Weisheit, die diese Person lehre. Gleichermaßen gilt es als selbstverständlich, dass Reinkarnation und Karma die wesentlichsten Glaubensgrundsätze des Buddhismus darstellen. Es gibt noch zahlreiche andere grobe Missverständnisse. So wird der tibetische Buddhismus manchmal „Lamaismus“ genannt, und Zen wird in manchen Fällen nicht einmal als Buddhismus angesehen. Aber auch Menschen, die zwar ein wenig besser informiert, doch noch immer auf Irrwegen sind, benutzen Wörter wie „Leerheit“ und Nirvâna, ohne ihre Bedeutung zu verstehen.

Wenn sich eine solche Unterhaltung entspinnt wie die mit meinem Sitznachbarn im Flugzeug, könnte ein Nicht-Buddhist einmal ganz unschuldig fragen: „Was macht denn jemanden zu einem Buddhisten?“ Das ist die am schwersten zu beantwortende Frage. Sollte dieser Mensch ein echtes Interesse haben, so lässt sich die ganze Antwort nicht mal eben während einer Konversation beim Abendessen geben, und Verallgemeinerungen können leicht zu Missverständnissen führen.

Nehmen wir einmal an, Sie wollten die wahre Antwort geben, eine Antwort, die direkt auf die Grundlage dieser 2500 Jahre alten Tradition verweist, dann müsste sie folgendermaßen lauten:

Jemand ist ein Buddhist, wenn er oder sie die folgenden vier Wahrheiten akzeptiert:

Alle zusammengesetzten Dinge sind vergänglich.

Alle Gefühle sind Schmerz.

Alle Dinge haben keine eigenständige Existenz.

Nirvâna ist jenseits von Konzepten.

Diese vier Aussagen, die vom Buddha selbst stammen, sind als die „Vier Siegel“ bekannt. Ein Siegel bezeichnet nach traditionellem Verständnis ein Kennzeichen, das die Authentizität von etwas bestätigt. Der Einfachheit und des Leseflusses halber werden wir diese Aussagen hier sowohl als Siegel wie auch als „Wahrheiten“ bezeichnen. Sie sollten allerdings nicht mit den „Vier Edlen Wahrheiten“ des Buddhismus verwechselt werden, die ausschließlich Aspekte des Leidens betreffen. Obgleich es heißt, dass die vier Siegel den ganzen Buddhismus umspannen, scheinen die Leute nichts von ihnen wissen zu wollen. Ohne weitere Erläuterung dienen sie offenbar lediglich dazu, die Begeisterung für das Thema zu dämpfen, und in vielen Fällen scheinen sie jegliches weitere Interesse abzuwürgen. Das Gesprächsthema wird gewechselt, und das ist dann das Ende vom Lied.

Die Botschaft der vier Siegel sollte jedoch wörtlich verstanden werden, nicht metaphorisch oder mystisch – und sie sollte ernst genommen werden. Die Siegel sind allerdings keine Erlasse oder Gebote. Durch ein wenig Kontemplation wird klar, dass sie nichts Moralistisches oder Rituelles haben. Es ist weder von gutem noch von bösem Verhalten die Rede. Es handelt sich um weltliche Wahrheiten, die sich auf Weisheit gründen, und Weisheit ist das, was Buddhisten am meisten interessiert. Moral und Ethik sind eher zweitrangig. Ein paar Züge an einer Zigarette und ein wenig Unsinn bedeuten noch nicht, dass dieser Mensch kein Buddhist werden kann. Das heißt aber auch nicht, dass wir die Lizenz dazu hätten, boshaft oder unmoralisch zu sein.

Ganz allgemein gesagt, stammt Weisheit aus einem Geist, der das besitzt, was die Buddhisten die „rechte Sicht“ nennen. Allerdings muss jemand, der die rechte Sicht besitzt, sich nicht unbedingt für einen Buddhisten halten. Letztlich ist es diese Sichtweise, die unsere Motivation und unser Handeln bestimmt. Es ist die Sicht, die uns auf dem buddhistischen Pfad leitet. Wenn wir zusätzlich zu den vier Siegeln noch ein heilsames Verhalten annehmen können, macht uns das sogar zu noch besseren Buddhisten. Was aber macht, dass Sie kein Buddhist sind?

Wenn Sie nicht akzeptieren können, dass alle zusammengesetzten oder hergestellten Dinge vergänglich sind, und wenn Sie glauben, es gäbe eine essenzielle Substanz oder ein Konzept, die dauerhaft wären, dann sind Sie kein Buddhist.

Wenn Sie nicht annehmen können, dass alle Gefühle Schmerz sind, und wenn Sie glauben, dass einige Gefühle tatsächlich reines Vergnügen sind, dann sind Sie kein Buddhist.

Wenn Sie nicht akzeptieren können, dass alle Phänomene illusorisch und leer sind, und wenn Sie glauben, dass bestimmte Dinge eigenständig existieren, dann sind Sie kein Buddhist.

Und wenn Sie glauben, dass Erleuchtung innerhalb der Sphären von Zeit, Raum und Kraft oder Energie existiert, dann sind Sie kein Buddhist.

Was macht Sie also zum Buddhisten? Vielleicht sind Sie nicht in einem buddhistischen Land oder in eine buddhistische Familie geboren worden, vielleicht tragen Sie keine Roben oder rasieren sich nicht den Kopf, vielleicht essen Sie sogar Fleisch und sind ein Fan von Eminem und Paris Hilton. All das bedeutet nicht, dass Sie kein Buddhist sein können. Um ein Buddhist zu sein, muss man akzeptieren, dass alle zusammengesetzten ­Phänomene vergänglich und alle Gefühle Schmerz sind, dass kein Ding eigenständige Existenz besitzt und dass Erleuchtung jenseits von Konzepten ist.

Es ist nicht notwendig, sich ständig und unentwegt dieser vier Wahrheiten bewusst zu sein. Doch sie müssen in Ihrem Geist zu Hause sein. Sie laufen ja auch nicht herum und denken ständig an Ihren eigenen Namen, aber wenn jemand Sie danach fragt, erinnern Sie sich augenblicklich. Da gibt es keinen Zweifel!

Jeden, der diese vier Siegel annehmen kann – selbst unabhängig von Buddhas Lehren und auch dann, wenn er oder sie niemals zuvor den Namen Shâkyamuni Buddha gehört haben mag –, kann man als einen Menschen betrachten, der sich auf demselben Weg befindet wie der Buddha.

Als ich dem Mann neben mir im Flugzeug all dies zu erklären suchte, hörte ich auf einmal ein leichtes Schnarchen und begriff, dass er tief schlief. Offenbar hatte unsere Unterhaltung seine Langeweile doch nicht vertreiben können.

Ich mag Verallgemeinerungen, und wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie ein Meer an Verallgemeinerungen finden. Aber ich rechtfertige dies vor mir selbst, indem ich mir sage, dass wir Menschen abgesehen von Verallgemeinerungen nicht viele Möglichkeiten zur Kommunikation haben. Natürlich ist auch das eine Verallgemeinerung.

Als ich dieses Buch schrieb, tat ich das nicht mit dem Ziel, Menschen dazu zu bewegen, Shâkyamuni Buddha zu folgen, Buddhist zu werden und den Dharma zu praktizieren. Ich erwähne bewusst keine Medita­tions­techniken, Übungen oder Mantras. Meine vorrangige Absicht besteht darin, das Einzigartige am Buddhismus zu zeigen, das ihn von anderen Sichtweisen unterscheidet. Was hat dieser indische Prinz gesagt, das ihm so viel Respekt und Bewunderung selbst von solch skeptischen modernen Wissenschaftlern wie Albert Einstein eingebracht hat? Was hat er gesagt, das Tausende von Pilgern bewegt hat, die ganze Strecke von Tibet bis nach Bodh-Gâyâ mit Niederwerfungen abzumessen? Was unterscheidet den Buddhismus von den Religionen dieser Welt? Ich meine, es läuft auf die vier Siegel hinaus, und ich habe in diesem Buch versucht, diese schwierigen Konzepte so einfach darzulegen, wie es mir nur möglich war.

Siddhârthas vorrangiges Anliegen war es, zur Wurzel des Problems vorzudringen. Der Buddhismus hat keine kulturelle Bindung. Sein Nutzen ist nicht auf eine bestimmte Gesellschaftsform begrenzt, er hat keinen Platz in der Regierung oder in der Politik. Siddhârtha war nicht an akademischen Abhandlungen und wissenschaftlich beweisbaren Theorien interessiert. Ob die Erde nun flach oder rund ist, hatte für ihn keinerlei Bedeutung. Er hatte eine andere Art von praktischer Veranlagung. Er wollte dem Leiden auf den Grund gehen. Ich hoffe zeigen zu können, dass seine Lehren keine grandiose intellektuelle Philosophie sind, die man liest und dann ad acta legt, sondern eine zweckmäßige, logische Sichtweise, die von jedem einzelnen Menschen praktiziert werden kann. Dazu habe ich versucht, Beispiele aus allen Lebensbereichen zu verwenden – von ­romantischer Schwärmerei bis hin zur Entstehung der Zivilisation, wie wir sie kennen. Die Beispiele unterscheiden sich von jenen, die Sid­dhârtha benutzte, die Botschaft jedoch ist dieselbe, denn alles, was Siddhârtha sagte, ist auch in dieser modernen Welt noch gültig.

Aber Siddhârtha sagte auch, man solle nicht einfach an seine Worte glauben, ohne sie genauer untersucht zu haben. Daher müssen natürlich auch die Aussagen von jemandem, der so gewöhnlich ist wie ich, hinterfragt werden, und ich lade Sie ein, das, was Sie in diesem Buch lesen, genau zu untersuchen.

1
Die Vergänglichkeit
alles Zusammengesetzten

Der Buddha war kein himmlisches Wesen. Er war ein einfacher Mensch. So einfach allerdings nun auch wieder nicht, denn er war ein Prinz. Er wurde Siddhârtha Gautama genannt und erfreute sich eines privilegierten Lebens – er hatte einen schönen Palast in Kapilavastu, eine liebende Ehefrau und einen Sohn, bewundernde Eltern, loyale Untertanen, üppige Gärten mit Pfauen und unzählige mit allen Reizen ausgestattete Kurtisanen. Sein Vater Suddhodana sorgte dafür, dass es ihm an nichts mangelte und ihm jeder Wunsch innerhalb der Palastmauern erfüllt wurde. Als nämlich Siddhârtha noch ein Baby war, hatte ein Astrologe vorausgesagt, der Prinz würde in seinem späteren Leben möglicherweise den Pfad eines Einsiedlers wählen. Suddhodana wollte alles dafür tun, dass Siddhârtha ihm auf den Thron folgte. Das Palastleben war luxu­riös, behütet und auch recht friedlich. Siddhârtha stritt sich nie mit den Mitgliedern seiner Familie, denn ihm lag viel an ihnen, und er umsorgte und liebte sie sehr. Zu allen hatte er ein gutes Verhältnis, abgesehen von gelegentlichen Spannungen mit einem seiner Cousins.

Als Siddhârtha älter wurde, wollte er mehr über sein Land und die Welt jenseits der Palastmauern wissen. Der König beugte sich den Bitten seines Sohnes und gestattete ihm, einen Ausflug jenseits der Mauern zu machen. Er gab dem Wagenlenker Channa allerdings strikte Anweisungen, der Prinz dürfe dort draußen nur Schönes und Wohlgefälliges zu Gesicht bekommen. Siddhârtha genoss tatsächlich die Schönheit der Berge und Flüsse und allen natürlichen Reichtum dieser Erde. Doch auf dem Heimweg begegneten die beiden einem Bauern, der von einer Krankheit gepeinigt am Straßenrand saß und vor Schmerzen stöhnte. Sein Leben lang war Siddhârtha von strammen Leibwächtern und gesunden Hofdamen umgeben gewesen; das Stöhnen und der Anblick eines von einer Krankheit ausgemergelten Körpers schockierten ihn. Zu sehen, wie verletzlich der menschliche Körper ist, hinterließ einen tiefen Eindruck bei ihm, und er kehrte mit schwerem Herzen zum Palast zurück.

Nach einiger Zeit schien der Prinz sich wieder erholt zu haben, aber er sehnte sich danach, einen weiteren Ausflug zu unternehmen. Erneut gab Suddhodana widerstrebend nach. Dieses Mal sah Siddhârtha ein zahnloses altes Weib dahinhumpeln, und sofort befahl er Channa anzuhalten.

Er fragte den Wagenlenker: „Warum geht diese Frau so seltsam?“

„Sie ist alt, mein Herr“, sagte Channa.

„Was ist alt?“, fragte Siddhârtha.

„Die Elemente ihres Körpers sind über lange Zeit beansprucht und abgenutzt worden“, sagte Channa. Von diesem Anblick erschüttert, ließ sich Siddhârtha rasch wieder nach Hause fahren.

Nun war Siddhârthas Neugier nicht mehr zu zügeln – was gab es wohl noch dort draußen zu sehen? Und so machte er mit Channa einen dritten Ausflug. Wieder genoss er die Schönheit der Gegend, die Berge und die Flüsse. Doch als sie nach Hause zurückfuhren, trafen sie auf vier Leichenträger, die einen leblos auf einer Bahre dahingestreckten Körper trugen. Noch niemals in seinem Leben hatte Siddhârtha so etwas gesehen. Channa erklärte ihm, dass der gebrechliche Körper in der Tat tot sei.

Siddhârtha fragte: „Wird der Tod auch zu anderen kommen?“

Channa antwortete: „Ja, mein Herr, er kommt zu allen.“

„Auch zu meinem Vater? Und sogar zu meinem Sohn?“

„Ja, zu jedem. Ob man arm oder reich ist, einer hohen oder einer niederen Kaste angehört, man kann dem Tod nicht entkommen. Das ist das Los aller, die auf dieser Erde geboren werden.“

Wenn man die Geschichte von Siddhârthas allmählichem Begreifen zum ersten Mal hört, könnte man meinen, er sei bemerkenswert naiv gewesen. Es scheint befremdlich, von einem Prinzen zu hören, der dazu erzogen wurde, ein ganzes Königreich zu führen, und der doch solch simple Fragen stellte. Doch wir sind diejenigen, die naiv sind. Im heutigen Informationszeitalter sind wir von Bildern des Verfalls und Todes umgeben – Enthauptungen, Stierkampf, blutige Morde. Weit davon entfernt, uns an unser eigenes Los zu gemahnen, werden diese Bilder zur Unterhaltung und für Geschäftemacherei genutzt. Der Tod ist ein Konsumprodukt geworden. Die meisten von uns kontemplieren die Natur des Todes nicht auf einer tiefen Ebene. Wir erkennen nicht an, dass unser Körper und unsere Umgebung aus instabilen Elementen zusammengesetzt sind, die schon bei der leisesten Störung auseinanderfallen können. Natürlich wissen wir, dass wir eines Tages sterben werden. Doch die meisten von uns glauben – wenn nicht gerade eine unheilbare Krankheit bei ihnen diagnostiziert wurde –, sie bräuchten sich im Moment keine Sorgen zu machen. Wenn wir, selten genug, überhaupt einmal an den Tod denken, fragen wir uns: Wie viel werde ich wohl erben? oder: Wo werden sie meine Asche verstreuen? In dieser Hinsicht sind wir es, die arglos sind.

Nach seinem dritten Ausflug war Siddhârtha zutiefst entmutigt wegen seiner Machtlosigkeit, seine Untertanen, seine Eltern und vor allem seine geliebte Frau Yashodhara und seinen Sohn Rahula vor dem unvermeidlichen Tod zu bewahren. Er verfügte zwar über die Mittel, solches Ungemach wie Armut, Hunger und Obdachlosigkeit zu verhindern, aber er konnte sie nicht vor dem Altern und dem Tod bewahren. Da diese Gedanken ihn nicht mehr losließen, versuchte er mit seinem Vater über Sterblichkeit zu sprechen. Der König war verständlicherweise verwundert, dass der Prinz sich so sehr mit etwas beschäftigte, das er für ein theoretisches Dilemma hielt. Außerdem war Suddhodana zunehmend beunruhigt, dass sein Sohn die Prophezeiung erfüllen und den Weg des Asketen wählen könnte, anstatt seinen Platz als rechtmäßiger Erbe des Königreichs einzunehmen. In jenen Tagen war es für privilegierte und wohlhabende Hindus durchaus nichts Ungewöhnliches, Asket zu werden. Äußerlich versuchte Suddhodana, Siddhârthas Fixierung abzutun, aber er hatte die Prophezeiung nicht vergessen.

Für Siddhârtha waren dies keine müßigen melancholischen Betrachtungen – er war geradezu davon besessen. Um den Prinzen davon abzuhalten, noch tiefer in Depression zu versinken, befahl Suddhodana ihm, den Palast nicht mehr zu verlassen, und instruierte die königlichen Wachen insgeheim, ein Auge auf seinen Sohn zu haben. In der Zwischenzeit tat er – wie jeder besorgte Vater – alles ihm Mögliche, um Abhilfe zu schaffen, indem er sicherstellte, dass der Prinz keine weiteren Anzeichen von Verfall und Tod zu Gesicht bekam.

Babyrasseln und andere Ablenkungen

In vielerlei Hinsicht sind wir alle wie Suddhodana. In unserem alltäglichen Leben neigen wir dazu, uns und anderen die Wahrheit zu ersparen. Wir schotten uns gegen alle Anzeichen von Verfall ab. Wir machen uns selber Mut, indem wir „darauf nicht weiter eingehen“ und positive Affirmationen benutzen. Wir feiern unsere Geburtstage, indem wir Kerzen auspusten und die Tatsache ignorieren, dass man die ausgeblasenen Kerzen auch als eine Erinnerung daran ansehen könnte, dass wir dem Tod wieder ein Jahr näher gekommen sind. Wir feiern das neue Jahr mit Feuerwerk und Champagner und lenken uns so davon ab, dass das alte Jahr niemals zurückkehren wird und das neue Jahr voller Ungewissheit ist – alles Mögliche kann geschehen.

Wenn dieses „alles Mögliche“ unangenehm ist, lenken wir unsere Aufmerksamkeit bewusst ab, wie eine Mutter ein Kind mit Rasseln und Spielzeug ablenkt. Wenn wir uns niedergeschlagen fühlen, gehen wir einkaufen, wir „gönnen uns etwas“ oder gehen ins Kino. Wir bauen Luftschlösser und träumen davon, unser Leben mit irgendwelchen Errungenschaften zu krönen – Strandhäuser, Medaillen und Trophäen, Frührentnerdasein, schicke Autos, gute Freunde und Familie, Ruhm, ins Guinness-Buch der Rekorde kommen. Später im Leben wünschen wir uns einen hingebungsvollen Partner oder eine Partnerin, mit dem oder mit der wir eine Kreuzfahrt machen oder reinrassige Pudel züchten können. Zeitschriften und Fernsehen verbreiten und verstärken solche Modelle von Glück und Erfolg und erfinden ständig neue Illusionen, um uns zu ködern. Diese Vorstellungen von Erfolg sind unsere Babyrasseln für Erwachsene. Kaum etwas vom dem, was wir im Laufe eines Tages tun – sowohl in unseren Gedanken als auch in unseren Handlungen –, weist darauf hin, dass wir uns der Zerbrechlichkeit des Lebens bewusst sind. Wir verbringen unsere Zeit damit, Dinge zu tun, die nicht anders sind, als würden wir in einem Multiplex-Kino auf den Anfang eines schlechten Films warten. Oder wir düsen nach Hause, um die Reality-Show nicht zu verpassen. Während wir dasitzen, uns Werbung ansehen und warten … verrinnt unsere Lebenszeit.

Ein kurzer Blick auf Altern und Tod genügte, um in Siddhârtha den Wunsch zu wecken, der ganzen Wahrheit ausgesetzt zu werden. Nach seinem dritten Ausflug versuchte er mehrfach, den Palast auf eigene Faust zu verlassen, doch immer vergeblich. Dann, in einer außergewöhnlichen Nacht, nach den üblichen Festivitäten und Lustbarkeiten, erfasste ein mysteriöser Zauber den ganzen Hof, der alle außer Siddhârtha überwältigte. Er wandelte durch die Hallen und stellte fest, dass alle, von König Suddhodana bis hin zum niedersten Diener, in tiefen Schlaf gefallen waren. Die Buddhisten glauben, dass diese kollektive Schläfrigkeit auf die gemeinsamen Verdienste aller Menschen zurückzuführen war, denn sie war das auslösende Ereignis, welches dazu führte, dass ein großes Wesen entstehen konnte.

Ohne die Notwendigkeit, der königlichen Familie gefallen zu müssen, schnarchten die Kurtisanen mit offenen Mündern, ihre Gliedmaßen kreuz und quer ausgestreckt, ihre mit Ringen geschmückten Finger waren in die vor ihnen stehenden Speisen gerutscht. Wie zerdrückte Blumen hatten sie ihre Schönheit verloren. Siddhârtha beeilte sich nicht etwa, wieder Ordnung zu schaffen, wie wir es wohl getan hätten – dieser Anblick stärkte nur noch seine Entschlossenheit. Der Verlust ihrer Schönheit war für ihn einfach ein weiterer Beweis der Vergänglichkeit. Während der ganze Hofstaat schlummerte, konnte der Prinz sich endlich unbeobachtet davonmachen. Mit einem letzten Blick auf Yashodhara und Rahula schlich er in die Nacht hinaus.

In vielerlei Hinsicht sind wir wie Siddhârtha. Auch wenn wir keine Prinzen mit Pfauen sind, haben wir doch Karrieren und Hauskatzen und zahllose Verpflichtungen. Wir haben unsere eigenen Paläste – Einzimmerwohnungen in den Slums, Doppelhaushälften in den Vorstädten oder Penthouse-Appartements in Paris – und unsere eigenen Yashodharas und Rahulas. Und die Dinge gehen ständig schief. Geräte gehen kaputt, die Nachbarn machen Ärger, das Dach leckt. Unsere Lieben sterben, oder vielleicht sehen sie zumindest so aus, bevor sie morgens aufwachen: die Wangen so schlaff wie die von Siddhârthas Kurtisanen. Vielleicht riechen sie nach kaltem Zigarettenrauch oder der Knoblauchsauce vom Vorabend. Sie nerven uns und kauen mit offenem Mund. Doch wir sitzen hier freiwillig fest und versuchen nicht etwa zu entfliehen. Vielleicht haben wir ja auch die Nase voll und denken: Jetzt reicht‘s! Also brechen wir die Beziehung ab – doch nur, um mit einer anderen Person alles wieder von vorn anzufangen. Wir werden dieses Kreislaufs niemals überdrüssig, weil wir in der Hoffnung und dem Glauben leben, der perfekte Seelen­partner oder ein makelloses Shangri-la warteten da draußen auf uns. Wenn wir mit den täglichen Ärgernissen konfrontiert sind, denken wir automatisch, dass wir das schon wieder geradebiegen können: Alles ist irgendwie hinzukriegen, die Zähne kann man putzen und wir können uns vollkommen fühlen.

Vielleicht glauben wir ja auch, eines Tages würden wir nach allen Lektionen, die das Leben uns erteilt hat, zu vollkommener Reife gelangen. Wir erwarten, wissende alte Weise wie Yoda zu sein, ohne zu begreifen, dass Reife nur ein anderer Aspekt von Verfall ist. Ohne uns dessen bewusst zu sein, lassen wir uns von der Erwartung verführen, wir könnten eines Tages ein Stadium erreichen, in dem wir niemals mehr irgendetwas in Ordnung bringen müssen. Eines Tages werden wir das „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ glücklich erreichen. Wir sind von der Vorstellung von „Lösungen“ überzeugt. Es ist so, als sei alles, was wir bislang erfahren haben – unser ganzes Leben bis zu diesem Augenblick – nur eine Kostümprobe gewesen. Wir glauben, unser großer Auftritt komme erst noch, und deshalb leben wir nicht für den heutigen Tag.

Die meisten Menschen glauben, dieses endlose Managen, Neuordnen und Aktualisieren sei das, was das „Leben“ nun einmal ausmache. In Wirklichkeit warten wir darauf, dass das Leben endlich einmal anfängt. Wenn man nachbohrt, geben die meisten von uns zu, dass sie auf einen zukünftigen Augenblick der Vollkommenheit hinarbeiten – den Ruhestand in einem Landhaus auf einer griechischen Insel oder in einem Bungalow an einem Strand in Thailand. Oder vielleicht träumen wir auch davon, unseren Lebensabend in der idealisierten Berglandschaft einer chinesischen Tuschmalerei zu verbringen – still in einem Teehaus meditierend mit Blick auf einen Wasserfall und einen Teich mit Goldfischen.

Außerdem neigen wir dazu zu glauben, nach unserem Tode würde die Welt weiter bestehen wie bisher. Dieselbe Sonne wird scheinen und dieselben Planeten werden kreisen, so wie sie es nach unserem Glauben seit Anbeginn der Zeit getan haben. Unsere Kinder werden die Erde erben. Das zeigt, wie wenig wir über die dauernden Wandlungen der Welt und all ihrer Phänomene wissen. Kinder überleben nicht immer ihre Eltern, und solange sie am Leben sind, entsprechen sie nicht immer unseren Vorstellungen. Ihre süßen wohlerzogenen Kinder können zu Kokain schnupfenden Rowdys werden, die alle möglichen Liebhaber mit nach Hause bringen. Die bravsten heterosexuellen Eltern können die extravagantesten Homosexuellen hervorbringen, genauso wie die Kinder der lockersten Hippies sich als neokonservative Spießer entpuppen können. Dennoch halten wir am Archetyp der Familie und dem Traum fest, unsere Blutlinie und Gesichtsform, unser Nachname und die Familientradition würden von unseren Sprösslingen weitergetragen werden.

Der Wahrheitssucher wird leicht zum Bürgerschreck