image

RIDING HIGH

Death Raiders MC 4

Ronja Weisz

image

© 2019 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt
© Covergestaltung Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783866438691
ISBN eBook-mobi: 9783864438707
ISBN eBook-epub: 9783864438714

www.sieben-verlag.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Kapitel 1

Medina County, Texas im Jahr 2018

Im Club nennt man sie Amor. Denn sobald sie mit einem Mann schläft, verliebt sich dieser unsterblich.

Doch nicht in sie, sondern in eine andere Frau.

Innerhalb der Reihen des Death Raiders Motorradclubs besitzt sie allerdings noch viele weitere Namen: Gigi, Giselle, Clubhure oder manchmal auch einfach nur Hey du! Dabei mag sie keinen einzigen davon und will am liebsten nur Ginny genannt werden, so wie ihre Mutter es tut. Ihre Eltern tauften sie auf den Namen Virginia, der sich wahrscheinlich von virgio ableitet, was so viel wie jungfräulich bedeutet. Die Ironie dahinter ist ihr bis heute nur allzu schmerzlich bewusst.

Doch zu Hause, hier in Texas, ist sie nur Ginny.

Zumindest hofft sie, dass sie das noch ist, denn das letzte Mal ist sie vor drei Jahren hier gewesen. Drei Jahre ist es mittlerweile her, dass sie beschloss, ihre Ausbildung als Pferdetrainerin an den Nagel zu hängen und Teil des Motorradclubs zu werden. Drei Jahre, seit ihre Eltern sie daraufhin verstießen. Drei Jahre, seit sie das letzte Mal von ihnen hörte.

Obwohl es mit dem Auto von Kalifornien nach Texas ein verflucht weiter Weg ist, ist sie schneller im Medina County, als ihr lieb ist. Ihr alter, heiß geliebter Ford Mustang drosselt beinahe automatisch sein Tempo. Je näher sie ihrem Elternhaus kommt, je vertrauter die Umgebung wird, umso größer werden ihre Bedenken und umso langsamer wird sie. Als wenn sie das Unausweichliche noch viel länger hinauszögern kann.

Ob Mum mich einfach so wieder aufnimmt, wenn ich Reue zeige? Predigen sie und Dad nicht selbst andauernd, dass Vergebung wichtig ist?

Doch Ginny erinnert sich leider auch noch zu gut daran, was sie den beiden damals an den Kopf warf, während sie ihre Tasche notdürftig packte und kurz darauf die Tür hinter sich zuschmiss. Religiöse Freaks, ohne Ahnung von der richtigen Welt da draußen. Spießer. Lieber würde sie sich die Kugel geben, als so ein Leben wie sie führen zu müssen. Bei dem Gedanken daran verzieht Ginny das Gesicht und atmet kontrolliert ein und aus. Sie ist eine grauenhafte Tochter. Ihre Eltern sind Spießer, sehr religiös und haben vielleicht auch keine sonderlich große Ahnung vom Leben außerhalb ihrer kleinen Ranch, doch sie sind gute Menschen. Ehrliche Menschen. Und Ginny sehnt sich gerade nach nichts Geringerem.

Sie setzt den Blinker und biegt vom Texas State Highway in eine der Farm to Market Roads, die die Landwirtschaft mit den größeren Ortschaften verbindet. Von nun an ist alles Routine. Die Mais- und Weizenfelder ebenso bekannt wie die zahlreichen Rinderfarmen, deren Weideflächen sich in matten Braun- und Grünschattierungen scheinbar bis zum Horizont ziehen. Durch die Wolkendecke bricht die Sonne. Ginny zieht die Sonnenbrille auf die Nase, kurbelt das Fenster nach unten und saugt die Landluft in ihre Lunge. Eine Mischung aus staubiger Erde, saftigem, frisch gemähtem Gras mit einem Hauch Kuhdung. Kindheit.

Die Straße führt stets geradeaus, weiter in die Tiefen des Countys, vorbei am Cherry Creek Gun and Dance Club, ein ehemaliger Schützenverein, in dem sie damals als Jugendliche viel Zeit verbrachte. Ginny lächelt, als sie daran zurückdenkt. Livemusik, Cowboyhüte und Linedance. Die Zeit, als sie all das irgendwann langweilig und uncool fand, kam viel zu schnell.

Natürlich war die harte, raue Welt des Motorradclubs aufregend, etwas Neues, Prickelndes. An die Form der Zugehörigkeit, die in dem Club herrscht, kommt nicht einmal der texanische Nationalstolz heran, auch wenn sie das in diesem Landstrich besser nicht laut ausspricht.

Was Ginny allerdings am Anfang nicht wusste, war, dass diese Zugehörigkeit niemals für sie galt. Sie war eine Hure, ein Gegenstand wie die Whiskeyflasche, die man sich nahm, wenn man Durst hatte. Sie spürte den Zusammenhalt in jedem Moment, konnte ihn fühlen und manchmal sogar danach greifen. Aber ein Teil davon ist sie nie gewesen. Man benutzte sie wie einen Gebrauchsgegenstand, warf sie wieder weg, wenn man mit ihr fertig war. Zu Anfang hat sie geglaubt, dass das so sein muss. Dass irgendwann der Biker um die Ecke käme, der in ihr etwas Einmaliges sieht. Der sie zu seiner Old Lady macht. Zu seinem Eigentum. Sie wird dann nur ihm gehören und niemandem sonst. Anschließend muss sie sich nicht mehr erniedrigen lassen, ihren Körper nicht mehr herhalten für jeden noch so ekelhaften Fettsack des Clubs.

Drei Jahre.

Drei Jahre lang hat sie ihren Körper hergegeben für diese erbärmliche Hoffnung. Doch sie ist nicht die Eine, die Auserwählte. Das ist ihr zuletzt schmerzhaft klargemacht worden. Nämlich als sie nichts anderes tat, als mit einem Mitglied des Kalifornien Chapters zu schlafen, nur um dann von dessen Old Lady aus dem Club gejagt zu werden. Als wenn es ihre Schuld gewesen wäre und nicht seine.

Jagt man ihn etwa deswegen davon? Muss er das Weite suchen? Natürlich nicht!

Vermutlich feiern ihn seine Brüder noch immer dafür. Zur Krönung der ganzen Geschichte verließ er seine Old Lady daraufhin sogar, obwohl diese schwanger von ihm war, und nahm sich irgendeine dahergelaufene Kleine zu seiner neuen Old Lady. Fand in ihr die große Liebe oder so einen Quatsch. Spätestens zu diesem Zeitpunkt erhielt sie den Namen Amor. Als wäre das für alle nur ein riesiger Spaß. Ginny hätte ihr Leben für den Club gegeben, dafür, endlich dazuzugehören. Sie hat ihr Heiligstes geopfert. Ihren Körper, ihre Ehre und ihren Stolz, nur um behandelt zu werden wie ein verlauster Straßenköter.

Ihre Finger schließen sich fester um das Lenkrad, als die Wut kochend heiß in ihrem Innersten lodert. Scheiß auf sie! Scheiß auf sie alle! Nie wieder wird sie einen dieser zweiradfahrenden Wichser auch nur ansatzweise in die Nähe ihres Körpers lassen.

Im Radio dudelt irgendeine Folkmusik, doch das Trommeln ihrer Finger auf dem Lenkrad ist vollkommen aus dem Takt. Viel zu schnell und hektisch. Ginny nagt auf der Unterlippe, während sie mit verengtem Blick zu dem Tor blickt, vor dem sie angehalten hat. Es ist, als hätte sich überhaupt nichts verändert. Das gatterähnliche Tor ist reinweiß lackiert, so wie es ihre ordentliche Mutter mag. In einiger Entfernung kann sie das Kalksteinhaus ausmachen, in dem sie aufwuchs. Die Wiesenflächen drum herum sind kahl und flach.

Ginnys Eltern sind, trotz des Farmhauses und des riesigen Grundstückes, selbst keine Farmer. Sie verpachten die Weidefläche an angrenzende Bauern und halten lediglich ein paar Pferde, weil ihre Mutter ein Pferdenarr ist. Zumindest war sie das vor drei Jahren. Ihr Herz schlägt schneller, als sie daran denkt, was sich seitdem verändert haben könnte.

Wieso nur hat sie sich nicht wenigstens an den Geburtstagen gemeldet? An Dads rundem zum Beispiel. Immerhin wohnen sie noch hier, denn der Familienname steht weiterhin am Zaun. Thompson. Allan und Sofia Thompson. Der Pastor und seine brave Frau.

Sie stößt die Autotür auf und tritt in die Märzluft hinaus. Noch sind die Temperaturen angenehm, doch in den Sommermonaten grenzt die Hitze an Folter, wenn man sich in einem nicht klimatisierten Raum befindet. Bevor sie zu dem Tor läuft, um es zu öffnen, sieht sie an sich hinab.

Die Jahre im Club haben sie versaut. Kurze Lederminis, bauchfrei, großer Busen, viel Make-up und Kunst: künstliche Wimpern, blondierte Haare, vom Solarium gebräunte Haut. Ja, sogar die Brüste ließ sie sich chirurgisch vergrößern, nachdem ein hochrangiges Mitglied erwähnte, dass sie damit so viel heißer aussehen würde. Natürlich redete sie sich daraufhin ein, das nur für sich selbst zu tun, und bis heute findet sie die Größe immer noch natürlich und schön. Trotzdem kann sie nicht mit Sicherheit sagen, ob sie sie überhaupt hätte vergrößern lassen, wenn der Wunsch hervorzustechen, sich hübscher als die anderen zu fühlen, nicht mindestens ebenso stark gewesen wäre.

Im Vorfeld zu dem Trip nach Hause hat sie alles versucht, um den Schock des Wiedersehens für ihre Eltern nicht allzu groß werden zu lassen. Das Make-up ist nun größtenteils ab, die blondierten Haare wieder in ihre langweilige hellbraune Ursprungsform zurückgefärbt. So wie ihre Eltern es kannten und mochten. Nur bei den Brüsten ist nichts zu machen gewesen. Die haben schließlich auch eine verdammte Menge Geld gekostet, nur um jetzt aus Gründen der Buße die Luft rauszulassen.

Ginny löst den Knoten des Karohemdes unter der Brust, und das Hemd fällt über den Bauch bis zu dem Hintern hinab, verdeckt somit den Großteil der nackten Haut. Sie knöpft einen zusätzlichen Kopf über dem Dekolleté zu und späht zu ihren verborgenen Brüsten. Sie kommt sich vor wie eine Nonne und weiß gleichzeitig, dass das albern ist. Es gibt immerhin einen weiten Bereich zwischen einer Nonne und einer Nutte. Den muss sie nur endlich zu füllen lernen, nun da sie mit diesem alten, verruchten Leben abschließen möchte, das sie doch sowieso nur führte, um irgendwie dazuzugehören.

So muss es gehen, denkt sie und läuft über den staubigen Schotterpfad zu dem Tor hinüber. Sie öffnet es und fährt hindurch, schließt es dann auf der anderen Seite wieder. Wenn ihre Eltern nun am Fenster stehen, um nach draußen zu sehen, würden sie sie, trotz der Distanz, auf der Stelle erkennen. Der feuerrote Mustang sticht in der Landschaft hervor wie ein Blitz am trüben Himmel. Ginny ist schon seit sie denken kann ein Fan dieses Autos gewesen und kaufte sich ihn von sämtlichen Ersparnissen und dem Gehalt, das sie von ihrem Nebenjob als Kellnerin bekam.

Sie fährt bis vor zum Farmhaus und parkt dort neben dem Pick-up Truck ihrer Eltern. Der zweite Wagen fehlt, was dafür spricht, dass ihr Vater in der Kirche zum Arbeiten ist. So wie er es jeden Tag zwischen Sonntag und Donnerstag tut. Sie hat es nicht geplant, doch vermutlich ist es das Beste, zunächst nur mit ihrer Mutter zu sprechen.

Sofia Thompson ist Italienerin, die zwar in den USA auf die Welt kam, doch in einem durch und durch italienischen Haushalt groß wurde. Dort war es gang und gäbe, dass Theatralik und Drama immer an erster Stelle standen. Wie es ihr Vater, der besonnenste und gelassenste Mensch, den sie kennt, mit dem Temperament ihrer Mutter aushält, bleibt bis heute ein ungelöstes Rätsel.

Ginny schafft es nicht einmal, die Autotür zu schließen, als die Tür zum Farmhaus bereits aufschwingt und ihre temperamentvolle Mutter über die hölzerne Terrasse auf sie zustürmt.

Ihre dichten, lockigen Haare wehen hinter ihr her, die Hände sind zu Fäusten geballt, die Gesichtszüge versteinert und spitz. Ginny macht den Mund auf, um etwas Beruhigendes zu sagen, doch die Worte werden ihr aus dem Gesicht gefeuert. Die flache Hand ihrer Mutter trifft sie mit voller Wucht an der Wange, die sofort bestialisch zu brennen beginnt, als hätte sie dort stattdessen eine Peitsche erwischt.

Che cazzo fai? Was zur Hölle machst du nur, hm?“, flucht sie auf Italienisch und reißt Ginny im nächsten Moment mit einem Laut, der nach einem Schluchzen und Kreischen klingt, in ihre Arme.

Ihre Wange brennt noch immer und zudem presst ihre Mutter ihr gerade sämtliche Luft aus der Lunge, doch Ginny kann nicht anders, als zu lächeln. Behutsam legt sie die Arme ebenfalls um den Körper ihrer Mutter und atmet ihren typischen Geruch tief ein. Sie riecht nach Tomatensoße, Waschpulver und Pferd, eine Geruchsmischung, die ihre Kindheit widerspiegelt wie nichts sonst.

Ihre Mutter weint lautstark, lässt sie nicht los und beginnt sie nach rechts und links zu wiegen, als wäre sie ein kleines Kind.

Dann schnellt ihr Bein nach vorn und trifft Ginny mit der Spitze des Schuhes am Schienbein. Sie stöhnt überrascht auf und versucht, dem folgenden Sturm zu entkommen, der doch fast schon abgeflaut war. Sofia Thompson stößt sie nach vorn, sodass Ginny mit dem Rücken gegen ihr Auto prallt, und haut mit ihren kleinen, flachen Händen in unheimlichem Tempo auf sie ein. Sie verteilt ihre Schläge auf der Schulter, dem Arm und dem Kopf, flucht derweil so lautstark, dass es jedes Pferd und jede Kuh im Umkreis von hundert Meilen mitbekommen muss. Ginny schützt ihren Kopf mit den Händen, versucht, sich so klein wie möglich zu machen, und wartet ab, bis das Donnerwetter vorbei ist.

Schwer atmend bleibt ihre Mutter schließlich vor ihr stehen und stemmt die Fäuste in die Hüfte. Ginny kommt allmählich aus ihrer Deckung hervor und blickt vorsichtig zu der Person, die sie auf diese Welt brachte.

„Hey Mamma.“

„Ich geb dir gleich Mamma! Was fällt dir ein, hier einfach so aufzukreuzen, ohne dich anzukündigen?“

„Es tut mir leid.“

„Zum Glück ist dein Vater nicht zu Hause. Du weißt, dass er ein schwaches Herz hat und solche Überraschungen nicht gebrauchen kann“, wettert sie weiter und reißt dabei beide Hände wild fuchtelnd in die Luft.

„Ich weiß. Es tut mir leid“, murmelt Ginny und verschränkt die Arme unter der Brust, senkt schuldbewusst den Blick.

„Mein Gott, was zur heiligen Maria ist das?“

Die Hand ihrer Mutter grapscht blitzschnell nach ihrer Brust und zwickt dort so fest hinein, dass Ginny einen Luftsprung macht und ihr ein jämmerliches Jaulen entringt. „Au, Mamma. Die sind echt.“

„Sind sie das?“ Ihre Mutter kneift, ohne mit der Wimper zu zucken, auch in die zweite Brust.

Schützend wendet sich Ginny mit einem weiteren Schmerzenslaut ab und hält beide Arme verhüllend vor ihrer Oberweite. „Zumindest der Teil, der gerade verflucht wehtut“, murmelt sie und reibt vorsichtig über die schmerzenden Stellen. Warum noch mal hat sie es für eine gute Idee gehalten, wieder nach Hause zu gehen?

„Also, was willst du hier?“ Ihre Mutter nimmt die übliche Pose ein. Breitbeinig, die Fäuste in der Hüfte, das Kinn leicht nach oben gereckt. In diesem Moment findet Ginny sie sogar Furcht einflößender als Nash, der brutale Präsident des Oregon Chapters, vor dem sie immer eine Heidenangst hatte.

„Keine Ahnung. Ihr habt mir gefehlt. Das hier hat mir gefehlt.“ Ginny deutet auf das Weideland um sie herum.

Ihre Mutter verengt misstrauisch den Blick. „Du willst hierbleiben?“

„Nur, wenn es in Ordnung für euch ist. Also erst mal … bis ich weiß, was ich nun tun soll.“

Ihre Mutter macht einen Laut, der nach einem abfälligen Grunzen und Schnauben gleichzeitig klingt. „Bis du weißt, was du tun sollst also?“ Sie kommt einen Schritt näher. Ginny richtet sich alarmiert auf und spürt sogleich das Brennen auf der Wange und an ihren beiden Brustwarzen. Gott, ihre winzige Mutter hat sie soeben vermöbelt wie ein gefeierter Preisboxer. „Sobald du auch nur einen Schritt über diese Treppenstufen machst, wirst du versprechen, dass du uns nicht erneut im Stich lässt, ist das klar? Du wirst nie wieder einfach so abhauen und uns im Glauben lassen, dass du irgendwo ermordet im Straßengraben liegst. Du wirst uns ehren und deinem Vater keine Probleme mehr bereiten.“

„Ja, Mamma. Ich verspreche es“, erwidert sie demütig.

„Also gut.“ Ihre Mutter macht wieder einen Schritt zurück. „Dann hilf mir dabei, die Lasagne vorzubereiten. Bis dein Vater nach Hause kommt, werden wir einige Arbeit haben, es ihm so angenehm wie möglich zu machen, damit er nicht erneut einen Herzinfarkt erleidet.“

„Erneut?“

Sofia Thompson sieht mit strengem und doch so verletztem Blick zu ihrer Tochter. „Hast du geglaubt, dass uns nur Gutes widerfahren wird, nachdem du abgehauen bist? Du hättest heute zu einem toten Haus zurückkehren können. Das Risiko bist du eingegangen. Wollen wir hoffen, dass es dir eine Lehre war. Zumindest einer von euch beiden.“

Es hat sich in den drei vergangenen Jahren rein gar nichts verändert. Kein neues Möbelstück, kein neuer Anstrich. Alles steht noch immer an der gleichen Stelle. Als Ginny die Treppen zu dem Schlafbereich hinaufsteigt, bemerkt sie, dass sogar dieselben Bilder an der Wand hängen. Ihre Eltern haben sie nicht einmal aus Wut abgehängt, als hätten sie nie daran gezweifelt, dass sie zurückkehren würde.

Ginny trägt ihre Tasche mit den Klamotten nach oben und verharrt einen Augenblick im Flur. Hier oben befinden sich drei Zimmer und ein Bad. Zunächst das Schlafzimmer ihrer Eltern. Kurz bleibt sie an der offenen Tür stehen und sieht hinein. Das grelle Sonnenlicht bricht sich in den weißen Spitzenvorhängen und fällt weich auf das zurechtgemachte Bett, über dem ein hölzernes Kreuz hängt. Feine Staubpartikel flirren in der Luft. Entfernt hört sie ihre Mutter im Erdgeschoss mit Töpfen rumhantieren, doch ansonsten ist es angenehm still im Haus.

Wieso nur ist sie von hier weggegangen? Von dieser Ruhe und Geborgenheit? Wieso musste sie all das für permanente Erniedrigung und Enttäuschungen eintauschen? Wie hat sie nur glauben können, dass es das wert sein würde?

Doch insgeheim kennt sie die Antwort darauf.

Sie sieht zu der nächsten Zimmertür den Flur entlang. Sie ist geschlossen, und da es kein Fenster in dem Bereich gibt, wird es immer dunkler, je weiter sie läuft. Als läge alles hinter dieser Tür in einer finsteren Parallelwelt.

Es ist nicht ihr altes Kinderzimmer, das sich auf der anderen Seite befindet. Ginny wundert sich, warum es sie zuallererst zu diesem Raum treibt. Doch ist es nicht schon immer so gewesen? Sie selbst kam stets zum Schluss, auch in ihrer eigenen Vorstellung.

Die Tür öffnet sich, und sie hält den Atem an, erwartet beinahe, sie hier sitzen zu sehen. Sie würde Ginny anschnauzen, ob sie nicht wisse, wie man anklopft. Dabei säße sie auf dem Boden, würde schnell ihre Geheimnisse unter das Bett schieben und den Zigarettenqualm hektisch von sich weg wedeln.

Doch der Raum ist leer. Gespenstisch leer. Auf eine andere Art als das Schlafzimmer ihrer Eltern, obwohl es nicht weniger bewohnt aussieht. Es hängen noch immer die gleichen Poster an den Wänden. Düstere Heavy Metal Bands, voller Blut und Skeletten. Selbst der Nagellack steht noch auf dem Schminktisch. Tiefrot und schwarz in allen Nuancen im Kontrast zu dem altrosafarbenen Ton der Kommode aus viel älteren Zeiten. Sie fragt sich, warum ihre Eltern die Poster an den Wänden hängen ließen, denn sie waren ihnen immer ein Dorn im Auge. Satanskult nannten sie sie, und Ginny erinnert sich an viele lautstarke Streitigkeiten, an zuschlagende Türen. Ihre weinende Mutter und die besänftigenden Worte ihres Vaters.

Bist du jetzt glücklich, da, wo du bist, Ash?, fragt sie in ihren Gedanken, so wie sie es immer tut. Ihr Leben lang schon führt sie diese Gespräche in ihrem Kopf.

Gefällt dir das Kleid, Ash?

Meinst du, ich soll seine Einladung annehmen, Ash?

Hättest du das Gleiche gesagt, das Gleiche getan, Ash?

„Das ist nicht dein Zimmer, falls du das vergessen hast.“

Die Stimme ihrer Mutter reißt sie aus den Gedanken. Sie hat sie nicht einmal die knarzenden Holzstufen hochkommen hören, so sehr vereinnahmte sie der Anblick des Raumes. „Ich weiß. Ich dachte nur … ich wollte …“, stottert Ginny und schließt eilig die Tür. Ihre Mutter kommt näher, bleibt vor ihr stehen und blickt sie mit diesem verständnisvollen Ausdruck in den Augen an. Als wüsste sie genau, warum sich Ginny zuerst mit diesem Zimmer beschäftigte. Und vermutlich weiß sie es auch besser als jeder andere.

In den Händen hält sie ein Geschirrhandtuch, das sie noch immer benutzt, obwohl ihre Finger bereits trocken sein müssten.

„Sie kommt nicht wieder“, sagt Sofia mit ernster Stimme, die davon zeugt, dass Ginnys Mutter diese Tatsache schon längst akzeptiert hat. Wäre da nicht das unberührte Zimmer hinter dieser Tür, das wie eine grell blinkende Leuchtreklame nach einer vollkommen anderen Hoffnung schreit. Doch Ginny sagt nichts, während ihre Mutter ihr die kühle Hand auf die Wange legt und sie eindringlich ansieht. „Aber du bist nun hier, und ich wusste tief drin immer, dass zumindest du irgendwann wieder zu uns zurückkommen würdest.“

Kapitel 2

Er sieht sie vor sich. Nackt und blass treibt sie in rötlich getauchtem Wasser. Es erinnert ihn an schwachen Früchtetee. Sie wirkt auf ihn wie ein Engel mit geschlossenen Augen, die Haare silbrig weiß, an den Spitzen gefärbt durch das Wasser. Ganz entspannt erscheint sie ihm.

Als wäre sie endlich zur Ruhe gekommen und hätte Frieden gefunden.

Dennoch will er sie erreichen, sie aus dem Wasser ziehen und ihr diese Ruhe und den Frieden wieder wegnehmen. Ihr dafür das Leben schenken. Er rennt und rennt, doch kommt keinen Schritt vorwärts. Immer schneller, als befände er sich auf einem Laufband, das niemals endet. Er schreit ihren Namen. Carolyn. Wieder und wieder ruft er sie, bis sein Hals schmerzt und die Ohren klingeln. Die Erkenntnis, dass er sie nicht erreichen wird, fühlt sich an wie eine Kapitulation. Aber Aufgeben war noch nie sein Ding. Er presst die Zähne zusammen, schnauft und stürmt wieder nach vorn, ohne Sinn und Verstand.

Sein Blick ist starr auf sie geheftet, während alles andere an ihm in rasanter Bewegung ist. Etwas fängt seine Aufmerksamkeit. Ein Farbklecks auf ihrem elfenbeinfarbenen Körper am Rande seiner Wahrnehmung. Auf ihrem Bauch öffnet sich die Haut, als würde jemand mit unsichtbarer Hand einen Reißverschluss aufziehen. Dunkles, schweres Blut sickert hinaus. Ein weiterer Riss an ihren Rippen. Noch mehr Blut. Immer mehr und mehr Schnitte, die das Wasser nunmehr dunkelrot färben. Fünfzehn Stiche. Er weiß es, ohne zu zählen.

Als Carolyn ihre milchig getrübten Augen öffnet, schreit Jonathan bereits aus vollem Hals.

Der Schrei reißt ihn zurück ins Hier und Jetzt. Keuchend richtet er sich im Bett auf, krallt die Hände so fest ins Laken, dass die Unterarme brennen. Vor ihm befindet sich zunächst nur Dunkelheit, die jedoch so viel klarer ist als alles, was er soeben in seiner Fantasie zurechtträumte.

Er lehnt sich nach vorn, vergräbt das Gesicht in den Handflächen und zieht es sogleich wieder weg, als hinter geschlossenen Lidern die Bilder erneut real werden. Das Laken schlägt er zur Seite, erhebt sich vom Bett und läuft zum staub- und sandverdreckten Fenster hinüber. Lediglich eine Straßenlaterne erhellt die spärliche Umgebung mit gelblich trübem Licht. Ein Auto rauscht über den Highway. Die Straße ist so nah, dass Jonathan die Vibrationen der Trucks tagsüber in seinem Wasserglas sehen kann. Der Schmutz und die Abgase verschmutzen die Fenster und die Fassade.

Die Gegend ist erbärmlich. Und das ist sogar noch ein Kompliment. In den heruntergekommenen Bungalows neben seinem, die sich in einem Vorort zu San Antonio befinden, wohnen Junkies, Nutten und einkommensschwache Familien.

Hätte ihm jemand vor zwei Jahren gesagt, dass er mal so enden würde, fernab seiner Heimat, wäre ihm das nicht einmal ein müdes Lächeln wert gewesen.

Doch hier ist er. In diesem fremden Haus. In diesem fremden Land. Mit nichts, außer düsteren Träumen.

Und seiner Harley.

Jonathan wirft einen Blick zum Wecker. Es ist gleich Mitternacht. Er kennt sich gut genug, um zu wissen, dass er kein Auge mehr zumachen wird. Um diese Uhrzeit gibt es nur einen Ort, an den er gehen kann.

Er schnappt sich das schwarze Sweatshirt, das er heute bereits getragen hat, zieht es über den Kopf, während er zu seiner ebenfalls schwarzen Jeans läuft und hineinschlüpft. Dann bleibt sein Blick an der Lederjacke hängen, die am Haken hinter der Tür baumelt. Er zögert und weiß doch gleichzeitig, dass er nicht zögern darf. Also greift er danach und zieht sich die charakteristische Jacke des Death Raiders Motorradclubs so eilig über, als würde er ein Pflaster abreißen. Schnell und schmerzlos. Nicht darüber nachdenken.

Das Wetter macht ihn wahnsinnig. Allein der Gedanke, dass der Winter bereits vorbei ist und ihm ein grauenhaft heißer Sommer bevorsteht, ist frustrierend. Selbst jetzt, in einer gemäßigten Märznacht, friert er nicht, obwohl er das sollte. Er hätte niemals gedacht, dass ihm das feuchte Wetter in England einmal fehlen würde.

Aber man will wohl immer das, was man nicht haben kann.

Jonathan fährt eine ältere Harley Davidson Sportster aus dem Jahr 2007, die schon einige Meilen hinter sich hat. Ein schickes Teil in einem charmanten Retrolook. In England fuhr er stets die neusten Modelle, probierte sich aus, scheute keine Kosten und Mühen. Nicht, dass er in diesem anderen Leben jemals aufs Geld achten musste. Nicht so wie jetzt.

Er schwingt sich auf das Bike, lässt es röhrend zum Leben erwachen und fährt in die dunkle Nacht hinaus.

Es ist lediglich eine zehnminütige Tour bis zum berüchtigtsten aller Chapter. Inmitten einer abgelegenen Industriestraße nahe San Antonio befindet sich das tiefschwarze Gebäude. Von außen ähnelt es beinahe einer Festung. Vor einiger Zeit handelte es sich hierbei um eine Großraumdiskothek, was erklärt, warum es im Inneren kaum Fenster gibt. Und wenn, dann sind sie verklebt oder übermalt worden. Die einnehmend schwarze Front besteht aus einer flachen Giebelfassade mit Lagerhallencharakter, ohne jegliche Verzierungen. Rechts und links davon befindet sich eine Garage mit einem Rolltor für alle Bikes der Mitglieder.

Jetzt, in der Nacht, ist es, als würde sich urplötzlich direkt vor einem eine schwarze Wand auftürmen, da die Straßenbeleuchtung nur äußerst spärlich ist. Tagsüber erkennt man immerhin die gigantische mattgraue Krähe, die auf die Fassade gemalt worden ist und mit ihren schimmernden Goldaugen finster auf alle herabstarrt, die durch die Tür ins Innere wollen. Angeblich sind die Augen der Krähe tatsächlich aus purem Gold. Jonathan würde das nicht wundern. Die Death Raiders könnten Goldbarren direkt vor die Tür legen und niemand würde es jemals wagen, sie zu stehlen.

Er stellt seine Harley vor das Clubhaus, steigt ab und marschiert zur schweren Eisentür, die ebenfalls in Schwarz lackiert worden ist. Mit der Faust hämmert er zweimal dagegen.

Ein kleines Fenster öffnet sich und einer der Anwärter, der in dieser Nacht Türdienst hat, blickt ihm direkt ins Gesicht.

„Hey Brit“, begrüßt er ihn und öffnet sogleich die Tür.

Jonathan nickt nur, als er ihn erneut ansieht, verzieht aber keine Miene. Er weiß nicht einmal den Namen des jungen Kerls, dessen Anwärterkutte einige Nummern zu groß ist. Es interessiert ihn auch nicht sonderlich.

In den heiligen Hallen des Gründungschapters ist es nie still, die Bar ist stets gut gefüllt und die Frauen stehen einem hier immer in rauen Mengen zur Verfügung. Während er an der Ecke mit dem Billardtisch und der Dartscheibe vorbei zur Bar läuft, wird ihm klar, dass dies der einzige Ort ist, den er außerhalb des schäbigen Bungalows überhaupt aufsucht. Es ist reine Gewohnheit, dass er noch immer ein Leben im Verborgenen führt, denn das ist eigentlich nicht mehr notwendig.

Warum also verkriecht er sich weiterhin? Kommt nur nachts heraus wie eine lausige Ratte?

„Brit!“, ruft es plötzlich von der Seite.

Jonathan bleibt stehen und sieht zurück. Joseph – Joe – Roy quält seinen fast neunzigjährigen Körper in seine Richtung. Bewundernswerterweise fährt der alte Mann wesentlich besser Harley, als er laufen kann, was ihm bei dem aktuellen Anblick und dem gequälten Schritt erneut allzu deutlich wird.

„Du bist ja schon wieder hier“, stellt Joe fest und stützt sich auf seinen Gehstock, der den Kopf einer goldenen Krähe hat.

„Du offenbar auch, alter Mann.“ Er bleibt breitbeinig stehen, klemmt die Hände unter die Achseln und betrachtet das Urgestein vor sich.

„In meinem Alter bist du froh, wenn du nicht schläfst. Man weiß nie, wann man nicht wieder aufwacht.“ Joe schleicht an ihm vorbei in Richtung Bar, bleibt dann kurz stehen und schlägt mit dem Knauf des Gehstocks kraftvoll gegen Jonathans Hüftknochen. „Komm schon. Oder willst du mir erzählen, dass du gerade nicht dabei warst, dir die Seele aus dem Leib zu saufen?“

Jonathan schmunzelt und folgt ihm zur Bar. Dort steht eine der Clubhuren mit weißen, unmenschlich hohen, Lederstiefeln, die bis weit über die Knie gehen und dennoch einiges an Haut zeigen. Sie begrüßt Joe freundlich und ihn mit einem verführerischen Augenaufschlag, der keinen Zweifel übrig lässt.

Jonathan bestellt ein Bier und ein Glas Whiskey für Joe, ignoriert aber jeden weiteren Blick der Kleinen.

„Du musst dir endlich ’n Leben besorgen, Junge. Jetzt wo du eins angeboten bekommen hast“, beginnt Joe ohne Umschweife, als er den Körper an die Bar lehnt und nach dem Whiskeyglas greift.

„Es fühlt sich nicht richtig an.“ Er stützt die Ellenbogen auf den Tresen, sieht auf sein Bier hinab. Eigentlich hat er gar keine Lust zu saufen, doch wie sonst wüsste er auch jetzt nicht, was er stattdessen tun soll. Er ist müde, unendlich müde, und doch wagt er es nicht, die Augen wieder zu schließen.

„Natürlich nicht, aber die Dinge sind nun mal passiert. Der ganze britische Anstandsquatsch bringt dich nirgendwo sonst hin als auf direktem Weg in den Knast, und da gehörst du nicht hin, wenn du mich fragst. Dein hübscher Arsch würde das Sonnenlicht dort eindeutig zu oft sehen, wenn du verstehst, was ich meine.“

Jonathan bezweifelt, dass ihm dieses Schicksal wirklich bevorstehen würde. Zumindest nicht, wenn die USA ihn an England ausliefert und ihm lediglich ein britisches Gefängnis droht. Doch er lässt Joes Argument stehen, denn im Grunde hat er ja recht.

Er nickt stattdessen zum Anwärter hinüber, der auf einem Barhocker neben der Tür sitzt und darauf wartet, dass der nächste Raider ins Clubhaus möchte. „Wie lange dauert seine Anwärterzeit?“

„So lange, bis ein Mitglied ihn vorschlägt, dann steht seine Aufnahme zur Abstimmung. Doch niemals unter sechs Monaten. Manchmal sind es mehrere Jahre.“

„Jahre?“ Jonathan lacht leise auf, sieht dann erneut zu Joe. „Diese Kerle reißen sich den Arsch auf, wischen jeden Tag die Kotze und die Scheiße weg, werden durch die Gegend getreten wie räudige Straßenhunde, und was hab ich gemacht, um das zu bekommen?“ Er klopft auf den Patch seiner Lederjacke, das ihn als vollwertiges Mitglied ausweist.

„Das ist was anderes, und das weißt du auch. Dein Onkel ist der Präs des London Chapters, du warst schon Familie, als das Sperma deines Vaters das Ei deiner Mutter noch nicht mal erreicht hat.“

Jonathan trinkt eilig einen Schluck, als Joes Worte die Gedanken zu seiner Familie treiben. Wut, Frust und Sehnsucht mischen sich in seinem Magen mit dem ekelhaften Geschmack des amerikanischen Bieres.

„Ich hab das trotzdem nicht verdient“, murmelt er und stellt das Bierglas so energisch ab, dass es über den Rand schwappt.

„Niemand sagt, dass du dir den Verdienst nicht nachträglich erarbeiten kannst.“

„Ach ja? Und wie mach ich das? Dass ich hier bin, ist schon ein enormes Risiko für den ganzen Club. Snap würde mich niemals einbinden, mich niemals eine Rolle einnehmen lassen aus Angst, dass ich entdeckt werde und rauskommt, dass ihr mich versteckt habt.“

Joe starrt ihn ausdruckslos an. Seine Augen sind wässrig vom jahrelangen Alkoholkonsum, die Haut faltig und fleckig, die Bewegungen unsicher und zittrig, doch wenn er möchte, besitzt er weiterhin das, was jedem Roy schon immer nachgesagt wird: gnadenlose Autorität.

„Die Zeit des Versteckens war exakt dann vorbei, als Jonathan Robin Holden aufhörte zu existieren und du Ian Quinn wurdest. Alles, was du tun musst, ist dieses Geschenk endlich anzunehmen und aufhören zu flennen wie eine erbärmliche Pussy. Ian ist tot, und nix wird ihn wieder zurückholen, aber du lebst. Also leb gefälligst auch!“

Auch wenn Jonathan nicht weiß, was er darauf erwidern soll, wird ihre Aufmerksamkeit in dem Moment sowieso durch Babygeschrei abgelenkt. In diesen Hallen klingt das Geräusch so deplatziert wie lautes Lachen auf einer Beerdigung.

Joe schnaubt amüsiert auf. „Scheint, als wärst du nicht der Einzige, der nachts kein Auge zumachen kann.“

Jonathan späht über seine Schulter zurück in den Raum, als Crush aus dem hinteren Teil tritt, in dem sich ein paar Gästezimmer befinden. Jonathan selbst hat einige Zeit in einem der Zimmer gelebt, nachdem er in Texas ankam. Bis vor drei Monaten, als er Ian Quinns Bungalow bezog und dessen Leben zu leben begann. Crush ist er in dem hinteren Bereich zu dieser Zeit jedoch nie begegnet.

„Was macht sie hier?“, will er von Joe wissen und kann seinen Blick nicht von ihr abwenden. So wie vermutlich jeder andere Mann in diesem Raum auch.

„Streit mit dem King?“, vermutet Joe und lacht leise.

Crush hält ihren kleinen Sohn an den Oberkörper gedrückt, wippt ihn auf und ab, während ihr Mund beruhigende Worte wispert. Mit dieser rauen Stimme, die sämtliche Nackenhärchen aufstellen lässt. Jonathan kann sie nicht hören, doch er spürt ihre Verzweiflung, die vermutlich daher rührt, dass der Kleine keine Ruhe gibt. Selbst mit dem Baby im Arm ist sie purer Sex auf zwei Beinen. Der Traum eines jeden Mannes, ob man es nun laut zugibt oder, so wie Jonathan, eben nicht.

Hier nennt man sie nur Old Queen, anstatt Old Lady, weil sie nichts Geringeres ist. Snap, der Präsident des Texas Chapters und demnach der Präsident aller Chapter weltweit, ist ihr King. Die beiden herrschen mit feuriger Leidenschaft über das Reich, das die Roys vor vielen Jahrzehnten schufen. Und Crush weiß um ihre Stellung im Club. Sie schreitet durch die Räume, als gehörte ihr der ganze verdammte Laden. Mit ihren endlos langen, braun gebrannten Beinen und den vollen, immerzu knallrot bemalten Lippen, die sogar Angelina Jolie Konkurrenz machen. Doch es ist nicht nur ihr Aussehen, an dem es wirklich rein gar nichts auszusetzen gibt; es ist ihr ganzes Wesen, das beeindruckt.

Sie ist arrogant, weil sie es sich erlauben kann. Sie ist anmutig, weil sie sich jeder noch so perfekten Faser ihres Körpers bewusst ist. Niemand wagt es, auch nur ein schlechtes Wort über sie zu verlieren, auch weil Snap sie behandelt, als wäre sie ihm das Heiligste auf der Welt.

Jonathan hat, seit er vor etwa eineinhalb Jahren das Land betrat, noch nie wirklich ein Wort mit ihr gewechselt. Er ist sich nicht einmal sicher, ob sie ihn je ansah oder gar bemerkte.

„Wie schlägt sich dein Neffe als Erzeuger?“, fragt er Joe und reißt sich damit von Crushs Anblick los.

Snap ist vor drei Monaten das erste Mal mit Anfang fünfzig Vater geworden. Zumindest offiziell. Jonathan würde wetten, dass auf dieser Welt bereits einige Kinder mit Snaps Genen herumlaufen. Doch erst die damals achtzehnjährige Crush hat es geschafft, den knallharten Bikerpräsident zu binden. Fünf Jahre ist das mittlerweile her.

Joe zuckt mit den Schultern und trinkt den letzten Schluck Whiskey in einem Zug. „Is ja nicht so, dass Snap mir, oder irgendjemandem auf diesem Planeten, von seinen Problemchen erzählt. Und dass er Crush ins Clubhaus schickt, damit der Kleine sich hier ausheulen kann, spricht dafür, dass er zu Hause seine Ruhe will. Klingt das nach ’nem guten Vater?“

„Glaub mir, alter Mann, da gibt’s noch wesentlich Schlimmere als ihn.“ Jonathan erhebt sich mit einem Seufzen und trinkt den letzten Schluck des Bieres leer. Dann klopft er auf den Holztresen und streckt sich. „Ich werde fahren. Wir sehen uns.“

„Morgen vermutlich an exakt dem gleichen Ort, was?“ Joe lacht heiser und schüttelt dann missfällig den Kopf. „Nimm dir doch noch eine der Ladys aufs Zimmer. So ’ne heiße Nummer wirkt Wunder bei Schlafstörungen.“

Jonathan spürt den Blick der Bardame plötzlich drängend auf sich liegen. Aus den Augenwinkeln bemerkt er, dass sie aufgehört hat, das Glas zu spülen. Er zögert, und das hat er bislang nie getan, sondern den Gedanken daran gleich verscheucht. Doch für einen Moment lässt er dieses Szenario durch seinen Kopf wandern. Er hört das lustvolle Stöhnen in den Ohren, spürt die Erregung, die die Reibung zweier Körper verschaffen kann. Aber dann werden seine Gedanken wieder dunkel.

Fern, aber doch so präsent, sieht er Carolyn im Wasser treiben. Nackt und bleich. Ihm wird übel, ob nun aufgrund der Erinnerung oder von dem Bier.

Er zwingt sich zu einem Lächeln und legt Joe die Hand auf die Schulter. „Ich lasse dir und deinen blauen Pillen gern den Vortritt.“

Als er sich abwendet, kann er Joe lachen hören. „Ihr Tommys und euer verfickter Anstand!“

Es ist gerade einmal zwei Uhr morgens, als er wieder vor dem Bungalow steht und seufzt. Er hat extra einen Umweg gemacht, ist über die beschaulichen, schlecht beleuchteten Landstraßen gebrettert, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihm her. Alles nur, um Zeit totzuschlagen. Um diese Gedanken abzutöten.

Und warum? Was glaubt er, am Ende dadurch zu gewinnen? Etwas, wofür es sich wieder zu leben lohnt? Wo glaubt er, das zu finden, wenn er lediglich zwischen diesem Drecksloch und dem Clubhaus hin- und herpendelt?

Während er mit behäbigen Schritten zur Haustür läuft, denkt er an Joes Worte:

„Ian ist tot, und nix wird ihn wieder zurückholen, aber du lebst. Also leb gefälligst auch!“

Doch alles, was ihm dabei durch den Kopf geht, ist lediglich: Warum? Das Leben an diesem Ort ist ihm zuwider, die Menschen zu einfältig und naiv. Er hasst dieses Haus, hasst sein Spiegelbild, seine Vergangenheit und seine Zukunft.

Und er hasst diese verfluchte Katze.

Mit einem Satz kommt das schwarze Mistvieh hinter dem Türrahmen hervorgesprungen, krallt sich fauchend mit gezückten Krallen in Jonathans Oberschenkel und sprintet dann davon wie der Feigling, der sie ist. Mit einem Zischen und vor Schmerz verzogenen Gesichtszügen greift er nach seinem Bein. Er wird diese Katzenklappe zunageln, so wie er es schon von Anfang an hätte tun sollen. Stattdessen gibt er ihr jeden Morgen und Abend Futter, während sie ihn nicht einmal mit dem Arsch ansieht.

Diese heimtückischen Angriffe werden selbst nach den drei Monaten, die er inzwischen hier wohnt, nicht weniger. Meistens sieht er die schwarze Katze, der ein Auge fehlt, das andere jedoch auf fantastische Art goldgelb leuchtet, den ganzen Tag über nicht. Der Futternapf ist dennoch stets geleert. Wenn sie sich begegnen, dann verharren sie meistens in Schockstarre und blicken sich misstrauisch an. Die Katze faucht oder macht dieses lang gezogene, kehlige Knurren, was sich wie eine Drohgebärde anhört, anschließend rennt sie an ihm vorbei.

Es muss Ians Katze gewesen sein, denn das Futter, die Katzenklappe und der Napf standen bereits in der Wohnung, als Jonathan sie bezog. Doch keiner der Raiders konnte ihm sagen, wie sie heißt.

Er sollte sie ins Tierheim geben, doch er wird es vermutlich niemals tun. Wenn Ian sie hatte, dann aus einem Grund. Vielleicht mochte er sie. Vielleicht mochte sie ihn auch, so unvorstellbar das für Jonathan auch ist. Er kommt sich so schon vor, als würde er Ians Leiche schänden, seinen Tod missbrauchen und alles entehren, was ihm je etwas bedeutete. Da wird er es irgendwie schaffen müssen, mit diesem schwarzen Teufel in einer friedlichen Koexistenz zu leben.

Vorausgesetzt er beginnt endlich mal mit diesem Leben.

Jonathan atmet schwer und schaltet das Licht an. Sein Blick landet als Erstes auf dem Kreuz, das neben der Tür an der Wand hängt und ebenfalls Ian gehörte. Er sieht es eine lange Zeit an, die Hand noch immer auf dem Lichtschalter. Er war nie sonderlich gläubig, glaubte nur an das, was er sehen und greifen konnte. Doch wie viel ihm dadurch entgangen war, nur weil er es nie gesehen oder gefühlt hat, wird ihm erst heute bewusst. Außerdem spielt es keine Rolle mehr, wer er damals war oder an was er glaubte. Er ist nicht länger dieser Mann, trägt nicht einmal mehr seinen Namen.

Und irgendwie muss er dieses neue Leben schließlich beginnen. Warum also nicht mit etwas vollkommen anderem?

Kapitel 3

Ginny sitzt in der letzten Reihe, die Hände fromm im Schoß gefaltet, den Kopf gesenkt. Ihr Vater hat sie nicht gebeten, zu seinem Gottesdienst am Sonntag zu kommen, und sie wollte ihn mit ihrer Anwesenheit nicht ablenken oder gar verärgern. Deswegen schlich sie sich kurz vor dem Beginn in die Kirche und ließ sich ganz hinten nieder.

Es ist eigenartig, wieder hier zu sein. Sie weiß nicht einmal, wann sie zuletzt die Predigt ihres Vaters besuchte. Bereits als sie noch zu Hause lebte, ist sie ihr ferngeblieben. Weil Ash es ebenfalls so handhabte und sich Ginny schon immer an ihr orientierte.

Obwohl alle mit dem Rücken zu ihr sitzen, erkennt sie viele der Gemeindemitglieder wieder. Ihre Mutter sitzt ganz vorn, neben den Farmern, an die sie ihr Land verpachten: Aubree und Hank Pearson samt ihrem Sohn Heath, mit dem ihre Eltern sie von Anfang an gern verkuppeln wollten. Doch Ginny wollte stets mehr als einen braven Farmersjungen.

Ob er mittlerweile eine Frau gefunden hat?

Zumindest von hinten kann sie nichts Schlechtes an ihm entdecken. Ein weiß-blau kariertes Hemd, dichtes schwarzes Haar und den Ansatz breiter Schultern. Ein Kerl wie Heath könnte ihr tatsächlich guttun. Er respektiert Frauen und macht ihnen ganz traditionell den Hof, so wie es sich für einen wohlerzogenen Mann gehört. Bevor er Ginny fragte, ob sie mit ihm ausgehen würde, hatte er zuerst ihren Vater um Erlaubnis gebeten. Sie fand ihn immer langweilig und lehnte damals die Verabredung ab. Doch vielleicht war das ein Fehler gewesen? Männer wie Heath Pearson sind ungefährlich, bieten kein Risiko und man kann sich auf sie verlassen. Das ist nicht unbedingt verkehrt, auch wenn es sich damals so anfühlte.

Ginny beschließt, ihn nach dem Gottesdienst beim gemeinsamen Kirchenkaffee aufzusuchen und ihn zu fragen, wie es ihm geht. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.

In diesem Moment erscheint ihr Vater vorn in seinem Anzug mit Krawatte. Ein Lächeln schleicht sich ganz automatisch auf Ginnys Gesicht. Sie denkt daran, wie er sie begrüßt hat, als er am Abend ihrer Rückkehr nach Hause kam. Ginny ist sich sicher, dass ihre Mutter ihn zuvor über das Telefon von ihrem Auftauchen berichtete, denn er war keineswegs überrascht. Er lächelte mit einer Spur Traurigkeit und Wehmut und nahm sie anschließend wortlos in die Arme. Allan Thompson kennt seine Frau gut genug, um zu wissen, dass diese ihr bereits die Hölle heißgemacht hat, da ist sich Ginny sicher. Er hielt es daraufhin offenbar nicht für notwendig, dies zu wiederholen. Stattdessen legte er seine Handflächen sanft auf ihre Wangen, sagte ihr, dass er froh sei, sie zu sehen, und ließ das Thema ruhen.

Ginny liebt ihren Vater abgöttisch. Er ist ein kleiner, untersetzter Mann, dessen Hals etwas zu kurz und der Bauch etwas zu breit geraten sind. Mittlerweile sind seine Haare, die er seit sie denken kann, in einem Borstenschnitt trägt, schneeweiß geworden. Selbst in dem gepflegten, dichten Bart ist keins seiner ehemals dunkelbraunen Haare zu erkennen. Als Ginny ihr Zuhause verließ, ist das noch anders gewesen.

Allan Thompson räuspert sich und zeigt sein strahlendes Lächeln, das er jedem der Gemeindemitglieder schenkt. Bis zu Ginny kommt er jedoch nicht, doch das ist in Ordnung für sie. Sie möchte nur in Ruhe hier sitzen und seinen Worten lauschen, die ihr als Kind so viel bedeuteten.

Ihr Vater begrüßt gerade die Gemeinde, als sich die Eingangstür in ihrem Rücken öffnet und schließt. Ein kurzer Lichteinfall durchbricht die Dunkelheit des hinteren Bereiches, dann versinkt er erneut im Schatten. Schwere Schritte ertönen auf dem Holzboden und ersterben wieder viel zu schnell. Ihr Vater scheint die Unterbrechung nicht zu bemerken, denn er spricht unermüdlich weiter.

Irritiert über die kurze Störung wendet Ginny vorsichtig das Gesicht zur Seite und späht wie beiläufig nach hinten. Links neben der Eingangstür steht tatsächlich eine Person. An der Wand lehnend, die Arme vor der Brust verschränkt, verschmilzt sie durch die dunklen Klamotten förmlich mit dem Schatten. Anhand der Statur und dem Outfit ist es definitiv ein Mann. Sie bemerkt, wie er sein Gesicht ebenfalls in ihre Richtung dreht, sie ansieht, und blickt schnell wieder nach vorn. Ob er sie weiter betrachtet, weiß sie nicht, aber die Haut an ihrem Nacken prickelt, als befände sich an exakt dieser Stelle Brausepulver im Blut.

Ginny spricht die Gebete ganz automatisch mit, sie hat keins davon vergessen. In den vergangenen Jahren hat sie sich oft dabei ertappt, wie sie sie in schweren Momenten in Gedanken wiederholte. Vielleicht war es dann die Erinnerung an ihren Vater, vielleicht aber auch die Verbindung zu ihren Wurzeln, doch sie halfen ihr stets, sich zu beruhigen und klarer zu denken.

Als Dad mit der Predigt beginnt und darüber spricht, dass man Gott in jedem noch so kleinsten Winkel, in jeder noch so belanglos erscheinenden Geste wiederfindet, spürt sie erneut die Blicke des Fremden. Sie fühlt, dass er sie ansieht, denn die Härchen in ihrem Nacken reagieren wieder. Plötzlich weiß sie nicht mehr wohin mit den Händen, spielt damit in ihrem Schoß, verschränkt sie unter der Brust. Doch vielleicht ist das nur Einbildung? Vorsichtig schiebt sie ihr Gesicht in seine Richtung.

Sein Blick aus dem Schatten heraus bohrt sich in ihren. Ihr Herz setzt einen Schlag lang aus, als hätte es sich verschluckt. Warum steht er da und nimmt nicht Platz? Beinahe, als würde er sich die Chance offenhalten wollen, jede Sekunde wieder verschwinden zu können. Allein deswegen erscheint es, als wäre er hier zum ersten Mal, und irgendwie fühlt sich Ginny dadurch verbunden mit ihm. Doch das ist absoluter Unsinn.

Ihre Lippen sprechen die Worte der Gebete, die Texte der Lieder vollkommen automatisch, während ihre Gedanken bei dem Fremden im Schatten festhängen.

Als der Gottesdienst beendet ist, öffnet sich die Tür hinter ihr und schließt sich sogleich. Ginny fährt herum. Der Mann ist verschwunden. Einfach so. Sie zögert einen Augenblick, sieht nach vorn zu ihrem Vater, der nun mit den Gemeindemitgliedern zusammensteht und sich mit ihnen unterhält. Sie weiß, dass sie gleich in den Raum hinter dem Saal gehen werden, um da Kaffee und Kuchen zu sich zu nehmen. Dort wollte sie ihrem Vater unter die Augen treten und ihm zeigen, dass sie wieder Teil dieser Gemeinde sein möchte. Doch ihre Neugierde ist zu stark.

Sie springt auf und hastet in kleinen, schnellen Schritten zur Eingangstür. Das helle Licht des wolkenklaren Tages blendet sie, als sie nach draußen geht und sie schirmt die Sonne mit der Hand ab. Zunächst kann sie ihn nicht ausmachen, doch dann realisiert sie einen Moment später, dass das daran liegt, dass er sich direkt neben ihr befindet.

Eilig macht sie einen Schritt von ihm weg, um die angemessene Distanz aufrechtzuerhalten.

Wie im Inneren steht er auch hier mit dem Rücken an der Wand gelehnt. Er raucht, hat die Zigarette anscheinend gerade zwischen den Lippen gehabt und pustet den Qualm langsam nach draußen. Ihre Eile, ihn zu erwischen, bevor er verschwindet, ist ihr schlagartig unheimlich peinlich. Die Scham darüber wird nur noch schlimmer, als sie ihn jetzt vollkommen betrachten kann.

Er ist groß und gut aussehend. Mehr als das. Heiß, auf eine geheimnisvolle Art und Weise. Die Gesichtszüge sind gerade, als wären sie in Perfektion gemalt worden. Hohe Wangen, ausgeprägte Kieferknochen, der leichte Schatten eines hellen Dreitagebartes. Seine Haare sind wild gelockt, als müsste die Symmetrie der Gesichtszüge durch Chaos auf dem Kopf ausgeglichen werden. Sie schimmern im grellen Licht rostblond. Er kneift die Augen, durch die Sonne gestört, zusammen, doch er sieht sie mit einer verstörenden Ruhe an, die Ginny immer bewusster wird, je länger sie ihn ebenfalls anstarrt.

„Hey“, spricht er schließlich mit einer Selbstverständlichkeit, als hätten sie sich an diesem Ort verabredet gehabt und er nur auf sie gewartet.

„Hey“, erwidert sie verwirrt. Dann schüttelt sie leicht den Kopf, um die Verstörung loszuwerden. „Ich … wollte nur … du hast dich drinnen auffällig verhalten und …“ Und was? Bist du der Sheriff und kümmerst dich neuerdings um Recht und Ordnung?, fährt sie sich in Gedanken an.

Doch ihr Gegenüber lächelt daraufhin nur wissend, als könnte er jeden ihrer Gedanken laut hören. „Es tut mir außerordentlich leid, dass ich deine Aufmerksamkeit erregt habe.“

Heilige Muttergottes!

Spätestens in diesem Moment wäre bei ihrem alten Ich der Punkt gekommen, an dem sie sich die Bluse aufgerissen und den Fremden gegen die Wand des Gotteshauses gedrückt hätte. Aber ihr neues, züchtiges Ich nimmt die Tatsache, dass es sich bei ihm um einen höflichen Briten mit dem Aussehen eines mysteriösen Halbgottes handelt, vollkommen neutral zur Kenntnis und verarbeitet diese Information sachbezogen.

„Ent… Entschuldigung angenommen.“ Sie räuspert sich.

Der Fremde zieht an der Zigarette, sieht währenddessen aber keine Sekunde lang von ihr weg. Sein Blick begutachtet ihre Gesichtszüge neugierig, voller Ruhe und landet dann in ihren Augen. „Wie heißt du?“