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Für meine wunderbare Schwester Susanne, die ich nach vielen vielen Jahren wiedergefunden habe. Vielleicht habe ich sie auch erstmalig gefunden, denn jetzt begegnen sich unsere Herzen, nicht unser Verstand.

Und für meinen wunderbaren Partner Jürgen, der mir stets zur Seite steht und mich in allen Projekten so fantastisch unterstützt.

Daniela Landgraf

Raus aus der Krise –
rein ins Leben!

Der Weg zur mentalen inneren Stärke

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort von Peter Brandl

1.Wann sagt sie endlich …?

1.1 Was ist das eigentlich: Tourette?

1.2 Und was ist eigentlich „normal“?

1.3 Mein Empfinden der Tourette-Tics

1.4 Was mich manchmal ärgert und manchmal belustigt

1.5 Meine persönliche Reise

2.Krisen – wie sie entstehen und wie sie (meist) verlaufen

2.1 Die Schuldfrage

2.2 Die 6 Phasen der Zerstörung (und des Neuanfangs)

2.3 Warum ich?

2.4 Die 5 Phasen der Veränderung

3.Krisen – wie wir sie wahrnehmen

3.1 Die sich selbst erfüllende Prophezeiung

3.2 Die Stimmen

3.3 Innen wie außen

3.4 Meine Welt – Deine Welt – unsere Welt

4.Rein ins Leben – der Weg zur mentalen inneren Stärke

4.1 Wessen Leben lebst du?

4.2 Raus aus dem Jammertal!

4.3 In den Flow kommen

4.4 Umdeuten

4.5 Raus aus dem Geld-Zeit-Gefängnis

4.6 Keine Ausreden mehr

5.Besondere Menschen durch besondere Herausforderungen

Das ungeplante Kapitel: Prüfung oder neue Stufe der Veränderung?

Über die Autorin

Vorwort von Peter Brandl

Was ist eigentlich „anders“?

Jeder Mensch kennt Phasen, in denen er oder sie sich nicht dazugehörig fühlt. Irgendwie ist man anders, passt nicht dazu, und oft genug wird einem das dann von der Umwelt auch mehr als deutlich gezeigt. Ist so eine Phase dann überwunden oder durchgestanden, sieht alles oft ganz anders aus. Plötzlich erscheint dieses „Andersein“ nicht mehr als negativ, sondern als notwendiger Schritt zur oder sogar als Voraussetzung für die Veränderungen, die danach kamen.

Bei manchen Menschen ist es aber keine Phase. Tourette, genauso wie viele andere Krankheiten oder Besonderheiten, ist nichts, das vorbeigeht. Nichts, von dem man sagen kann: „Warte nur, irgendwann lachst du drüber.“ Auch bei Daniela Landgraf geht es nicht vorbei, und das ist ein Grund, warum sie dieses Buch geschrieben hat. Sie beschreibt in diesem Buch ihre Geschichte, ihre Besonderheit und wie sie damit umgeht und umzugehen gelernt hat. Irgendwann hat sie dieses „Anderssein“ nämlich nicht mehr als anders, sondern als „besonders“ empfunden. Besondere Menschen haben besondere Herausforderungen, aber auch besondere Talente. Und damit können sie zu einer besonderen, einer außergewöhnlichen Bereicherung für alle Menschen um sie herum werden. Und genau das ist es, was mich an diesem Buch so fasziniert: Daniela beschreibt das Besondere, und sie macht anderen Menschen Mut, auch zu ihren Besonderheiten zu stehen.

Es wird in unserer heutigen Gesellschaft so viel über Trennendes geredet. Gerade die neuen Medien haben daran einen sehr starken Anteil. Da wird über andere hergezogen, gelästert und verunglimpft. „Andere“ meint da Menschen, die anders sind, anders denken, anders handeln oder vielleicht anders aussehen. Ich würde mir wünschen, dass wir wieder viel stärker auf das Besondere schauen, auf das Besondere in uns und in anderen. Natürlich kann dieses Besondere manchmal fremd und ungewohnt sein. Aber es ist eben auch immer ein anderer Blickwinkel, eine andere Herangehensweise, vielleicht aber auch eine Bereicherung. Ziemlich sicher führt es aber zu anderen Lösungen.

Ich wünsche mir, uns allen und vor allem natürlich Daniela Landgraf, dass wir stärker das „Besondere“ wahrnehmen und schätzen, und ich weiß, dass dieses Buch dazu anregt.

Berlin, im Januar 2019

Peter Brandl

Präsident der German Speakers Association 2017-2019

1.Wann sagt sie endlich …

… Hitler?“ – „Wann sagt sie endlich ‚Hitler‘?“ Hoppla – was für eine Überschrift! Doch genau so sollte dieses Buch eigentlich heißen. Viele waren begeistert von dem Titel! Reißerisch! Macht aufmerksam! Und das war ja auch mein Ziel. Doch dann kam die Beratung vonseiten des Verlags – mein Buch würde wahrscheinlich durch alle Suchmaschinen durchfallen und im Internet „abgestraft“ werden. Das sind schlagende Argumente, denen ich gerne folge. Denn ich möchte, dass mein Buch auffindbar ist. Ich möchte Menschen Mut machen, ihren Weg zu gehen, egal, wie die aktuellen oder die Geburtsvoraussetzungen sind. Vieles, wirklich vieles ist möglich, wenn man es wirklich will.

Gleich mehr zu dieser außergewöhnlichen Überschrift und warum ich so ein Buch schreibe.

Am besten stelle ich mich erst einmal vor: Mein Name ist Daniela Landgraf, und ich habe das Tourette-Syndrom.

Die meisten Menschen assoziieren sofort: Das ist doch diese komische Krankheit, wo ständig unflätige Worte gebraucht werden, sowas wie „Arschloch“, „Ficken“ und … ach ja, „Hitler“.

In der Tat ist vielen Menschen ist das Tourette-Syndrom nur in der Ausprägung der schweren verbalen Tics bekannt. Das ist es ja auch, was in den Medien ab und zu mal gezeigt wird. Wenn andere wissen, dass ich das Tourette-Syndrom habe, warten sie oft darauf, dass ich irgendwann irgendetwas „Schlimmes“ sage, und fragen sich: „Wann sagt sie endlich ‚Hitler‘?“ oder „Wann sagt sie endlich ‚Arschloch‘?“. Das haben mir gute Bekannte im Nachhinein verraten, und das höre ich auch von anderen Betroffenen.

Aber ja, genau diese Gen-Besonderheit ist es. Ich weigere mich, es Krankheit zu nennen, denn ich fühle mich komplett gesund … Meine Körpersprache ist halt anders als bei anderen Menschen. Aber ist nicht jeder Mensch anders als der andere?

Heute habe ich das Tourette-Syndrom komplett akzeptiert und in mein Leben integriert. Es hat keine Macht mehr über mich. Doch das war nicht immer so! Es hat mein Leben massiv beeinflusst. In den ersten vier Jahrzehnten fühlte ich mich oft minderwertig. Mein ganzes Denken und Fühlen drehte sich immer nur um meine sogenannten Tics, zu denen ich später noch mehr schreiben werde. Es ging mir immer nur darum, diese „Schwächen“ zu verbergen, zu verheimlichen und zu unterdrücken.

Ich vergaß dabei völlig, dass ich auch Stärken habe. Da ich mich deshalb nie „wertvoll“ fühlte, versuchte ich, durch Leistung Teil der Gesellschaft zu werden, ich wollte so gern dazugehören, ich wollte deren Anerkennung. Meine „Schwächen“ kompensierte ich durch Arbeit bis zum Umfallen – immer höher, schneller, weiter! Mir kam gar nicht in den Sinn, dass man mich auch um meiner selbst willen lieben und wertschätzen könnte.

Was mir auch nicht bewusst war: Für mich war das Tourette-Syndrom lebensbestimmend, riesengroß und allgegenwärtig. Für andere ist es zwar wahrnehmbar, aber nach einer Weile rückt es in den Hintergrund, weil es einfach dazugehört. Manche interpretieren es auch einfach als Unsicherheit. Oder versuchen, einen Grund für mein Verhalten zu finden. Wenn ich meinen „Rückwärts-Blick-Tic“ oder meinen „Seitwärts-Blick-Tic“ (hierzu später mehr) habe, dann empfinden das viele Menschen als ganz normal – in ihren Augen sehe mich eben um. Offenbar habe ich etwas Interessantes entdeckt – und oft werde ich dann auch gefragt, was es da zu sehen gibt. Heute kann ich souverän und mit einem Lächeln sagen: „Nichts! Mein Körper ‚zwingt‘ mich nur gerade, mich umzuschauen. Einfach ignorieren!“

Spannend ist auch, dass ich früher, als mein Selbstwertgefühl de facto noch nicht wirklich ausgeprägt war, die Reaktionen der anderen nur als negativ wahrgenommen habe. Dabei bezieht mein Gegenüber manchmal meine durch die Tics gesteuerte „andere“ Körpersprache auch auf sich und fragt: „Habe ich was Falsches gesagt?“

Ganz wichtig, bevor Sie auf die falsche Fährte kommen: Auch wenn ich immer wieder beispielhaft meine „Tics“ erwähne:

Mein Buch richtet sich explizit nicht nur an Tourette-Betroffene!

Es richtet sich an alle Menschen, die Krisen erlebt haben, die Einschränkungen, Defizite oder Besonderheiten bei sich spüren oder die das Gefühl haben, anders oder nicht richtig zu sein oder nicht zu genügen oder nicht dazuzugehören.

Mit diesem Buch möchte ich Ihnen sagen: Egal, wie Ihre Startbedingungen ins Leben waren, egal, welche Schicksalsschläge Sie erlitten, welche Krisen Sie durchlebt haben, an welchem Punkt Sie jetzt stehen und wie Ihre heutigen Rahmenbedingungen sind – es ist nie zu spät für den Start in ein erfülltes, glückliches Leben!

Als Ausgangspunkt überlegen Sie: Was ist eigentlich Normalität? Wer bestimmt überhaupt, welches Verhalten „normal“ ist? Sind Menschen mit Besonderheiten nicht „normal“? Wer kann das behaupten? „Normal“ gibt es nicht: Jeder Mensch ist anders als der andere, jeder hat besondere Talente. Diese Talente gilt es auch in Ihnen zu entdecken und zu leben. Dazu weiter unten mehr.

Ich möchte mit meinem Buch Mut machen! Das geht am besten in der „Du-Form“. Aus dem Grund werde ich Sie während der Lesezeit manchmal duzen, zumindest bei direkten Aufforderungen.

Mein Appell an dieser Stelle:

Nimm Dein Leben in die Hand. Du bist wertvoll und Du bist genau richtig, wie Du bist. Finde Deine Talente und Stärken. Lass Dir von anderen Menschen nicht sagen, was für Dein Leben gut oder richtig ist, sondern horche in Dich hinein. Was tut Dir gut? Wie ist Dein Empfinden?

Wenn Du gerade in einer Krisen- oder Umbruchsituation bist, wenn Du mit Deinem Schicksal haderst, dann möchte ich Dich mit diesem Buch darin unterstützen, den nächsten Schritt in ein erfüllteres Leben zu gehen.

Ich nenne mein Tourette-Syndrom „Gen-Besonderheit“, nicht „Krankheit“, denn ich fühle mich gesund, und mein Leben ist lebenswert. Früher habe ich mich auf das Tourette-Syndrom reduziert. Heute weiß ich: Ich bin mehr als das Tourette-Syndrom. Ich bin Trainerin, Rednerin und Autorin. Das alles wäre ich ohne meine besondere Geschichte wahrscheinlich nicht geworden.

Kommen Sie mit mir auf die Reise. Ich möchte Ihnen von mir erzählen und Ihnen dabei viele Impulse geben.

Vielleicht macht Ihnen mein Buch Mut. Vielleicht hilft es Ihnen, Ihre Talente zu entdecken, Ihr Denken zu verändern und den Weg zu gehen, der Sie glücklich macht.

Denn am Ende wollen wir alle nur eines: Glücklich sein!

Ich werde Ihnen in einem eigenen Kapitel zum Ende des Buches auch andere wunderbare Menschen und ihre Geschichte vorstellen. Jede dieser Geschichten ist anders. Doch allen gemeinsam sind die alles andere als optimalen Startbedingungen bzw. die früheren Lebensbedingungen. Teilweise wurden sie durch Schicksalsschläge erschüttert. Heute sind alle erfolgreich und vor allem eines: glücklich!

Kleiner Einschub: Ich verwende der Einfachheit halber im Text immer die männliche Form der Substantive. An alle Fans des Genderismus: Stellen Sie sich bitte einfach vor, dass ich immer die weibliche Form hinzufüge (Bsp.: Teilnehmerinnen und Teilnehmer) oder die neutrale Form verwende (Publikum statt Zuschauer).

Eben weil ich eben beispielhaft oft mein Tourette-Syndrom erwähne, halte ich es für wichtig, Ihnen kurz zu erklären, was das eigentlich ist und wie ich damit umgehe, bevor es dann „richtig losgeht“.

1.1Was ist das eigentlich: Tourette?

Tourette – das sind Zuckungen im Gesicht oder von Armen und Händen, Schulterverdrehen, Kopfschütteln, Augenkneifen, Grimassenschneiden, Grunzen, Schnauben oder das mehrfache Rufen oder Brüllen von Schimpfwörtern und Obszönitäten wie „Arschloch“, „Nutten“ oder „Heil Hitler“ – die Symptome sind vielfältig. Menschen mit dem Tourette-Syndrom können in ihrer Umwelt für mächtig Irritation sorgen. Je nach Häufigkeit und Heftigkeit der Tics schränken diese die Lebensqualität der Betroffenen erheblich ein.

Hand aufs Herz: Möchten Sie im Kino neben einer Person sitzen, die in einer Tour komisch zuckt, sich merkwürdig bewegt oder alle paar Minuten ein für Sie unschönes Wort ausspricht?

Je nach Heftigkeit des Tourette-Syndroms ist es für viele Mitmenschen „sozial unverträglich“.

Das Tourette-Syndrom ist medizinisch gesehen keine seelische Störung, sondern eine neuropsychiatrische Erkrankung. Es beginnt meistens in der frühen Kindheit. Viele Kinder machen Phasen mit sogenannten Tics durch, häufig verschwinden sie nach einiger Zeit wieder. Bei einem von zehn Kindern bleiben die Symptome jedoch bestehen. Wenn die Symptome dauerhaft bleiben und sich (in vielen Fällen) sogar verstärken, spricht man vom Tourette-Syndrom.

Wodurch Tourette entsteht, ist bislang unbekannt. Experten schätzen, dass rund ein Prozent der Menschen ein Tourette-Syndrom entwickelt. Bisher gibt es keine Heilungsmöglichkeiten. Die Symptome können jedoch medizinisch und durch Verhaltenstherapie gemildert werden.

Das Tourette-Syndrom wurde 1885 erstmals beschrieben, und zwar von einem französischen Mediziner namens Gille de la Tourette. Daher auch der Name.

Es werden neuronale und verbale Tics unterschieden. Typische Tics sind z.B. Augenblinzeln oder -zukneifen, Verziehen des Mundwinkels oder plötzliches Mundöffnen, Muskelzuckungen der Extremitäten (z.B. plötzliches symmetrisches Armbeugen), Naserümpfen, Räuspern oder sonstige Lautäußerungen, bis zu Schimpf- oder Fäkalwörter, die die Betroffenen zusammenhangslos und „wie aus heiterem Himmel“ aussprechen müssen.

Ich selbst habe fast alle der oben genannten Symptome. Lediglich den Tic, Schimpf- und Fäkalwörter zu rufen, habe ich zum Glück nicht.

Da dieses jedoch kein medizinscher Ratgeber sein soll, möchte ich das Thema Tourette an dieser Stelle nicht weiter vertiefen. Wenn Sie mehr wissen möchten, dann finden Sie weiterführende Informationen auf www.tourette-gesellschaft.de

1.2Und was ist eigentlich „normal“?

Es gibt so viele unterschiedliche Formen des Seins, des Fühlens und des Denkens. Leider wird in unserer Gesellschaft schnell etwas als „Krankheit“ klassifiziert, nur weil das Gehirn einer Person anders funktioniert als bei den vermeintlich „Normalen“. Es wird eine bestimmte Norm angelegt und alle, die sich entsprechend der Norm verhalten, sind normal.

Haben Sie das Wort schon einmal genau betrachtet? Für mich besteht es aus zwei Teilen: aus „Norm“ und „al“(l) – also die Norm, die für alle gelten soll. Doch was ist mit all den Menschen, die besondere Persönlichkeitszüge haben (in der Psychologie auch gerne als „Persönlichkeitsstörung“ bezeichnet) oder mit denjenigen, die ADHS, ADS, Asperger, Autismus oder ähnliche Diagnosen haben? Sind die wirklich krank?

Meine Antwort darauf ist: Nein! Sie sind nicht krank, sie handeln und denken aus ihrer eigenen Welt, aus ihrer eigenen Wahrnehmung heraus. Häufig sind es Menschen mit besonderen Begabungen, die aber im schlimmsten Fall nicht gefördert werden, weil der Stempel „krank“ vergeben wurde.

Wenn ich mit Menschen darüber spreche, dann nehme ich gerne die Schizophrenie als Beispiel. Es gibt Formen der Schizophrenie, bei denen Menschen etwas wahrnehmen, was andere nicht wahrnehmen können. Medizinisch gesehen sprechen wir von „Wahn“. Die Wahn-Wahrnehmung gibt es in unterschiedlichsten Ausprägungen. Manche hören Stimmen, andere sehen Lebewesen, Fantasiewesen etc., wieder andere haben bestimmte Ahnungen (Verfolgungs-Wahn, Eifersuchts-Wahn etc.). Wer sagt denn eigentlich, dass diese Menschen wirklich krank sind? Vielleicht sehen und fühlen diese Menschen etwas, was wir „Normalen“ nicht wahrnehmen können? Nur, weil wir anderen es nicht sehen und wahrnehmen können, heißt das noch lange nicht, dass diese Dinge nicht da sind. Zugegeben, dass sind sehr philosophische Betrachtungen, und Menschen mit Wahn-Vorstellungen haben es in unserer Gesellschaft sehr schwer.

Abgeleitet vom Thema Wahn: Was ist eigentlich die wahre Bedeutung von „wahnsinnig“? Kann eine „wahn-sinnige“ Person vielleicht mit ihren Sinnen mehr wahrnehmen als andere? Oder haben betroffene Personen vielleicht den sprichwörtlichen siebten Sinn?

Ich habe meine Andersartigkeit seiner Zeit immer als Makel gesehen. Um mein marodes Selbstwertgefühl zu stärken, glänzte ich durch Höchstleistungen im Job, ich habe regelmäßig zwölf bis 16 Stunden an sechs Tagen die Woche gearbeitet. Irgendwann kam eines zum anderen: gesundheitlicher Einbruch, Finanzsorgen (weil meine Ausgabenseite zu hoch war), Todesfälle nahestehender Personen (unter anderem beider Elternteile) und noch ein paar Katastrophen. Es endete im Burn-out und in der psychosomatischen Klinik.

Ich werde ein bestimmtes Gespräch mit einer der Klinik-Psychologinnen dort nie vergessen. Ich musste einen Test ausfüllen. Am Ende des Tests kam die Auswertung und ich wurde zu der Psychologin gerufen. Sie sagte sinngemäß Folgendes zu mir: „Sie haben eindeutig zwanghafte und selbstunsichere Persönlichkeitszüge. Ihre erreichte Punktzahl ist so hoch, dass ich Ihnen sogar die Diagnose ‚Persönlichkeitsstörung‘ geben könnte. Dann bekämen Sie sofort alle notwendigen Therapien – ohne Wartezeiten.“ Auf meine Frage, was das für mein Leben bedeuten würde, sagte sie sinngemäß: „Na ja, Sie wären erstmal für die nächsten Jahre erwerbsunfähig.“ Das wollte ich definitiv nicht! Ich war viel zu jung, um nicht mehr zu arbeiten, und meine Arbeit machte mir ja auch Spaß!

Ich fing ab diesem Zeitpunkt an, mein Leben komplett zu verändern. Es war ein langer und streckenweise steiniger Weg. Aber er hat sich gelohnt. Heute stehe ich als Rednerin auf der Bühne – am liebsten mit meinem Herzensthema „Selbstwert“. Eine meiner Keynotes und ein gleichnamiges Buch von mir heißt: „Selbstwert ist Geld wert. Doch was bist Du Dir wert?“ In jenem Buch finden Sie viele Übungen, wie Sie Schritt für Schritt Ihr Selbstwertgefühl stärken können. Heute mache ich Menschen Mut – Menschen in Umbruchphasen, Menschen, die Selbstzweifel haben, Menschen, die sich nicht gut genug fühlen. Also: Lassen Sie sich nicht einfach den Stempel „krank“ oder „nicht normal“ aufdrücken. Entscheiden Sie selbst, wie Sie sich fühlen und ob Sie ein selbstbestimmtes Leben leben wollen!

Eine weitere Schlüsselszene in meinem Leben war der Moment, als ich jemanden kennenlernte, der einen Film mit Tourette-Betroffenen gedrehthat. Er sagte zu mir, in seinen Tests und Studien im Rahmen dieser Reportage habe er seinerzeit festgestellt, dass Tourette-Betroffene bis zu viermal schneller denken würden als andere. Auf welcher Grundlage diese Studie beruht, mit wie vielen Betroffenen er die Tests gemacht hat und ob sie repräsentativ ist, das weiß ich nicht. Im Internet ist darüber nichts zu finden. Aber darum geht es auch nicht. Er hat mit diesem Satz etwas Grundlegendes in mir bewirkt: Ich habe das erste Mal einen Vorteil an meiner Gen-Besonderheit sehen können – denn es stimmt, ich denke sehr schnell. Früher habe ich es als „sprunghaft“ bezeichnet. Ich habe Menschen wahnsinnig (da ist wieder dieses Wort!) damit gemacht, dass ich gedanklich immer schon drei bis fünf Schritte weiter war. Geduld war nie meine Stärke. Dass mein sprunghaftes Denken jedoch aus der Stärke des schnellen Denkens heraus resultiert, war mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst. Heute nutze ich diese Stärke gezielt. Mir wurde klar, dass ich nicht „krank“, sondern in dieser Hinsicht einfach „mehr als normal“ bin.

Ich habe seinerzeit angefangen, meine Gedanken zu verändern. Es war nur einer von vielen vielen Schritten, und es war eine lange Prozessarbeit. Doch alles beginnt mit einem ersten Gedanken, mit einem ersten Schritt.

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Heute weiß ich aus tiefstem Herzen: Das Verändern der Gedanken verändert das Leben!

In unserer Gesellschaft ist es leider so, dass Menschen schnell in Schubladen gepackt werden, nicht nur auf Krankheiten bzw. Besonderheiten bezogen. Wenn jemand eine Insolvenz beantragen muss, egal aus welchem Grunde, hat er über viele Jahre Probleme, bis hin zum Verlust seiner Zulassung in bestimmten Berufen. Es ist völlig unerheblich, wodurch die Insolvenz entstanden ist. Er ist einfach nicht „normal“, wird „Mensch zweiter Klasse“.

Anderes Beispiel: Heutzutage gehen viele Ehen auseinander. Wenn der Mann auszieht und das Kind, die Kinder bei der Mutter bleiben, wird das als „normal“ angesehen. Der Mann verliert dadurch nicht seinen Ruf. Wenn jedoch die Mutter auszieht und das Kind, die Kinder beim Vater bleiben, dann wird die Mutter schräg angesehen und der Vater dafür bewundert, dass er alleinerziehend ist und wie er das alles schafft. Das ist dann „nicht normal“. Nicht die Norm.

Beides habe ich selbst erlebt. Doch dazu im Laufe des Buches mehr.

Wieder einmal stellt sich die Frage: Wer definiert, was „normal“ ist? Durch welche Brille betrachten wir die Welt? Wer definiert, was richtig ist? Welche Wahrheiten gibt es noch, die wir vielleicht gerade nicht sehen können? Und: Wie real ist die Realität? Was an unserer Wahrnehmung ist wirklich wahr? Wie will ich die Realität gerade wahrnehmen?

Mit diesen Fragen überlasse ich Sie Ihrer Reflexion.

1.3Mein Empfinden der Tourette-Tics

Versuchen Sie einmal, Ihre Augen möglichst lange geöffnet zu halten. Das kann für eine ganze Weile funktionieren, doch irgendwann müssen Sie einfach blinzeln, Sie können nicht anders. Vielleicht ist es bei Ihnen sogar so, dass Sie, je länger Sie versuchen, Ihre Augen geöffnet zu halten, die Augen dann besonders stark oder mehrmals zukneifen müssen. Ich glaube, mit diesem Gefühl kann man meine Tourette-Tics am besten beschreiben. Solange ich ruhig bin, solange alles entspannt ist und ich die Tics einfach kommen und gehen lasse, fallen sie (inzwischen) vielen Menschen gar nicht mehr auf. Je mehr ich jedoch versuche, die Tics zu unterdrücken, oder je aufgeregter ich bin, umso stärker sind die Tics.

Und noch einen Vergleich gibt es zum Thema „blinzeln“: Wenn Sie anfangen, darüber nachzudenken, wann und wie oft Sie blinzeln, merken Sie das Blinzeln umso stärker, oder?

Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie gähnen müssen und versuchen, es zu verbergen, weil es gerade unpassend ist? Auch wenn Sie versuchen, es zu unterdrücken, verzieht sich das Gesicht oft ein wenig und andere bemerken, dass irgendetwas anders ist. Oder: Es juckt Sie und Sie können sich gerade nicht kratzen. Je mehr Sie sich darauf konzentrieren, nicht zu kratzen, desto stärker wird dieses Gefühl. Manchmal geht es dann von alleine weg. In dem Moment, wo Sie sich darauf konzentrieren, nicht zu gähnen oder sich nicht zu kratzen, sind Sie mit sich beschäftigt und wirken auf andere nicht präsent.

Genauso ist es mit den Tics. Je mehr ich darüber erzähle (oder schreibe, so wie jetzt), umso stärker sind sie. Während des Schreibens über die Tics sind sie gerade besonders stark. Wenn ich versuche, sie zu unterdrücken, wird im Außen häufig bemerkt, dass irgendetwas „komisch“ ist.

Was bedeutet das für meinen Alltag? Im normalen Alltag habe ich inzwischen kaum noch (soziale) Einschränkungen durch das Tourette-Syndrom. Das war nicht immer so. Es nervt zwar und verursacht auch teilweise Schmerzen (durch einige Bewegungen verkrampfe und verspanne ich des Öfteren im Nackenbereich oder habe Handgelenks- oder Schulterschmerzen), aber ich kann inzwischen sehr gut damit leben.

Was für Tics habe ich? Stirnrunzeln, Mundwinkelverziehen, Augenkneifen und -zwinkern, schnelles „Kopfwackeln“ (das ist schwer zu benennen … es ist wie sehr schnelles Nicken), Räuspern, Grunzlaute und Arm- bzw. Handgelenkverdrehen, Nachhintenschauen (ich „muss“ dann meinen Kopf zur Seite und nach hinten drehen, was für Menschen neben mir manchmal verwirrend ist).

Wenn ich ruhig bin, sind die Tics (inzwischen) sehr milde. Im normalen Alltag werden sie von anderen deshalb wie gesagt kaum bemerkt. Ein Räuspern kann in ein Husten verwandelt werden, nach hinten schaut jeder mal, die Gesichts-Tics fallen in der Ruhe eh wenig auf und auch die Arm-/ Handgelenk-Tics können in andere Bewegungen eingebaut werden.

Einen kuriosen Tic habe ich noch: Wenn meine eine Hand ein bestimmtes Gefühl hat (warm, kalt, weich, hart etc.), muss ich zwingend mit der anderen Hand das gleiche Gefühl haben. Wenn das nicht geht, ist das unglaublich quälend für mich und ich brauche dann einen stärkeren Impuls (zum Beispiel muss ich mich in die Hand kneifen). Aber auch das fällt vielen Menschen nicht einmal auf.

Da die Tics irgendwie ständig und andauernd da sind (wenn auch nicht immer für andere bemerkbar), hat sich mein Denken und Fühlen früher sehr stark um die Tics gedreht. Ich habe mich oft auf mein Tourette-Syndrom reduziert und war der festen, tiefen Überzeugung, dass ich deshalb abgelehnt und nicht gemocht wurde.

Hierzu mehr im Kapitel 3.1 „Die sich selbst erfüllende Prophezeiung“.

Wenn ich aufgeregt bin, dann sind die Tics stärker. Das ist sehr ungünstig, wenn man als Trainerin in ein Seminar startet oder als Rednerin auf der Bühne steht. Von daher gibt es seit einigen Jahren von mir ein paar kurze erläuternde Worte zum Einstieg. Je mehr ich die Tics erlaube und zulasse, umso unscheinbarer sind sie für die Außenwelt. Ich erkläre mein Syndrom anderen gerne mit den Worten „Ich habe Schluckauf im Gehirn“ oder „Ich ticke nicht ganz richtig“.

Ich kündige die Tics also an, aus zwei Gründen. Einen habe ich oben schon genannt: Die Tics sind ruhiger, wenn ich mir erlaube, sie zuzulassen. Es gibt aber auch noch einen zweiten Grund: Wir Menschen versuchen immer das, was wir sehen und erleben, zu „kategorisieren“ und einzuordnen, vor allem, wenn uns etwas irritiert. Ich kann nicht davon ausgehen, dass mein Publikum weiß, was mit mir los ist. Und es gibt immer feinfühlige Personen im Publikum oder Menschen, die sehr gut beobachten. Dann wird schnell interpretiert (zum Beispiel: „Oh, sie ist aber nervös, unsicher. Warum weicht sie meinem Blick aus?“). Manchmal wird eine „Besonderheit“ auch nur unbewusst wahrgenommen. Dann stört irgendetwas und der Zuschauer bzw. Teilnehmer kann das noch nicht einmal in Worte fassen. Er fängt an darüber nachzudenken, was es sein könnte, und ist abgelenkt.

Wenn ich die Erklärung im Vorfeld gebe, können die Teilnehmer und Zuschauer sich ganz auf mich und meinen Inhalt konzentrieren und sind nicht abgelenkt von etwas, was sie zu interpretieren versuchen.

Manchmal frage ich mich: Was ist eigentlich besser? Wenn man offensichtlich und auffällig anders ist oder wenn es nicht sofort auffällt? Es gab Zeiten, da hätte ich geantwortet: Variante eins! Dann wissen die Menschen wenigstens sofort, was mit einem los ist! Wenn es nicht sofort auffällt, dann werden die Maßstäbe eines „Normalen“ angesetzt und merkwürdige Verhaltensweisen, ungewohnte Körperbewegungen und Zuckungen werden als irritierend empfunden.

So manches Mal war ich es leid, mich immer wieder erklären zu müssen. Wobei: Gezwungen hat mich keiner dazu, außer mein mangelndes Selbstwertgefühl und der Wunsch danach, anerkannt zu werden.

Heute bin ich froh, zu denjenigen zu gehören, denen man es nicht auf den ersten Blick anmerkt. Dadurch führe ich ein weitestgehend normales Leben. Ich war über 20 Jahre im Vertrieb in der Finanzdienstleistungsbranche tätig und bin seit mehr als zwölf Jahren als Trainerin unterwegs. Anscheinend hat mein Syndrom mein Umfeld, meine Kunden, meine Teilnehmer viel weniger irritiert, als ich es empfunden habe.

Ich habe mir deshalb die Frage gestellt: Wie real ist die Realität? Ist es wahr, was ich wahrnehme? Klare Antwort: Nein! Wir nehmen die Realität immer durch unsere eigene Brille wahr. Wie diese Brille aussieht und in welcher Weise sie verzerrt, das liegt an unseren Erfahrungen, Einstellungen, Werten und Glaubenssätzen. Wenn ich glaube, dass andere sich an meinen Tics stören, dann filtere ich nur die Wahrnehmung aus der Realität, die meine Annahme auch unterstützt. Hierzu mehr im Kapitel „Die sich selbst erfüllende Prophezeiung“. Mein Tourette hat mein Leben lange Jahre massiv beeinträchtigt und ich habe mich selbst klein gemacht. Doch heute weiß ich: Ich bin mehr als das Tourette-Syndrom.

1.4Was mich manchmal ärgert und manchmal belustigt

Welches Verb ist passender? Ärgern oder belustigen? Ich entscheide mich für belustigen, denn wenn wir uns ärgern, dann schaden wir in allererster Linie nur uns selbst.

Wie meine ich das? Wenn Sie sich über irgendwen oder über irgendetwas ärgern, dann sind in erster Linie Sie selbst die Person, die schlechte Gefühle bekommt oder bereits hat. Das Ärgern macht etwas mit Ihnen, mit Ihrer Laune, Ihrem Gefühlsleben. Und der andere, dem der Ärger gilt, merkt es vielleicht noch nicht einmal oder es ist ihm vielleicht egal. Ihnen geht es schlecht und der andere macht dennoch so weiter wie bisher. Wollen Sie sich wirklich durch andere Menschen die Laune verderben lassen?

Zugegeben, manchmal ist Ärgern einfach menschlich, vor allem, wenn wir enttäuscht oder allein gelassen werden, wenn andere Menschen rücksichtslos handeln oder wenn irgendetwas (aus unserer Sicht) fürchterlich Ungerechtes passiert. Doch manchmal können die anderen nicht einmal etwas dafür, dass sie bei uns Ärger auslösen, manchmal sind sie schlichtweg gedankenlos oder uninformiert. Das wissen wir ja oft nicht. Dann müssten wir uns eigentlich nicht ärgern. Wir können sie aufklären, ihnen mit Informationen begegnen, und dann ändern sie womöglich ihre Haltung.

Und dann gibt es die Menschen, die sich durch Abwertung von anderen selbst aufwerten wollen, die es für ihr eigenes Ego, für ihr eigenes Wohlbefinden brauchen, sich über andere zu stellen. Mit diesen Menschen können Sie nicht reden, sie sind für eine Änderung ihrer Einstellung häufig nicht zugänglich, denn:

Sie sehen ihre Meinung als absolute Wahrheit an. Ihre Wahrnehmung ist die richtige. Sie fühlen sich im Recht.

Sie wehren Ihre Argumente ab, und selbst wenn sie insgeheim merken, dass es vielleicht noch andere Betrachtungsweisen gibt, können sie das vor Ihnen nicht zugeben.