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Über das Buch

Seit er beschlossen hat, nach Mallorca zu fahren, an den Ort, an dem das alles passiert ist, an dem sich sein Leben von ziemlich gut in eine totale Vollkatastrophe verwandelt hat, kommen die Albträume wieder täglich. Je näher er der Insel ist, desto erbarmungsloser werden sie. Desto deutlicher führen sie ihm vor Augen, dass er schuld ist. Dass er einen Fehler gemacht hat, diesen entscheidenden Fehler, den man nur einmal in seinem Leben macht und der nie mehr gutzumachen ist.

Timon und Sunny wollen nach Mallorca, um das bestandene Abitur zu feiern: zwei beste Freunde und drei Wochen Sonne, Spaß und Freiheit! Unterwegs nehmen sie den trampenden Jonas mit. Richtig fertig sieht Jonas aus. Als Sunny und Timon ahnen, was Jonas auf Mallorca wirklich vorhat und welche Bürde er mit sich herumträgt, ist es schon fast zu spät …

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INHALT

I UNTERWEGS

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

II MALLORCA

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

III ABSCHIED

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

IV ANKOMMEN

Kapitel 21

I

UNTERWEGS

1.

Es ist ein schrecklicher Ort, um einzuschlafen. Diese Parkplatztoilette in Spanien, im glühend heißen Nirgendwo zwischen Andorra und Barcelona. Aber Jonas kann nicht anders. Er ist müde. Er ist so müde, wie er noch nie zuvor in den 17 Jahren seines Lebens müde war. Und obwohl ihm der bestialische Geruch nach Urin in der Nase brennt, ein See mit Klopapierinseln an seine Sneaker-Sohlen suppt und im Pissoir vor ihm Zigarettenstummel und ein gebrauchtes Kondom den Abfluss verstopfen, lässt er beim Pinkeln für einen kurzen Moment den Kopf an die Wand sinken. Ausruhen. Augen schließen. Dem periodischen Rauschen der vorbeirasenden Autos lauschen. Und darauf hoffen, dass dieser Ort schon Albtraum genug ist und seine eigenen Albträume ihn wenigstens hier für ein paar Minuten in Ruhe lassen.

Dass sie so krass zurückkommen, hätte Jonas nie für möglich gehalten. Er war sich sicher, die Sache mittlerweile im Griff zu haben. Anders als vor zwei Jahren, als es passiert ist. Als er jede Nacht schreiend aufwachte und so lang weiterschreien musste, bis die Erinnerung an das Geträumte wie eine Konfettikanone zerplatzte. Die letzte Zeit war aber gut, also gut im Sinne von weniger beschissen. Einmal die Woche, vielleicht zweimal waren sie noch da, damit konnte er umgehen. Musste er umgehen, das war er Lina schuldig. Genau wie die Entscheidung zu dieser Reise. Doch seit er beschlossen hat, nach Mallorca zu fahren, an den Ort, an dem das alles passiert ist, an dem sich sein Leben von ziemlich gut in eine totale Vollkatastrophe verwandelt hat, kommen sie wieder täglich. Und je näher er der Insel ist, desto erbarmungsloser werden sie. Desto deutlicher führen sie ihm vor Augen, dass er schuld ist. Dass er einen Fehler gemacht hat, diesen entscheidenden Fehler, den man nur einmal in seinem Leben macht und der nie mehr gutzumachen ist. Er trägt die Verantwortung dafür, dass seine Eltern ihre Tochter und seine Großeltern ihre Enkelin verloren haben. Und der gerechten Strafe wegen hat er natürlich auch seine Schwester verloren. Viel schlimmer ist aber, dass Lina seinetwegen ihre Familie verloren hat, ihre heile vier Jahre alte Welt, eingetauscht in ein unbekanntes Leben, hoffentlich Leben, an das zu denken er sich tagsüber verbietet, das ihm aber seine Albträume in den dunkelsten Farben ausmalen: Lina eingesperrt, hilflos fiesen Machtfantasien ausgesetzt, dabei leer geweint und nur noch stumm um Hilfe bettelnd.

Und warum? Weil er nicht aufgepasst hat, weil er nicht bei ihr geblieben ist, weil er für einen kurzen Moment des Glücks, des lächerlichen Glücks, alles geopfert hat. Und seine Schwester fast auf den Tag genau seit zwei Jahren spurlos verschwunden ist.

Mit letzter Kraft knallt Jonas seine Faust gegen die vollgesprayte Metallwand, in der vergeblichen Hoffnung, körperlicher Schmerz könnte die Schuldgefühle vertreiben. Die blecherne Explosion lässt die ganze Toilette vibrieren.

»Mann ey, bist du bescheuert?«

Jonas stößt sich ruckartig von der Wand ab. Er hat nicht bemerkt, dass sich jemand neben ihn ans Pissoir gestellt hat. Genauso wenig wie er seine Tränen bemerkt hat, die jetzt vermischt mit wässrigem Rotz sein Gesicht bedecken. Dabei hat er sich geschworen, nie wieder vor anderen Menschen zu weinen. Schnell wischt er sich mit dem Ärmel seines verschwitzten Shirts übers Gesicht.

»Alter, siehst du fertig aus.«

Jonas knöpft sich seine Hose zu und wirft dem Strohhutträger, der ihn mit seinen wasserblauen Augen eindringlich fixiert, einen feindseligen Blick zu. Er hasst es, wenn andere seine Schwäche erkennen. Vor allem wenn diese anderen dann auch noch in seinem Alter sind und ihre Erkenntnis mit einem läppischen Schulterzucken unterstreichen, als hätten nur sie das Patentrezept darauf, beim Jonglieren mit dem Schicksal alle Bälle in der Hand zu behalten.

»Geht’s dich was an?«

Genervt drängt er sich unter dem Blick des Fremden vorbei ans Waschbecken, eine versiffte, in die Wand eingebaute Alu-Wanne, deren Quelle schon vor Jahren versiegt ist.

»Ist der beschissenste Ort der Welt, was? Oder steht das als Insider-Tipp da drin?«

Jonas folgt dem schräg grinsenden Kopfnicken seines Gegenübers und verflucht den Marco-Polo-Reiseführer von Mallorca in der Seitentasche seines Rucksacks, den er lediglich als Touristenalibi eingepackt hat. Und der diesem Deutschen nun das Recht gibt, ihm ein dusseliges Gespräch aufzudrücken.

Jonas dreht sich weg und schluckt einen Gegenkommentar runter. Er will nicht zugeben, dass die Bemerkung mit dem beschissensten Ort zutrifft. Dabei ist er in den letzten Tagen an vielen miesen Plätzen gewesen. Doch bevor er groß über seinen Trip nachdenken kann – über die sabbernde Dogge im Auto des Rentner-Ehepaars, das ihn von Frankfurt nach Freiburg mitfahren ließ; oder über den LKW-Fahrer, der ihn bis nach Toulouse mitnehmen wollte, dem er jedoch während eines Tank-Stopps abgehauen ist, nachdem er erfahren hatte, welche Gegenleistung von ihm erwartet wurde; oder über den Schlafplatz auf einem Maisfeld bei Lyon, das so matschig war, dass am nächsten Tag kein Mensch mehr auch nur in Erwägung zog, ihn mitzunehmen; oder an die windige Ladefläche, auf der er sich frierend festhielt, als es nachts über die Pyrenäen ging, wobei er sich die letzten Kilometer, die er wie so ein Hape-Kerkeling-Pilger bei 37 Grad zu Fuß zurücklegen musste, nicht mehr vorstellen konnte, jemals in seinem Leben eine Gänsehaut gehabt zu haben – bevor diese ganzen Erinnerungen also mehr werden können als aufblitzende Gedankenfetzen, fällt sein Blick auf den stumpfen Spiegel über dem Becken, aus dem ihm ein Gesicht entgegenstarrt, das er eigentlich kennen müsste. Ein Gesicht mit roten Augen in dunklen Höhlen, blonden Haaren, strähnig vom Kopf abstehend, und ein bisschen Bart, planlos auf Kinn und den sonnenverbrannten Wangen verteilt. Er braucht einen Augenblick, um zu kapieren, dass er das ist. Dass er jetzt auch äußerlich der ist, in den er sich vor zwei Jahren verwandelt hat. Kein schöner Anblick, aber schmerzhaft ehrlich.

Und ehrlich wäre wohl auch seine Antwort, wenn ihn genau jetzt jemand fragen würde, warum er sich diese Reise antut. Sie würde lauten, dass er dem Schicksal mit einem lauten »Fuck you« in die Fresse treten will. Aber ihn wird niemand fragen, weil niemand die geringste Ahnung hat, was er vorhat.

23. 08. 16

Ich soll alles aufschreiben, was ich weiß. Und was mir durch den Kopf geht. Hat diese spanische Polizistin zu mir gesagt. Dreimal hat die mich schon verhört. Señora Silvia Lorca. Lorrrrrrca. Die pro Frage fünf Zigaretten raucht. Fortuna.

Ich hab keine Ahnung, was das mit dem Aufschreiben bringen soll, ich hab doch alles schon tausendmal erzählt. Voll die Zeitverschwendung. Ich sollte besser helfen, Lina zu suchen. Aber jetzt ist es dunkel und niemand sucht. Also schreib ich, obwohl ich das echt nicht gut kann. Mit Paul hab ich manchmal Songtexte geschrieben, weil wir mit unseren Gitarren so berühmt wie James Blunt (Paul) oder Passenger (ich) werden wollten, aber das war schon alles. Und natürlich der ganze Schulkram. Klar, da schreibt man auch viel (Blödsinn). Ich hätte lieber alles ins Handy getippt, da bin ich schnell drin, aber die Kommissarin wollte, dass ich es in ein Buch schreibe. Voll retro. Angeblich fällt mir so mehr ein. Vielleicht hab ich das aber auch falsch verstanden. Señora Lorrrrrrca spricht zwar Deutsch, aber das hat sie in Österreich gelernt. Also das Deutsch. Vor drei Tagen hätte ich noch darüber gelacht. Jetzt nicht mehr. Keine Ahnung, ob ich irgendwann wieder lache. Im Moment glaub ich nicht.

Wie soll ich denn anfangen? Mit dem, was mir durch den Kopf geht? Kann ich machen.

VerdammteFickScheißeLinaWobistdu??Ichbringdenumderdirwasantut!!!!!WarumsuchendieIdiotenvonderPolizeinichtauchnachts?SoweitkannsiedochnichtseinichwardochnureinoderzweiStundenweg.IchbinsoeinverdammtesArschlochdassichüberhauptweggegangenbin.Linaallehassenmichdafürundichmichamallermeisten.

Bringt das jetzt was? Oder schreib ich besser doch noch mal auf, was passiert ist, obwohl das eh alle schon wissen?

Ja, es war an dem Abend vor zwei Tagen mit meinen Eltern abgesprochen, dass ich bei Lina bleibe. Ja, ich bin trotzdem mit Paul zum Strand runter. Ja, es waren noch andere Gäste unterwegs. Nein, ich kannte die nicht. Ja, wir hatten zwei Literflaschen Sangria dabei. Ja, sie waren geklaut aus dem Hotel-Shop hier. Ist kein Geheimnis mehr, weiß eh schon jeder. Wir wollten das Ferienende feiern, genau wie unsere Eltern. Und das haben wir auch gemacht. Und als ich zurückgekommen bin, ich war kurz vor meinen Eltern da, Paul ist direkt zu sich ins Zimmer, war Lina nicht mehr in ihrem Bett. Die Balkontür stand auf. Und ich hab angefangen zu suchen. Draußen beim Pool. Im Garten, am Spielplatz. Erst hab ich leise nach ihr gerufen, dann immer lauter. Und das haben dann meine und Pauls Eltern gehört, als die aus irgendeiner Bar zurückgekommen sind. Ich glaub, ich hab geweint, als ich ihnen erzählt habe, dass ich kurz weg war und jetzt Lina weg ist. Keine Ahnung, warum ich geweint habe, vielleicht weil ich betrunken war. Zu dem Zeitpunkt war ich mir ja noch hundertprozentig sicher, dass Lina gleich wieder auftauchen wird. Mama ist zur Rezeption gerannt, Papa hat die Polizei gerufen. Vorher hat er mir noch eine gescheuert. Zum ersten Mal, ist sonst noch nie passiert, obwohl ich schon ein paar blöde Sachen gemacht habe. Die Spritztour nach Holland zum Beispiel mit dem Auto von Pauls Dad. Noch gar nicht so lang her. Da gab’s nur Hausarrest. Dieses Mal ’ne Ohrfeige. Vielleicht weil er ahnte, dass Lina nicht nur ein bisschen weggelaufen ist. Aber woher hätte er das wissen sollen?

Ich musste auf mein Zimmer, während alle nach Lina suchten. Ich durfte nicht helfen, weil ich erst mal nüchtern werden sollte. Dabei hat mich die Ohrfeige schon ziemlich nüchtern gemacht. Paul hat mir ständig Nachrichten geschickt, aber das habe ich ignoriert.

Wenn ich mit ihm nur nicht runter zum Strand gegangen wäre …

Ich hab dann mein Handy ausgemacht und bin irgendwann in meinen Klamotten eingepennt. Kurz davor war ich mir noch sicher, dass am nächsten Morgen alles wieder gut sein wird. Am nächsten Morgen war aber alles nur noch schlimmer. Und voller Polizei.

Jo

2.

»Da vorne ist er.«

»Wer?«

»Na, der Typ, von dem ich dir erzählt hab. Der erst im Stehen auf der Toilette gepennt hat und mir dann ’nen Mörderschreck eingejagt hat.«

Sunny schaut ihn verständnislos an und Timon schüttelt nur den Kopf, während er seinen senfgelben 1er-Golf rückwärts aus der Parkbucht lenkt. Er versteht nicht, wie ein Mensch nur so wenig multitaskingfähig sein kann wie seine beste Freundin. Es ist noch keine halbe Stunde her, seit er von der Toilette zurückgekommen ist und ihr von der Begegnung mit dem blonden Typen erzählt hat. Von seiner Vermutung, dass mit dem irgendwas nicht stimmt, weil der geheult und sich im Spiegel angeschaut hat, als würde er sich gerade zum ersten Mal sehen. Aber davon hat Sunny scheinbar nichts mitbekommen, weil sie sich, wie auch schon die letzten 300 Kilometer, nur mit dem neuen WhatsApp-Status ihres Ex-Freundes Leon beschäftigt hat – sexy Leon beziehungsweise seit drei Monaten ausschließlich Arschloch-Leon. Vor drei Monaten hat sie nämlich nach einem halben Jahr Beziehung rausgefunden, dass Leons Hautirritationen unterhalb des Bauchnabels, angeblich ausgelöst durch seine Calvin-Kleins, in Wahrheit Knutschflecke waren. Ausgelöst von Ann, 17, eine Klasse unter ihnen. Und genau mit dieser Ann kuschelt Arschloch-Leon jetzt in seiner neuen Statusmeldung rum, bei Sonnenuntergang an einem Kölner Badesee. Sunny kocht vor Wut.

»Zu mir hat der noch gesagt, dass ich mir das alles einbilde und dass mit dieser Bitch nichts läuft. Und jetzt, jetzt sind die zusammen und der Idiot hat nichts Besseres zu tun, als das gleich der ganzen Welt zu zeigen.«

»Du hättest halt seine Nummer löschen sollen. Hab ich dir sicher hundertmal gesagt. Dann hättest du auch dieses kack Foto nicht gesehen.« Timon wirft seinen Strohhut auf die Rückbank und Sunny einen strengen Blick zu. »Es ist gut so. Sei bloß froh, dass du den los bist.«

Sunny nickt knapp, für Timons Verhältnisse zu knapp, bevor sie sich wieder auf ihr Handy konzentriert und nach der richtigen Musik für die letzte Strecke bis Barcelona und vor allem ihre Laune sucht.

Timon achtet nicht weiter auf sie, weil er das Thema Leon kaum noch ertragen kann und Sunny sich eh am schnellsten beruhigt, wenn man sie in Ruhe lässt. Außerdem fokussiert er den blonden Typen, der am Ende des Parkplatzes an seinen Rucksack gelehnt im Schatten sitzt. Extra langsam lässt er das Auto auf ihn zurollen.

»Warum kriechst du denn so? Ich dachte, wir müssen uns beeilen, um die Fähre noch zu kriegen.«

»Ich will den da noch fragen, ob er irgendwie Hilfe braucht. Der hat auf mich wirklich ’nen komischen Eindruck gemacht.«

Augenrollend schaut Sunny zuerst den Typen vor ihnen und dann Timon an.

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«

»Was denn?«

»Du hast schon wieder diesen Blick drauf.«

»Welchen Blick?«

»Den du immer drauf hast, wenn du verliebt bist oder jemanden entdeckst, der unbedingt deine Hilfe braucht. Punkt eins schließe ich aus, Punkt zwei bringt nur Stress. Guck dir den doch mal an.«

»Du bist echt bescheuert.«

»Ich bin bescheuert?« Sunny hebt ihren Zeigefinger, um ihrer Aussage noch mehr Nachdruck zu verleihen. Eine Geste, die sie sich bei ihrer Englischlehrerin Dr. Wichmann abgeschaut hat. »Ich erinnere nur an die Sache mit Eric. Oder, und da kam Punkt eins erschwerend zu Punkt zwei hinzu, an Sarah, Lily und Finja.«

Timon unterbricht Sunny genervt: »Danke für die Erinnerung. Hätte ich sonst schon fast alles vergessen.«

Blöderweise stimmt das ganz und gar nicht. Timon kann sich noch viel zu gut an den Polizeieinsatz erinnern, als Eric in seiner Wohnung verhaftet wurde und er mit einem Anwalt beweisen musste, dass er von den Drogen im Spülkasten der Toilette nichts wusste. Sunny hatte ihn gewarnt, aber er war sich sicher, dem angeblichen Ex-Junkie mit dem WG-Zimmer eine Chance geben zu müssen. Die Mietschulden, die Eric ihm hinterlassen hat, zahlt er heute noch ab. Und dann die Sache mit den Mädels. Irgendwie fühlt er sich einfach von Frauen angezogen, die ein Problem haben. Was dazu führt, dass es immer zur Trennung kommt, bevor überhaupt eine Art Beziehung stattgefunden hat. Sarah brauchte eigentlich nur einen Platz zum Schlafen, wenn sie von ihrem Freund mal wieder vermöbelt wurde. Helfen lassen wollte sie sich nicht. Eine Beziehung mit ihm, das wurde ihm dann auch klar, schon gleich gar nicht. Lily war mager- und Finja krankhaft eifersüchtig, weil sie nach einer Mobbing-Aktion bei Facebook nicht glauben konnte, dass Timon oder sonst jemand ihre Segelohren und riesigen Zahnlücken gut finden kann. Er war sogar kurz davor, ihr seine Narben zu zeigen, um ihr zu beweisen, dass, wenn überhaupt einer, dann er sie versteht. Es wäre das erste Mal gewesen, noch nie hat er seine Narben irgendwem gezeigt, doch bevor es dazu kam, war schon wieder Schluss.

Danach haben Sunny und er jedenfalls das Phänomen der falschen Frauen analysiert und sind auf drei Ursachen gestoßen.

1.Er ist einfach zu nett für diese Welt (favorisierte Begründung von Timon).

2.Problematische Menschen sind einfach spannender.

3.Er leidet laut Google unter einem Helfersyndrom.

Obwohl er das vor Sunny immer abstreitet, befürchtet Timon, dass Punkt drei gar nicht so weit hergeholt ist. Er kümmert sich lieber, als dass er selber was von sich preisgibt. Er tröstet lieber, als dass er selber getröstet wird. Und wenn man Psychologe Google glaubt, ist die häufigste Ursache für ein Helfersyndrom ein nicht vorhandenes Selbstwertgefühl. Und dank seiner Narben und der Geschichte dahinter erfüllt er diesen Punkt mit Sternchen. In ganz ehrlichen Momenten weiß er aber auch, woran es hauptsächlich liegt, dass er sich immer die falschen Frauen aussucht: Sein Herz ist längst vergeben und abgelenkt vom Schicksal anderer kann er das zumindest ab und zu einfacher vergessen.

Heute ist der ganze Analysekram jedoch Bullshit. Er ist gut drauf, zumindest war er das bis zu Sunnys Ausraster, er hat das Abitur hinter und vier Wochen Mallorca im Haus von Sunnys Eltern vor sich. Außerdem ist das keine problembehaftete Frau, die da vor ihm sitzt, sondern ein etwas merkwürdig und verloren wirkender Typ. Er will einfach nur nett sein und helfen, bremst das Auto ab und lehnt sich aus dem Fenster.

»Hey, brauchst du irgendwas? Suchst du ’ne Mitfahrgelegenheit?«

Timon bekommt keine Antwort, nur Sunny flüstert hinter ihm, dass er zufahren soll, da der Kerl aussieht, als würde er nach einem alten Waschlappen riechen. Aber so schnell gibt Timon nicht auf.

»Ich heiße Timon. Das ist Sunny. Wir haben ein Ticket für die Abendfähre nach Mallorca. Wenn du magst, können wir dich bis Barcelona mitnehmen.«

»Hast du sie noch alle? Kannst du mich vorher vielleicht mal fragen?«, zischt Sunny ihm vom Beifahrersitz zu. »Wo soll der denn überhaupt sitzen? Ganz sicher nicht auf der Rückbank neben meiner Tasche. Da ist hinterher ja alles verseucht.«

Timon hört gar nicht hin, sondern analysiert den Fremden, der wie in Trance eine zerknüllte SevenUp-Dose neben seinen Schuhen fixiert. Seine Sneakers von Nike sind nicht billig, das ist ihm vorhin auf der Toilette schon aufgefallen. Die restlichen Klamotten auch nicht. Und trotz des ganzen Straßendrecks sieht er nicht wie ein typischer Anhalter aus. Und schon gar nicht wie einer, der diese Strapazen auf sich nimmt, um auf Mallorca die schönste Zeit des Jahres zu verbringen. Um in Urlaub zu trampen, ist sein Rucksack auch viel zu klein. Timon startet noch einen Versuch.

»Hey, noch mal, wir fahren erst, wenn du sagst, dass alles okay ist.«

Sunny verliert auf dem Beifahrersitz langsam die Geduld.

»Mann ey, kapierst du es nicht? Dein Blondi scheint keine Mitfahrgelegenheit …«

»Ich heiße Jonas. Nicht Blondi.«

Timon muss sich ein Lachen verkneifen, weil Sunny plötzlich verstummt, was im Normalfall nicht so einfach passiert. Er hört sie zwar noch vor sich hin meckern, dass der Typ völlig gaga ist und wie Eric Zwei aussieht, dann entzieht sie sich aber Jonas’ dunkelbraunen Augen, die aus ebenso dunklen Höhlen auf sie gerichtet sind, und versteckt sich auf ihrem Sitz. Timon muss zugeben, dass der Vergleich mit seinem Ex-Mitbewohner nicht ganz falsch ist. Und weil er den gleichen Fehler nicht zweimal machen will, wird sein Ton strenger.

»Hey, sag mal ehrlich, bist du drauf?«

»Geht’s dich was an?«

»Nur wenn du mitfahren willst.«

»Wer sagt, dass ich das will?«

Timon hält Jonas’ Blick stand, bis der seinen Kopf abwendet. Sunny findet im gleichen Augenblick ihre Sprache wieder.

»Jetzt fahr doch endlich los, Mann!«

Timon ist kurz davor, Sunnys Befehl zu befolgen, als Jonas seine Frage beantwortet: »Ich hab keine Drogen genommen. Noch nie. Ich hab die letzte Zeit nur scheiße geschlafen.«

»Okay. Das heißt, du willst mitfahren?«

Timon spürt Sunnys spitzen Ellenbogen im Rücken. Jonas nickt fast unmerklich.

»Ja, wäre cool. Was wollt ihr dafür?«

»Nichts, wenn du es schaffst, Sunny zum Lachen zu bringen. Die ist nämlich schlecht drauf. Schmeiß deinen Rucksack hinten in den Kofferraum. Ist auf.«

Sunny springt aus dem Auto und reißt ihre Tasche vom Rücksitz.

»Nein, meine Tasche kommt nach hinten. Dann kannst du es dir auf der Rückbank so richtig bequem machen.«

Der letzte Satz galt Jonas, dem sie mit einem falschen Lächeln die Tür aufhält, während sie Timon gleichzeitig den Mittelfinger zeigt. Unter protestierendem Genörgel quetscht sie anschließend ihre Sachen in den vollen Kofferraum.

»Das Auto ist für drei Personen mit Gepäck viel zu klein.«

»Wir werden es die letzten 150 Kilometer bis Barcelona überleben. Und jetzt steig wieder ein. Jonas, hast du Platz?«

Jonas’ Antwort geht im lauten Rums unter, mit dem Sunny den Kofferraum ins Schloss fallen lässt.

»Ich kann auch gern noch ein Stück vorrücken.«

Sunnys beißende Ironie beim Einsteigen ist kaum zu überhören, doch Jonas scheint sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Nur kurz erwidert er Timons Blick im Rückspiegel, bevor er wieder zu Boden schaut, als würde auf der Fußmatte auch eine SevenUp-Dose liegen. Und so bekommt er nicht mit, wie Sunny mit der Hand vor ihrem Gesicht wedelt, demonstrativ ihr T-Shirt über die Nase zieht und auf ihrem Handy auf Play drückt, sodass ein uralter Song von Eminem in ohrenbetäubender Lautstärke durchs Auto schallt.

Timon könnte Sunny in solchen Momenten den Kopf abreißen, aber er will ihr keine Szene machen. Nicht jetzt. Viel lieber ruft er sich ins Gedächtnis, warum dieser rothaarige Quälgeist seine beste Freundin ist, wie er es so oft macht, wenn sie ihn mal wieder auf die Palme bringt.

1.Sie ist die hübscheste, klügste, zickigste und lustigste beste Freundin, die man haben kann. Er kann sich auf sie verlassen, sie ist trotz anderer Typen immer für ihn da und egal wie blöd er drauf ist, sie bringt ihn zum Lachen. Außerdem hat sie sich noch nie über seine Listen lustig gemacht und überhaupt kennt er niemanden, der so gut riecht wie sie.

2.Sie wollte noch nie seine Narben sehen, obwohl das irgendwann alle wollen, vor allem wenn sie erfahren, wie sie entstanden sind. Ihr sind sie egal. Vielleicht. Hoffentlich!

3.Er ist verliebt in sie, seit er vor vier Jahren in ihre Klasse gekommen ist.

Timon lässt das Auto langsam bis zur Haltelinie rollen, blinkt rechts und beschleunigt mit einem kurzen Blick zu Jonas auf die N-260 in Richtung Barcelona.

25. 08. 16

Paul und seine Eltern sind heute abgereist. Ich hab nicht Tschüs gesagt. Soll er doch abhauen. Wichser. Unsere Flüge wurden auf unbestimmte Zeit umgebucht. Also die von meinen Eltern. Ich muss spätestens Sonntag zurück, sagen sie, weil dann die Schule wieder losgeht. Kotz. Ich glaub, ihnen wäre lieber gewesen, ich wäre heute schon mitgeflogen. Vergesst es, ich will da sein, wenn Lina zurückkommt.

Gerade bin ich noch mal verhört worden. Wieder von der Kommissarin. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich den Abend jetzt schon durchgegangen bin. Es ist immer das Gleiche. Ich sag immer das Gleiche. Das kotzt mich schon selber an. Sie meint aber, dass dabei manchmal entscheidende Hinweise rauskommen. Kleinigkeiten, die ich vergessen habe. Darum soll ich auch alles aufschreiben, was mir in den Sinn kommt. Aber was? Ich war doch nur am Strand. Und was dort war, hat ja mit Linas Verschwinden nichts zu tun.

Obwohl ich immer das Gleiche erzähle, rede ich eigentlich ganz gern mit Señora Lorca. Immerhin redet sie mit mir. Mama und Papa sprechen nur noch mit der Polizei oder irgendwelchen Reportern, die vor der Anlage campieren. Gestern Abend waren sie sogar in der Tagesschau mit einem Aufruf, dass alle Hinweise wichtig sind. Und falls Lina entführt wurde, dass sich doch der Entführer melden soll. Alle sind sich mittlerweile sicher, dass Lina entführt wurde. Weil die gesamte Umgebung ohne Erfolg abgesucht wurde. Mama hat geweint, als sie im Fernsehen war. Sie weint eigentlich seit vier Tagen durch. Ob Tränen irgendwann einfach versiegen?

Sie haben zu mir gesagt, dass ich nichts dafür kann, dass Lina weg ist. Und dass sie mich lieben. Aber ich hab ihnen angesehen, dass sie das nicht wirklich denken. Vor allem Papa nicht. Er macht mir Vorwürfe. Sein nicht leiblicher Sohn hat seine leibliche Tochter auf dem Gewissen. Vielleicht bilde ich mir das auch ein. Ich glaub, ich würde so denken.

Heute Nacht hatte ich einen krassen Albtraum. Ich hab geträumt, dass Lina unten am Strand in ein Boot gestiegen ist. Mit lauter fremden Leuten. Ich wollte zu ihr, hab mir ein Surfbrett geschnappt, aber bin kein Stück näher gekommen. Lina hat mir zugewinkt, nicht fröhlich, eher aufgeregt, ich glaub, sie wollte zu mir, wurde aber von jemandem festgehalten, den ich nicht erkannt habe. Ich hab immer wilder gepaddelt, bis ich bemerkt habe, dass das Brett im Sand liegt und ich gar nicht vorwärtskommen kann. Dann wollte ich es ins Wasser ziehen, aber es ging nicht – es war mit einem riesigen Anker im Sand befestigt. Als ich wieder hochgeschaut habe, war Linas Boot weg. Ich hab um Hilfe geschrien. Aber die Menschen am Strand sind alle zum Essen ins Hotel gestürmt und haben mich nicht gehört. Irgendwann bin ich schreiend und klatschnass aufgewacht.

Lina, wo bist du? Es tut mir alles so leid. Hoffentlich geht es dir gut. Bitte komm zurück!!!!!

Dein Bruder Jo

3.

Das einlullende Ruckeln vom ständigen Beschleunigen und Abbremsen hat aufgehört, im Auto ist es still und Jonas’ Gesicht brennt wie Hölle. Die Abendsonne scheint durch das offene Seitenfenster und die UV-Strahlen fräsen sich mit aller Kraft in seine linke Wange. Er muss auf seinem Rucksack eingeschlafen sein. Er hat tatsächlich geschlafen. Tief, ohne dass seine Gedanken verrücktgespielt haben. Er hat nicht mal bemerkt, wie sie in Barcelona angekommen sind oder wie sie sich an der Fähre in die Autoschlange gereiht haben. Die beiden, bei denen er mitfahren konnte, haben es sich in der Zwischenzeit auf der Motorhaube des Golfs gemütlich gemacht und ihn schlafen lassen.

Jonas richtet sich auf und schaut verschlafen zu den beiden Hinterköpfen, die auf der Windschutzscheibe liegen. Timon und Sunny, sicher eine Abkürzung von Sandra. Ob sie ein Paar sind? Oder beste Freunde? Jonas tippt auf beste Freunde, weil nur beste Freunde so hemmungslos ehrlich miteinander umgehen. Und gleichzeitig so wenig nachtragend sind. Aber vielleicht trügt ihn da auch seine Erinnerung, schließlich hat er die Zeit seit dem Verschwinden seiner Schwester lediglich dafür genutzt, sich aller Freunde zu entledigen. Mal mit einem lauten Knall, mal schleichend durch die Hintertür digitaler Missachtung. Die Wirkung war die gleiche. Den lautesten Knall gab es bei Paul, seinem Freund, der da war, seit Jonas denken kann. Und den er verletzt hat, wie nur beste Freunde es können.

Jonas wundert sich nicht, dass er gerade jetzt an Paul denken muss. Dieser Timon hat Ähnlichkeit mit ihm. Vor allem das schiefe Grinsen, das Paul perfekt draufhatte und weswegen er ihm nie böse sein konnte, ist fast identisch. Wegen diesem Grinsen hat er Paul jeden YouTube-Prank verziehen. Und sich im Gegenzug was noch Fieseres ausgedacht. Sie waren nicht schlecht darin, den anderen im Netz doof dastehen zu lassen. Ihr Kanal war der Renner, bis Jonas schließlich vor knapp zwei Jahren das letzte Video hochgeladen hat.

»Können wir jetzt aufhören, sauer aufeinander zu sein?«

Jonas hört Sunnys Stimme durch die offenen Autofenster und auch die Antwort von Timon, doch das Ja klingt noch nicht sonderlich überzeugend. Das scheint auch Sunny zu merken.

»Ja oder ja?«

»Ja, Mann. Aber wir sind jetzt seit knapp 18 Stunden unterwegs und davon warst du sechs Stunden schlecht gelaunt wegen Arschloch-Leon und weitere drei bockig wegen ihm.«

Jonas erahnt eine Kopfbewegung in seine Richtung.

»Wenn die Stimmungsbilanz die nächste Zeit so bleibt, wird das ein richtiger scheiß Urlaub.«

»Idiot. Du weißt genau, warum ich bockig war. Weil du unsere Abmachung gebrochen hast: nur wir zwei für die nächsten vier Wochen. Und weil du mich nicht mal gefragt hast, ob wir diesen Typ da mitnehmen sollen.«

»Das hab ich nur gemacht, weil du als Erste den anderen Teil unserer Abmachung gebrochen hast: keine Gespräche über Ex-Freunde.«

»Wir haben ja gar nicht darüber geredet. Ich hab mich nur über Leon aufgeregt. Du hättest nichts dazu sagen müssen.«

Jonas hört wieder weg und rafft seine Sachen zusammen. Kinderkram unter best friends braucht kein Mensch. Auch auf seinem Internat waren das die sich ständig wiederholenden Themen: Beziehungen, Sex, Betrug, Trennungen, Sex, neue Beziehungen. Als würde es auf der Welt nichts Wichtigeres geben. Niemand scheint sich daran zu stören, dass es immer der gleiche Mist ist. Mühlradartig werden immer wieder eine Handvoll bereits von Millionen Menschen durchlebter Emotionen neu durchgekaut, ohne dass es irgendeine Form der Weiterentwicklung gibt. Quasi eine weltumspannende Gemeinschaft, die unter dem Decknamen Liebe permanent auf der Stelle tritt, den einzelnen Mitgliedern aber vorgaukelt, man wäre jetzt auf DEM Weg, den alle anderen nur gesucht, aber nie gefunden haben.

Zugegeben, manchmal ertappt er sich bei dem Wunsch, auch dazuzugehören. Doch dann erinnert er sich daran, dass er ja schon mal so weit war. Dass er sich verliebt hatte und sich ganz sicher war, sein Weg halte was Besonderes für ihn bereit. Das tat er auch. An dem Tag ist seine Schwester verschwunden und er hat sich geschworen, niemals mehr im Leben auf diesen emotionalen Schwachsinn reinzufallen.

Jonas zieht sich sein Cap auf und öffnet die Tür, um endlich aus dem überhitzten Auto auszusteigen. Dabei hat er sofort die Aufmerksamkeit von Timon und Sunny. Er nickt den beiden kurz zu, Normalität vorgaukelnd. Timon lächelt ihn freundlich an.

»Na, ausgeschlafen?«

»Hm, danke fürs Mitnehmen.«

»Wir dachten, wir lassen dich schlafen, weil du so müde warst. Ist dir hoffentlich nicht zu heiß geworden da drin.«

»Nee, alles in Ordnung. Hab in den letzten Tagen schon mehr geschwitzt.«

»Das riecht man.«

Timon gibt Sunny unvermittelt einen Schubs, woraufhin sie schimpfend von der Motorhaube rutscht.

»Idiot.«

Jonas muss unwillkürlich lachen, ein kurzes Auflachen, mehr nicht. Dann nimmt er seinen Rucksack auf die Schultern und tippt sich zur Verabschiedung mit zwei Fingern an sein Cap. Doch Timon lässt ihn noch nicht gehen.

»Nimmst du auch die Fähre um halb zehn?«

»Ja, wenn ich noch ein Ticket bekomme. Sonst bleib ich noch eine Nacht in Barcelona. Ist ja auch ’ne coole Stadt.«

Jonas hofft, dass die beiden ihm das abkaufen. Eine coole Stadt wird Barcelona auf jeden Fall sein, wie scheißegal ihm das ist, müssen sie nicht wissen.

»Machst du auch Urlaub auf Mallorca?«

»Hm … kann man so sagen. Also, danke noch mal.«

Jonas würgt weitere Fragen ab. Besser so. Und Timons letzten Gruß, dass sie sich ja eventuell auf dem Schiff noch mal sehen, lässt er unerwidert an seinem Rücken abprallen. Er geht auf das Terminal zu, zielstrebig und mit einer für ihn seit Jahren völlig fremden Leichtigkeit. Ein Gefühl, das er früher beim Fußballspielen verspürt hat. Immer dann, wenn er kurz davor war, ein Tor zu schießen. Wenn es klar war, dass dieses Mal alles passt. Dass der Ball richtig kommt, der Torwart richtig steht und sein Anlauf die richtige Länge hat. Die Schwerelosigkeit des sicheren Erfolgs. Die Lässigkeit des Siegens.

Jonas weiß, dass dieser Fußballvergleich hinkt. Gerade jetzt. Doch die Leichtigkeit ist da, weil es sich für ihn wie ein Sieg anfühlt, der herbeigesehnten Ziellinie so nah zu sein.

29. 08. 16

Erster Schultag. Es war die Hölle. Alle wissen es. Alle sind nett zu mir. Total aufmerksam. Zum Kotzen. Zum Heulen. Aber den Gefallen tue ich niemandem.

Mama weint noch immer. Täglich. Stündlich. Am Telefon. Oma und Opa auch. Zum ersten Mal, als sie mich vom Flughafen abgeholt haben. Zum zweiten Mal im Auto nach Hause. Ein Zuhause ohne Lina. Ich heule nicht mehr. Nicht mehr öffentlich. Niemand soll sehen, wie kacke ich mich fühle. Lina bringt das nicht zurück.

Sie ist immer noch weg. Kein Lebenszeichen. Kein Entführer, der Geld will. ›Finding Lina‹ heißt die Kampagne, die weltweit gestartet ist. Menschen überall auf der Welt sollen sich melden, wenn sie Lina erkennen. Die Polizei geht nämlich davon aus, dass Lina nicht mehr auf Mallorca ist.

Das Foto der Kampagne hab ich gemacht. Mit meinem neuen iPhone. Ich hab in den letzten vier Jahren tausend Fotos von Lina gemacht, aber sie wollten eins aus dem Urlaub. Ein ganz aktuelles. Lina am Strand in ihrem Lieblings-Shirt mit Entenküken, die hinter ihrer Enten-Mutter herlaufen: ›Let’s go to the beach‹ steht drauf. Lina hat jeder Ente einen Namen gegeben. Und sie jedem persönlich vorgestellt, der es hören oder nicht hören wollte. Ich wollte es immer hören.

Lina, was du wohl gerade machst? Normalerweise würdest du jetzt hinter mir auf meinem Bett sitzen und mir erzählen, wie es in der Kita war. Da muss immer jede Menge passiert sein, so viel wie du geredet hast. Wenn ich ganz ehrlich bin, hab ich nicht immer so richtig zugehört. Ich musste ja meine Hausaufgaben machen. Das hat dich nie gestört. Außer wenn ich so getan habe, als würde ich auf der Tischplatte einschlafen. Dann bist du wütend geworden. Aber auch nie richtig, weil du genau gewusst hast, dass ich nur Spaß mache. »Zuhören, zuhören«, hast du dann immer gerufen. Oder: »Furzkopf! Aufwachen!« Meistens hast du so sehr über den schlimmen Ausdruck Furzkopf gelacht, dass ich auch lachen musste. Keine Ahnung, woher du den hattest, von mir nicht.

Manchmal haben wir Hörbücher gehört. Du wolltest immer alles von Astrid Lindgren hören, weil die bei mir im Regal standen und angeblich so lustig aussahen. Ich glaube, du warst dafür noch viel zu jung und hast gar nichts kapiert. Du hast mir immer tausend Fragen gestellt. Ob es wirklich Menschen mit Propellern auf dem Rücken gibt. Ob ich auch schon mal eine Suppenschüssel auf dem Kopf hatte. Ob ich Tommy und Annika kenne.

Kurz vorm Urlaub haben wir mit ›Die Brüder Löwenherz‹ angefangen. Ich glaub, zehn Minuten haben wir zusammen gehört. Du hast gar nichts gesagt und wolltest hinterher nur, dass ich dich auch Krümel nenne.

Weißt du noch, dass du mir den Bauch gestreichelt hast, wenn ich mal nicht so gut drauf war? Wegen irgendeinem Kram in der Schule oder so. Du hast das komischerweise immer bemerkt und dann das gemacht, was wir bei dir, als du ganz klein warst, auch immer gemacht haben.

Gerade hab ich unsere Löwenherz-CD zu Ende gehört. »Ja, Jonathan, ich sehe das Licht. Ich sehe das Licht.« Lina, wenn du jetzt nur da sein könntest, um mir den Bauch zu streicheln …

Du fehlst mir, kleiner Krümel, beste Schwester der Welt.

Jo

4.