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GIORGIO SCERBANENCO

EIN DUCA LAMBERTI ERMITTELT PFLICHTBEWUSSTER MÖRDER

Aus dem Italienischen von Christiane Rhein

Mit einem Nachwort von Gianrico Carofiglio

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Inhalt

ERSTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

ZWEITER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

DRITTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

VIERTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

FÜNFTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

SECHSTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

SIEBTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

NACHBEMERKUNG

ERSTER TEIL

Die Massengesellschaft hat zu einer Massenkriminalität geführt. Heutzutage ist es nicht mehr denkbar, dass die Polizei nach einzelnen Verbrechern fahndet; heutzutage werden kurzerhand Razzien durchgeführt, und dabei bedient man sich der Schleppnetze der verschiedenen Einheiten, sei es nun das Drogendezernat oder die Einheit für Menschenhandel mit Frauen aller Hautfarben – weiß, schwarz, gelb –, die Einheit für Raubüberfälle, für Geldfälschung oder für Zockerei. Die Netze werden durch das trübe Meer des Verbrechens gezogen, und so bleiben abscheuliche Fische aller Art darin hängen, kleine und große, und es kommt zu einer allmählichen Säuberung. Nur blieb dabei keine Zeit, nach einer fast zwei Meter großen und zwei Zentner schweren, geistig behinderten jungen Frau zu fahnden, die von zu Hause verschwunden war, untergetaucht in dem unendlich weiten Mailänder Häusermeer, in dem Tag für Tag Leute verschwinden und es praktisch unmöglich ist, sie wiederzufinden.

1

Duca Lamberti sagte: „Ja.“ Nicht, dass er dabei war, jemanden zu verhören; er stimmte einfach nur mit seinem Gesprächspartner überein.

Der alte Mann, der ihm an seinem Schreibtisch gegenübersaß – robust, breit, muskulös, mit buschigen Augenbrauen und Haaren in den Ohren –, nahm seinen Faden wieder auf. „Jedes Mal, wenn ich aufs Polizeirevier kam, sagte der Kommissar: ‚Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden Ihr Töchterchen schon ausfindig machen. Ein wenig gedulden müssen Sie sich allerdings, denn leider haben wir furchtbar viel zu tun!‘ Einmal pro Woche bin ich ins Kommissariat gegangen, und immer wurde mir dasselbe mitgeteilt, nämlich dass sie meine Tochter schon finden würden. Inzwischen sind fünf Monate vergangen – fünf! –, und es ist noch immer nichts passiert. Ich kann nicht mehr, Brigadiere, ich kann einfach nicht mehr! Bitte tun Sie etwas, ich flehe Sie an! Sonst werde ich noch verrückt!“

Duca Lamberti war kein Brigadiere*, doch korrigierte er den Alten nicht. Es lag ihm nicht, andere Menschen zu berichtigen, er wollte ihnen nichts beibringen. Aufmerksam musterte er den Mann vor sich, der so betagt eigentlich gar nicht war. Die Sechzig hatte er bestimmt noch nicht überschritten. Er blickte diesem kämpferischen und doch gutmütigen kleinen Stier ins Gesicht, das von einer schmerzlichen Grimasse verzogen und den Tränen nahe war. „Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um sie zu finden“, beschwichtigte er ihn.

Eigentlich war es eine einfache Geschichte. Ein Mädchen war ohne ersichtlichen Grund von zu Hause weggelaufen, der Vater hatte ihre Flucht im Bezirkskommissariat angezeigt, und der zuständige Kommissar hatte getan, was er konnte, um sie wiederzufinden, doch viel war das nicht gewesen, im Grunde fast nichts, eigentlich gar nichts. Nach fünf Monaten war der gepeinigte Vater schließlich im Hauptkommissariat erschienen, da er, wie alle Italiener, annahm, er würde vielleicht mehr Erfolg haben, wenn er den zuständigen Beamten vor Ort überging und direkt mit dessen Chef sprach. Und so war er bis zu Carrua vorgedrungen, der wie immer überarbeitet war und den Alten deshalb an ihn, Duca Lamberti, weiterverwiesen hatte, damit er sich um die Sache kümmerte. „Der Mann tut mir leid. Tu für ihn, was du kannst“, hatte Carrua zu ihm gesagt. Und deswegen saßen sie jetzt hier.

„Wie alt ist Ihr Töchterchen denn?“, erkundigte er sich und nahm ein unbenutztes Oktavheft aus einer Schreibtischschublade. Er versuchte, auf sein Gegenüber einzugehen, indem er die gleichen liebevollen Worte und denselben einfühlsamen Ton benutzte, in dem der Alte die ganze Zeit von seiner Tochter gesprochen hatte.

„Achtundzwanzig“, antwortete der, und sein Gesicht nahm nach der schmerzerfüllten Grimasse von eben wieder einen normalen Ausdruck an.

Duca Lamberti legte den Bleistiftstummel neben sich auf den Tisch, gleich neben sein Heftchen. Gern hätte er geglaubt, er habe sich verhört und der Alte habe in Wirklichkeit achtzehn gesagt. Doch er wusste ganz genau, dass das nicht stimmte. Sein Gehör funktionierte einwandfrei, und der Mann hatte tatsächlich achtundzwanzig gesagt. Es musste sich also um ein Missverständnis handeln. Er hatte geglaubt, es ginge um eine Minderjährige, die mit einem zwielichtigen Typ durchgebrannt war; doch eine achtundzwanzigjährige Frau ist keine Minderjährige. Und das sagte er dem struppigen Alten, der sogar im Gesicht und auf den Händen dicht behaart war und ihn aus seinen brennenden, tief in den Höhlen liegenden grauen Augen aufmerksam ansah. „Eine achtundzwanzigjährige Frau ist doch kein Kind mehr“, bemerkte er, und um nicht in diese intensiven Augen sehen zu müssen, fixierte er den Handrücken seines Gegenübers mit dem dichten Pelz aus weißen, schwarzen und grauen Haaren. „Vielleicht hat Ihre Tochter einfach beschlossen, mit einem Mann mitzugehen, der ihr gefällt. Dann kann man allerdings nicht von Flucht oder Entführung sprechen; dann geht es einfach um ein achtundzwanzigjähriges Mädchen, das wegen eines Mannes ihr Elternhaus verlassen hat.“

Doch der Alte schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Meine Tochter ist ein kleines Mädchen und wird das auch immer bleiben, selbst wenn sie hundert werden sollte.“ Schweigen. Duca deutete ein Nicken an. Jemandem, der so litt wie dieser alte Mann, wollte er nicht widersprechen. Er begriff, dass eine Tochter für ihren Vater möglicherweise auf immer ein Kind bleibt, selbst wenn sie hundert wird. Bloß sind solche zärtlichen, väterlichen Gefühle vor dem Gesetz vollkommen belanglos. Und das sagte er dem Mann, der ihm an diesem ruhigen, milden, spätsommerlichen Septembermorgen gegenübersaß: „Ich verstehe, was Sie meinen; doch wenn eine achtundzwanzigjährige Frau beschließt, von zu Hause wegzulaufen, dann können wir gar nichts machen.“

Da gab sich der Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs einen Ruck und stieß mit bitterer, verzweifelter Entschlossenheit aus: „Meine Tochter ist geistig zurückgeblieben.“ Er senkte den Kopf. „Sie wurde bereits behindert geboren und hat jetzt die Intelligenz eines achtjährigen Mädchens, auch wenn sie achtundzwanzig ist. Zu Weihnachten hat sie sich eine Nähmaschine gewünscht, eine dieser Spielzeugnähmaschinen für Kinder. Stellen Sie sich vor, zu Hause habe ich eine echte Borletti stehen, neuestes Modell, vor einiger Zeit auf Raten gekauft und noch nicht mal vollständig abbezahlt! Aber ich kann es einfach nicht ertragen, wenn sie weint, und so hat sie ihre Spielzeugmaschine bekommen und näht damit Puppenkleider; denn sie spielt immer noch mit Puppen, ein ganzes Zimmer hat sie voll davon!“

Duca stand auf und trat ans Fenster. Diese Geschichte schien trauriger zu sein, als es am Anfang den Anschein gehabt hatte. Trauriger und komplizierter. Eine geistig Behinderte. Ohne sich umzudrehen, fragte er: „Ist Ihre Tochter jemals in einer psychiatrischen Anstalt gewesen?“

„O nein!“, antwortete die tiefe, etwas raue Stimme des Mannes hinter Ducas Rücken. „Wir haben sie immer bei uns zu Hause gehabt.“

Duca nickte. Er begann zu begreifen. Das schwere Schicksal dieses Mannes nahm langsam Konturen an. „In die Schule haben Sie sie nicht geschickt?“, erkundigte er sich, noch immer abgewandt.

Die alte, etwas borstige Stimme hinter seinem Rücken erwiderte: „Nein, die anderen Kinder hätten sie ausgelacht. Und außerdem hätte sie da sowieso nichts gelernt.“

Das sah Duca ein. „Aber Ihre Tochter kann lesen und schreiben?“

„Ja, meine Frau, die gute Seele, hat es ihr beigebracht.“ Er benutzte genau diese Wendung, meine Frau, die gute Seele, und wollte damit wohl ausdrücken, dass seine Frau gestorben und er Witwer war. „Und auch meine Schwägerin Stefana, die gute Seele, die wie eine zweite Mutter zu ihr gewesen ist.“

Dann war er also doppelter Witwer. Duca wandte sich um. „Sie hatten sicher einen Arzt, der sich um Ihre Tochter kümmerte?“

„Natürlich“, bestätigte der Alte in einem Ton, als wolle er sagen: „Glauben Sie etwa, ich würde meiner Tochter eine adäquate ärztliche Behandlung vorenthalten?“ Und dann fügte er hinzu: „Der Arzt kam mindestens einmal im Monat. Aber meine Tochter ist nicht verrückt, sie ist nur ein wenig … ein wenig.“

Duca dachte: Gleich wird er sagen: Sie ist nur ein wenig zurückgeblieben.

Der Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs nahm sich zusammen: „Sie ist nur ein wenig zurückgeblieben.“ Er schluckte. „Ihr Körper ist älter geworden, ihr Geist nicht.“

Duca setzte sich wieder. Langsam begann eine bittere Erkenntnis in ihm zu reifen. Es gibt Hunderte, vielleicht Tausende oder gar Zehntausende von Familien, die ihre körperlich oder geistig behinderten, epileptischen oder sexuell pervertierten Kinder zu Hause behalten, ja, sie regelrecht wegschließen. Die Reichen bringen solche Kinder normalerweise in einer Klinik unter, doch die weniger Betuchten, die sich das nicht leisten können, verstecken sie bei sich zu Hause, denn sie empfinden es nicht nur als einen Schlag des Schicksals, sondern auch als tiefe Schande, wenn ihr Kind mit zwanzig noch gefüttert werden muss und ins Bett pinkelt. Und so schieben sie ihren sabbernden Sprössling, der mit zwölf Jahren womöglich schon hundert Kilo wiegt, aber immer noch nicht laufen kann, im Rollstuhl durch die Wohnung und überschlagen sich, um ihr hartes Los zu verbergen oder wenigstens herunterzuspielen und Freunde und Bekannte davon zu überzeugen, dass es sich doch eigentlich nur um eine etwas langwierige Krankheit handelt, um etwas, das zwar traurig, aber im Grunde völlig normal ist. Auch dieser alte Mann und seine Frau, die gute Seele, mussten sich so verhalten haben, bis ihre Tochter achtundzwanzig und auf einmal von zu Hause weggelaufen war.

„Wer war denn ihr behandelnder Arzt?“, erkundigte sich Duca.

„Professor Fardaini“, erwiderte der Vater prompt. In seiner Stimme schwang jedoch kein Stolz mit; er sprach eher im Ton eines Menschen, der weiß, dass er seine Pflicht getan hat.

Und das hatte er tatsächlich, dachte Duca: Giovanni Fardaini war der beste Psychiater, Neurologe, Endokrinologe, Biologe und wer weiß, was sonst noch alles, in Italien. Seit Jahren erwartete die Fachwelt, dass er den Nobelpreis erhalten würde, und sicher bekam er ihn tatsächlich bald. Darüber hinaus war er einer der teuersten Spezialisten in ganz Europa, und Duca zog es vor, nicht darüber nachzudenken, wo dieser Alte, der weder ein Ölscheich noch ein Rockefeller zu sein schien, wohl das Geld aufgetrieben hatte, um jemanden wie Fardaini zu bezahlen. Schließlich gibt es ja auch genug alte, verarmte Damen von Adel, die im Supermarkt das Katzenfutter mitgehen lassen, um ihren räudigen Liebling zu päppeln, der im Sterben liegt.

„Was hat Professor Fardaini denn über die Krankheit Ihrer Tochter gesagt?“, wollte Duca wissen.

Der Alte bedeckte die Augen mit der flachen Hand. „Er sagte immer ein Wort.“

„Welches Wort?“

„Elefantiasis“, flüsterte der Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs.

Duca nickte. Elefantiasis. Das war ein relativ allgemeiner Begriff. Professor Fardaini hatte seiner Diagnose sicher noch jede Menge gelehrter Fachwörter hinzugefügt, doch dieser arme, alte Mann erinnerte sich nur an das eine Wort, „Elefantiasis“, das ihm vermutlich besonderen Eindruck gemacht hatte, weil es ihn an die Elefanten im Zoo erinnerte. Die Bezeichnung Elefantiasis an sich sagte so gut wie gar nichts aus, doch es hatte wahrscheinlich wenig Sinn, dem Mann medizinisch genauere Fragen zu stellen. Deshalb sagte Duca nur: „Wie viel wiegt Ihre Tochter denn?“

Die grauen Augen blinzelten überrascht in ihren tiefen Höhlen, doch dann schien der Mann zu begreifen, was Duca wissen wollte, und antwortete umgehend und präzise, denn über die Einzelheiten, die die Krankheit seiner Tochter angingen, war er bestens informiert: „Fünfundneunzig Kilo.“

„Und wie groß ist sie?“, fuhr Duca fort.

Die Antwort kam prompt und doch ein wenig gepresst, als gebe der Alte etwas Ungehöriges preis: „Einen Meter fünfundneunzig.“

Duca nickte wieder. Es mag ja Frauen geben, die fünfundneunzig Kilo wiegen; aber einen Meter fünfundneunzig groß werden nur sehr wenige. Er fragte weiter: „Ist Ihre Tochter irgendwie unproportioniert? Ich meine, hat sie zum Beispiel einen Arm, der kürzer ist als der andere? Oder ein Bein, das dick, und eins, das dünn ist? Oder einen fehlenden Finger oder so?“

Doch jedes Mal schüttelte der Mann den Kopf, und schließlich unterbrach er Duca ungeduldig: „Meine Tochter ist wunderschön!“ Fast wütend zog er einige Fotos aus seiner Brieftasche, Format sechs mal sechs. „Hier, die sind von mir. Ich habe sie immer selbst fotografiert, denn Fotografieren ist mein Hobby.“ Er legte die Aufnahmen wie einen Fächer Spielkarten vor Duca hin. Seine Stimme vibrierte vor Liebe und Stolz darauf, dass seine Tochter so schön war.

Wunderschön. Duca blätterte die Fotografien nacheinander auf den Tisch und sah sie sich dabei sorgfältig an. Die Bilder waren auch technisch von hervorragender Qualität. Das erste zeigte das liebliche Antlitz einer jungen Frau, die aussah wie eine schwedische Schönheit, aber mit dem Profil einer römischen Statue. Ihr Gesicht war keineswegs pausbäckig, sondern schlank und wohlgeformt, denn bei einer Größe von eins fünfundneunzig verteilen sich selbst fünfundneunzig Kilo. Wunderschön waren auch ihre langen Haare, die in einem fast unwirklichen Silberblond glänzten. Während Ducas Blick auf dem Porträt, auf dieser Spielkarte mit der unerwartet schönen Dame ruhte, fragte er: „Lässt sie sich die Haare färben, oder sind die echt?“

„Echt, echt“, antwortete der Alte mit warmer Stimme. „Sie ging nie aus dem Haus, nicht einmal in Begleitung, denn immer starrten die Leute sie ungeniert an, und manchmal liefen sie ihr sogar hinterher und wurden ziemlich lästig. Zum Friseur hätten wir sie da nie bringen können! Meine Frau, die gute Seele, und meine Schwägerin haben sich immer selbst um sie gekümmert, auch um ihre Körperpflege. Aber die Haarfarbe ist echt. Und so lang sind sie, weil ich immer dagegen war, sie abzuschneiden.“

Duca nahm das nächste Foto zur Hand, auf dem die Tochter seines Gesprächspartners in voller Statur abgebildet war. Sie stand neben dem Sofa und war in ein helles Licht getaucht, das sanft durchs Fenster fiel und ihre marmorne Schönheit noch unterstrich. Man musste unwillkürlich an eine Plastik denken, an eine blumenumrankte Freiheitsstatue, die mit wogendem Busen, den nackten Schoß mit nichts als einem bronzenen Schleier bedeckt, in der Hand eine wehende Fahne, wie ein bronzener Bersaglieri auf einem Sockel steht, der mit seinem langen Gewehr aus dem Ersten Weltkrieg zum Angriff stürmt.

Das dritte Foto zeigte das Mädchen im Badeanzug an einem einsamen Strand.

„Im Sommer fahren wir manchmal zusammen ans Meer“, erklärte der Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs. „Einfach ist das nicht, wissen Sie, aber wir haben eine kleine, einsame Bucht in der Nähe von Comacchio entdeckt, wo es bisher nichts als eine Fischerhütte gibt, die direkt am Strand steht. Wenn zufällig doch mal jemand vorbeikommt, können wir sie schnell in diese Hütte bringen.“

Obwohl der Körper der jungen Frau an eine riesige Skulptur erinnerte, war er doch etwas grundsätzlich anderes und viel schöner als jede Statue, denn keine Plastik erreicht die Harmonie und die vollkommenen Proportionen eines menschlichen – insbesondere eines weiblichen – Körpers, wenn dieser wirklich harmonisch gebaut ist. Und das Mädchen auf dem Foto besaß einen solchen Körper von vollkommener Harmonie. Nur die einen Hauch nach vorn gebeugten Schultern trübten das Bild absoluter Vollkommenheit ein wenig, steigerten ihre Schönheit dadurch aber in gewissem Sinne sogar noch.

„Warum haben Sie sie denn versteckt gehalten?“, wollte Duca wissen. „Natürlich ist sie außergewöhnlich groß, aber eine einzigartige Erscheinung ist sie nun auch wieder nicht. Es gibt Basketballspielerinnen, die sind fast so groß wie sie.“

Der Alte senkte den Kopf. „Weil …“, begann er, stockte dann aber plötzlich und sprach nicht mehr weiter.

* Unteroffizier der Carabinieri (Anm. d. Ü.)

2

Duca wartete eine ganze Weile, dann hakte er nach: „Weil?“

Der Alte hob den Kopf, leckte sich nervös über die Lippen und brachte schließlich heraus: „Weil sie allen Männern hinterherschaute.“ Er machte eine kurze Pause und begann dann, diese peinliche Situation geduldig zu erklären. „Eigentlich hätten wir sie schon mit auf die Straße nehmen können. Die Leute hätten sie angestarrt, groß wie sie war, aber von mir oder meiner Frau begleitet, wäre sie wenigstens ein bisschen an die frische Luft gekommen. Wir haben das auch probiert, aber es war unmöglich.“

Duca wartete, aber sein Gegenüber sprach nicht mehr weiter. Also erkundigte er sich: „Warum war es denn unmöglich?“ Bereit, seine beschämende Situation bis ins letzte Detail vor Duca auszubreiten, erklärte der Alte: „Weil sie allen männlichen Wesen zulächelte. Stellen Sie sich das doch mal vor: Die Männer verschlangen sie sowieso schon mit den Blicken – und dann strahlte meine Tochter sie auch noch an! Einmal mussten meine Frau, meine Tochter und ich in einen Kurzwarenladen flüchten, weil uns drei junge Männer wie hungrige Wölfe immer dichter auf die Pelle gerückt waren, sodass ich einen von ihnen schließlich wegschubsen musste. Die anderen beiden wollten schon über mich herfallen, doch meine Frau, die gute Seele, zog mich in letzter Sekunde in den Laden – wer weiß, was sonst geschehen wäre! Seit diesem Vorfall haben wir auf unsere Spaziergänge verzichtet.“

Duca konnte sich die Szene lebhaft vorstellen: ein einen Meter fünfundneunzig großes Mädchen, das schöner war als die schönste Siegesstatue, ob nun mit oder ohne Flügel, und ein Schwarm Latin Lover, einige davon aus dem tiefen, heißblütigen Süden, die diese lebendige Freiheitsstatue lüstern umzingelten und sich keinen Deut darum scherten, dass sie von Vater und Mutter begleitet wurde, sondern sogar bereit gewesen wären, die Eltern zu verprügeln, nur um sich der herrlichen Riesin zu nähern. Und die ihre Kreise immer enger und enger um sie zogen, genau wie bei einer Safari, wo der Löwe allmählich und unerbittlich eingekreist wird.

„Der Arzt sagt, das sei eine Krankheit“, nahm der Alte seinen Bericht mit borstiger Stimme wieder auf. „Mein Töchterchen ist ein ehrbares Mädchen, aber sie ist eben krank. Es ist eine Krankheit, dass sie alle Männer ansieht, ihnen zulächelt und zu allem bereit ist, egal, was sie von ihr verlangen.“

Ja, das war eine Krankheit. Duca wusste, dass es zahlreiche Bezeichnungen dafür gab, im allgemeinen Sprachgebrauch übliche wie Nymphomanie oder Fachbegriffe wie Erethismus. Mit Sittsamkeit oder Moral, Erziehung oder Umwelt hatte das nichts zu tun. Im Körper der Betroffenen flackerte eine ewige Flamme unersättlicher sexueller Begierde, die sie immer wieder zu unschicklichem Benehmen veranlasste und sie in jeder Hinsicht – sozial, moralisch und auch körperlich – ruinierte.

„Das ist der Grund, weshalb wir nicht mehr mit ihr ausgegangen sind und sie auch nie mehr allein gelassen haben: Der erstbeste Mann, der zu ihr gesagt hätte: ‚Komm mit‘, dem hätte sie die Hand gegeben und wäre ihm ohne zu zögern gefolgt. Solange meine Frau noch lebte, hat sie unermüdlich über sie gewacht. Und als sie starb, ist meine Schwägerin eingesprungen – Gott segne sie! –, sodass ich meiner Arbeit bei Gondrand weiter nachgehen konnte.“ Er legte eine kleine Pause ein.

„Meine Schwägerin hat sich rührend um sie gekümmert und ihr sogar beigebracht, wie man sich am Telefon meldet und die Waschmaschine und den Fernseher bedient. Es war wie ein Wunder, Brigadiere, das kann ich Ihnen versichern. Das Einzige, was wir verhindern mussten, war, dass sie auf den Balkon oder ans Fenster trat, denn dann lachte sie die jungen Männer an, winkte oder rief ihnen sogar etwas zu.“ Der Alte verbarg sein Gesicht in den Händen. „Sie ging sogar so weit, den Ausschnitt zu entblößen oder den Rock zu heben … Was für eine Schande, Brigadiere! Schließlich wohnen wir im zweiten Stock! Aber meine Schwägerin ließ sie nicht ans Fenster, da passte sie höllisch auf! Doch dann ist auch sie gestorben.“ Der Alte auf der anderen Seite des Schreibtischs nahm die Hände vom Gesicht und blickte Duca an. „Ich arbeite nach wie vor bei Gondrand, und das muss ich auch. Für mich selbst brauche ich zwar nicht viel, aber die ärztliche Betreuung meiner Tochter kostet viel Geld, und ich will auf keinen Fall, dass sie ins Irrenhaus kommt – eher bringe ich mich um! Nach dem Tod meiner Schwägerin habe ich zunächst eine alte Krankenschwester kommen lassen, die auf meine Tochter aufpasste, während ich arbeiten war. Doch schon nach ein paar Wochen wurde mir klar, dass die Alte mir im Grunde nicht wirklich behilflich war, sondern sich nur von mir durchfüttern ließ. Da habe ich mir gedacht, dass meine Tochter vielleicht auch allein bleiben könnte, schließlich hatte sie in den beiden letzten Jahren unter der Obhut meiner Schwägerin viel gelernt: Sie gehorchte besser und begriff viel mehr als vorher. Sie wusste, dass sie tun musste, was ich von ihr verlangte. Also habe ich es einfach ausprobiert. Die ersten Tage hatte ich schreckliche Angst, aber es war wie ein Wunder, glauben Sie mir, Brigadiere! Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, hatte sie mir bereits Suppe und Eier gekocht, wie die Tante es ihr beigebracht hatte. Natürlich konnte ich sie nicht den ganzen Tag allein lassen, aber wissen Sie, ich arbeite in der Zentrale für Internationale Transporte an der Piazza della Repubblica und wohne im Viale Tunisia fünfzehn – das sind genau drei Minuten zu Fuß. Mit der Erlaubnis von Cavalier Servadio konnte ich einmal am Vormittag und einmal am Nachmittag nach Hause eilen: Ich brauchte drei Minuten für den Hin- und drei für den Rückweg, und vier blieb ich zu Hause, um mich zu vergewissern, dass meine Tochter nichts angestellt hatte, und um ihr einzutrichtern, dass sie schön brav sein musste. Es klappte ganz hervorragend! Sie hätten mal sehen sollen, Brigadiere, wie sauber sie mir die Wohnung hielt! Von ihrer seligen Mutter hatte sie die Leidenschaft geerbt, die Fußböden zu schrubben, und wenn ich heimkam, kniete sie fast immer auf dem Boden, den Eimer mit Wasser und Seife neben sich und den Scheuerlappen in der Hand, genau wie sie es von der Mutter gelernt hatte, denn die behauptete, das sei die einzige Art, die Fußböden sauber zu halten.“

Völlig unvermittelt begann er zu schluchzen, wahrscheinlich weil er sich seine Tochter so lebendig vorgestellt hatte, wie sie da auf dem Boden kniete, eifrig schrubbte und dabei keinerlei Mühe verspürte. Mit den Fingern wischte er sich die Tränen von den Wangen und fuhr fort: „Sie liebte Musik. Deshalb hatte ich ihr einen dieser kleinen kompakten Apparate gekauft, mit denen man Schallplatten hören kann. Mir fällt bloß gerade nicht ein, wie man die Dinger nennt.“

„Kofferplattenspieler“, sagte Duca.

„Ja, genau, einen Kofferplattenspieler“, bekräftigte der Alte, dessen tränennasses Gesicht seitlich von dem hellen Sommerlicht beschienen wurde. „Ich habe ihr so ein Ding gekauft, weil es ganz einfach zu bedienen ist: Man braucht die Platte nur in einen Schlitz zu stecken, und schon kommt die Musik heraus. Ich habe ihr immerfort neue Platten gekauft, schließlich war sie den ganzen Tag allein zu Hause und arbeitete fleißig, putzte und bereitete das Essen zu. Bevor ich aus dem Haus ging, sicherte ich immer alle Fenster mit Schlössern, ließ die Rollläden zur Hälfte herunter und blockierte auch diese mit Schnappschlössern, damit sie sie nicht hochschieben konnte, um dann vom Fenster aus die jungen Männer zu rufen und …“ Seine Stimme erstarb – er brachte es einfach nicht über sich zu sagen: „… und den Rock zu heben.“ Also überging er dieses peinliche Detail hastig.

„Ich war selig! Alles lief wie am Schnürchen. Sie stopfte mir die Strümpfe und bügelte die Hemden fast so gut wie meine Schwägerin, die ihr das mit Engelsgeduld beigebracht hatte. Ich fühlte mich keineswegs wie ein armer, alleinstehender Vater eines behinderten Kindes, sondern eher wie ein junger Ehemann. Morgens ging ich zu Gondrand arbeiten, und wenn ich wieder nach Hause kam, war alles gerichtet. Sie umarmte mich, in der Küche war schon der Tisch gedeckt, und es roch so lecker, dass mir das Wasser im Mund zusammenlief. So ging das fast ein Jahr lang. Doch dann, eines Morgens, bin ich nach Hause gekommen – und sie war nicht mehr da.“

Um das lautlose Weinen des Alten zu unterbrechen, das ihm durch und durch ging, mehr als jegliches Gejammer, ließ Duca den kleinen Bleistift, den er gerade in der Hand hielt, auf den Tisch fallen, und tatsächlich erregte der kurze, harte Ton die Aufmerksamkeit seines Gegenübers. Unvermittelt hörte er auf zu weinen. Duca sagte: „Dann setzen wir jetzt also eine neue Anzeige auf. Wiederholen Sie mir doch bitte noch einmal Ihren Namen.“

Der Mann wischte sich erneut die Tränen von den Wangen. „Berzaghi, Amanzio“, sagte er fügsam, denn er war zwar tief erschüttert, aber auch ein pflichtbewusster Bürger, jederzeit bereit, dem Gesetz und seinen Hütern zu gehorchen.

„Geboren?“, fragte Duca weiter, während er den Namen in sein Heft schrieb. Amanzio – das war ein alter, lombardischer Adelsname.

„Am 12. Februar 1909.“

„Eltern?“

„Alessandro und Rosa Perassini, beide verstorben.“

„Der Name Ihrer Tochter?“

„Donatella.“ Dem Alten begannen erneut die Tränen über die Wangen zu laufen. „Als sie auf die Welt kam, war sie so niedlich und klein, dass ich mich zwischen all den Namen, die wir uns überlegt hatten, für diesen entschied. Doch als sie größer wurde, machten sich die Jungen immer über sie lustig und nannten sie Donatona …“

Duca schrieb Donatella in sein Heft. „Und jetzt beschreiben Sie mir bitte ganz genau den Tag, an dem Sie Ihre Tochter zuletzt gesehen haben.“

3

Und der Alte erzählte. Er begann morgens um sieben, als der Wecker auf seinem Nachttisch geklingelt hatte. Er hatte ihn ausgestellt, war aufgestanden und gleich in Donatellas Zimmer gegangen. Donatella hatte noch geschlafen. Ihr Bett war maßgefertigt, etwas größer als normal, doch fiel das eigentlich kaum auf. Auf dem Fußboden, dem Bett, den Stühlen – überall lagen und saßen ziemlich große Puppen herum. Donatella spielte leidenschaftlich gern mit Puppen, sie kleidete sie immer nach der letzten Mode, studierte die Schnitte in den Illustrierten und nähte sie dann nach. An jenem Morgen hatte Donatella Giglioletta, eine ihrer kleinsten Puppen, im Arm gehabt. Ihre prächtigen schwarzen Haare hatten das Gesicht der Schlafenden bedeckt, und so hatte der Vater sich über seine Tochter gebeugt und ihr die langen, schwarzen Puppenhaare aus der Stirn gestrichen, die ihr Gesicht, mit ihren eigenen blonden Haaren verflochten, so malerisch einrahmten, dass sie aussah wie eine Filmschönheit.

Als er ihr so über das Gesicht gestrichen hatte, war sie aufgewacht und hatte ihm die Hände zur morgendlichen Umarmung entgegengestreckt, ein weiches, sinnlich glückliches Lächeln auf den Lippen. Dann war er ans Fenster getreten, um das Schnappschloss zu öffnen und den Rollladen hinaufzuziehen. Viel Licht war nicht hereingefallen, denn es war ein gewittriger Märzmorgen gewesen, mit kräftigen Windböen und plötzlichen Blitzen, die die lilaschwarzen Wolken durchschnitten und einen baldigen Wolkenbruch ankündigten. Dann hatte er darüber gewacht, wie seine Tochter sich wusch und anzog. Wie immer hatte er neben ihr gestanden, ohne allzu indiskret hinzusehen, und dabei doch jede ihrer Bewegungen aufmerksam verfolgt, denn auch wenn diese Vorgänge normalerweise glatt über die Bühne gingen, gab es hin und wieder mal einen kleinen Zwischenfall, vor allem, wenn Donatella die Strümpfe am Strumpfhalter befestigen wollte. Nicht immer gelang es ihr, die Schnalle über den Knopf zu ziehen, und so konnte es leicht geschehen, dass sie sich vergaß und anfing, mit dem Strumpfhalter zu spielen und dann ihren großen, weißen Schenkel zu streicheln, bis sie das Vorhaben, das sich bei ihrer gestörten Motorik manchmal als unendlich schwierig erwies, schließlich ganz aufgab und unverrichteter Dinge durch die Wohnung schlenderte, sodass der Strumpf das wunderschöne Bein herabrutschte und ihr einen schlampigen Akzent verlieh, den die weibliche Vollkommenheit dieses Beines nun wirklich nicht verdiente. Solange ihre Mutter und ihre Tante noch lebten, hatten sie sich um diese kleinen Zwischenfälle gekümmert, ihr die Strümpfe straff gezogen und sie am Strumpfhalter befestigt. Sie hatten die Seife aufgehoben, die das Mädchen, wenn es sich wusch, wie ein verspieltes Kind immer wieder auf den Fußboden flutschen ließ. Oder sie hatten die durch ihre geistige Behinderung etwas vergessliche junge Frau immer wieder an die richtige Reihenfolge der Handgriffe beim Waschen und Anziehen erinnert, da sie dazu neigte, mit Dingen zu beginnen, die eigentlich erst später kamen, oder bestimmte Schritte einfach auszulassen.

Nach der Zeremonie des Waschens und Anziehens lief jedoch normalerweise alles wie am Schnürchen, und so war es auch an jenem Morgen gewesen. Donatella hatte den Milchkaffee zubereitet, und er hatte ihr gesagt, was sie zum Mittagessen kochen sollte. Jetzt, fünf Monate später, konnte sich der Alte allerdings nicht mehr genau erinnern, wofür er sich an jenem Tag entschieden hatte. Er ließ sie aber immer nur einfache Gerichte zubereiten – Nudeln, Eier, Pellkartoffeln, ein Stück gebratenes Fleisch –, um ihr das Leben nicht unnötig schwer zu machen. Er erinnerte sich wirklich nicht mehr, was er sie an jenem Morgen zu kochen angewiesen hatte, vielleicht Nudelsuppe? Wirklich sicher war er sich nicht. Oder waren es doch Conchigliette al burro gewesen?

„Das ist nicht so wichtig“, wollte Duca ihn überzeugen.

Doch der alte Amanzio Berzaghi war ein Mann, der es mit der Wahrheit sehr genau nahm und auf dieser Genauigkeit bestand. Er kniff die Augen zusammen, runzelte die Stirn und meinte auf einmal: „Doch, Conchigliette al burro, jetzt weiß ich es wieder! Ich habe sie gebeten, Conchigliette al burro zuzubereiten, die mag sie für ihr Leben gern!“