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Die Personen und Begebenheiten der

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Inhalt

BLUTDÜRSTIGE SCHATTEN

KOLLISIONSKURS

ATTENTÄTER AN BORD

SIE WARTETEN JENSEITS DER STERNE

DER FLUG DER SANTA MARIA

OPERATION AGGLOMERAT

PLANET IM STRAHLENSTURM

DIE GROSSE SCHWÄRZE

ATTENTATE

TERROR DER DÄMONENBRUT

 

BLUTDÜRSTIGE SCHATTEN

Box 2 – Story 1

Die zweihundertfünfzigste Etage des General-Custer-Towers in Central Metrocity III war hell erleuchtet. Peter Marshall hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt, stand vor der Fenstergalerie seiner 1000-Quadratmeter-Wohnung und starrte in die sternklare Nacht. Auf der Rundcouch hinter ihm rekelten sich zwei Brünette, tranken Alkohol, kicherten und schluckten bunte Pillen. Ihre sündhaft teure Abendgarderobe hatten sie achtlos auf einen Sessel geschmissen.

»Hey, Petey-Boy«, gurrte eines der Mädchen. »Wann bist du bereit für den nächsten Tanz?«

Marshall machte erst keinerlei Anstalten, die Frage zu beantworten, wippte einmal kurz auf den Zehenspitzen und drehte sich dann doch herum.

»Ich habe für die ganze Nacht bezahlt, Sugar. Also sage ich, wann es weitergeht, okay …?«

»Schon gut, Petey.« Das Mädchen bekam Schluckauf, hielt die Luft an und kippte im Anschluss Champagner nach.

Nachdenklich wandte Peter Marshall sich wieder dem Nachthimmel zu. Seine Gedanken zogen davon und hinterließen eine gähnende Leere, die der Regierungsbeamte nicht mehr zu füllen wusste. Tatsächlich überfiel ihn beginnende Müdigkeit, und er fragte sich, ob es vernünftig gewesen war, die Huren für die ganze Nacht zu bezahlen.

Das durchdringende Piepen des Visiophones schreckte ihn auf. Er zog den Schlaufengürtel seines bordeauxroten Morgenmantels enger, ging quer durch den Wohnraum und stellte die Verbindung her. Der Bildschirm des Gerätes blieb dunkel. Und erst als Marshall den Hörer abhob und den Lautsprecher stumm schaltete, meldete sich eine Stimme vom anderen Ende der Leitung.

Schweigend lauschte er den Worten. Bereits nach einer halben Minute war seine Müdigkeit verflogen. Marshall schickte den nur mit Unterwäsche bekleideten Mädchen einen finsteren Blick zu und bedeutete ihnen, den Raum zu verlassen.

»Wir gehen uns eben was frisch machen, Petey«, verschafften die Brünetten sich einen akzeptablen Abgang und trippelten auf ihren Pumps Richtung Badezimmer.

Eine weitere halbe Minute war vergangen – und Marshalls Herzschlag hatte sich rasend beschleunigt. Immer noch versuchte er, über die Feinjustierung ein Bild seines Gesprächspartners zu bekommen, doch außer Rauschen und Interferenzen fing er nichts ein.

Wie lange er danach mit dem Hörer dagestanden hatte, konnte er hinterher nicht mehr sagen. Die Verbindung war lange schon vom Anrufer unterbrochen worden, doch dessen Worte hallten immer noch deutlich in Peter Marshall nach.

»Das riskieren die nicht«, flüsterte er vor sich hin. »Nicht mal die riskieren das …«

Er legte den Hörer in die Ablageschale zurück und widmete sich einige Sekunden dem dumpfen Druck, der sich in ihm breit machte. Gerade glaubte er, das Gefühl der Bedrohung überwunden zu haben, da hielt er schockiert inne bei der Bewegung, die er aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte.

Sein Kopf flog herum, und seine Augen starrten brennend geradeaus.

Doch da war nichts. Er hatte sich getäuscht.

Dennoch wollte diese kribbelnde Nervosität auch dann nicht von ihm weichen, als er zum Barschrank ging, sich einen Scotch einschenkte und mit zwei großen Schlucken herunterkippte.

Wurde er beobachtet?

Anfänglich tat er den Gedanken als absurd ab. Doch langsam verdichtete sich der Eindruck. Er saß ja auch im Tower wie auf dem Präsentierteller. Im Grunde genommen konnte ihn jeder Laie mit einem Fernglas observieren. Gerade jetzt in der Nacht, wo der heimliche Beobachter Schutz in der Finsternis fand …

Ein eisiger Hauch streifte Peter Marshall. Vor Schreck entglitt das Whiskyglas seinen Fingern und fiel dumpf auf den Fellvorleger.

Er hatte sich nicht getäuscht! Da war eben eine Bewegung gewesen! Und nun hatte sie sich wiederholt. Schattengleich war etwas an ihm vorübergeeilt. Etwas, das scheinbar darauf vertraute, von einem Beobachter als Sinnestäuschung abgetan zu werden. Peter Marshall aber war sich absolut sicher, keiner Täuschung zum Opfer gefallen zu sein. Er wusste, was er gesehen hatte, wenn es auch flüchtig gewesen war und nicht eine sichtbare Spur hinterlassen hatte.

»Nein«, wurde selbst sein Flüstern noch einen Deut leiser. »So weit werden sie nicht gehen …«

In der Penthousewohnung war es still geworden. Hatte das Kichern und Gackern der Prostituierten ihn vormals genervt, wünschte er es sich in diesen Augenblicken geradezu herbei. Er wollte Gesellschaft haben, wollte Menschen um sich wissen, damit seine einsame, nagende Furcht ihn nicht weiter bedrängte.

Die Girls sind im Bad, dachte er und ging durch den breiten Flur, an den sich elf weitere Zimmer anschlossen. Verschwenderischer Luxus für einen einzigen Mann und nicht zu vereinen mit den Grundsätzen, auf denen die Metrocitys errichtet waren. Doch besondere Ämter brachten besondere Privilegien mit sich. So war es immer gewesen. Und wenn es nach den Drahtziehern dieser Gesellschaft ging, würde sich daran auch nie etwas ändern.

Die Tür zum Badezimmer stand offen. Trotzdem hörte Marshall kein Sterbenswörtchen von den Frauen.

Das fehlt mir noch, dass diese bekifften Nutten irgendwo durch die Wohnung schleichen und Scheiße bauen.

Leicht verärgert wollte Marshall Zimmer für Zimmer absuchen, warf aber dennoch vorher einen knappen Blick ins Bad – und prallte ächzend zurück an den Türrahmen. Die Augen quollen ihm nahezu aus den Höhlen, und eine unsichtbare Drahtschlinge wollte ihm die Kehle zuschnüren. Seine verkrampften Hände suchten Halt an der Wand, rutschten jedoch ab: sie waren schweißnass.

»Das ist … ein Albtraum …« Peter Marshall zitterte vor Kälte in dem angenehm temperierten Raum. Fassungslos stierte er auf die zerstückelten Körper der beiden Callgirls. Die Teile ihrer  tranchierten Leiber waren blutbespritzt und schwammen in roten Lachen. Hände, Arme, Beine, Kopf und Brüste – alles vom Rumpf abgetrennt und wie Abfall fortgeworfen. Irgendjemand hatte innerhalb kürzester Zeit und völlig lautlos ein unglaubliches Gemetzel veranstaltet und es dabei auch noch fertig gebracht, unerkannt zu entkommen.

Diese Bewegung!, ging es dem Regierungsbeamten durch den Kopf. Ich … ich werde noch wahnsinnig …!

Marshall rang nach Luft. Er war unfähig, sich zu rühren, und beim Anblick der hingeschlachteten jungen Mädchen wollte sich sein Magen umstülpen. Dennoch konnte er nicht für einen einzigen Moment seine Augen von dem Blutbad abwenden.

Bis zu dem Augenblick, da er den Schatten ein drittes Mal sah!

Nicht etwa eine schwarze Gestalt, die sich ihm näherte, sondern ein schemenhaftes, blass konturiertes Wesen, das einen Schatten warf. Doch ebenso, wie der Schemen sich in Nichts auflöste, verschwand der Schatten schlagartig.

Peter Marshall aber wusste, dass die Gestalt immer noch da war, auch wenn er sie nicht sehen konnte. Sie würde auch ihn erwischen und ihm etwas Unbeschreibliches antun.

Das war der Tritt in den Hintern, den Marshall gebraucht hatte, um seine panische Lethargie zu überwinden. Gehetzt stürzte er den Flur entlang. Untrüglich hämmerte ihm seine Wahrnehmung ein, von einem Geistwesen verfolgt zu werden.

Er hörte es nicht, er sah es nicht!

Er fühlte nur, es war da!

Seine Beine waren wackelig, als er das riesige Wohnzimmer erreichte, hinter die Couchrundecke stolperte, sich auf den Rückenpolstern abstützte und mit fiebrigem Blick nach seinem Verfolger Ausschau hielt.

Meine Augen sind nutzlos!, pochte es in seinem Verstand. Sie sind wie Gespenster. Ich kann ihnen nicht entkommen …

Ein entsetzliches Gefühl, wenn die fünf Sinne versagten, der sechste jedoch Alarm schlug.

Und dann spürte er die Berührung, fühlte die Kälte in seinem Nacken und das Wispern in seinen Ohren.

Kreidebleich wirbelte Peter Marshall um die eigene Achse und starrte auf eine Erscheinung, die lediglich eine gläserne Wölbung in der Luft war, den Kopf drehte und augenblicklich aus dem sichtbaren Spektrum verschwand. Dafür wurde der Regierungsbeamte urplötzlich von beiden Seiten so fest gepackt, dass er aufschrie und im beginnenden Wahn für nur einen einzigen Lidschlag ein halbes Dutzend Schatten bemerkte, die alle nur wegen ihm hier waren.

Geheimnisvolles Wispern erfüllte das Wohnzimmer, Stimmen, die mit ihm sprachen, ganz so, wie der Anrufer mit ihm gesprochen hatte.

Der Stich in Marshalls Eingeweide war nicht unbedingt schmerzhaft, doch er ging einher mit der Gewissheit, dass man ihm eine Verwundung zugefügt hatte, die niemals heilen würde.

Doch das war erst der Anfang!

Starr vor Entsetzen sah er die Klinge, die, von unsichtbarer Hand geführt, seinen Bauch bis zur Brust hin aufschlitzte. Etwas griff in ihn hinein, grub sich durch seine Eingeweide und bekam die Wirbelsäule zu fassen.

Peter Marshalls Schrei hatte nichts Menschliches mehr an sich, als der Schemen einige herausgebrochene Rückenwirbel durch die aufgeschnittene Bauchdecke zerrte. Marshall klappte zusammen und prallte hart zu Boden. Glasig waren seine Augen an die Decke gerichtet. Wie durch einen nebligen Schleier nahm er wahr, was weiter mit ihm geschah, spürte die Stiche und Schnitte, hörte das Sägen und Schaben.

Sie waren gekommen, ihn bestialisch zu töten! Weil sie anders nicht einfordern konnten, was sie von ihm verlangt hatten.

Vielleicht wäre Marshall auf ihre Forderungen eingegangen, wenn er nur ansatzweise geahnt hätte, wer sich hinter ihrer freundlichen Maske verbarg.

Immer noch hatte sich sein Blick festgesaugt an der Decke des Penthouses.

Ein Tränenrinnsal perlte aus seinen Augenwinkeln.

Es würde ebenso versiegen wie der Blutstrom, der aus seinen durchtrennten Venen pulste …

 

*

 

»Was treibste gerade, Zach?«

Nicoleta Belà lugte über das Geländer der Wendeltreppe. Ein Knie hatte sie auf die Stufe gestützt und wedelte mit ihrem Fuß rum.

Zach Darkovicz sah vorsichtig von seinem Pult neben der Werkbank auf, an dem er etwas zusammenschraubte, und linste die Treppe hoch.

»Gott, Mädchen, bin ich dir dankbar!«, sagte er erleichtert und öffnete das blinzelnde Auge. Über das andere Auge war ein Elektronen-Okular gestülpt, das große Ähnlichkeit mit einem Zielfernrohr hatte.

»Ist das ’ne Antwort auf meine Frage oder hab ich was verpasst …?«

Der 74-jährige Erfinder, Konstrukteur und Weltraumpionier öffnete einen Schnallenverschluss an seinem Hinterkopf und nahm das Okular ab.

»Ich hatte nur die Befürchtung, du würdest wieder komplett textilfrei herumlaufen. Ist nicht gut für einen alten Mann, nackte Mädchen im Alter seiner Enkelin zu sehen.«

»Du bist Opa?«, wunderte sich Nici und platschte auf nackten Füßen die Stufen hinunter. »Hast du nie erwähnt.«

»Das war nur eine Redewendung, um zu beschreiben, wie ich dich sehe.« Darkovicz tastete nach seiner Brille und setzte sie auf. »Um aber deine Frage zu beantworten: Sieh dir das mal an, Kind.«

Nici trat näher und nahm in Augenschein, was Red Zach ihr hinhielt.

»Täusche ich mich«, meinte das Mädchen süffisant, »oder ist das eine Gabel?«

»Auf den ersten Blick sieht es tatsächlich einer Gabel verblüffend ähnlich«, hielt der Alte das Essbesteck triumphierend hoch, »doch es ist viel mehr als das. Es ist ein hochmodernes Gerät zur Steuerung deiner Essgewohnheiten.«

»Ich glaube, ich muss wieder nach oben«, versteckte Nici ihr Gähnen hinter dem Handrücken.

»Nein, warte!« Er drehte die Gabel, hielt sie an den Zinken fest und deutete auf den Griff. »Da ist ein extrem empfindlicher Sensor eingebaut, der nicht nur die Abstände zwischen der Nahrungsaufnahme misst und auswertet, sondern anhand deiner Mundflora berechnet, ob du dabei bist, dich zu überfressen. In beiden Fällen macht dieses einzigartige Instrument sich mit einem roten oder grünen Signallicht bemerkbar und einem Summen, das ähnlich dem Buzzer in den Game-Shows ist.«

»Kommt man bei dem ganzen Piepen und Leuchten denn noch zum Essen …?«

»Naja«, gab Zach zu, »momentan bockt das Mistding und zeigt nur Rot an. Aber das ist lediglich eine Frage der Zeit. Und wenn es so weit ist, Nici, wirst du Zeuge des Heranwachsens einer Gesellschaft, die aus attraktiven, schlanken Menschen besteht.«

»Hast du schon mal an sportliche Aktivitäten gedacht, die dasselbe bewirken und dir dabei keinen Dachschaden verpassen?« Nicoleta breitete die Arme aus. »Schau mich an, Zach. Kein Gramm Fett zu viel dank täglicher Morgen- und Abendgymnastik auf meinem geilen, schwarzen Wohltäter …«

»Nici! Bitte!« Darkovicz hob die Hände und sah die Rumänin aus großen Augen an. »Das ist ein bisschen viel Information für mich. Vielleicht lässt du die Details in Zukunft aus.« Er legte die Gabel zur Seite. »Himmel, wie werde ich nur dieses Bild in meinem Kopf wieder los …«

»Reg dich ab, Zach! Du bist ein Kerl, und die hören doch alle gerne Schweinkram.«

»Also gut«, erwiderte Darkovicz ruhig, »du hörst mir nicht zu. Du bist ein liebenswertes Mädchen, und ich mag dich. Aber ich mag dich so, wie man ein Familienmitglied mag. Und von Familienmitgliedern möchte ich keinesfalls wissen, was sie mit ihren Intimpartnern treiben, wo sie es treiben oder wie oft sie es treiben.«

»Schon klar.«

»Nein!«, beharrte Zach. »Nichts ist klar! Besonders, wenn du es sagst!« Er hatte einen freundlich-gestrengen Ton angeschlagen. »Ich möchte, dass du mir versprichst, deine wie auch immer gearteten Ferkeleien mit Ricco in meinem Beisein weder zu schildern, noch sie überhaupt zu erwähnen. Meinst du, du kriegst das hin …?«

»Hey, Zach.« Nicoleta klimperte mit den Wimpern. »Dir kann ich einfach keinen Wunsch abschlagen. Deshalb hab ich mir doch auch Top und Shorts übergezogen. Nur für dich. Findest du nicht, du solltest das wenigstens mit einer klitzekleinen Erwähnung würdigen?«

Darkovicz lachte trocken auf und zeigte ein breites Lächeln.

»Dir kann ich wirklich nicht gram sein, Kindchen.« Er erhob sich von seinem Pult und nahm sie in die Arme. Dann hauchte er ihr einen Kuss auf die Wange. »Pass auf mit deinen Füßen; der Boden hier ist ganz schmutzig.«

Gerade wollte Nici eine Erwiderung geben, da tönte von oben eine Stimme herab:

»Komm mal hoch, Nici! Ist ein Typ am Visiophone, der mit Jericho reden will!«

»Jerri ist nicht da!«, rief sie hoch. »Soll sich später noch mal melden!«

»Ist aber wichtig!«, kam Verena Dambrosi die Stufen heruntergestürzt und blieb am unteren Absatz stehen. »Der Kerl heißt Beck. Ist von der Regierung.«

»Beck«, überlegte Nicoleta. »Der hat uns gerade noch gefehlt …«

»Heißen die nicht alle Beck, Miller oder Smith?«, fragte Zach. »Austauschbare Figuren in einem undurchsichtigen Spiel, das von der GSA betrieben wird.«

»Wohl wahr«, gab Nici ihm recht. »Auf Titan haben die Jungs uns ordentlich verarscht. Aber Jerri ist nun mal auf den Zaster scharf. Da darf man nicht jeden Beschiss auf die Goldwaage legen.«

»Wenn Ricco nur ein Zehntel des Zasters, den er verdient, in meine Erfindungen investierte, würden die Patente uns steinreich machen.«

»Und nach der Massenklage unzufriedener Kunden ins Armenhaus bringen …«

»Ihr werdet euch noch umgucken«, prophezeite Darkovicz mit erhobenem Finger. »Alle werdet ihr euch noch umgucken …«

Nicoleta lief bereits hinter Verena die Wendeltreppe hinauf.

»Wie gefällt’s dir im Loft, Bros?«, fragte Nici. »Matratze schon eingeweiht?«

»Noch nicht, du Luder«, sagte Verena halb über die Schulter. »Hab heute Abend aber ein Date.«

»Strammer Bengel oder flutschiges Feuchtbiotop?«

»Eine 40-Jährige«, erwiderte Bros im Laufen. »Glaubt, sie wäre eine waschechte Lesbe. Hat aber wahrscheinlich nur eine Handvoll negativer Schwengelerfahrungen hinter sich.«

Mit dem nächsten Satz war Nicoleta beim Visiophone.

»Zach sollte mal gescheite Netzwerkverbindungen schaffen, damit wir nicht immer zum Anschluss in der obersten Etage rennen müssen«, sagte sie noch, dann nahm sie das Gespräch an.

Etwa zwei Minuten hörte sie zu und legte auf.

»Was gibt’s?«, war Verena neugierig.

»Kommt gleich ’n Auftrag ran. Ich stöpsle nur Jerichos Identity-Card ein, um die Dechiffrierung zu starten.«

»Weißt du denn nicht, worum es geht?«

»Steht in der Auftragsbeschreibung.«

»Aber wenn du den Code entschlüsselt hast, gilt der Auftrag als angenommen. Den kannst du dann nicht mehr abgeben …«

»Weiß ich.«

»Sollten wir nicht lieber warten, bis Jericho zurück ist? Nur, damit nichts schiefgeht.«

»Was soll schon schiefgehen, Pussy? Jerri kann noch stundenlang weg sein. Will mir nicht sein Gemaule anhören, dass uns ’n saftiger Job durch die Lappen gegangen ist, nur weil keiner ’ne mickrige Entscheidung treffen wollte.«

»Dann ruf ihn über NET-Mobile an.«

»Du nervst jetzt aber echt, Bros. Hoffentlich war das kein Fehler, dich einziehen zu lassen.«

»Leck mich, Nici!«

»Hast du dafür nicht eine 40-jährige Schein-Lesbe?«

»Also gut! Mach, was du willst! Aber ich halte für deinen Bockmist nicht meine Rübe hin!«

»Aber sicher das Becken für dein Date …«

Die Prozedur mit der Decodierung dauerte eine Weile. Als die Mitteilung schließlich aus dem Drucker kam, schnappte Verena sie Nici vor der Nase weg, die geduldig wartete, bis ihre Mitbewohnerin das Blatt senkte.

»Und, du Giftnudel?«, fragte Nici. »Weiß dein Kindskopf jetzt alles, was er wissen wollte?«

»Warst du schon mal in ›Danton Hill‹?«, ging Bros nicht auf die Provokation ein.

»Dieses Dreckloch?«, schüttelte sich Nicoleta und nahm das Papier, das sie gereicht bekam. Rasch überflog sie die Zeilen und setzte sodann ein gefährliches Lächeln auf.

»Sollen einen Gen-O-Matic ins Visier nehmen. – Genau unsere Kragenweite, Bros.«

»Wohl eher die von Jericho …«

»Papperlapapp! So was langweilt den nur. Und jetzt schnall deine Ballermänner um! Wir gehn auf die Jagd!«

 

*

 

Sieben Jahre vorher – Februar 2043

 

War ein sagenhaftes Gefühl, endlich wieder schwere, haarige Eier in der Hose zu haben. Nach den beiden Attentaten, die man auf sie verübt hatte, konnte Jericho Blane kaum glauben, vollständig und genauso gut wie vorher wiederhergestellt zu sein.

»Ein Hoch auf die Gentechnologie!«, prostete er sich selbst im Spiegel gegenüber der Theke von ›Teague’s Tavern‹ zu.

»Haben Sie etwas zu feiern?« Der Wirt der ›Tavern‹, Brion Teague, schaute ihn fröhlich und aufmunternd an.

»Und ob ich das habe!«, plapperte Blane mit loser Zunge. »Zwei lieb gewonnene Freunde sind zu mir zurückgekehrt.«

»Sie hätten sie einladen sollen, wenn Sie derart gut befreundet sind.«

»Sie sind hier«, nuschelte Blane, der bereits allzu tief ins Glas geschaut hatte. »Hier direkt bei mir!«

Brion Teague beugte sich argwöhnisch über den Tresen und folgte dem hektisch deutenden Zeigefinger seines Gastes.

»Ihre … Beine?«, zeigte der Wirt ein verunglücktes Lächeln.

»Neeeiiin! Das dazwischen …«

Teague schluckte und sah Jericho Blane treuherzig an.

»Sie meinen … Sie meinen Ihre … Ihre …«

»Genau! Meine Eier! Hab sie wieder! Und besser als vorher!«

»Kann verstehen«, schnappte der ›Tavern‹-Wirt nach einem Spüllappen und begann zu wischen, ohne hinzusehen, wo er wischte, »dass Sie sich freuen, Mister.«

»Jericho heiß ich! Für meine Freunde heiß ich Jericho.« Die letzten fünf Kurzen waren ihm viel zu schnell ins Blut gegangen. »Und du? Wie nennen dich deine Freunde?«

»Einfach nur Brion«, sagte er.

»Das ist eine wunderschöne, kleine Taverne, Brion«, zwinkerte Blane mit einem Auge. »Richtig gemütlich. Wenn ich anstelle von Durst mal Hunger haben sollte, komme ich bestimmt auf ein Steak bei dir vorbei.«

»Gerne. Wir haben keine große Speisenauswahl, aber dafür ist alles gut bürgerlich. Die meisten Gerichte sind in der kostenlosen Grundversorgung enthalten. Aber auch die anderen Menüs sind nicht teuer und äußerst schmackhaft.«

»Und davon kannst du leben?«, fragte Blane. »Ich meine von dem, was die paar Bestellungen einbringen?«

»Ich selbst bekomme ja auch meine Grundversorgung und kann mich mit Lebensmitteln eindecken. Die Taverne führe ich doch nur, weil der Betrieb mir Freude bereitet und ich gerne mit Menschen zusammen bin. Die Dimes, die ich mit dem Verkauf verdiene, reichen aber aus, meine nicht allzu kostspieligen Hobbys zu finanzieren.«

Jericho Blane hatte mit offenem Mund zugehört und glatt vergessen, weiter zu trinken.

»Du bist ein guter Wirt«, lallte er und sank auf der Theke zusammen.

»Darf’s noch einer sein?«, erkundigte sich Brion Teague höflich. »Ich gebe einen aus. Geht aufs Haus.«

»Das ist … scheißfreundlich von dir, Brion.« Ruckartig federte Blane hoch.

»Dir ist da was aus der Jackentasche gefallen«, wies Brion mit dem Kinn zu Boden und füllte das Gläschen auf.

Blane drehte langsam den Kopf zur Seite, kniff das rechte Auge zu und riss das linke weit auf.

»Ei der Daus!«, rief er, wollte elegant vom Hocker gleiten und konnte mit Ach und Krach im letzten Moment eine Bauchlandung verhindern. »Der Reklamezettel von ›Steif und Burlinger‹ …«

Brion Teague hob eine Braue.

»Das ist ein Kautionsbüro, wenn ich mich recht entsinne.«

»Rrrrichtiiisch! Und da gehe ich mich jetzt vorstellen.«

»Jetzt …?«, fragte Teague ungläubig. »Die Agentur ist in Central Metrocity. Kein Denken dran, vor Geschäftsschluss noch da anzukommen.«

»Wieso?«, stieß Blane unverständlich hervor. »Wieso das? Wo bin ich denn hier?«

»Na, im Retroviertel …«

»Im Retro… was

»Bei uns ist alles noch so wie vor siebzig Jahren. Der ganze Technik-Klimbim ist praktisch vor der Tür geblieben. Sogar die Häuser und die Einrichtungen der Gaststätten stammen noch original aus dieser Zeit.«

»Ich glaub, mich laust der Affe. Wie zum Geier bin ich bloß hergekommen?«

»Hm«, zuckte Brion Teague die Schultern. »Die Tür ging auf – und du warst da …«

»Ja!«, hieb Blane mit der Faust auf den Tresen. »So und nicht anders ist es gewesen!« Er tastete nach dem randvoll gefüllten Gläschen, verfehlte es zweimal, bekam es schließlich doch in seine Finger und kippte sich den Inhalt in den Hals. Mit einem lauten, wohligen Seufzer knallte er es auf das Thekenholz.

»Du bist ein guter Freund, Brion. Ich werde dich noch oft besuchen kommen.« Vorsichtig, ganz vorsichtig rutschte Jericho von dem Hocker herunter, hielt sich daran fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und wischte mit der Hand über die Sitzfläche, als wollte er Staubflöckchen entfernen.

»Ich muss dich leider verlassen. Leiderleiderleider.« Blane führte den Zeigefinger zum Mund und machte »Psst«. »Dringende Geschäfte, Brion. Wenn du verstehst, was ich meine …«

»Steif und Burlinger«, nickte Brion.

»Pscht!«, machte Blane. »Geenaauuu …«

Jericho Blane wankte durch die Tür und rief lautstark nach einem Cab.

Der Wirt der ›Tavern‹ lächelte versonnen vor sich hin und spülte Gläser. Er konnte sich nicht vorstellen, diesen komischen Kauz jemals wiederzusehen …

 

*

 

»Ich möchte zu Mister Burlinger«, betrat Jericho Blane früh am nächsten Morgen das Büro der Kautionsagentur.

»Dann sind Sie bei der falschen Adresse gelandet!«, stellte sich ihm eine adrett gekleidete Dame in den Weg, als wolle sie verhindern, dass er auch nur einen Meter weiterging oder gar von einem der Angestellten gesehen wurde.

»Aber ich habe ein Werbeblättchen mit dieser Adresse«, kramte Blane den Zettel hervor und reichte ihn der Frau, die ihn kühl musterte.

»Richtig. Das ist hier. Aber wie ich sehe, suchen Sie eine Mrs Burlinger. Und die steht in diesem Moment vor Ihnen.« Kalt lächelnd gab sie Blane das Reklameblatt zurück. »Wie Sie allerdings an den Wurfzettel kommen, will mir nicht so ganz einleuchten. Sie sehen nicht aus, als lebten sie in den Gegenden, wo wir sie verteilt haben.«

»Ist ’ne lange und vor allem komische Geschichte –«

»– die Sie mir keinesfalls erzählen werden, Mister …«

»Blane. Jericho Blane.«

»Bleiben wir doch beim Nachnamen. Wir legen Wert auf Diskretion und Distanz und sind nicht sonderlich intim mit unserer Klientel.«

»Verstehe, Mrs Burlinger.« Blane betrachtete sie abschätzend, in der Hoffnung, ein wenig an Boden wieder gutzumachen, den diese spröde Persönlichkeit ihm unter den Füßen weggezogen hatte.

»Mister Blane, falls Ihre eigentümliche Betonung gepaart mit Ihrem erniedrigenden Blick eine seichte Anspielung auf meine Position in dieser Agentur sein sollte, möchte ich Sie höflichst bitten, Ihre Meinung über die Stellung der Frau in unserer Gesellschaft für sich zu behalten.«

»Die Kaliber, mit denen Sie es für gewöhnlich zu tun bekommen«, sagte Blane schadenfroh, »sind da sicher wesentlich sensibler …«

»Ihr Spott trifft mich nicht. Außerdem möchte ich meine vage Meinung über Sie revidieren: Sie, Mister Blane, unterscheiden sich kein bisschen von diesen Kalibern …«

»Mag sein. Dennoch bin ich nicht der, für den Sie mich halten. Ich komme nicht als Kunde, sondern als Mitarbeiter.«

Lange Sekunden wurde zwischen den beiden kein Wort gesprochen.

»Gut«, erwiderte Mrs Burlinger schließlich, »Sie können anfangen.«

Blane runzelte die Stirn.

»Einfach so?«

»Was haben Sie denn gedacht? Wollen Sie einen Lebenslauf hinterlegen, mir alte Schulzeugnisse auftischen oder ähnlichen Blödsinn anschleppen, der schon längst ins Altpapier gehört hätte und mich bestenfalls zu Tode langweilen würde?«

»Ich dachte an einen Eignungstest oder etwas Ähnliches.«

»Aha.« Mrs Burlinger schien zu überlegen, wandte sich von Blane ab und stolzierte hinter ihren Schreibtisch, wo sie eine Schublade öffnete und eine Mappe herausholte. »Finden Sie diese Zwillinge und liefern Sie sie bei der Metrocity-Police ab. Dann erhalten Sie Ihre Prämie.«

»Sind wohl vor ’ner Verhandlung ausgebüchst, und jetzt müssen Sie vor Gericht in Vorleistung gehen.«

»Nein, die Zwillinge arbeiten ehrenamtlich im Obdachlosenasyl und haben einfach die Zeit vergessen …« Mrs Burlinger stieß genervt die Luft aus. »Natürlich sind sie ausgebüchst! Und wenn sie übermorgen nicht auf der Anklagebank sitzen, schöpft der Metrocity-Gouverneur mehr Terra-Dimes ab, als Sie je verdienen werden!«

»Ich hab vor, ’ne ganze Menge zu verdienen, Miss …«

Der genervte Gesichtsausdruck der Burlinger war wie in Stein gemeißelt.

»Dann bin ich jetzt offiziell Bounty Hunter?«, setzte Blane nach und fing elegant die Mappe auf, die nach ihm geworfen wurde.

»Sie sind offiziell als Plage anerkannt! Wagen Sie erst, sich wieder zu melden, wenn Sie von dem Polizeirevier aus anrufen, bei dem Sie die Zwillinge und den Haftbefehl abgeliefert haben!«

»Mach ich glatt.«

Blane verließ das Büro und warf die Tür hinter sich zu. Er hatte noch nicht ganz den Aufzug erreicht, da wollte es ihn von innen her zerreißen.

»Gott nein! Nicht jetzt!«

Er kannte die Krämpfe und Lähmungserscheinungen nur zu genau, die ihn in unregelmäßigen Abständen seit seiner OP in der Rubin-Rosgard-Stiftung heimsuchten. Vermutlich leisteten die zusätzlich injizierten Aufbaupräparate ebenfalls einen nicht zu unterschätzenden Beitrag an seiner Verfassung. Was aber erschwerend hinzukam war der beängstigende Anstieg seines Aggressionspotenzials. Er spürte förmlich grundlose Wut in sich hochkochen. Und wäre diese arrogante Zicke Mrs Burlinger greifbar gewesen, hätte er ihr ein paar Ohrschellen verpasst, die sie zum Dauerpatienten in der Orthopädie gemacht hätte.

Reiß dich zusammen, Jericho!, redete er sich zu und biss die Zähne aufeinander. Sei keine jämmerliche Witzfigur!

Blane sank zu Boden, ignorierte die verstimmten Blicke der Vorübergehenden und wartete, bis sein Zustand sich normalisiert hatte. Das rote Tuch vor seinen Augen verschwand; seine Muskeln gehorchten ihm wieder. Trotzdem war ihm klar, dass er etwas unternehmen musste. Im ›Sinister Quarter‹ waren ihm die Paralyseerscheinungen beinahe zum Verhängnis geworden.

Zwei Stunden später erreichte er seine Wohnung im Bezirk Alpha minus, DD, Gelb, 5000. Jedes Mal, wenn er sie betrat, fühlte er sich elender und verspürte den stetig wachsenden Drang, sein unterirdisches Verlies schnellstmöglich zu verlassen. Das Geld, das er bei der ›Zenith Insurance‹ verdient hatte, reichte nicht aus, den Sprung in die besseren Gegenden zu wagen. Aber als Kopfgeldjäger mochte sich das Blatt rasch wenden.

Ein wenig erschöpft legte er sich aufs Bett und begann in den Steckbriefen zu lesen.

Luther und Hugo Eggnut, betrachtete Blane die Gesichter der Flüchtigen, ihr seid meine Fahrkarte in den Wohlstand …

 

*

 

Gegenwart

 

›Danton Hill‹ war einer jener Stadtteile, die zu den Altlasten der modernen Metropole zählten. Aus Gründen, die Architekten wie Städteplaner mit dem vieldeutigen Begriff ›Tradition‹ umschrieben, waren die antiquierten Bauten nicht der Hypertechnologie gewichen, die die Metrocitys so einzigartig machte unter den Großstädten der Erde. Meistens hatten sich skurrile Personen und Familien in diese Bereiche zurückgezogen, Menschen, die die Segnungen der Wissenschaft verweigerten und ohne Nano-Legierungen, Überwachungssensoren und Funkstrahlung leben wollten. Die City-Gouverneure ließen diese Randgruppen unter dem Dach der Metrocitys existieren, wiesen jedoch laufend auf die Gefahren hin, die sich alleine aus der fehlenden Kontrolle ergaben und Verbrechen Tür und Tor öffneten. So stellte auch ›Danton Hill‹ keine Ausnahme von der Prognose dar; eher zeigte es sich noch ein bisschen düsterer. Es war ein schmutziges Getto, mit dunklen Straßen, verwinkelten Gassen und schmalen, hohen Häusern, die dicht an dicht standen und aufgrund ihres Alters bestrebt schienen, einander zu stützen. Dunkel waren auch die Gesichter, die nur aufgrund der weißen Augenpaare darin ab und an in den finsteren Ecken und Nischen zu ahnen waren und ebenso schnell verschwanden, wie sie aufgetaucht waren.

»Als du ›Danton Hill‹ ein Dreckloch genannt hast, ahnte ich schon, dass du dem Kaff schmeicheln wolltest.« Verena Dambrosi tastete mit der rechten Hand nach einer ihrer beiden COMBAT MARK357, die sie in über der Brust gekreuzten Schultergurten trug. Sofort durchfloss sie das Gefühl von Sicherheit bei der Berührung der großkalibrigen Waffe.

»Haste jetzt schon Schiss, Bros?«, erwiderte Nici frech. Sie trug ihre zwei COLT M2011 G an der Hüfte. Die Spezialpatronen waren noch eine Nummer größer als die von Verenas Pistolen, dafür war der COLT trotz Halbautomatik ein wenig träger.

»Red kein Blech, Nici, und führ uns zu der Adresse, die Beck uns geschickt hat. Und nur für den Fall, dass Jericho dich schon blödgevögelt hat, ein kleiner Tipp: Halt dich mit Ballern zurück! Wenn du in ›Danton Hill‹ eine Kugel abfeuerst, kann es sein, dass du tausend davon zurückbekommst.«

»Spar dir die Predigt, Betschwester. Falls ich draufgehe, will ich zumindest den Grund dafür kennen.«

Sie schlichen durch eine kaum beleuchtete Seitenstraße und versuchten anhand eines Stadtplans des Viertels zu der Adresse zu gelangen, die sie observieren sollten. Ein Navigationsgerät hatten sie nicht verwenden können, da ›Danton Hill‹ dort nicht verzeichnet war.

»Reicht dir der Grund nicht«, grinste Bros in sich hinein, »beim Poppen zu oft an die Bettkante gestoßen zu sein?«

»Denkst du«, konterte Nicoleta, »deine kindischen Sticheleien könnten irgendwas anderes bewirken, als mir wie ein trockener Pups am Arsch vorbeizugehen …?«

»Autsch!«, tat Verena betroffen. »Du wirst doch nicht etwa beleidigt sein? Das würde nämlich die Frage von Neuem aufwerfen, wer hier kindisch ist …«

»Halt die Klappe und zieh deine Lockenpracht ein!«, zischte Nici. »Ich glaube, da hinten ist es.« Geduckt deutete sie zum Ende der Gasse; auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren mehrere freistehende Häuser zu sehen.

»Cornrows«, entgegnete Verena kühl. »Keine Locken.«

»Halt mal die Kiefer beieinander«, meinte Nicoleta. »Du erregst zu viel Aufmerksamkeit.«

Verena Dambrosi steckte die Zunge ein Stück aus dem Mund und machte ein Geräusch, das man am ehesten als lautstark abgehende Blähung bezeichnen konnte.

»Der Zug ist abgefahren«, erklärte sie bissig. »Ich weiß sowieso nicht, weshalb wir mit schwerer Artillerie aufkreuzen; schließlich haben wir einen Observierungsauftrag.«

»Weshalb bringt die Mutter den Erstklässler zur Schule, obwohl wir Verkehrsregeln und sichere Straßen haben? Warum haben elektrische Geräte einen Überspannungsschutz, obwohl die Einschlagquote für einen Blitz bei 1 zu 1.000.000 steht …?«

»Jaja, schon kapiert …«

»Und wie kann es sein, dass Bi-Frauen sich mit Lesbenmuschis vergnügen, obwohl sie viel lieber von schwarzen Dickschwänzen genagelt werden würden?«

»Du bist impertinent!«, antwortete Verena abweisend. »Du klammerst dich an Jericho, als wäret ihr ein Ehepaar.«

»Nun werd’ mal nicht biestig! Mir dreht keiner ’nen Trauschein an. Außerdem klammere ich nicht. Jerri kann tun und lassen, was er will.«

»Na klar! Wo ihr doch gerade erst zusammengezogen seid …«

»Aber mehr als WG, nicht als Liebespärchen.«

»Warum stellst du dich dann so an, wenn ich deinem Loverboy mal ’nen Blick zuwerfe?«

Nicoleta Belà sah über die Straße, dann zum Boden und schließlich in Verenas Augen.

»Weiß ich auch nicht.« Ein langer Augenblick verging. »Macht mir wohl Spaß …«

Jetzt war es an Verena Dambrosi, für einige Momente innezuhalten, in dem Gesicht ihrer Teampartnerin zu lesen, deren wahre Beweggründe plötzlich wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihr lagen.

»Wow! Damit hatte ich nicht gerechnet!«, rief sie verblüfft aus. »Du bist ja eifersüchtig! Nicht auf Jericho, sondern auf mich. Weil ich jünger bin als du, du der Meinung bist, ich hätte mehr Grips und tatsächlich annimmst, Jericho würde springen, wenn ich mit dem Finger schnippe.«

»Schnippe ich mit dem Finger«, entgegnete Nici mühsam beherrscht, »lässt Jerri dich über die Klinge springen …«

Bros lächelte mild.

»Wehr dich doch nicht, Nici. Jetzt, wo ich alles weiß, kann ich mich viel besser in dich hineinversetzen. Ja, ich kann dich sogar gut verstehen …«

»Mach jetzt bloß nicht einen auf beste Freundin, du –«

Verena verpasste Nici einen derben Stoß und riss sie mit sich zu Boden. In Nicoletas erstaunten Aufschrei mischte sich das leise Rattern einer Maschinenpistole. Unweit der Gasse wurde der Straßenbelag von mehreren Einschüssen aufgerissen.

»Schlechter Schütze!«, lag Nici unter Bros, die Rechte an ihrem COLT.

»Das galt nicht uns.« Verena stand auf und reichte Nici eine Hand. »Die Schüsse kamen aus dem mittleren Haus; ich hab das Mündungsfeuer gesehen.«

»Das ist unser Haus, Bros!«, zog die Rumänin auch den zweiten COLT und rannte los.

Gleichzeitig kamen sie an dem Gebäude an, pressten sich gegen die Hauswand und umrundeten es in entgegengesetzter Richtung. Während Nicoleta zum Eingang vorstieß, untersuchte Verena die rückwärtige Seite des Hauses. Ein paar hohe Sträucher standen ihr im Weg und ein Bretterzaun, in dem sich eine nur angelehnte Tür befand. Sie glaubte Geräusche zu hören, konnte aber deren Ursprung nicht ausmachen, genauso wenig wie sie zu sagen vermochte, ob es schleichende Schritte waren, die sie wahrnahm, oder nur das Streichen des Geästs, das von leichtem Wind bewegt wurde.

Entsprechend schrak sie zusammen, als ein erneuter Feuerstoß durch die Nachtstille hallte und der flackernde Schein eines Mündungsfeuers direkt über ihrem Kopf am Fenster zu sehen war.

Irgendwo splitterte Glas!

Ein Schrei ertönte!

Verena jagte durch die Tür im Bretterzaun, über ein kleines Rasenstück zur Gartenfront des Hauses. Ein zackiger Blick nach links zeigte ihr eine zersplitterte Terrassentür, ein Blick nach rechts eine eigenartige Silhouette, einen schwach konturierten Schemen, der von der Dunkelheit der angrenzenden Bäume verschluckt wurde.

Bros sprang die Stufen zur Terrassentür empor und wäre unweigerlich in eine MP-Salve gerannt, wenn ihr Instinkt sie nicht fast schmerzhaft gewarnt hätte. Heiß pfiff die Garbe über sie hinweg, als sie in einer Flugrolle zur Seite hechtete und noch während des Abrollens ihre beiden COMBAT MARK357 abfeuerte.

Splitternd schlugen die Geschosse ins Mauerwerk und hinterließen faustgroße Löcher im Lehmputz. Die Gestalt mit der Maschinenpistole ergriff noch in derselben Sekunde die Flucht. Und wäre Nicoleta nicht einen Moment darauf neben Bros aufgetaucht, hätte sie den Flüchtenden an der Haustür abgefangen, durch die er nun ungehindert ins Freie gelangte.

»Ich dachte, du gehst vorne rein!«, maulte Verena.

»Hab die Schüsse gehört. Wo ist der Bastard hin?«

»Na zur Eingangstür, verdammt!«

»Dann los! Das ist garantiert der Gen-O-Matic, den wir suchen!«

 

*

 

Die beiden Frauen stürmten auf die Straße. Der, den sie verfolgten, hatte bereits ordentlich an Distanz gewonnen. Doch solange er ein sichtbares Ziel abgab, würden Nici und Bros an ihm kleben.

»Halt die Knarren nicht so hoch!«, raunte Verena ihrer Partnerin beim Laufen zu. »Du trägst den Killer ja schon aus hundert Metern Entfernung auf die Stirn tätowiert!«

»Da ich die Dinger schon festhalte«, erwiderte Nicoleta kurzatmig, »will ich sie auch benutzen können und mir nicht im Ernstfall beim Ziehen ins Bein schießen!«

Katzengewandt übersprangen sie den halbhohen Zaun eines Vorgartens, rannten über einen Hinterhof und durch einen schlauchartigen Gang zwischen hohen, grauen Mehrfamilienhäusern.

»Der Bursche ist schnell, Nici! Aber bevor der uns abhängt, schneit’s in der Wüste.«

»Leg ’nen Zahn zu, Pussy, und heb dir die Sprüche fürs Poesiealbum auf!«

Der Abstand wurde kürzer. Die Frauen waren immer darauf gefasst, dass der Verfolgte sich urplötzlich umdrehte und sie ohne Warnung unter Feuer nahm. Er musste fühlen, dass es für ihn kein Entkommen gab, denn er wurde sichtlich langsamer.

»Jetzt aber Obacht!«, meinte Verena mit gedämpfter Stimme. Sie hielt ebenfalls an; Nici war bereits in Combat-Stellung gegangen, eine Faust mit ihrem COLT vorgereckt.

»Langsam umdrehen, Mister!«, rief Verena den Fremden an. Er stand mit dem Rücken zu ihnen, etwa fünfzig Meter voraus. Den Waffenarm hatte er gesenkt.

Mit vorgestreckten Pistolen ging Verena auf den Mann zu.

Ein Durchschnittstyp, dachte sie. Einer, den man sah und gleich wieder vergaß.

»Was wollen Sie von mir?« Der Kerl hatte einen eigenwilligen Dialekt, den Verena nicht sofort einordnen konnte.

»Dazu müssten wir erst wissen, auf wen Sie vorhin geschossen haben.«

»Was hatten Sie bei meinem Haus zu suchen?«, redete der Mann weiter. »Wer schickt Sie?«

»Lassen Sie das Schießeisen fallen, und wir reden.«

Bros’ Augen hatten sich am Gesicht des vermeintlichen Gen-O-Matics festgesaugt. Sollte er vorhaben, sie niederzuschießen, würde sie es in seinem Blick erkennen. Auch Nicoleta war zügig herangekommen und fixierte über Kimme und Korn den Schädel des Mannes.

»Worüber sollte ich mit Ihnen reden?«

»Darüber, dass Sie ein Gen-O-Matic sind und auch darüber, dass es gewisse Leute gibt, die finden, Sie würden sich zu einer Gefahr entwickeln.«

»Sie glauben, ich bin einer dieser Retortenmenschen?« In der Stimme klang ein heiterer Unterton mit. »Deshalb sind Sie hinter mir her …?«

»Nennen Sie mir einen besseren Grund …«

»Denken Sie etwa, ich hätte auf Sie geschossen? Haben Sie nicht gesehen, wer mich besucht hat?«

»Wovon quatscht der?«, wollte Nici wissen.

»Weiß ich auch nicht genau. Aber der hat echt nicht auf uns geballert. Und ich glaube, da war wirklich etwas in seinem Garten …«

»Etwas?«, dehnte Nicoleta.

»Habs nicht genau gesehen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Kann auch eine Täuschung gewesen sein.«

»Keine Täuschung«, hatte der Fremde die geflüsterte Unterhaltung mitbekommen, »sondern ein Schatten

»Ich fordere Sie nochmals auf, die Maschinenpistole niederzulegen!«, sagte Verena Dambrosi nachdrücklich, als sie das Zucken eines Augenlids beobachtet hatte.

»Man kann ihnen nicht entkommen. Sie sind immer da, wo man sie am wenigsten vermutet.«

»Die MP! Legen Sie sie hin!«

»Sie gehen über Leichen, um an ihr Ziel zu gelangen. Über meine. Über Ihre …«

»Haben Sie was an den Ohren?«, schaltete Nicoleta sich ein und spannte beide Abzugshähne ihrer COLTs. »Den Schießprügel aus den Griffeln!«

Der Mann gab ein unterdrücktes Lachen von sich.

»Wozu wäre das jetzt noch gut? Was würde es ändern?«

»Sie«, entgegnete Verena hart, »würden am Leben bleiben! Im Moment kann ich aber nicht mal sicherstellen, dass das für die nächsten fünf Sekunden so bleibt.«

Der Stich in Verena Dambrosis Magengrube ging einher mit dem verräterischen Blitzen in den Augen ihres Gegenübers. Der Mann schaffte es gerade noch, die MP hochzureißen – doch nicht ein Schuss löste sich. Dafür wurde er innerhalb von zwei Sekunden von mindestens acht großkalibrigen Geschossen durchgeschüttelt, die ihn von den Füßen und meterweit nach hinten fegten. Die Maschinenpistole flog durch die Luft und gegen eine Gruppe Eisentonnen.

Sofort waren die Frauen bei dem Angeschossenen. Die Kugeln hatte hässliche Löcher in seine Schultern, die Brust und den Bauch gerissen, aber es war noch ein Funken Leben in dem geschundenen Leib.

»Sie … haben recht«, flüsterte der Mann röchelnd. In seiner Mundhöhle befand sich Blut. Er würgte es hoch, dass es über seine Lippen rann. »Ich bin … ein Gen-O-Matic. Ich bin …«

Ein Hustenkrampf unterbrach sein Geständnis.

»Die Exemplare, vor denen man mich warnte, habe ich zur Genüge kennen gelernt«, gab Nici einen Kommentar ab. »Meiner Einschätzung nach gehören Sie nicht dazu.«

»Weil Sie in Wahrheit gar nicht … hinter mir her sind, sondern hinter … denen …«

»Sie meinen die Schatten?«

Der Sterbende brachte ein Nicken zustande.

»Wer sind die? Was wollen die? Und welche Rolle spielen Sie dabei?«

Kopfschütteln. Blutblasen auf den Lippen. Eine letzte Kraftanstrengung, den Mund zu öffnen.

»Die Sache … ist zu groß … für Sie …«

Nicoleta schürzte die Lippen; Verena atmete einmal tief ein und wieder aus.

»Tot«, stellte Nici lapidar fest.

»Und jetzt?«

»Sagen wir Beck Bescheid, dass der Auftrag erledigt ist.«

Verena glotzte sie an wie einen Banjo spielenden Goldhamster.

»Der Auftrag ist nicht erledigt. Er ist sogar ganz und gar nicht erledigt! Die Anweisung lautete, zu beobachten. Keinesfalls hatte Agent Beck von einem Blutbad gesprochen.«

»Auslegungssache.« Nicoleta steckte ihre Pistolen ein. »Vielleicht rückt er jetzt damit raus, was dieser Typ uns nicht mehr sagen konnte.«

»Bin schon auf Jerichos Kommentar gespannt. Ein Ständchen wird er uns nicht singen.«

»Kehren wir ›Danton Hill‹ den Rücken«, hatte Nicoleta mit einem Mal einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. »Ich fühle mich ziemlich unwohl in dem Kaff …«

Verena Dambrosi sah ihre Partnerin an und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Alles klar mit dir?«, erkundigte sie sich fürsorglich.

»Schätze schon. Schlagen wir uns raus aus dem Viertel und steigen ins nächste Cab.«

Nici machte ein paar verhaltene Schritte, blieb jedoch wieder stehen.

»Bros, was du eben gesagt hast über Eifersucht und so …«

»Ja, Nici …«

»Das … war richtig nett von dir …«

Sie lächelte verlegen und begann zu rennen.

 

*

 

Jericho saß seit zwei Stunden an der Theke in ›Teague’s Tavern‹. Das war in etwa eine Stunde mehr, als er veranschlagt hatte und ziemlich genau die Zeit, die der Informant, den er hier treffen wollte, überfällig war. Brion Teague, der Inhaber der Taverne, hatte sich in die Küche verzogen; seine Bedienung würde erst kommen, wenn am Abend der Betrieb losging.

Dumpf brütete Jericho über einem Literglas Bier, bis ihn jemand anstupste.

»Hamm Sie mal ’n Dime?«, fragte eine piepsige Stimme.

Jericho sah zur Seite, blickte ins Leere, senkte den Kopf und wurde von zwei großen Augen angeglotzt.

»Kommst doch nicht etwa bei mir betteln, Rotznase?« Der Knirps war höchstens acht, wahrscheinlich jünger. Er trug eine braune Schiebermütze, Jacke und Hose.

»Hab Hunger. Mein kleiner Bruder ist krank und braucht Medikamente.«

»Verarsch ’n anderen, Steppke. Futter kriegste überall kostenlos. Hustensaft auch.«

»Die Stores sind nicht beliefert worden. Hat Plünderungen gegeben und so ’n Zeugs.«

»Aha.« Ruhig trank Jericho weiter und überlegte, wie viel Zeit er seinem Informanten noch geben wollte, bevor er anfing, harte Sachen zu trinken.

»Krieg ich jetzt ’n Dime, Mister?«

»Du kriegst ’nen guten Rat, Flohschleuder: Verpiss dich.«

»Ich hab aber wirklich Hunger! Ich verarsch Sie nicht!«

»Ich dich auch nicht. Besser, du dackelst ab.«

»Sie haben doch bestimmt ’nen Dime übrig. Der tut Ihnen doch nicht weh …«

Hart stellte Jericho seinen Humpen auf den Tresen und sah erneut zu dem Jungen hinunter. Das Gesicht des 8-Jährigen erhellte sich, und auch Jericho lächelte.

Zwei Minuten später kam Brion Teague aus der Küche. Ein Spülhandtuch hing über seiner Schulter, und er brachte den Geruch frisch zubereiteter Speisen mit sich. In den Händen hielt er ein Päckchen, das mit Alufolie umwickelt war.

»Habe ich nicht eben eine Kinderstimme gehört?«, sah der Wirt sich suchend um.

»Kann schon sein.« Jericho prostete Brion zu. »Ich hör auch manchmal Stimmen. Meistens die von Nici, wenn ich sie zureite. Sind aber keine zusammenhängenden Worte.«

Brion stellte das Päckchen ab.

»Der kleine Benedict kommt mich seit zwei Wochen besuchen. In seiner Gegend gibt’s wohl Versorgungsengpässe. Eigentlich müsste der Bursche schon hier sein.«

»Ach, den meinst du. Ja, der war hier.«

»Und wo ist er hin? Der geht doch nicht weg, ohne sein Essen mitzunehmen.« Brion deutete auf das Päckchen.

»Guck doch mal draußen, wo die Beine aus dem Ascheimer ragen …«

Mit seinem Paket huschte Brion durch die Tür, die seit der letzten Prügelei nur notdürftig geflickt worden war, sich verkantete und offen blieb, sodass Jericho noch einmal das empörte Gesicht des Jungen zu sehen bekam, der sich flugs aus dem Staub machte.

»Das war nicht nett«, wedelte Brion mit dem Zeigefinger. »Bestimmt hast du ihn jetzt vergrault.«

»Hab ihm eigentlich ’nen Gefallen getan. Mit dem Dreck im Gesicht sieht er viel bedürftiger aus. Da müsste es doch Dimes für ihn regnen.«

Teague zuckte die Schultern und wechselte das Thema.

»Der Typ, auf den du wartest, lässt sich viel Zeit.«

»Tut er«, erwiderte Jericho gelassen. »Und er sollte eine abartig gute Erklärung dafür parat halten, weil ich aus seiner Visage sonst ein abstraktes Kunstwerk mache.«

»Gib ihm noch etwas Zeit«, beschwichtigte Brion und wischte hinter der Theke. »Bestimmt ist ihm etwas dazwischen gekommen.«

»Meine Faust zwischen seinen Augen ist es jedenfalls nicht gewesen.« Jericho kippte das halbe Glas in mehreren Schlucken hinunter. »Aber was nicht ist …«

Die Tür wurde aufgestoßen. Lässig, die Arme in die Hüften gestützt, stand ein Mann im langen Ledermantel da. Er wirkte jünger als Jericho, hatte einen feinen Oberlippenbart und lange, wellige Haare, die bis über seine Schultern fielen.

»Bist du der Typ, den ich treffen soll?«, deutete er auf Jericho.

»Wenn du Gibson bist, bin ich auf jeden Fall der Typ, der dich umlegen wird.«

»Mal langsam!«, wehrte Gibson ab. »Bin aufgehalten worden.« Er grinste. »War ’ne 16-Jährige mit ’nem Faible für ältere Jungs.«

»Wirst mir glatt sympathisch«, antwortete Jericho, »und hast zehn Minuten Lebenszeit dazugewonnen, die du nicht vergeuden solltest.«

»Hör dir erst mal an, was ich zu sagen habe, Meister. Danach löhnst du mir freiwillig ’nen doppelten Bypass, wenn ich mit achtzig auf der Intensivstation liege.« Gibson warf einen Blick auf Brion, dann sah er Jericho wieder an. »Können wir irgendwo ungestört reden …?«

»Nehmen wir ’nen Tisch ganz hinten«, sagte Jericho und stieg von seinem Hocker runter.

Sie setzten sich an einen Zweiertisch in der äußersten Ecke der ›Tavern‹.

»Was zu trinken?«, rief Brion in den schummrigen Winkel herüber.

Jericho winkte ab.

»Warten wir erst ab, ob mein Freund sich genug Lebenszeit dazuverdient, einen Drink kippen zu können.«

»Na«, brummelte Brion leise vor sich hin, »wollte ja bloß ein paar Krümel vom großen Kuchen ergattern.«

»Dann lass mal hören, Hoschi, was du auf der Pfanne hast.«

»Pass mal auf«, lehnte Gibson sich auf dem Tisch vor und starrte Jericho fordernd an, »mein Name ist nicht ›Hoschi‹, kapiert? Gibson ist zwar auch nicht mein Name, erleichtert aber die Kommunikation. Sollten wir mal gute Freunde werden, sage ich dir, wie ich richtig heiße. Bis dahin halten wir die nötige Distanz. Und ›Hoschi‹ ist nicht gerade eine Bezeichnung, die ich mit distanziert umschreiben würde …«

In Jerichos Miene zeigte sich ein Ausdruck, der am ehesten einem Medikamentenversagen gleichkam. Dennoch fing er sich.

»Biste fertig mit der Ansprache? Will mir nämlich nicht die Backen wundsitzen, um mir deine Kindheitstraumata anzuhören.«

»Und ich steh nicht auf billige Anmache, sondern auf Bares. Zeig doch erst mal, was du dabeihast.«

Jericho öffnete einen Magnetbehälter an seiner Leichtbaurüstung und zog ein Bündel Geldscheine hervor.