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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Neue Rechtschreibung

© 2019 by Obelisk Verlag, Innsbruck Wien

Lektorat: Regina Zwerger

Coverentwurf: Tina Dür

Alle Rechte vorbehalten

Druck und Bindung: Finidr, s.r.o. Český Těšín, Tschechien

ISBN 978-3-85197-904-6

eISBN 978-3-85197-940-4

www.obelisk-verlag.at

Annelies Schwarz

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Vignetten von
Winfried Opgenoorth

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Für Noah Anabiik, Jeremias, Josefine,
Johann und Conrad

Ich danke dem Freund und Historiker Frank Boldt.
Er weihte mich über Jahre in die Geheimnisse
der bezaubernden alten Stadt Prag ein, die in Jakubs
Geschichte zu einem wichtigen Schauplatz wurde
.

Stella Kromp sei Dank für ihre unermüdlichen
Übersetzungshilfen von Informationen aus der Slowakei
.

Den Liedtext: „Šilalo Paňori“ auf Seite 118
habe ich mit freundlicher Erlaubnis der Autorin und
Sammlerin von Liedern der Rom in der Slowakei:
Jana Belišová aus dem Buch:
„Odi kal’i mačkica, Rómske piesne pre deti“
entnommen.
Verlag Žudro, Bratislava.
ISBN 978-80-969659-1-5

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

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1

Der dumpfe Aufschlag auf den Fußboden weckte Jakub. Erschrocken setzte er sich im Bett auf und lauschte. Er hörte leises Scheppern von Tassen und Tellern im Regal, dann Stille.

Mit angehaltenem Atem ließ Jakub die Augen in dem kleinen dämmrigen Raum umherschweifen. Sie folgten dem schwachen Lichtstrahl von draußen, der durch die Ritzen zwischen den Brettern des Fensterladens fiel. Da sah er die gekrümmte Gestalt neben der Bettstatt am Boden.

Oma? Jakub war im Nu bei ihr, versuchte, sie zurück auf das Bett zu heben. Doch die Arme und Beine hingen kraftlos am Körper und ohne Omas Mithilfe schaffte es Jakub nicht.

Mit Augen voll Angst schaute die alte Frau ihren Enkel an. Sie versuchte zu sprechen, aber es gelang ihr nicht.

Jakub legte die Bettdecke über ihren Körper und zog sie fürsorglich über die Schultern.

„Ich hole Viola. Bin gleich wieder bei dir!“

Er schlüpfte rasch in Hose und Pullover, fuhr mit nackten Füßen in die Turnschuhe. Dann schob er den Riegel der niedrigen Tür zur Seite, drückte sie auf. Kühle und Feuchtigkeit schlugen ihm von draußen entgegen. Jakub fröstelte. Er sprang über die Schwelle des kleinen Hauses, das er mit seiner Großmutter bewohnte, nahm mit schnellen Schritten den Weg am Bach entlang, bis zur Holzbrücke.

Kaum hatte er den vom Tauwetter in den Bergen angeschwollenen Bach überquert, erreichte er das Steinhaus mit den zwei großen Fenstern, in dem Omas Freundin, die alte Viola, lebte.

Aufgeregt trommelte Jakub an das Fenster im Erdgeschoss, bis ihr verschlafenes Gesicht erschien.

„Oma geht es schlecht!“, stieß er atemlos hervor.

„Ich komme!“

Im nächsten Augenblick schon eilte Viola in ihrem hastig übergeworfenen Schlafrock Jakub hinterher.

„Olyinka, was machst du nur für Sachen!“, flüsterte Viola ihrer Freundin zu, die immer noch auf dem Boden lag. Viola kniete sich herunter, griff nach ihrer Hand.

Jakub beobachtete ängstlich Omas Gesicht. Er sah, dass sie atmete. Das beruhigte ihn, aber er wusste nicht, was er tun konnte, um ihr zu helfen.

„Was stehst du noch herum? Schnell, Junge, lauf zum Doktor!“

Violas Stimme trieb ihn an. Er durfte keine Zeit verlieren. Anrufen konnte er den Doktor nicht. Das Handy brauchte er erst gar nicht zu suchen, er hatte sowieso kein Geld, um es aufzuladen.

Wieder nahm er den Weg am Bach entlang. An dessen linkem Ufer zogen sich die einfachen, mit kleinen Fenstern und meist aus Brettern und allerlei brauchbaren Platten gebauten Häuser der Roma bis weit den Hügel hinauf.

Wieder lief er über die Brücke auf die andere Seite, an Violas Haus vorbei, dorthin, wo sich das Zentrum des Dorfes mit einem Gasthaus und der kleinen Kirche befand. Dorthin, wo die Gadsche, die Menschen, die keine Roma waren, lebten.

An diesem frühen Morgen war die Dorfstraße noch leer. Nur eine streunende Katze lief über die Wegkreuzung und verschwand eilig um die Hausecke. Glücklicherweise war auch im Haus, in dem der zwölfjährige Jan wohnte, noch alles ruhig. Dem wollte Jakub auf keinen Fall begegnen. Er fürchtete, dass er ihm wie so oft schon hinterrücks ein Bein stellen würde. Daraus war fast immer eine wilde Prügelei geworden. Die konnte Jakub heute nicht riskieren.

Er legte noch einen Schritt zu, erreichte bald den Dorfausgang.

Wie ein langes graues Band zog sich die Straße den Hügel hinauf. Fast atemlos von dem schnellen Laufen blieb Jakub auf der Höhe einen Augenblick stehen. Im weiten Tal vor ihm lag die Stadt, in der Doktor Bedrich wohnte. Er musste hinunter in das Zentrum, in die Nähe des Kirchturms, der im Vergleich zu den neuen hohen Wohnblocks am Westrand der Stadt wie ein Zwerg aussah.

Jakub lief weiter. Bergab trugen ihn die Füße leichter. Bald erreichte er die ersten Häuser der Stadt.

Doktor Bedrichs Haus erkannte Jakub schon von Weitem.

Sein kanariengelber Anstrich leuchtete aus dem Grau der anderen Häuser heraus. Oft genug hatte Jakub im letzten Winter wegen seiner Ohrenschmerzen im Wartezimmer gesessen und in den dort ausliegenden Illustrierten geblättert. Vor allem die Hochglanzbilder der Werbung faszinierten ihn. Alles auf den Bildern war neu, perfekt und schön: die Menschen mit weißer Haut, die mit strahlendem Lächeln in teuren Autos saßen, superschicke Kleidung trugen und die tollsten Smart-Phones in den Händen hielten. Als wäre es das Normalste der Welt!

Als gäbe es die andere Seite des Baches, auf der er lebte, überhaupt nicht – seine Siedlung mit den baufälligen Häusern, das Zuhause der Nachbarn und Freunde, die wie er und seine Großmutter knapp das Geld zum Überleben hatten.

„Wenn es Oma schlechter geht, gib mir sofort Bescheid. Ich komme zu ihr!“, hatte der Doktor beim letzten Besuch gesagt.

Zögernd drückte Jakub den Klingelknopf.

Laut schrillte es durch das stille Haus.

Wenig später saß Jakub neben dem Arzt im Auto. Sie fuhren in hohem Tempo zurück.

Viola erwartete sie vor der Haustür.

„Warum kommst du so spät?“, flüsterte sie Jakub aufgeregt zu.

Oma lag unter einer bunten Decke auf ihrem Bett.

„Ich konnte sie doch nicht auf dem kalten Boden liegen lassen“, sagte Viola.

Doktor Bedrichs Miene war ernst. Leise sprach er zur Großmutter, während er ihr den Puls fühlte. Dann sah er Jakub an.

„Ich muss deine Oma sofort ins Krankenhaus bringen. Hier schafft sie es nicht.“

Jakub kniff die Augen zusammen, als der Arzt eine Spritze aus der Tasche zog und sie an Omas mageren Arm setzte.

„Darf ich mit?“

Der Doktor schüttelte den Kopf. „Du darfst sie in ein paar Tagen besuchen!“

Zu Viola gerichtet, fragte er: „Wer kümmert sich um Jakub, solange seine Großmutter krank ist?“

Viola antwortete nicht gleich. Dann hörte Jakub ihre raue Stimme:

„Für den Jungen sind alle Nachbarn da. Wir sind nicht so wie Marcella, die ihre kranke Mutter und ihr Kind einfach im Stich lässt und abhaut.“

Jakub spürte einen stechenden Schmerz, als hätte Viola einen Pfeil auf ihn abgeschossen. Er sah auf.

Warum sagte sie das jetzt? Mama war Marcella. Mehr als sechs Jahre war es her, dass er sie das letzte Mal gesehen hatte. Seit sie ihn allein bei Oma zurückließ, weil sie zum Geldverdienen fortgehen musste. Und jedes Mal, wenn er Oma fragte, warum sie nicht zurückkäme, gab sie ihm die gleiche Antwort:

„Es ist auch in der Fremde schwer, Geld zu verdienen. Aber sie hat dich lieb, Jakub, das weiß ich.“

Großmutter ist meine beste Ersatzmutter geworden, dachte er. Aber was ist, wenn sie aus dem Krankenhaus nicht mehr zu mir zurück kommt? Wenn sie sterben würde?

Tränen drängten sich in seine Augen. Niemand sollte sie sehen, Jakub wischte sie fort. Er wollte stark sein. Der Arzt verstaute die Spritze in der Tasche und Jakub hörte, wie er einen Krankenwagen anforderte.

„Oma wird doch wieder gesund?“

Doktor Bedrich spürte die Angst in Jakubs Frage. Er legte die Hand auf seine Schulter.

„Sie hat einen Schlaganfall erlitten. Im Krankenhaus wird alles für sie getan werden, damit es ihr wieder besser geht.“

Jakub konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Er lief aus dem Haus und rannte ein paar Schritte den Bach hinunter.

Wie ein Kloß steckte etwas in seiner Kehle. Wenn er doch schreien könnte! Alle lassen sie mich im Stich, Mama, Papa, Oma!

Schon hatte er das Haus seines Freundes Milan erreicht. Es war das unterste in der Häuserreihe diesseits des Baches. Dann begannen die Koppeln, auf denen in der warmen Jahreszeit die Pferde des wohlhabenden Bauern Valentin aus dem Dorf grasten.

Jakub setzte sich unter das kleine Vordach der Haustür. Zum Anklopfen war es zu früh.

Langsam ließ die Anspannung nach. Von hier aus konnte er sehen, wie die Sanitäter Oma auf der Pritsche in den Krankenwagen trugen. Aus der Entfernung war der Abschied von ihr für Jakub erträglicher als von ganz nah.

Im Haus hinter ihm wurde es lebendig. Jakub hörte, wie Milans Mutter die vier Kinder mit lauter Stimme aus den Betten scheuchte, wie sein Vater mit dem trockenen Raucherhusten kämpfte. Von innen wurde ein Fenster aufgestoßen. Milan hatte Jakub entdeckt. Im Handumdrehen war er draußen.

„Kommst du mit zur Hochzeit?“

Jakub schüttelte den Kopf. „Geht nicht. Wegen Oma.“

Jakub liebte es, mit Milan, wie mit Oma und Maria, in seiner Muttersprache Romani zu sprechen. Die Sprache, die ihm vertraut war, bevor er zur Schule ging. Dort hatte er dann wie alle anderen Schüler auch noch die Landessprache Slowakisch gelernt.

Milan hörte zu, wie Jakub von ihrem Schwächeanfall erzählte, von seiner riesigen Angst, dass sie sterben könnte, davon, dass er wie ein Marathonläufer zum Doktor gerannt war.

Milan wusste, wie sehr Jakub seine Großmutter mochte und brauchte.

„Bestimmt kommt sie bald wieder nach Hause“, tröstete er ihn.

Sie hatten nicht viel Zeit zum Reden, denn Milans Mutter drängte zur Eile.

Die ganze Familie musste sich sputen, um den Autobus in die Stadt zur Hochzeit einer Tante noch rechtzeitig zu bekommen.

Inzwischen hatte Nieselregen eingesetzt, dazu kam Wind auf, der Jakub kalt um die Ohren blies. Mit müden, hängenden Schultern trottete er nach Hause.

In dem kleinen Raum ließ er sich auf Omas Bett fallen, legte den Kopf auf das Kissen und stellte sich ihr Gesicht vor. Wie sie ihn anlächelte.

Wenn er die Augen schloss, konnte er glauben, dass sie bei ihm im Raum war.

Dann überwältigte ihn die Müdigkeit.

„Jakub?“

Violas Stimme. „Komm rüber, ich mach dir was zu essen!“

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2

Am nächsten Tag war Milan mit seiner Familie noch nicht zurück.

Jakub trieb sich allein auf dem bewaldeten Hügel herum, der die Siedlung gegen die kalten Nordwinde abschirmte.

Nichts hatte ihn in dem Haus gehalten, das er mit Oma bewohnte, das nur aus einem kleinen Raum mit einem dahinter liegenden Verschlag bestand.

Ohne Oma war es leer.

Jakub lief bergauf durch den Tannenwald, folgte dem Bach in die Höhe, der zwischen großen Gesteinsbrocken gurgelnd hinab in das ins Tal lief.

Auf halber Höhe zog es ihn an den Waldrand, an dem die Schneedecke und das Eis längst abgetaut waren. Er lehnte sich an den Stamm einer mächtigen Buche. Von dort hörte er den Rufen der Bussarde hoch in den Wolken zu.

Vor Jakub lag die Lichtung, auf der verrottende Baumstämme aus dem Waldboden ragten. Sie streckten ihm skurril aussehende Wurzeln wie lange Finger entgegen. In seiner Vorstellung verwandelten sie sich in Drachen und seltsame Wesen, die er aus dem Holz schnitzen könnte. Wenn ihm nur nicht kürzlich beim Späneschneiden für das Herdfeuer die Klinge seines einzigen Taschenmessers abgebrochen wäre!

Um Jakub herum wuchsen allmählich die Schatten, die von den hohen Bäumen im Westen geworfen wurden. Er kletterte auf einen Felsblock. Seine Blicke schweiften ins Dorf hinunter. Bis hin zu den Koppeln.

Dem Bauern Valentin vom anderen Ende des Dorfes durften Milan und er im letzten Jahr helfen, die Pferde auf die Weide zu bringen und zu striegeln. Als Lohn bekamen sie jedes Mal Milch und ein paar Eier. Etwas Geld wäre ihnen lieber gewesen. Sie hatten ihn öfter darum gebeten.

„Was für dummes Zeug wollt ihr euch dafür kaufen? Etwa Zigaretten? Ist besser, ihr bringt was zu essen nach Hause!“

Dabei war es geblieben.

Die Arbeit mit den Pferden hätte auch Jan gefallen. Obwohl er wie Valentin ein Gadscho war, ließ der Bauer ihn nicht zu seinen Tieren. Er fand, dass Jakub und Milan ihre Sache gut machten. Darauf war Jan neidisch. Er fing Streit mit ihnen an, wo immer er Gelegenheit dazu fand. Im Handumdrehen gab es dann meist einen Kampf zwischen den Jungen im Dorf: Gadsche gegen Roma. Egal, wie die Prügelei ausging, immer hieß es, die Roma hätten angefangen! Und das „immer“ stimmte nicht!

Jakub freute sich auf die Pferde. Nach den Osterferien war es bald so weit. Vielleicht erlaubte ihm Valentin dieses Jahr, auf dem schwarzen Hengst Hektor zu reiten! Das stolze Tier ließ sich von keinem so willig führen wie von ihm. Jakub hob den Kopf, schaute weiter in die Ferne, bis zum Horizont im Süden, an dem die Bergkette den Himmel berührte.

Bis dorthin wollte er auf Hektor reiten! Das war seine Sehnsucht.

Omas Worte, die er so gern hörte, waren auf einmal in seinem Kopf.

„Sicher hätte sich mein Vater über dich und deine Liebe zu den Pferden gefreut. In seiner Jugend hat er Traber trainiert, weil die Züchter ihn für seinen guten Umgang mit den sensiblen Tieren schätzten.“

In Jakubs Gedanken kräuselte sich mehr und mehr eine dünne Rauchsäule hinein. Sie kam geradewegs aus dem Knierohr, das knapp unter dem Dach eines kleinen Hauses hervortrat, und zog den Hügel zu ihm hinauf.

Für Jakub war der Rauch eine Botschaft seiner Cousine Maria. Er war fest davon überzeugt, dass jetzt der Suppentopf auf dem Ofen stand und Maria ihn erwartete.

Er rutschte vom Felsblock herunter und begann den Hügel hinab zu laufen. Marias Haus lag unterhalb der Senke, auf der Baumstämme auf den Abtransport warteten. An manchen Stellen war die Grasnarbe aufgerissen und Jakub kam auf dem abschüssigen, seifenglatten Boden ins Rutschen.

Ohne Halt zu finden, steuerte er geradewegs auf die Stalltür hinter dem Haus zu und stieß hart dagegen. Im Nu war er von Marias drei kleinen Brüdern umringt. Unter Gelächter zogen und zerrten sie ihn ins Haus.

Drinnen kramte Maria Hose und Sweatshirt von ihrem älteren Bruder aus dem Schrank.

„Zieh das an, deine dreckigen Sachen wasche ich aus. Bis sie getrocknet sind, kannst du in Nicos Klamotten herumlaufen. Sie passen ihm sowieso nicht mehr, da ist er rausgewachsen!“

Jakub wusste, dass Nico vor ein paar Wochen mit einem Freund aus der Siedlung fortgegangen war, irgendwohin, wo es für ihn Geld zu verdienen gab. Seit er nicht mehr zur Schule ging, hatte er sich auf die Suche nach Arbeit gemacht. Doch seine Suche war ohne Erfolg geblieben. Nun wollte er es in der Fremde versuchen.

Die Hosenbeine des Cousins waren Jakub viel zu lang, er schlug sie um, bis sie passten.

„Du musst mehr essen!“

Maria konnte fast mit beiden Händen seine Taille umfassen. „Siehst immer noch aus wie ein Sperling!“

Das Sweatshirt mit dem aufgedruckten Flugzeug schlackerte lose um Jakubs Körper. Er sah an sich herunter und fand sich trotz der Sperlingsfigur richtig gut.

„Darf ich die Sachen anbehalten, wenn ich Oma im Krankenhaus besuche?“

„Sicher!“

Als Maria den Suppentopf vom Herd hob, flitzten die Kinder auf ihre Plätze um den Tisch. Jakub setzte sich dazwischen und begann wie sie, die von Maria eingeschenkte Suppe zu verspeisen.

Der Geruch von gekochtem Kraut und einer Spur Speck zog dabei in ihre Nasen, waberte durch den Raum und blieb unter der niedrigen Decke hängen.

Jakub mochte Maria. Er fand sie schön mit dem langen, dunklen Haar und den lustigen Lichtern in den Augen. Sie kümmerte sich um die kleinen Brüder, solange Vater und Mutter nicht zu Hause waren. Auch sie mussten wie Jakubs Mutter die Familie verlassen, um an anderen Orten Arbeit zu finden. Doch sie kamen wenigstens ab und zu nach Hause. Erst zu Weihnachten hatte Marias Vater eine zweite Ziege, die im Mai ein Zicklein werfen würde, in den Stall gestellt. So einen Vater hätte Jakub auch gern gehabt.

Wo sein Vater war, wusste er nicht. Er kannte ihn nicht einmal.

Sein Traum fiel ihm plötzlich ein. Wie ihm sein Vater von weit her auf einem schweren Motorrad entgegengekommen war! Er fuhr ganz langsam, und obwohl er kein leuchtendes Schwert trug, sah er aus wie ein Yedi Ritter. Seine Rüstung und der Helm glänzten in der Sonne.

Jakub spürte auf einmal wieder, wie er voll Erwartung gewesen war. Endlich würde er Vater sehen, sein Gesicht erkennen! Aber kurz bevor ihn Vater auf dem Motorrad erreicht hatte, war er aufgewacht. Seine Hoffnung, den Traum noch einmal mit einem besseren Ende zu träumen, erfüllte sich nicht.

Maria hatte bemerkt, wie Jakubs fröhliches Gesicht auf einmal so ernst wurde.

„Iss, Sperling, und schau nicht so traurig. Oma wird sicher wieder gesund!“

Sie schenkte ihm eine volle Kelle Suppe nach.

Die munteren Kinder und Marias Zuspruch verscheuchten Jakubs trübe Gedanken.

„Kommst du morgen wieder?“, fragte seine Cousine, bevor sich Jakub auf den Heimweg machte.

„Ja. Aber es wird spät werden. Morgen besuche ich Oma im Krankenhaus.“

Jakub wollte gerade seine Haustür öffnen, als er von der anderen Seite des Baches her Violas Stimme hörte. Er drehte sich um und sah, wie sie mit einem schlanken jungen Mann aus dem Haus trat. Der stieg in den an der Seite abgestellten Kleinbus. Viola winkte ihm nach, als er eilig davonfuhr.

Jakub hatte keine Ahnung, wer der späte Besucher von Viola war. Auch den Bus mit den vielen Roststellen im grünen Lack hatte er noch nie bei ihr gesehen.

Schnell verschwand er im Haus. Im Dämmerlicht zog er Nicos Jeans und das Sweatshirt aus, strich die Sachen über der Stuhllehne glatt und legte sich auf die schmale Liegestatt an der Wand.

Er tastete nach dem Schnitzmesser auf dem Regalbrett, befühlte die abgebrochene Klinge.

Wenn mich hier jemand überfallen will, wehre ich mich damit, sagte er sich.

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3

Viola wunderte sich, dass die Fensterläden am Haus ihrer Freundin um die Mittagszeit noch immer geschlossen waren. Die Tür war von innen verriegelt.

Sie klopfte.

„He, Jakub! Bist du noch da?“

Nichts rührte sich. Ihre Rufe und ihr Klopfen wurden energischer.

Jakub hörte sie endlich und torkelte schlaftrunken zur Tür, schob den Riegel zur Seite.

„Hast du heute keine Schule?“, herrschte Viola Jakub an.

„Hab verschlafen!“

„Das sehe ich!“

Zwölf Glockenschläge vom Kirchturm machten Jakub lebendig!

„Viel zu spät für die Schule! Außerdem will ich jetzt gleich zu Oma ins Krankenhaus!“

„Vergiss ja nicht, dich bei deiner Lehrerin zu entschuldigen!“

„Das mach ich morgen.“

„Besser du sagst es heute!“

„Wenn ich nachsitzen muss, komm ich zu spät zu Oma.“

„Ach, mach was du willst!“, sagte Viola barsch.

Bevor sie fortging, drehte sie sich noch einmal zu Jakub um.

„Sag Olyinka, ich komme am Nachmittag auch zu ihr! Hab gute Neuigkeiten für sie. Und bevor du losgehst, hol dir bei mir noch eine Semmel ab. Musst ja was essen!“

Damit verschwand die Nachbarin und Jakub begann, sich nach der schnellen Katzenwäsche Nicos Sachen anzuziehen.

Er schaute in den kleinen, fast blinden Spiegel an der Wand und fuhr mit dem Kamm durch das schwarze, kurze Haar.

Er fand sich gut und zwinkerte seinem Spiegelbild zu.

Ein Schritt vor die Haustür ließ ihn vor Kälte zusammenfahren. Rasch zog er die Winterjacke vom Haken, setzte die Mütze auf und verließ das Haus.

Viola wartete an der Brücke und reichte ihm die Tüte mit der Semmel. Sie drückte ihm ein paar Münzen in die Hand.

„Nimm den Bus wenigstens für die Hinfahrt!“

Der Bus zum Krankenhaus in der Stadt stand schon am Dorfplatz abfahrbereit.

Jakub suchte sich einen Fensterplatz in der letzten Reihe, packte die Semmel aus und biss hungrig hinein.

Er genoss die Busfahrt durch die Nachbardörfer, in denen immer wieder Leute zustiegen, bis der Bus die Haltestelle vor dem Krankenhaus erreichte. Zusammen mit anderen Besuchern stellte sich Jakub in der Eingangshalle in eine Warteschlange.