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CHRISTOPH HAINZ

mit Jochen Hemmleb

NUR DER
BERG
IST MEIN
BOSS

Das Leben des Südtiroler
Extremkletterers und
Bergführers

Mit einem Vorwort von Frank-Walter Steinmeier,
Beiträgen von Thomas Engel und Gerda Schwienbacher
sowie einem Nachwort von Hans Kammerlander

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INHALT

Vorwort von Frank-Walter Steinmeier

1. Kapitel:
„Mit mir und meinem Kopf eins …“

2. Kapitel:
Ursprünge – Von der Quelle zum Fluss

3. Kapitel:
Das Feuer in mir: Bergsteigen aus Leidenschaft

4. Kapitel:
Dauerbrenner – Der „Zinnenmann“

5. Kapitel:
Feuer und Eis: Eiger-Nordwand

6. Kapitel:
Shivling-Nordpfeiler: Ausgesetztheit im Grenzbereich

7. Kapitel:
Der Boden, auf dem ich stehe

„Ein außergewöhnlicher Kletterer und Mensch“
Jochen Hemmleb im Gespräch mit Thomas Engel

8. Kapitel:
Die Freiheit allein: Fitz Roy solo in neun Stunden

9. Kapitel:
In alle vier Winde – Klettern weltweit

„Ausreißen und Zurückkommen bereichern sich gegenseitig“
Jochen Hemmleb im Gespräch mit Christoph Hainz und seiner Lebensgefährtin Gerda Schwienbacher

10. Kapitel:
Die Essenz – Abenteuer vor der Haustür

Anstelle eines Nachwortes: Brief von Hans Kammerlander

Dank

Anhang:

Auszüge aus dem Tourenbuch

Besondere Leistungen im Sportklettern

Besondere Leistungen im Wettkampfklettern

Auszeichnungen

Schwierigkeitsgrade beim Fels- und Eisklettern

Anmerkungen, Quellen und Literatur

VORWORT

„Berge sind stille Meister und machen schweigsame Schüler.“

J. W. von Goethe

Er kam spät. Die Sonne stand schon tief über dem Pustertal, als er eintraf. Die Haare im Wind, buntes T-Shirt, Flip-Flops an den Füßen, schlenderte er auf unseren Tisch zu – so gar nicht der Muskelmann, den wir schon oft auf Fotos im gewaltigen Überhang hatten hängen sehen.

Gerade war ich mit meinen zwei Bergfreunden Stephan und Lukas in Toblach angekommen. Vor sechs Tagen am Königssee gestartet, über die schöne und damals wenig begangene Ostroute bis zur Drei-Zinnen-Hütte.

An der steilen Zinnen-Nordwand hatten wir sie aus der Ferne gesehen – stecknadelgroß: Kletterer, scheinbar an den Fels geklebt. Christophs Revier! Diese Wände hat er zigmal allein und mit Gästen durchklettert, neue Routen entdeckt. Die Drei Zinnen, seine Hausberge, zu denen es ihn immer wieder zieht: jeden Quadratzentimeter Fels, jeden Griff scheint er hier zu kennen. Aber nicht nur hier. Keine Wand zu steil, kein Wetter zu schlecht, kein Eiscouloir zu schwierig! Und vieles davon hat er festgehalten in atemberaubenden Bildern.

Mit Bewunderung und Demut bestaunten wir harmlosen Bergwanderer ein Foto nach dem anderen, das er auf sein Handydisplay holte: Aufnahmen im hochalpinen Gelände, im Gletschereis, am gefrorenen Wasserfall. Und mit etwas Neid schauten wir auf die unzähligen Fotos an Gipfelkreuzen, von denen aus die Welt, die wir zu kennen glauben, eine andere scheint.

Einmal da oben, wenigstens einmal im Leben oben auf der Großen Zinne stehen, das war wohl der Traum, den keiner von uns Flachländern auszusprechen wagte in Anwesenheit einer veritablen Größe unter den Südtiroler Bergsteigern und Bergführern. Und genügend Zweifel hinsichtlich unserer Fähigkeiten und Kondition hatten wir ohnehin. Bin ich eigentlich schwindelfrei? Christophs Antwort auf unsere Selbstzweifel war eher lakonisch. Langatmige Bergsteigerphilosophie zur wortreichen Beglückung und zum Beeindrucken von Managerseminaren ist seine Sache nicht.

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„Für deine Träume musst du was riskieren“ und „deine Grenzen kennst du erst, wenn du sie ausgetestet hast!“ Mit diesen zwei Sätzen und zwei weiteren Bier überließ er uns unseren Träumen wie unseren Zweifeln. Aber offensichtlich steckte genug Anstiftung und Ermutigung darin. Kaum ein Jahr später standen wir nämlich mit ihm auf dem Gipfel der Großen Zinne. Spätestens seit wir uns oben am Gipfelkreuz in die Arme fielen, verstehe ich die tiefe Weisheit des Bergsteigersatzes, der denen im Tal wie eine Binse klingen muss: „Am schönsten ist das Ankommen“. Klar, auch vieles andere stimmt: dass das Abenteuer erst bestanden ist, wenn man wieder unten ist, dass der Abstieg nicht weniger Konzentration verlangt als der Aufstieg usw. Aber ich bleibe dabei: Ankommen ist das Schönste!

Und angekommen sind wir seit der Großen Zinne an dem einen oder anderen Gipfelkreuz in Südtirol: Weißkugel, Rosengartenspitze, Weißzint, Hochfeiler, Marmolata und natürlich durfte der Ortler nicht fehlen. Atem(be)raubend der Aufstieg zum Piz Palü im Schweizer Graubünden. Inzwischen sind wir eine bewährte und eingespielte Seilschaft, mit der wir schon in der Weihnachtszeit die ein, zwei Gipfel fürs nächste Jahr aussuchen.

Keines dieser Gipfelkreuze hätte ich gesehen, keinen dieser großartigen Rundumblicke in die hochalpine Alpenwelt genießen können, niemals dieses Glücksgefühl beim Ankommen erleben können, wenn nicht ein Bergführer wie Christoph Hainz Sicherheit im Fels gegeben oder bei Umwegen um die dritte und vierte Gletscherspalte ermutigt und angetrieben hätte. Und auch das: Geduld zu haben; zu akzeptieren, dass trotz guter Vorbereitung und beschränkter Urlaubstage das Wetter keine Besteigung zulässt.

Lernt man am Berg fürs Leben? Regale voller Bergsteigerliteratur – allerdings zumeist geschrieben von Extrembergsteigern, die der Welt aufs Dach steigen – legen das nahe. Von dieser Liga bin ich, sind wir nicht mehr ganz jugendliche Bergbegeisterte weit entfernt. Aber wo der Profi seine Grenzerfahrungen zwischen 6000 und 8000 Metern Höhe findet, macht der Amateur aus dem Flachland sie vielleicht schon zwischen 3000 und 4000 Metern. An unsere Grenzen hat uns Christoph Hainz immer wieder geführt, aber nie darüber hinaus.

Deshalb sind Anstrengungen und Flüche beim Aufstieg schnell vergessen, die Lust nicht verlorengegangen, den Rucksack für einen neuen Gipfel zu packen. Gewachsen ist in den Jahren die Erfahrung, disziplinierter sind die Vorbereitungen, um sich in Form zu bringen, besser auch die Kondition und die Konzentration auf den nächsten Schritt. Gewachsen ist in all den Jahren auch das Bewusstsein, wie sehr du am Berg aufeinander angewiesen bist, und dafür, dass nur alle gemeinsam hochkommen können und dass Leichtsinn eines Einzelnen Risiko für alle bedeutet.

Geblieben ist der Respekt vor dem Berg und das Wissen, dass jeder Aufstieg anders ist, neue Anstrengungen verlangt und neue Schwierigkeiten bereithält.

Geblieben ist die unbändige Freude, das noch vor Stunden schier Unerreichbare erreicht zu haben.

Geblieben ist die Freude auf die Tasse heißen Tee in klirrender Kälte auf dem vergletscherten Gipfel oder auf das erste gemeinsame Radler auf der Hütte nach dem Abstieg.

Nicht zuletzt geblieben ist die Vorfreude auf den Gipfel im nächsten Jahr.

Ich bin sicher, Christoph bastelt schon an der nächsten Tour …

Frank-Walter Steinmeier

Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland (seit 2017)

1. Kapitel

»Mit mir und meinem Kopf eins …«

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Schlüsselpunkt: Der Einstiegsriss der Franco-Argentinier-Route am Fitz Roy.

Große Entscheidungen fällt man am besten spontan.

Eigentlich hatte ich gar nicht vorgehabt, den Fitz Roy im Alleingang zu besteigen. Ich war mit meiner damaligen Frau Claudia nur zum Trekking in Patagonien, von ein paar kurzen Klettereien bei Bariloche auf dem Hinweg einmal abgesehen. Die rostbraunen Granitdome und -nadeln waren jedenfalls in weiter Ferne. Erst als ich sie aus der Nähe sah, hat es in mir gekribbelt. Für mich sind der Fitz Roy oder sein Nachbar, der unvergleichliche Cerro Torre, Berge mit einer geradezu glasharten, geradlinigen Eleganz – Berge, die mich unwiderstehlich anziehen. Berge, auf die ich einfach hoch muss! Und nun stand ich unter der glatten Einstiegswand …

Dass ich die Entscheidung, solo auf einen so schwierigen Berg wie den Fitz Roy zu steigen, innerhalb eines Moments traf, heißt nicht, dass ich sie blind traf. Spontaneität beim Fällen großer Entschlüsse hat – wie ein Berg – einen tragenden Unterbau, ein Fundament. Mein über die Jahre erworbenes Kletterkönnen war nur ein Teil davon.

In meinem vor 14 Jahren erschienenen ersten Buch Ausstieg in die Senkrechte konzentrierte ich mich bewusst auf diesen Teil. Das Buch war hauptsächlich eine Bilanz meiner schwierigsten Erstbegehungen im Fels und Mixed-Gelände meiner Heimatberge, den Dolomiten und der Region Pustertal – Tauferer Ahrntal in Südtirol. Es reflektierte meine damalige Stellung als Bergsteiger und machte mich einem breiteren Publikum bekannt. Was in dem Buch fehlte oder nur kurz angerissen wurde, war neben vielen weiteren Touren der Rahmen, in dem diese Leistungen standen: meine Ursprünge, meine Entwicklung, meine Lebensgrundlagen, ohne die diese Leistungen nicht möglich wären – immer wieder, und das bis heute. Davon erzählt nun dieses, mein zweites Buch.

Jochen Hemmleb, mein Co-Autor und Freund, schrieb in einem seiner eigenen Bücher sinngemäß, dass bisweilen eine einzelne Besteigung für alles stehen kann, was ein Bergsteiger als Mensch verkörpert. Sie wird zu seinem Gesamtausdruck.

Am Fitz Roy bewegten sich für mich Linien aufeinander zu, äußerlich wie innerlich. Ich hatte mich dem Berg angenähert, auf Erkundungstouren und bei einem Versuch mit anderen Kletterern. Dabei machte ich Erfahrungen, die einen Alleingang als besten Weg zum Erfolg erscheinen ließen. Gleichzeitig war mein Kletterkönnen auf einem Niveau angelangt, welches einen solchen Alleingang auch möglich scheinen ließ. Beides zusammen begründete meinen spontanen Entschluss, es zu versuchen. Und jetzt, am Beginn des gut 40 Meter hohen Fingerrisses, der den Einstieg der Franco-Argentinier-Route markiert, waren die Linien zu einem einzigen Punkt zusammengelaufen, dem Schlüsselmoment der Besteigung: Entweder würde ich diesen kerzengeraden Riss klettern, den einzigen in der ansonsten mauerglatten Granitplatte – oder ich würde absteigen und heimfahren.

Ich schaute mir meine spärliche Ausrüstung an: vier Friends – mechanische Klemmgeräte, zwei Eisschrauben, drei oder vier Felshaken, zehn Karabiner, meine beiden Eisgeräte und ein Halbseil. Den Rucksack ließ ich hier zurück, in die Hosentaschen stopfte ich mir etwas Studentenfutter. Ich nahm noch einen kräftigen Schluck aus der Trinkflasche, auch sie blieb mit dem Rucksack zurück. Kein Gramm überflüssiges Gewicht würde ich mitnehmen. Alle Entscheidungen waren ruhig und klar. Ich war mit mir und meinem Kopf eins. In solchen Momenten können große Dinge passieren.

Dann kletterte ich los.

Zwei meiner Friends passten für den Riss. Ich schob den ersten in den Spalt. Die Zähne der Klemmbacken knirschten am vereisten Fels, doch der Friend hielt. Ich zog mich ein Stück hinauf, legte den zweiten Friend, der etwas schlechter passte, und hielt mich an ihm. Dann löste ich das untere Klemmgerät und setzte es oberhalb erneut in den Riss.

So gewann ich langsam an Höhe …

2. Kapitel

Ursprünge – Von der Quelle zum Fluss

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Ausgangspunkt: Steiner-Hof im Mühlwalder Tal vor den Gipfeln der Grubbachgruppe.

Mit Christophs VW-Bus sind wir unterwegs im obersten Mühlwalder Tal. Hier, nahe der nördlichsten Spitze Südtirols, spürt man bereits die Kühle der grauen, gletscherbehangenen Gneisberge der Zillertaler Alpen. Sie hat die Landschaft karger gemacht. Dunkle, von spärlichen Wiesenflecken durchsetzte Nadelwälder überziehen die Talflanken, darüber liegen ein paar Hochalmen, die schon bald den blockigen Schutthalden der Felsgipfel weichen. Keine Spur von Heidi- oder sonstiger Bergbauern-Romantik.

Die schmale, teils einspurige Asphaltstraße, auf der wir fahren, zieht hinauf zum Neves-Stausee. Sie wurde in den Jahren um Christophs Geburt 1962 gebaut und ist ein Teil seiner Heimat. Christoph schaut jetzt öfters nach links hinab in den fast schluchtartig engen Talgrund. Schließlich deutet er aus dem Autofenster: „Dort unten, die einzelne Almhütte. Auch die haben wir damals bewirtschaftet. … Und dort vorne, da hat es mich damals überschlagen, als ich mit dem Einachser und den Heuschlitten den Hang hinuntergefahren bin!“

Dort draußen ist nur steiler, felsdurchsetzter Waldboden.

„Gute Güte, da dürften viele ja schon zu Fuß Probleme haben!“

(Arbeitsnotizen Jochen Hemmleb, Frühjahr 2018)

DRAUSSEN ZU HAUSE – DIE WELT MEINER KINDHEIT

Eigentlich bin ich ein Zeuge aus der Vergangenheit. Mein Leben als Kind und Jugendlicher auf Hof und Alm war etwas, das heute im Aussterben begriffen ist, obwohl es gerade einmal vierzig, fünfzig Jahre her ist. Es waren harte Zeiten, in denen auf manchen Bergbauernhöfen Hunger herrschte und viele gearbeitet haben, nur um zu überleben.

Heute ist das fast nicht mehr vorstellbar.

Der Steiner-Hof, auf dem ich aufwuchs, liegt inmitten steiler Bergwiesen auf 1620 Meter am Südhang der Henne (Gornerberg) über dem Mühlwalder Tal, einem Seitental des Tauferer Ahrntals. Auch wenn heute eine Straße dorthin führt, geht es rundherum sofort abwärts. Unterhalb des Stalls können kaum die Kühe stehen. Es gab einen weiteren Hof in der Nähe, der hatte eine etwas bessere Lage. Da hatte es sogar eine kleine Fläche, auf der wir Kinder Ball spielen konnten. Wenn aber einer von uns den Ball über das Spielfeld hinausschoss, mussten wir eine Viertelstunde bis in den Wald hinuntergehen, um ihn zu suchen. Alle weiteren Höfe waren mindestens eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt.

Im Sommer war mein Zuhause eine einzelne Almhütte auf der fast 400 Meter höher gelegenen Gorneralm. Das Obergeschoss der Hütte bestand aus einem großen und einem kleineren Raum mit nur ein paar kleinen Fenstern. An einer Wand war eine Feuerstelle mit einem Kamin, daneben ein großer Holzherd zum Kochen. Ansonsten gab es nur noch einen Esstisch und einen Kasten für Dinge wie Geschirr. Heizen konnte man die Stube allerdings aufgrund der fast nicht vorhandenen Isolierung kaum. Aber dafür hatten wir eine „Fußbodenheizung“, denn im Erdgeschoss war der Stall und die Wärme der Tiere stieg durch die Ritzen im Gebälk nach oben. Dass dadurch alles irgendwann nach Kuh roch, daran gewöhnte man sich.

In der oberen Stube wurde alles gemacht. In einer Ecke stand eine Art Kran, mit der wir den Milchkessel über die Feuerstelle schwenken konnten. Wir stellten Käse und Topfen her, aber immer nur für den Eigenbedarf. Blieb Milch übrig, machten wir Butter, die wir in regelmäßigen Abständen hinab auf den Hof trugen. Damals war es oft so, dass die Bauern einfach vier, fünf Milchkühe hatten, um sich selbst zu versorgen. Es war noch nicht üblich, die Milch in der Sennerei abzuliefern und weiterzuverkaufen. Für uns war es auch nicht möglich, denn zu unserem Hof führte damals noch keine Straße. So richtig los ging es bei uns mit der Milchwirtschaft erst mit den 1980er-Jahren.

Anfangs, mit sechs oder sieben Jahren, half ich bei der Heuernte oder trug das Mittagessen für die Mäher hinauf auf die Weiden. Das gemähte Gras musste zusammengerecht und mit Kraxen zum Hof hinabgetragen werden, wo es zum Trocknen in die Heudillen gefüllt wurde. War so eine Dille halbvoll, war es ein Heidenspaß, in das Heu hineinzuspringen – bis zu dem Augenblick, als ich vergaß, dass inzwischen Lattenroste zur besseren Belüftung und Trocknung eingezogen worden waren, und ich mit Karacho ins Gebälk krachte …

Später dann, als ich als Kühbub auf dieser und zwei weiteren Almen in der Gegend um den Neves-Stausee arbeitete, sah der Tagesablauf in etwa folgendermaßen aus: Morgens um 5 Uhr aufstehen. Zum Frühstück gab es Brot, Butter und Wasser, ganz selten einmal einen Saft. Dann wurden die Kühe gemolken und auf die Weiden getrieben. Anschließend musste der Stall ausgemistet werden. Ansonsten bist du den ganzen Tag bei den Tieren geblieben. Einerseits musstest du zusehen, dass sie nicht in zu steiles Gelände gerieten, andererseits wurden gerade zu Anfang der Weidezeit die Kühe jeden Tag auf einen neuen Flecken Land getrieben, damit die Wiesen gleichmäßig abgegrast wurden. Gegen Mittag mussten sie immer an einer Wasserstelle sein. Gegen 17 Uhr trieben wir die Kühe dann wieder zurück in den Stall und es wurde nochmals gemolken.

Maschinelle Hilfe gab es auf der Alm keine, mit Ausnahme eines handbetriebenen Geräts zur Butterherstellung. Und natürlich die kleineren Werkzeuge wie Schleif- und Dengelsteine zum Schärfen der Sensen. Das Heu trugen wir mit Kraxen. Die einzige Maschine, die ständig lief, waren die eigenen zwei Beine …

Zum Abend gab es meistens hart gewordene Brotreste, die wir auf einer Grommel – einem Hackbrett mit einem beweglich montierten Messer – zerkleinerten und in Milch aufweichten. Oft gab es auch Melchermuas, in geschmolzene Butter und Milch eingerührtes und gebratenes Mehl, als besondere Spezialität auch mal in der Variante mit Rahm. Es ist so gehaltvoll, dass wir es heute kaum mehr essen können. Unsere Mägen vertragen es nicht mehr. Wir haben es früher zwei-, dreimal die Woche gegessen – was einfach zeigt, wie viel Kalorien wir damals durch die harte Arbeit, das viele Gehen und die häufige Kälte verbrannt haben. Nudeln und Polenta ergänzten den Speiseplan, Fleisch gab es dagegen äußerst selten.

Was es dagegen immer auf der Alm gab, war Schnaps. Wenn der Senner aus dem Tal hinaufkam und verschwitzt war, genehmigte er sich immer ein Stamperl. Das beugte Erkältung vor – und wir waren auch kaum erkältet.

Zum Schlafen ging es in den Nebenraum der Stube. Dort hatten wir Holzbetten, die waren so breit wie französische Betten. In denen schlief man dann zu zweit. Die Matratzen waren mit Stroh gefüllt, und wir bauten uns darin nachts fast so etwas wie ein eigenes Nest, indem wir das Stroh nach der für uns angenehmsten Schlafposition ausformten. Manchmal gönnten wir uns auch den Luxus und stopften die Matratzen mit frischem Bergheu. Die Toilette war ein Plumpsklo an der Außenwand der Hütte, zu dem man nur über den Balkon gelangte. Man musste vor die Tür, egal ob es windig, kalt oder nass war. Die Waschgelegenheit war ein Trog oberhalb der Hütte – wobei der Trog schon ein Luxus war. Auf einer anderen Alm bei Oberlappach, auf der ich später arbeitete, gab es nur ein Rinnsal, in das wir zu Beginn der Saison ein Felsplatte oder ein ausgehöhltes Stück Baumstamm legten, damit sich das Wasser zum Waschen sammelte und besser herauslief. Abgewaschen wurde dort alles, von den Töpfen bis zum eigenen Körper. Feiner Sand reinigt alles … Mehr hatten wir nicht, mehr brauchten wir auch nicht.

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„Rundherum geht es sofort abwärts …“: Der Steiner-Hof und seine Wiesen.

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Ich frage mich öfters, warum es gerade heute immer wieder Menschen gibt, die aussteigen wollen, sich in die Wildnis zurückziehen und das Leben suchen, was wir vor vierzig Jahren hatten. Menschen, die anscheinend in der modernen Welt nicht mehr zurechtkommen und todunglücklich sind, obwohl sie alles haben.

Auf der kleinen Alm hatten wir die Verantwortung nur für uns und unsere Kühe. Wenn es uns und den Tieren gut ging, dann waren wir glücklich. Damals hat man eigentlich nur gearbeitet, um Essen zu haben. Heute sind die Arbeitsverhältnisse komplizierter, aber auch die Haltung vieler Menschen hat sich verändert. Es ist nie genug, alles muss schneller werden, alles muss günstiger werden. Die Menschen wollen immer mehr und sind nie zufrieden. So sind sie in einem Hamsterrad gefangen, aus dem viele erst wieder herauskommen, wenn es sie mit Burn-out flachlegt. So etwas hat es damals überhaupt nicht gegeben. Den Ausdruck „Burn-out“ gab es nicht – und eigentlich kenne ich ihn bis heute nicht, denn ich kann mir nicht vorstellen, jemals einen Burn-out zu haben.

Mich haben die Kindheitserlebnisse auf der Alm gelehrt, einfach nur einmal zufrieden zu sein mit dem, was ich habe. Und dies hat auch viel mit Maßhalten zu tun – zu wissen, was man braucht und was nicht.

EINZELKÄMPFERIN – MEINE MUTTER

Die Sommer auf der Alm waren auch die Zeit, die ich mit meiner Mutter verbringen konnte. Ich war ein uneheliches Kind gewesen. Damit meine Mutter ihren Lebensunterhalt finanzieren konnte, musste sie fast das ganze Jahr über in Gais im unteren Tauferer Tal ihrer Arbeit als Dienstmagd nachgehen, während ich bei meinen Tanten auf dem Hof über Mühlwald aufwuchs. So habe ich meine Mutter relativ wenig gesehen, manchmal fast ein halbes Jahr nicht. Bisweilen habe ich sie vermisst, aber im Wesentlichen war es kein Problem, denn ich war es von klein auf nicht anders gewohnt. Ich hatte meine Tanten und meine Großmutter, bei denen habe ich mich wohlgefühlt. Aber wenn meine Mutter auf dem Hof war und ich mit ihr auf der Alm sein konnte, dann war es eine schöne Zeit.

Meine Mutter war ein sehr empfindsamer Mensch und immer dicht bei ihren Gefühlen. Sie lachte, wenn ihr danach war, und weinte, wenn ihr danach war. Das fand ich sehr schön und hat mich beeindruckt. Dabei musste sie auch sehr stark sein. Zur damaligen Zeit ein uneheliches Kind zu haben, das war für alle schwierig. Nicht nur für meine Mutter, sondern auch für meine Tanten. Denn ein uneheliches Kind galt fast als ein Verbrechen. Wir wurden von allen schief angeschaut. Ich selbst habe das nicht mitbekommen, für meine Mutter war es sicher hart. Aber sie hat die Situation einfach angenommen. Meine Mutter wurde dadurch eine Einzelkämpferin – und ich glaube, das hat sich auf mich übertragen. Auch ich hatte immer wieder das Gefühl, Einzelkämpfer zu sein und mich gegen Gott und die Welt durchsetzen zu müssen. Oder zumindest gegen die anderen Burschen in der Schule oder in den Cliquen der anderen Dörfer, bis späterhin zur Bergsteigerszene.

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Meine Mutter mit mir im Alter von sechs Jahren.

Meinen Vater habe ich kaum gekannt – und deswegen hat er mir auch nicht gefehlt. Ich weiß zwar, wer er ist, aber ich habe nie den Kontakt zu ihm gesucht, ganz bewusst nicht. Ich habe mir immer gedacht, wenn er den Kontakt möchte, dann kann er ihn ja suchen. Aber ich wollte umgekehrt ihn nicht in seinem Familienleben und Umfeld irgendwie stören. Er sollte sein Leben leben, so wie er es die ganze Zeit getan hatte. Für mich war das nie ein Problem.

Wir waren eine Großfamilie, was damals ganz normal war. Auf dem Hof lebten vier oder fünf meiner Tanten, einem Onkel gehörte das Anwesen, und anfangs waren eben auch die Eltern meiner Mutter dort oben. Eine meiner Tanten war behindert – auch das war damals nicht selten, wenn es bei der Geburt Probleme gab und die Hebamme nicht rechtzeitig auf die abgelegenen Höfe kam. Die Frauen waren sehr auf sich selbst gestellt und trotzdem ist es meistens gut gegangen.

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Mein liebster Platz am Hof: der Kornkasten.

Gerade in den ersten Jahren war es ein recht enger Kreis, in dem ich aufgewachsen bin. Auch wenn später andere Schulkinder und Lehrer hinzukamen, war ich die überwiegende Zeit doch mit denselben Leuten zusammen. Mit denen musstest du auskommen, ob du es wolltest oder nicht. Dadurch habe ich vermutlich eine gewisse Geduld und Ausdauer im Umgang mit Menschen gelernt. Und es hat mich zu einem ehrlichen Menschen gemacht. In einem so engen Umfeld konnte man sich nicht verstecken. Ich habe vielleicht ein-, zweimal gelogen – doch man ist mir immer auf die Schliche gekommen. Es gab keinen anderen Weg, als einen ehrlichen Umgang miteinander zu haben.

Dies habe ich mir bis heute bewahrt und es macht mich gerade als Bergsteiger ziemlich unangreifbar. Denn ich kann stets Brief und Siegel darauf geben, dass meine Touren und Erlebnisse genau so waren, wie ich sie beschrieben habe.

AN ERSTER STELLE – KIRCHE UND RELIGION

Wie ich dann mit sechs Jahren in die Schule kam, bedeutete die Lage des Hofs morgens eine Stunde Fußweg hinab nach Mühlwald und nachmittags anderthalb Stunden zurück hinauf. 400 Höhenmeter, fast jeden Tag und bei fast jedem Wetter – das war gut für die Kondition und baute überschüssige Energie ab, war aber schlecht fürs Lernen. Aus diesem Grund kann ich auch über meine Schulzeit nicht allzu viel berichten. Eigentlich war ich in jedem Fach schlecht, denn Lernen war somit das Letzte, womit ich meine Zeit verbringen wollte. Als wir einmal für eine fehlende Lehrerin ein Gedicht über uns selbst verfassen sollten, habe ich meine schulische Situation damals schon recht treffend beschrieben: „Frau Lehrerin, geh, sag mir doch, kennst du wohl den Christoph noch? Lang bist du jetzt fort gewesen, lehr mich wieder Schreiben, Lesen!“

Auch Religion interessierte mich damals überhaupt nicht. Das konnte ich eine Weile vertuschen, bis ich Weihnachten mit einer schlechten Note nach Hause kam. Eine schlechte Note vom Pfarrer, das ging gar nicht! So musste ich zwei Wochen lang nachmittags in der Stube beim Ofen sitzen und aus dem Katechismus alles nachlernen. Manche der Sätze kann ich heute noch auswendig … Von diesem Moment an wusste ich: Religion steht an erster Stelle. Egal wie schlecht du in Deutsch oder im Rechnen bist – Religion musst du können!

Kirche und Religion hatten damals einen äußerst hohen Stellenwert. Vor der Schule ging es täglich zur Messe, am Sonntag sogar zweimal. Auf dem Hof war Beten obligatorisch: vor dem Essen, nach dem Essen; abends den Rosenkranz, im Winter den langen, im Sommer den kürzeren, den sogenannten „Kraxentrager“. Den langen Rosenkranz zu beten war regelrecht anstrengend. Die Bäuerin, die vorbetete, durfte sitzen, aber wir mussten dazu knien. Und wenn man nicht ruhig war oder den Einsatz verschlief, dann hieß es auf einem Holzscheit knien. Denn das tat richtig weh!

Der Pfarrer genoss höchstes Ansehen im Dorf und in der Gemeinde – fast wie heute der Papst. Er wusste alles und hatte überall Mitspracherecht. Er war oberste Autorität, wurde nie hinterfragt: Wenn eine Wand schwarz war und der Pfarrer sagte, sie wäre weiß, dann war sie weiß! Sonntags war es üblich, dass die Bauern ihm Eier oder auch mal ein Stück Speck brachten, auch wenn sie selbst nicht allzu viel zum Essen hatten. War der Pfarrer auf dem Hof zu Gast, bekam er das Beste. Und dies blieb eine ziemlich lange Zeit so. Der Pfarrer und die Kirche hatten eine große Macht und Präsenz.

Standen Kirche und Religion für „das Gute“, sprach man im Gegenzug oft vom Teufel, der für alles Böse und Schlechte stand. Das bekamen wir als Kinder regelrecht eingetrichtert. Es gab eine Zeit, in der ich im Traum immer wieder gegen den Teufel kämpfte.

Auf den Höfen erzählte man sich auch Geistergeschichten, die sich angeblich tatsächlich ereignet hatten. So sei im Reicheneggerhof von Lappach, auf dem ich später wohnte, die Uhr stehengeblieben, als der Nachbar gestorben war. Ein anderes Mal saßen im Hof alle gemeinsam in der Stube, als im Zimmer oberhalb plötzlich Holzschuhe gegen die Wände schlugen. Als man nachschaute, war das Zimmer leer und die Schuhe standen unberührt an ihrem Platz.

Mit solchen Vorkommnissen hat man sich früher häufiger beschäftigt und ich bin bis heute davon überzeugt, dass es sie wirklich gab und sie einen realen Hintergrund hatten. So gab es Wahrnehmungen, die auf ein bevorstehendes Unglück hindeuteten, oder jemand sprach Prophezeiungen aus, die sich bewahrheiten sollten.

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Ich gehe heute zwar kaum mehr in die Kirche, vielleicht ein-, zweimal im Jahr. Aber trotzdem ist tief in mir etwas von der Wichtigkeit der Religion erhalten geblieben. Ich bin kein ungläubiger Mensch. Einem Kletterpartner sagte ich einmal: Wenn es ganz kritisch wird, dann fällt mir der da oben halt doch nochmal ein.“ Es gibt für mich dann schon eine höhere Gewalt, die entscheiden kann. Warum habe ich bestimmte Situationen überlebt? Warum bin ich bei einer Erstbegehung, als ich mit zitternden Beinen 20 Meter über der letzten Zwischensicherung stand, nicht abgestürzt? Da denke ich heute, dass es drei Faktoren gab und gibt: mein Können, meine körperliche Verfassung – aber eben auch noch „etwas“, das mich beschützt. Aber dieses „etwas“ wird irgendwann auch sagen: „So, jetzt ist deine Zeit gekommen. Jetzt brauche ich sogar einen wie dich hier oben …“

NATURGEWALTEN

Durch das Leben auf dem Hof wuchs ich quasi in der Natur auf, erlebte ungefiltert das Wetter; Hitze, Kälte, Wind, Regen, den Wechsel der Jahreszeiten. Während der Winterzeit und im beginnenden Frühjahr spürten wir durch Schnee und Lawinen die Gewalt der Natur besonders.

Hat mir die Natur Angst gemacht? Natürlich. Und sie tut es bis heute. Wenn du als Kind so eng mit der Natur aufwächst, dann gehören Situationen, in denen du Angst hast, einfach dazu. Sie sind ja auch wichtig, um zu lernen, die Gefahren einzuschätzen und die entsprechenden Entscheidungen zu treffen. Damals hatten die Leute auf den Höfen von sich aus gewusst, wann zu große Lawinengefahr herrschte, um sicher zur Schule zu gehen. Also blieben die Kinder zu Hause. Da brauchte es keine Lawinenkommission!

Im April oder Mai saß ich selbst häufig vor dem Kornkasten unseres Hofs und schaute auf den gegenüberliegenden Reisnock. Irgendwann wusste auch ich genau, wann die Temperatur und der Schnee „richtig“ waren, dass zwischen 14 und 15 Uhr nachmittags die Nassschneelawinen abgingen.

Manchmal machte ich mir meine Naturgewalten auch selber. Ich rollte also einen schönen Schneeball und ließ ihn auf den Wiesen los. Der wurde immer größer, immer breiter, bald kam der Hang ins Rutschen. Meistens blieben die Schneemassen nach ein paar hundert Metern liegen, aber ein-, zweimal gingen sie bis hinab zu den Höfen unter uns. Dann hieß es schnell ins nahe Futterhaus rennen und sich verstecken … Von meiner Warte aus konnte ich die Auswirkungen meines Experiments sehen und die Bauern, die nach oben schauten – aber sie sahen mich nicht! Einmal nahm es den Zaun bei einem Hof mit – und den Zaun beim Hof darunter gleich noch dazu. Glücklicherweise stoppte die Lawine kurz vor dem Haus. Dafür lag die Zufahrt unter ein bis zwei Metern Schnee. Rekord!

Die beeindruckendste Lawine ging allerdings nicht auf mein Konto. Sie erlebte ich später während meiner Zeit in Lappach. Unser dortiger Hof lag direkt neben dem großen Graben, der vom Lappacher Jöchl hinabzieht. Wir wussten an diesem Nachmittag schon, dass die Lawinengefahr groß war, denn uns Kindern hatte man geraten, nicht zur Schule zu gehen.

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Auf dem Weg vom Hof zur Gorneralm. Im Hintergrund der Reisnock.

Irgendwann schaute ich aus dem Fenster und sah, wie sich eine gewaltige Schneewand den Graben hinabwälzte, direkt am Hof vorbei. Die Schneezunge kroch ganz langsam – ich dachte fast, ich könnte mich vorne auf die Spitze setzen, mitfahren und lenken. Aber ich merkte auch die Wucht dahinter: ein Baum wurde umgelegt, dann der nächste – alles wie in Zeitlupe. Die Schneemassen flossen den gesamten Graben hinab bis über die Straße, die zwei Tage lang verschüttet blieb.

Wenn man solche Lawinen sieht und erlebt, dann spürt man genau, welche Kräfte in der Natur wirken. Die Freizeitindustrie preist uns heute Lawinen-Airbags und alles Mögliche an Ausrüstung an, die Sicherheit verspricht – aber wenn du in eine größere Lawine gerätst, dann ist das alles für die Katz. Dann wirst du einfach zerdrückt. Wenn Menschen heute Lawinen überleben, dann sind das kleinere Schneebretter oder die Leute wurden nur am Rand verschüttet. Größere Schneebretter knicken selbst dickere Bäume ab wie Zündhölzer.

Manchmal denke ich, wir sollten uns diese Macht der Natur wieder stärker vergegenwärtigen und statt immer neuerer Sicherheitsausrüstung wieder ein besseres Gespür für sie entwickeln. Mit diesem Gespür verzichten wir dann auf die eine oder andere wilde Skitour, lassen an anderen Tagen vielleicht aber auch einen Teil der ganzen Ausrüstung zu Hause und sind wieder ganz ursprünglich und dennoch sicher unterwegs – im Rucksack ein belegtes Brot und eine gute Flasche Wein …

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Mein Onkel August Hainz hat sein ganzes Leben auf dem Hof verbracht.

Schnee bedeutete aber nicht nur Gefahr. Im Winter und Frühjahr konnte ich mit der Rodel vom Hof hinunter in die Schule fahren. Einmal war der steile Hang unter dem Hof hart verfirnt. Da dachte ich mir: „Fahre ich heute mal dort runter.“ Rauf auf die Rodel – und schon ging es los. Die ersten 100 Meter waren wirklich sehr steil. Dann kam eine leichte Senke. Und da tauchten die Schlittenkufen ein. In hohem Bogen flog ich vom Schlitten, landete auf dem Gesicht und rutschte so noch weitere 30, 40 Meter den Hang hinunter, wobei ich versuchte, mich mit den bloßen Händen abzubremsen. Ich hatte mir nichts gebrochen. Aber wie sah ich aus! Gesicht und Hände waren verschrammt und offen, überall war Blut. Ich wischte mich so gut es ging mit Schnee ab – und ging zum Unterricht. Auf dem Heimweg haben wir Kinder uns bisweilen heimlich mit unseren Rodeln zwischen den großen Holzfuhrschlitten eingereiht, die mit dem Heuaufzug zum Hof hinaufgezogen wurden. Es sorgte immer für große Augen, wenn wir plötzlich munter aus dem Schlittenzug gesprungen kamen …

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Mich haben gerade die Erlebnisse mit Schnee und Lawinen gelehrt, die Natur zu nehmen, wie sie ist – und nicht wie viele Menschen zu glauben, selbst in der Natur alles regeln und beherrschen zu können. Die Natur ist uns immer überlegen. Ob durch Lawinenabgänge, Muren oder Waldbrände – die Realität der überlegenen Natur holt uns immer wieder ein. Denn die Natur hat Zeit. Ein Menschenleben dauert heute maximal etwa hundert Jahre. Ein großes Unheil in diesen hundert Jahren ist für den Menschen eine Katastrophe. Für die Natur ist dies nichts.

MEIN GANZ EIGENER WEG – SKIFAHREN UND BERGSTEIGEN

Bergsteigen gab es früher für mich gar nicht. Wir waren so mit der Arbeit auf dem Hof beschäftigt – hätte ich da gesagt, ich gehe jetzt bergsteigen, hätte man mich für verrückt erklärt. Das hätte die Familie nie unterstützt. Und so war es auch kein Thema für mich. Ich wusste, es geht einfach nicht, und so blieb mir nichts anderes übrig, als sehnsüchtig auf die Berge zu schauen. Am Talhang gegenüber lag der Grubbachkamm mit dem Reisnock, dem Großen und dem Kleinen Tor. Da war für mich immer die spannende Frage: Was ist dahinter? Das hat mich immer brennend interessiert. Aber damals ist man aus dem Tal nur ganz selten herausgekommen.

Dies änderte sich, als ich zehn Jahre alt war. Da zog ich vom Hof über Mühlwald zu einer meiner Tanten auf den bereits erwähnten Reicheggerhof in Lappach. Im Winter lernte ich dort Ski fahren, mit alten Holzski ohne jegliche Sicherheitsbindung. Es gab zwar im Ort einen kleinen Lift, aber die Fahrten konnte ich mir nicht leisten. So habe ich mir immer meine eigene Piste getreten, ein Paar Holzstecken als Tore aufgestellt – und los ging es! Einmal steckte ich nach einem Sturz mit völlig verdrehtem Fuß so tief im Schnee fest, dass ich eine Viertelstunde brauchte, bis ich wieder draußen war … Blessuren gab es immer wieder. Aber sobald ich auch nur wieder halbwegs kriechen oder krabbeln konnte, habe ich mir die Ski angeschnallt und eine neue Piste getreten.

Im Sommer bewirtschafteten wir in dieser Zeit unter anderem eine Alm zwischen dem Neves-Stausee und dem Zösenberg westlich des Dorfs. Oberhalb der Alm, am Seebergl, gab es einige grasige Felsgrate, nichts Besonderes. Ein Gratfuß bildete eine Wand, die war so etwa 150 Meter hoch und bestand aus lauter steil aufgerichteten Rippen, wie ein Bretterzaun. Da kamen ein anderer Kühbub und ich auf die Idee, wir könnten einmal einen der Kamine zwischen den Rippen hinaufklettern. In unseren Gummistiefeln. Weil diese auf dem Gras im Kamingrund abrutschten, mussten wir ganz weit spreizen, um uns im Fels der Kaminwände links und rechts höher zu stemmen. Nach 80 bis 100 Metern kam ich an einen Felsblock, an dem ich mich hinaufziehen wollte. Der Block kam mir entgegen! Mein Freund war hinter mir. Ich konnte den losen Block so lange halten, bis er zu mir aufgeschlossen war. Dann ließen wir den Felsen zwischen unseren gespreizten Beinen in die Tiefe donnern. Als wir sahen, mit welcher Macht er Fahrt aufnahm, schoss es siedend heiß durch unsere Köpfe: Hoffentlich geht der nicht geradewegs durchs Hüttendach! Gott sei Dank stoppte der Block wenige Meter davor. Es war ein großes Kaliber gewesen … Als wir schließlich aus dem Kamin ausstiegen, brach ein Gewitter los und es regnete in Strömen. Wir mussten uns sputen, um die flüchtenden Kühe wieder einzufangen. Bei den untersten Almhütten holten wir sie ein und trieben sie hinauf – wo uns die Senner, die natürlich unsere ganze Aktion mitbekommen hatten, ein paar schallende Ohrfeigen verpassten. Denn: Mit Gummistiefeln klettert man einfach nicht!

Es gab noch eine zweite Alm, auf der wir tätig waren: die heute verfallene Oberlappacher Hütte, eine von mehreren Bauern bewirtschaftete Genossenschaftsalm unter dem Nevesjoch. Dort arbeitete ich ein oder zwei Sommer. Die Hütte war ein einfacher Steinbau. Bei Schlechtwettereinbrüchen, wie sie auch in der warmen Jahreszeit dort oben immer wieder vorkamen, pfiff der Schnee durch die Ritzen. An einem Morgen wachte ich auf und hatte fünf Zentimeter Schnee auf meinem Bettzeug. Mir war es zu kalt, und so bin ich zum Umziehen in den Stall zu den Kühen gegangen. Dort war es angenehm warm.

Das Gelände an der Südwestseite des Schaflahnernocks war so steil, dass an ein Hinabziehen des Heus mit Schlitten nicht zu denken war. Wir trugen das Heu mit Kraxen hinab zur Staumauer oder zu tiefer gelegenen Schupfen, wo es eingelagert wurde. Als wir auf dem Hof in Lappach später die ersten Motorfahrzeuge – Einachser – hatten, nutzten wir oft die Zufahrtsstraße zum Stausee, um die Heuschlitten näher an die Schupfen heranzubringen.

Einmal war ich mit drei Schlitten unterwegs. Von der Straße hätte ich jeden Schlitten einzeln zur Almhütte unter der Staumauer tragen müssen. Also, dachte ich mir, ich staple die drei Schlitten einfach übereinander und ziehe sie gemeinsam die Böschung zur Hütte hinab. Fest musste ich die Fersen in die Erde hacken, um das Gewicht zu halten – bis mir nach etwa zehn Metern der Tritt ausbrach. Los ging die Fahrt! Nach mehr als 100 Metern tat es einen mächtigen Schlag. Alle Schlitten flogen über meinen Kopf hinweg und ich landete zuoberst auf dem Stapel – ohne einen Kratzer!

Bei allen Schwierigkeiten der Bewirtschaftung hatte die Oberlappacher Hütte einen Vorteil: Sie befand sich in wunderbarer Lage auf der Südseite der Zillertaler Alpen, direkt unter den ganzen Dreitausendern wie Hoher Weißzint, Großer Möseler oder Turnerkamp. Als ich elf oder zwölf Jahre alt war, bin ich mit Turnschuhen auf den Möseler gestiegen. Damals waren die Gletscher um vieles ausgedehnter als heute, sie hatten bedeutend mehr Eis. Ich hatte keine Steigeisen, keinen Eispickel. Um nicht aufs Eis zu kommen, sprang ich von Stein zu Stein, und kam so bis in eine Scharte knapp vor dem Gipfel. Dass ich dabei nicht abgestürzt oder in eine Spalte geflogen bin, grenzt an ein Wunder!