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Inhalt

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2019 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99064-556-7

ISBN e-book: 978-3-99064-557-4

Lektorat: Marie Schulz-Jungkenn

Umschlagfotos: Kevin Carden, Lane Erickson | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Kapitel 1

Samanthas Bauchgefühl sagte ihr, dass sich heute ihr Leben völlig verändern würde. Sie wusste nur nicht, wie.

Nach einer sehr unruhigen Nacht stieg Säm völlig zerknittert aus ihrem Bett. Ihr Kopf brummte und sie fühlte sich ziemlich beschissen. Sie rappelte sich auf und lief halb schlafwandelnd ins Bad. Mist, einer ihrer jüngeren Geschwister besetzte immer noch das Bad. „Mensch, mach auf!“, Säm hämmerte gegen die Tür. Doch es gab keine Reaktion. Nach langen 30 Sekunden öffnete sich endlich die Tür, Michi kam aus dem Bad und schlurfte wortlos an ihr vorbei. Schon rief ihre Mutter und ermahnte sie, sich zu beeilen. Das Frühstück war fertig, ein langer Tisch mit acht Gedecken füllte die Küche aus. Säm wusste nicht, wie ihre Mutter das immer alles schaffte, die viele Arbeit, und sie beklagte sich nie. Im Gegenteil, sie war immer fröhlich und sehr hilfsbereit. Sicher mussten die Kinder ihr helfen, doch die meiste Arbeit hatte sie selbst …

Säm ist das älteste von sechs Kindern und das einzige Mädchen. Ihre Brüder findet sie toll, jedoch auch sehr anspruchsvoll. Sie müssen auf ihre große Schwester hören, wenn sie ihnen etwas sagt. Sie hatte geholfen, die meisten großzuziehen und hatte sie gewickelt. Der Jüngste ist gerade mal drei Jahre alt, Säm selbst hatte vor zwei Monaten ihren 15. Geburtstag gefeiert.

Jetzt geht’s los, der Schulbus holt die Kinder ab. Säms Vater verlässt zuerst das Haus, er ist Schreiner in einer nah gelegenen Fabrik. Er fährt mit dem Fahrrad, da die Familie kein Auto besitzt.

Im Schulbus fliegen Samanthas Gedanken weit weg: Bald bin ich aus der Schule und verdiene mein eigenes Geld. Doch leider werde ich nicht viel behalten können, da ich ja mithelfen muss, meine Familie zu ernähren. Am liebsten würde ich Tierärztin werden, doch das klappt ja sowieso nicht. Es scheitert schon an meinen Schulnoten und auch finanziell würden wir es nie packen. Es wäre trotzdem toll, kranken Tieren zu helfen.

„He, Säm, komm endlich, wir sind in der Schule, der Bus fährt gleich wieder zurück.“ Ihre Freundin Sandra rüttelt sie aus ihren Gedanken. Sandra ist ein Einzelkind von sehr reichen Eltern. Beide sind Ärzte, ihr Vater ist Chirurg und ihre Mutter ist Psychiaterin. Sie hat einfach alles: ein eigenes Zimmer mit viel Platz, einen Hund und sogar ein eigenes Pferd. Sie hat es wirklich toll. Die Schule macht sie mit links, alles fällt ihr in den Schoß. Trotzdem kommt sie sehr gerne zu Säms Familie. Sie hilft Säm bei den Hausaufgaben und manchmal sogar bei ihren Hausarbeiten, die sie erledigen muss. Da kann Säm ihr etwas zeigen, denn Sandra weiß nicht einmal, wie man die Waschmaschine anlässt, einen Kuchen backt oder den Boden aufnimmt. Das konnte Säm sich gar nicht vorstellen. So gehen Sandra und Säm gemeinsam durch ihr bisher junges Leben. Sie teilen alles miteinander, können über alles reden und müssen oft lachen, wenn sie zusammen unterwegs sind. Sandra ist eine tolle Freundin …

Der Schultag verlief wie immer, langweilig und endlos. Außer beim Sport, da spielten sie wieder einmal Mannschaftsspiele, darin war Säm die Beste. Wenigstens in einem Fach! Um 16:00 Uhr holte sie der Schulbus wieder ab. Säm hatte das Gefühl, dass Herr Müller, der Schulbusfahrer, heute sehr schnell fuhr. Musste er noch zu einem Termin? Oder war er sauer, weil sie wieder die Letzten waren? Sie konnte noch lange so grübeln, eine Antwort würde sie wohl nicht finden. Und zu fragen, traute sie sich nicht. Sandra und Säm quatschten über alles und nichts. Es hatte keinen tiefen Inhalt, doch sie kicherten immer wieder. Es war einfach lustig.

Plötzlich quietschte der Bus. Er schwankte hin und her. Alle schrien laut in Angst und Schrecken. „Was geschieht hier!?“ Die Schultaschen flogen durch den Bus und stießen an die verunsicherten, krampfhaft sich festhaltenden Körper. Joel, Säms kleinster Bruder im Bus, er besuchte den 1. Kindergarten, flog an seiner Schwester vorbei. Sie ergriff seinen Arm, damit er nicht durch die Scheibe knallte. Er schrie auf, da der Griff ihn schmerzte. Säm musste ihn mit ganzer Kraft festhalten. Es ging alles so schnell. Sandra und sie hielten sich gegenseitig fest. Joel in ihrer Mitte. Wo und wann wird der Bus endlich zum Stehen kommen? Am Fenster vorbei rasten die Bäume, zuerst langsam, dann immer schneller. Sie waren nicht mehr auf der Straße, sondern rutschten den Abhang hinunter. Oh nein! Der Abhang war sehr steil und sehr tief. Wann kommen wir endlich zum Stehen? Säm hörte lautes Kratzen der Äste an den Scheiben und immer wieder krachten sie gegen Bäume oder gegen tiefhängende Äste. Die Stimmen verstummten, sie konnten nicht mehr schreien. Es war unheimlich still. Alle 25 Schüler des Busses waren still. Sie zitterten, klammerten sich aneinander und fingen an zu beten. Mensch wann habe ich das zum letzten Mal gemacht?, dachte Säm. Sie ging zwar jeden Sonntag in die Kirche, doch zugehört hatte sie schon lange nicht mehr. Es war einfach eine mühsame, langweilige Pflichtübung für sie und ihre Brüder. Doch jetzt waren alle ins Gebet vertieft. Dann ein lauter Knall! Ein Riesengetöse und der Bus stand endlich still. Keiner konnte sich halten. Alle flogen auf die linke untere Seite des Busses, auf der er zum Liegen kam. Dann war Totenstille.

Säm prallte mit ihrem Rücken auf etwas Hartes. Ein Knacken realisierte sie noch. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Ich habe mir die Wirbelsäule gebrochen, dachte sie Nein!!! Sie wollte laut schreien, doch dazu kam es nicht mehr. Angst und Panik machten sich sehr schnell breit. Säm wollte sich nicht bewegen. Aber am liebsten wäre sie weggerannt. Sie konnte es nicht. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie hörte noch alles, was um sie herum geschah, doch sie konnte sich weder bewegen noch sprechen. Alles tat weh. Säm lag, von etwas eingeklemmt, auf ihrer linken Seite. Etwas Dickflüssiges, Warmes floss langsam über ihr linkes Bein. Was war das? Sie wollte sich aufsetzen und nachschauen, doch es ging nicht. Ihr Körper gehorchte nicht. Was ist los? Bin ich doof? Bin ich gelähmt? Weshalb sehe ich nichts? Meine Augen sind doch offen und doch ist alles schwarz. Ihre Angst kroch langsam von ihren Zehen hoch in ihr Herz und weiter in den Kopf. Sie wollte sie abschütteln, doch schaffte es nicht. Säms Herz klopfte immer verrückter, sie glaubte, keine Luft mehr zu kriegen. Sie schrie so laut sie konnte. Doch kein Laut kam heraus. Was ist mit mir? Wann wird Hilfe kommen? Was werden meine Eltern tun, wenn sie erfahren, was geschehen ist? Alle, außer zwei Kindern, sind in diesem Bus. Wie geht es den anderen? Wie geht es Sandra? Ach Gott, Sandra, fuhr es ihr durch den Sinn Wieder versuchte sie, so laut zu schreien, wie sie konnte. Doch es blieb still. Weshalb kann ich denn alle anderen Geräusche hören um mich herum? Bin ich auch noch stumm geworden? Der kalte Schweiß lief ihr den Rücken hinunter. Das warme, dickflüssige Etwas lief auch immer noch. Was ist das nur? Wie ein Blitz kam die Antwort, es ist Blut! Wie viel kann ich verlieren, bis ich tot bin? Ich will nicht sterben. Meine Mutter wird die Arbeit ohne meine Hilfe nicht schaffen. Ich möchte zu Mami, zu meinem Vater, zu meinen Brüdern. Wann kommt endlich Hilfe? Ich liege da, bestimmt schon eine halbe Stunde. Vermissen sie uns überhaupt? Hat den Unfall jemand gesehen? Weiß man, dass wir Hilfe brauchen? Da, eine Stimme, sie kommt von ganz weit her. Wer ist es denn? Hurra, es ist Sandra. Ich hoffe, ihr ist nichts geschehen.

„He, Säm, wach auf, mach die Augen auf.“ Sandra schüttelte den Körper ihrer Freundin. „Mensch, hör endlich auf! Es tut verdammt weh! Lass mich in Ruhe!“ Doch Sandra konnte Säm nicht hören. Sie hörte sich selbst auch nicht. Sandra schrie immer lauter und lauter. Sie schüttelte immer fester und fester. Säm konnte die Schmerzen nicht mehr länger ertragen. Dann endlich, nach einer Ewigkeit, hörte Sandra auf. Der Fahrer, Herr Müller, kam zu ihr. Er nahm Sandra in die Arme und versuchte, sie zu beruhigen. „Hör auf zu schlagen“, hörte Säm ihn zu Sandra sagen, „ich möchte dich nur beruhigen. Bitte hör auf, Säm zu schütteln!“ „Ist sie denn tot?“, fragte Sandra ihn, kaum hörbar. „Ich weiß es nicht. Lass mich mal schauen.“ „Nein, nein!“, schrie Sandra und Säm schrie mit ihr. „Ich bin nicht tot, merkt ihr denn nicht, dass ich noch atme? Weshalb helft ihr mir denn nicht?!“

Herr Müller fragte Sandra: „Sag mal, wie siehst du denn aus? Tut dir dein Kopf nicht weh?“ „Nein, wieso?“, fragte Sandra Herrn Müller ganz verdutzt. „Du hast einen großen Schnitt auf der linken Wange, und es blutet ziemlich stark.“ „Wirklich?“, fragte Sandra ungläubig, „das habe ich nicht bemerkt. Stimmt, mein T-Shirt ist ja ganz rot. In dem Dunkelblau ist es mir nicht aufgefallen.“ „Warte hier, Sandra, ich gebe dir etwas, womit du den Schnitt zuhalten kannst.“ Dann hörte Säm sie nicht mehr. Sie entfernten sich. «Weshalb lasst ihr mich einfach so liegen? Ich brauche doch auch Hilfe“, wollte Säm laut herausrufen, doch man hörte keinen Ton.

Dann endlich kam wirklich Hilfe. Es waren sehr viele Männer. Wahrscheinlich waren es die Feuerwehr, Ärzte und Sanitäter. Säm wusste nicht, ob sie in der Zwischenzeit eingeschlafen war. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie lange sie schon in diesem Bus lag. Sie konnte sich immer noch nicht bewegen und sah auch nichts. Es war zum Verzweifeln. Säm hatte panische Angst, doch es brachte ja nichts, sie musste sich ergeben. Die Stimmen wurden lauter, ein Mann kniete sich zu ihr herunter fasste sie an der Schulter. „He, Säm, ich bin es, Werner, kannst du mich hören?“ „Ja sicher kann ich dich hören, hilf mir endlich!!“ Da war es wieder, sie konnte ja weder sprechen noch sich bewegen. „Wir werden dich jetzt befreien, deine Beine sind eingeklemmt worden von dem Vordersitz. Es wird etwas laut werden, da wir dich mit der Eisensäge befreien müssen.“ „Seid ihr verrückt? Bitte nicht sägen! Das tut sicher sehr weh, lasst mich lieber so liegen!“, schrie Säm ganz laut. Sie hörten sie nicht. „Ich bleibe bei dir und werde dir alles erklären“, meinte Werner. „Zuerst verbinde ich deine blutende Wunde am Bein.“ So begann Säms Rettung. Sie wollte eigentlich nur, dass sie sie in Ruhe lassen, denn sie hatte schreckliche Angst vor dem Ungewissen, was auf sie zukommen würde, und vor den Schmerzen. Sie ließen nicht lange auf sich warten. Schon als Werner ihr Bein verband, hielt sie es nicht mehr aus, stechende Schmerzen durchfuhren ihren Körper. Jetzt wurde es still und sie hörte nichts mehr. Ihre Bewusstlosigkeit war jetzt so tief, dass sie nichts mehr mitbekam.

Kapitel 2

Säms Kopf brummte wie ein Kompressor. Sie versuchte, die Augen zu öffnen. Das Licht schmerzte und sie schloss sie sofort wieder. Da hörte sie ganz weit weg die Stimme von ihrer Mutter: „Säm hat versucht, die Augen zu öffnen“, sagte sie begeistert. Säm versuchte es nochmals und endlich erkannte sie die Umrisse ihrer Mutter. Nachdem sie die Augen vier oder fünf Mal schloss und wieder öffnete, wurde ihr Blick klar. Ihrer Mutter liefen Tränen über die Wangen. Säm sah sie verwirrt an. „Was ist los? Wo bin ich? Wieso weinst du?“ Sie versuchte, ihre Hand nach ihr auszustrecken, doch es gelang ihr nicht. Säms Körper schmerzte, sie wagte nicht, sich zu bewegen. Die ganze Zeit hielt ihre Mutter ihre Hand, doch sie war erst nach einer Weile fähig zu sprechen. Sie strahlte und weinte. Säm war nicht klar, ob es Freudentränen waren oder solche, die von einer Traurigkeit herkamen.

„Mami, mach es bitte nicht so spannend, was ist los?“, fragte Säm sie. Endlich fand die Mutter ihre Sprache wieder. „Willkommen, wieder auf der Erde, mein Schatz. Du hattest einen Unfall mit dem Schulbus. Weißt du das noch?“ Säm weigerte sich, nach ihren Erinnerungen zu kramen, ihr Kopf schmerzte zu stark. So fuhr Mutti fort: „Du bist jetzt im Krankenhaus. Du warst vier Wochen im Koma. Wir hatten solche Angst um dich. Schön, dass du jetzt wieder da bist. Ich kann dir nicht sagen, wie glücklich ich bin! Ich könnte die ganze Welt umarmen!“ Ihre Tochter war sprachlos. Ihre Mutter versuchte, sie zu umarmen, doch Säm stöhnte vor Schmerzen auf. Ihre Mutter wich zurück und tätschelte ihre Hand.

„Sag mal, Mutter“, begann sie zu sprechen, „was ist eigentlich genau passiert? Wie geht es den anderen Schülern, die auch im Schulbus waren? Was habe ich für Verletzungen?“ Ihr kamen noch 1000 Fragen in den Sinn, doch sie war auch sehr müde. Je länger sie nachdachte, umso stärker wurden ihre Kopfschmerzen. Sie kämpfte gegen den erneuten Schlaf an, der sie zu übermannen versuchte. Die Mami musste ihren Kampf wohl gemerkt haben und sagte: „Es ist klar, dass du dies alles wissen willst, doch das können wir auch morgen besprechen, du brauchst jetzt vor allem viel Schlaf. Ich habe dich lieb, mein Schatz. Schlaf jetzt ruhig, es kommt alles wieder in Ordnung.“ Da verlor Säm den Kampf gegen den Schlaf.

Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als sie das nächste Mal die Augen öffnete, schien die Sonne in ihr Gesicht. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an das wohltuende Licht. Sie hatte das Gefühl, dass die Strahlen alle ihre Zellen in ihrem Körper wärmten und ihnen neue Lebenskraft verliehen. Dann erblickte sie ihre Mami und Sandra neben ihrem Bett, sie war froh, dass sie nicht alleine war. Säm lachte ihnen entgegen.

Sandra begrüßte ihre Freundin: „Na endlich, du Schlafmütze, es wird aber auch Zeit, dass du endlich aufwachst.“ Sie lachte sie an und setzte sich neben sie auf das Bett. Säm entdeckte eine lange Narbe, die sich über ihre linke Wange zog, die hatte sie beim letzten Mal, als sie Sandra sah, noch nicht. So fragte sie sie: „Sag mal, was ist das für eine Narbe in deinem Gesicht?“ Sandra schwieg und wurde ganz blass. Sie versuchte, ihre Narbe mit ihren Fingern zu verdecken, und wandte sich dabei ab.

Mami ergriff das Wort: „Hallo, mein Liebes“, sie drückte Säm einen Kuss auf die Stirn. „Sandra hat diese Narbe von dem Unfall.“ Säm rührte sich nicht. Sie überlegte krampfhaft und versuchte, sich an einen Unfall zu erinnern. Ihre Mutter und Sandra schauten sie flehend an, als ob sie sagen wollten: Bitte erinnere dich doch, es ist wichtig für uns alle. Da kam ihr alles wieder in den Sinn. Sie fing an zu weinen.

Sandra und die Mutter konnten es nicht einordnen und drückten auf die Klingel, damit eine Krankenschwester ihnen helfen konnte, sich mit der neuen Situation zurechtzufinden. Diese fragte die Mutter, was sie für sie tun könnte. „Säm weint, ich weiß nicht, ob sie Schmerzen hat.“ Jetzt endlich war Säm fähig, ihren Kopf zu bewegen. Sandra merkte es als Erste. „Seht doch“, sprach sie begeistert, „Säm schüttelt den Kopf.“ Die Krankenschwester trat näher an Säms Bett und hielt ihre Hand. Sie sah ihr in die Augen und fragte sie: „Hast du Schmerzen? Wie kann ich dir helfen?“ Säm war nicht fähig, zu sprechen, sie war zu sehr aufgewühlt. Ihre Tränen liefen ununterbrochen, sie konnte sie nicht aufhalten. Doch jede Träne, die floss, war wie eine kleine Erlösung. Sie hörte auf, sich zu wehren, und ließ sie einfach laufen. Die Krankenschwester fragte Säm nochmals: „Hast du Schmerzen?“ Säm schüttelte nur langsam den Kopf. Die Schwester nickte ihr schmunzelnd zu und wandte sich an ihre Mutter: „Ich denke, Säm kann sich nun wieder an den Unfall erinnern. Die Tränen sind ein Zeichen dafür, dass sie versucht, das Geschehene zu verarbeiten. Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.“ Sie drehte sich nochmals zu Säm um und lächelte sie freundlich an. Dann wandte sie sich ihrer Mutter zu: „Bitte, Frau Bauer, wir sprechen lieber auf dem Gang draußen weiter. Kommen Sie bitte mit mir.“ Säm wollte intervenieren, doch es gelang ihr nicht. So verließen Mami und die Krankenschwester ihr Zimmer. Sandra blieb bei ihr und hielt ihre Hand.

„Säm braucht viel Zeit, um ganz gesund zu werden“, sprach die Krankenschwester auf dem Gang weiter. „Wir brauchen viel Geduld, um ihr alles behutsam beizubringen, was alles geschehen ist. Ihre körperlichen Wunden sind dabei fast nebensächlich.“ Frau Bauer nickte verständnisvoll. Die Krankenschwester wollte sich gerade umdrehen und weiter ihre Arbeit verrichten, da sprach sie Frau Bauer doch nochmals an: „Wissen Sie, ob Säm weiß, was sie für Verletzungen hat? Haben Sie sich schon unterhalten können mit ihr?“ Frau Bauer antwortete kopfschüttelnd: „Nein, leider konnte ich noch nicht mit ihr sprechen. Ich bin mir daher nicht sicher, ob sie weiß, was sie für Verletzungen hat. Ich nehme an, dass sie es nicht weiß. Sie ist ja heute erst wieder das zweite Mal wach geworden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie die ganze Tragweite kennt.“ Frau Bauer wandte sich von der Krankenschwester ab, denn sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Die Krankenschwester nahm ihre Hand und lächelte sie verständnisvoll an. „Frau Bauer, es ist in Ordnung, bitte weinen Sie ruhig. Kommen Sie, wir setzen uns in unser Stationszimmer, dann können wir ungestört reden. Es ist auch für Sie sehr wichtig, dass Sie sich Hilfe holen, um alles verarbeiten zu können. Sie und ihre Familie befinden sich in einer ganz schwierigen Situation. Es ist wichtig für Säm, zu sehen, dass sie über ihre Gefühle und Ängste sprechen können. Säm merkt sowieso, wenn Sie versuchen werden, ihr etwas zu verheimlichen.“

Frau Bauer seufzte tief und setzte zum Sprechen an. „Ich weiß, Sie haben recht. Doch wie soll ich alles bewältigen? Daheim bleibt alles liegen, da ich immer hier im Krankenhaus bin bei Säm. Wie soll ich den Haushalt von acht Personen aufrechterhalten, wenn ich ständig hier bin?“ Die Schwesterantwortete: „Haben Sie keine Hilfe bekommen von ihrem Hausarzt? Bitten Sie ihn um die Unterstützung einer Haushälterin, bis es Säm wieder besser geht. Ich bin überzeugt, dass es jetzt bergauf geht. Sie wird sicher noch fünf Wochen hierbleiben müssen, bis sie in eine Reha gehen kann. Doch jetzt wissen Sie, dass alles wieder gut wird. Säm muss jetzt ihren Kampf selber kämpfen, um mit allem fertig zu werden. Ich denke jedoch, dass sie es schaffen wird. So müssen Sie nicht mehr ganz so viel Zeit hier verbringen. Säm wird sicher ab morgen ein strenges Aufbauprogramm bekommen, sodass sie selten im Zimmer sein wird. Sie wird gar keine Zeit mehr haben für Sie.“

Frau Bauer schmunzelte die Schwester trotz ihrer Tränen an. Sie nickte ihr zu und holte ihr Taschentuch hervor. Nach dem Naseputzen konnte sie wieder sprechen. „Danke für ihre tröstenden Worte. Ich weiß ja, dass Sie recht haben. Doch ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich daheim bin und weiß, dass Säm im Krankenhaus liegt, so ganz alleine.“ „Hören Sie, Frau Bauer“, unterbrach sie die Schwester eindringlich, „Säm ist wirklich gut bei uns aufgehoben, ihr fehlt es an nichts. Sie bekommt alle Unterstützung, die sie braucht. Sicher können wir ihre Familie nicht ersetzen und ihre Freunde auch nicht. Die braucht sie wie nie zuvor. Doch Sie haben noch fünf weitere Kinder, die Sie auch brauchen. Sie können sich nicht nur um Säm kümmern. Sie müssen alle zusammenhalten, sonst schaffen Sie es nicht. Es ist sehr wichtig, dass Sie auch daheim da sind für die anderen.“ Nach einer kurzen Denkpause sprach sie weiter. „Ich mache Ihnen nun folgenden Vorschlag: Ich spreche mit dem Arzt und bitte ihn um ein Zeugnis für eine Haushälterin für die nächsten fünf Wochen. So müssen Sie sich nicht alleine um den Haushalt kümmern und kommen selbst etwas zur Ruhe. So kommen Sie langsam wieder zu Kräften und so können Sie ihrer ganzen Familie helfen, alles gemeinsam durchzustehen. Was meinen Sie? Könnten Sie diesen Vorschlag annehmen?“ Frau Bauer nickte erleichtert und bedankte sich herzlich bei der Schwester. „Also gut, Frau Bauer, ich werde das Zeugnis organisieren und gebe es Ihnen morgen. Bitte nehmen Sie noch heute Kontakt auf mit der Vermittlungsstelle für Haushälterinnen, so können diese bereits jemanden organisieren. Ich hoffe, Sie bekommen Ihre Hilfe schon ab morgen. Gehen Sie doch jetzt wieder zu Säm zurück ins Zimmer. Sie wird sich sicher fragen, was wir die ganze Zeit so besprechen.“ Frau Bauer nickte. „Vielen Dank für alles!“ Mit diesen Worten verließ sie das Stationszimmer. Sie blieb noch kurz vor Säms Zimmer stehen, um noch zwei, drei Mal tief durchzuatmen. Dann drückte sie die Türklinke herunter und betrat das Zimmer ihrer Tochter.

Sandra saß immer noch am Bettrand und hielt die Hand von Säm. Sie flüsterte Frau Bauer zu: „Säm hat sich in den Schlaf geweint, sie hat nichts mehr gesprochen. Ich saß einfach nur hier und merkte plötzlich, dass sie schläft.“ Frau Bauer winkte Sandra mit der Hand und forderte sie auf, das Zimmer leise zu verlassen. Sie verließen das Zimmer lautlos und gemeinsam. Erst als die Tür wieder geschlossen war, sprach Frau Bauer zu Sandra:

„Das hast du wirklich sehr gut gemacht, Sandra, vielen Dank. Du bist eine sehr große Hilfe für mich und Säm.“ „Ich habe doch gar nichts gemacht, Frau Bauer“, erwidert Sandra, „ich habe doch nur dagesessen und Säms Hand gehalten und mit ihr gemeinsam geweint, sonst nichts. Ich konnte mich ja nicht einmal mit ihr unterhalten. Sie hat ja nur geweint.“ „Ja, ich weiß“, sagte Frau Bauer, „doch gerade das ist jetzt sehr wichtig für Säm. Sie weiß ja noch nicht, was sie für Verletzungen hat. Sie muss spüren, dass sie nicht alleine ist, dass wir bei ihr sind und ihr gerne helfen. Das nur ‚Dasitzen‘ ist doch ein Zeichen dafür, dass du sie sehr lieb hast, denn du schenkst ihr Zeit. Zeit ist etwas, das niemand auf der Welt kaufen kann. Es ist das wertvollste Geschenk, das du jemandem geben kannst. Deswegen ist das ‚Dasitzen‘ ein sehr wertvolles Geschenk, das nur du ihr geben kannst. Es ist wichtig, dass ihr beide über eure Gefühle sprechen lernt. Seid offen miteinander, denn ihr merkt ja sowieso, wenn etwas verschwiegen wird. Ich bin mir sicher, dass es euch beiden helfen wird, den Unfall zu verarbeiten. Sandra, ich danke dir, dass du hier bist. Es hilft mir sehr, zu wissen, dass ihr beide weiterhin Freundinnen bleibt.“

Frau Bauer wechselte plötzlich das Thema, schaute Sandra lange und durchdringend an. „Sag mal, liebe Sandra, was ist eigentlich mit deinen Eltern? Kannst du gut mit ihnen über deine Gefühle sprechen?“

Ach, bitte nicht dieses Thema, Frau Bauer. Sprechen wir doch lieber wieder über Säm. Wie ich es hasse, über meine Eltern zu sprechen, dachte Sandra. Sie war so tief in ihren Gedanken versunken, dass Frau Bauer sie mehrmals laut ansprechen musste, bis sie reagierte. „Nun sag schon, Sandra, was ist mit deinen Eltern? Deine Mutter kann dir doch sicher sehr gut helfen, sie ist ja Psychiaterin und dein Vater ist doch Arzt. Beide arbeiten mit vielen komplizierten Fällen. So sind sie es doch sicher gewohnt, Probleme anzusprechen.“ „Ja, Sie haben recht, Frau Bauer. Meine Eltern können sehr gut mit Problemen umgehen, sofern es nicht ihre eigenen Probleme sind. Ich bin mir sicher, dass sie ihren Patienten sehr gut helfen können, doch wir sprechen eigentlich nie darüber.“ Sandras Augen füllten sich mit Tränen. Es war ihr peinlich, so drehte sie sich weg. Doch es war zu spät, Frau Bauer bemerkte ihr Augenwasser und nahm sie wortlos in ihre Arme. Sandra wusste nicht, wie lange sie so auf dem Gang gestanden hatten. Sie bemerkte nur, dass auch Frau Bauer weinte. Die vorbeilaufenden Menschen sahen sie nur kurz an und eilten schnell weiter. Sie standen auf dem Gang, bis die Krankenschwester kam, die Säm pflegte. Sie hielt zwei Papiertaschentücher in ihrer Hand und gab ihnen je eines davon. Sie sagte nichts. Sie legte kurz ihre Hände auf ihre Schultern und nickte nur verständnisvoll und aufmunternd. Dann ging sie wieder an ihre Arbeit.

Frau Bauer und Sandra verließen schweigend das Krankenhaus, als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten. Frau Bauer fuhr Sandra heim, zu ihrem großen, wunderschönen Haus. Doch das Haus war meist leer und kalt. Obwohl Sandras Mutter ihre Praxis in einem Teil des Hauses hatte und immer jemand da war, fühlte Sandra sich trotzdem allein. Sie durfte ihre Mutter nur im äußersten Notfall bei ihren Gesprächen stören, sie hasste es, wenn sie unterbrochen wurde. So ließ sie ihre Mutter auch in Ruhe. Ihr Vater verließ morgens mit ihr das Haus und kam meistens erst wieder, wenn sie bereits im Bett war. Gott sei Dank gab es da noch Emma, die Haushälterin, das Herzstück des Hauses. Sie war wie eine Oma für das Kind, denn sie war schon älter und hatte graue Haare. Sie war schon da, als Sandra auf die Welt kam. Und Schlingel, ihr Hund, war klasse! Mit ihm konnte sie all ihre Probleme besprechen. Ihrem Pferd Pamela erzählte sie auch alles. Diese drei, Emma, Schlingel und Pamela, waren immer ihre größte Stütze, seit sie denken konnte.

Frau Bauer hielt vor dem großen Tor. Sie stellte den Motor ab und legte ihre Hand auf Sandras Schulter. „Es tut mir wirklich leid, dass du mit deinen Eltern nicht sprechen kannst. Ich möchte sie nicht verurteilen. Ich möchte dir nur sagen, wenn du jemanden brauchst zum Reden, dann kannst du jederzeit, wirklich jederzeit, zu mir kommen.“ „Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, Frau Bauer, doch ich kann mir nicht vorstellen, dass ich Ihre Zeit auch noch in Anspruch nehmen darf, denn Sie haben ja selber sechs Kinder, wie sollten Sie sich noch Zeit nehmen können für mich?“ Frau Bauer schaute sie ernst an und meinte: „Hör gut zu, Sandra, es ist mir wirklich ein großes Anliegen, auch für dich Zeit zu haben. Weißt du, auf einen mehr oder weniger kommt es wirklich nicht an. Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn du zu uns kommst. Ich spreche sehr gerne mit dir, du bist ja auch fast eine Frau. In meiner Männerwelt ist es sehr schön, mal wieder ein Frauengespräch führen zu können. So können wir uns gegenseitig helfen, alles zu verarbeiten. Du bist jederzeit herzlich willkommen. Das meine ich wirklich sehr ernst, Sandra! Du kannst bei deinen Ausritten vorbeikommen, so wie du es sonst auch immer gemacht hast. Ein Glas Limonade steht immer für dich bereit. Dein Pferd hat ja dann auch eine Pause, wenn du es grasen lässt. Und so brauche ich den Rasen nicht so oft zu mähen! Also, bitte versprich mir, dass du uns besuchen kommst, auch wenn Säm noch nicht daheim ist.“ Sandra gab ihr das Versprechen. Sie lächelten sich an und dann verabschiedete Sandra sich bei Frau Bauer und bedankte sich für das Heimbringen. Frau Bauer startete den Motor und verschwand aus ihrem Blick. Für die Besuche im Krankenhaus konnte Frau Bauer das Auto einer Nachbarin ausleihen. Das ersparte ihr die Warterei auf den Bus.

Sandra öffnete das verschlossene Tor, und sofort kam ihr freudig schwänzelnd Schlingel, ein schwarzer Labrador, entgegen. Sie kniete nieder, um ihn in die Arme zu nehmen und zu kraulen. Sie beide genossen diese Zuwendungen gegenseitig. Sandra war in ihren Gedanken versunken, als sieplötzlich ihren Namen hörte. Emma rief ihr entgegen: „Sandra, schön, dass du wieder da bist! Magst du ein Stück Kuchen? Ich habe ihn gerade vor einer Viertelstunde aus dem Ofen genommen. Du magst doch so gerne warmen Kuchen. Na, wie sieht’s aus?“ Sandra schüttelte den Kopf. „Nein danke, Emma. Es ist sehr lieb von dir, doch ich möchte mich nur kurz umziehen, dann gehe ich zu Pamela. Ich habe sie heute noch nicht bewegt. Schlingel nehme ich mit, dann kann er sich wieder einmal so richtig austoben.“ „Schlingel freut sich jetzt schon darauf, mit dir ausreiten zu können“, meinte Emma, „doch 10 Minuten wirst du sicher noch Zeit haben, um ein Stück Kuchen zu essen und etwas zu trinken.“ Sandra seufzte schwer und meinte: „Ja, ich komme, du hast ja recht, Emma. Auf die 10 Minuten kommt es wirklich nicht an. Und wenn ich es mir so richtig überlege, habe ich auch wirklich Hunger.“ Emma legte ihr strahlend den Arm um die Schultern, so liefen die beiden gemeinsam die Auffahrt zum Haus hinauf. Schlingel folgte ihnen freudig bellend.

Sandra genoss ihren Ausritt wie schon lange nicht mehr. Pamela lief wie eine Eins. Sandra musste ihr Pferd nicht ein einziges Mal treiben. Schlingel blieb ganz brav auf den Wegen, ohne dass es ihm in den Sinn kam, eine Spur aufzunehmen. Er lief immer etwas voraus und schaute dann fragend zurück, ob er auf dem richtigen Weg war. Sandra sagte ihm an der Kreuzung nur „rechts“ oder „links“, dann wusste er Bescheid, „weiter“ hieß geradeaus. Im Normalfall gehorchte er wirklich gut. Der Hundeerziehungskurs hatte ihr bei seiner Ausbildung wirklich viel geholfen. Die Trainerin war nett und gab tolle Tipps.

.“ Ich wäre sehr froh, wenn auch wir gemeinsam vorwärtsgehen könnten,versank Sandra in ihren Gedanken , jetzt habe ich mir selbst ein Bein gestellt.Sie wich aus und fügte hinzu: „Sie läuft nicht immer nur dann so, wenn es mir nicht gut geht, sie hatte heute wirklich einen tollen Tag.“ Sandras Mutter sah ihr ganz tief in die Augen und sagte ganz eindringlich: „Wenn du Probleme hast, kommst du doch zu mir, oder?“ Sandra dachte für sich:Das wäre ja schön, doch du hast ja keine Zeit für mich.Wie wenn sie ihre Gedanken lesen könnte, setzte die Mutter noch mal zum Reden an: „Hör mal, Sandra, du bist mir das Wichtigste auf dieser Welt, ich werde mir immer Zeit für dich nehmen.“Schön wäre es,dachte Sandra

Sie ging in ihr Zimmer, Schlingel folgt ihr und erbettelte einige Streicheleinheiten. „Du hast es gut, Schlingel, du brauchst dich um nichts zu kümmern. Dir wird alles gemacht und du bekommst noch tägliche Massagen und Streicheleinheiten. Und wer, bitte schön, streichelt mich? Ich würde es auch brauchen, nicht nur du.“ Schlingel schwänzelte, und Sandra hatte das Gefühl, dass er ihr so, mit seinem Schwanzwedeln, die Streicheleinheiten geben wollte, die sie so sehr brauchte.

Sandra hatte sich nach dem Unfall von ihrem Freund Marco getrennt. Ich kann ihm ja nicht eine so hässliche Freundin zumuten. Ich sehe mit meiner Narbe aus wie ein Pirat. Es ist so gemein. Mein Vater meinte, dass es eine Möglichkeit gäbe, die Narbe von einem Schönheits-Chirurgen verbessern zu lassen. Doch was bringt das? Sehen würde man sie ja doch immer, ich kann ja nicht mit einem Eimer über dem Kopf durch die Welt laufen. Wenn ich Muslimin wäre, dann könnte ich den Schleier tragen, und meine Narbe würde keiner mehr sehen. Mensch, Sandra, ermahnte sie sich selbst, was für doofe Gedanken du wieder hast. So ein Mist, ich will ja nicht Allah anbeten, denn Gott ist mein himmlischer Vater.

Seit dem Unfall hatte sie ihn fast vergessen. Sie hatte eine große Wut auf Gott. Weshalb hat er den Unfall zugelassen? Hat er uns denn nicht mehr lieb? Sandra, wach auf, drang eine feine, doch warnende Stimme in sie hinein. Du weißt, dass solche Gedanken endlos sind und dich nur weiter in den Boden hineintreiben, sie ziehen dich noch tiefer in ein Loch. Das hat keinen Sinn! „Ich weiß ja, dass du recht hast“, sagte Sandra, wie zu sich selbst. Sie gab sich einen Ruck und stand vom Boden auf. Schlingel stupste sie sofort, denn er konnte vierundzwanzig Stunden hinhalten, um gestreichelt zu werden. „Nein, Schlingel, es tut mir leid, ich muss jetzt noch Hausaufgaben machen. Wir haben morgen eine Matheprüfung. Wäre toll, wenn du für mich diese Prüfung machen könntest.“ Sandra musste schmunzeln bei der Vorstellung, wie Schlingel in ihrer Bank sitzt und die Prüfung schreibt. Die dummen Gesichter hätte sie zu gerne gesehen. So gegen 21:30 Uhr löschte sie das Licht und fiel in einen unruhigen, doch tiefen Schlaf.