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Identitätspolitik steckt in der Sackgasse: Empowerment wird auf Gender-Sternchen und die Vermeidung des N-Worts verkürzt. Überall sollen Minderheiten vor möglichen Verletzungen geschützt werden – in Uniseminaren, Kunst und Mode, im Netz und bei öffentlichen Events. Für alle, die Politik nicht mit eigener Betroffenheit belegen, schließt sich die Debatte. Wer mit der anspruchsvollen Pflichtlektüre nicht hinterherkommt, ist raus. Die solidarische Kritik an diesen Exzessen wird zum Dilemma in einer Zeit, in der Rechte gegen Unisextoiletten und die »Ehe für alle« hetzen – und Linke darin »Pipi fax« oder den Aufstieg von Trump begründet sehen. Zwischen Abwehr und Abschottung richtet der Band den Blick auf die Fallstricke der Identitätspolitik und sucht nach Allianzen jenseits von Schuldzuweisungen und Opferkonkurrenz.

Mit Beiträgen von Markus Brunner, Charlotte Busch, Eva Berendsen, Saba-Nur Cheema, Sarah Elsuni, János Erkens, Leo Fischer, Lena Gorelik, Ayesha Khan, Deborah Krieg, Stefanie Lohaus, Sama Maani, Meron Mendel, Hadija Haruna-Oelker, Massimo Perinelli, Andreas Rüttenauer, Hilal Sezgin, Gadi Taub, Tom Uhlig, Céline Wendelgaß, Bettina Wilpert und Hengameh Yaghoobifarah.

Die Herausgeber*innen Eva Berendsen, Saba-Nur Cheema und Meron Mendel haben in der Bildungsstätte Anne Frank auf unterschiedliche Weise mit Wohl und Wehe der Identitätspolitik zu tun. Direktor und Antisemitismusexperte Dr. Meron Mendel wird oft von falschen Freund*-innen umworben, die seine Position als friedensbewegter Israeli für ihre Boykott-Zwecke einzunehmen versuchen. Als PR-Chefin scheitert Eva Berendsen regelmäßig daran, die Ansprüche diskriminierungssensibler Sprache in lesbare Texte zu gießen. Saba-Nur Cheema bringt als Leiterin der Pädagogik Rassismus- und Antisemitismuskritik unter einen Hut. Es eint die Überzeugung, dass wir raus müssen aus unseren Komfortzonen, um dem Rechtspopulismus etwas entgegen zu setzen.

EVA BERENDSEN, SABA-NUR CHEEMA
UND MERON MENDEL (HG.)

TRIGGER
WARNUNG

Identitätspolitik zwischen Abwehr,
Abschottung und Allianzen

Unter Mitarbeit von Charlotte Busch

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EINLEITUNG

Finger auf Wunden oder: Der direkte Weg ins Fettnäpfchen

Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen

Eva Berendsen, Saba-Nur Cheema und Meron Mendel

I.VERORTUNGEN

Trigger-Warnungen

Zur Politisierung eines traumatherapeutischen Konzepts

Markus Brunner

Verzeihen statt Pingpong spielen

Betroffene zu Wort kommen zu lassen, ist richtig, birgt aber Gefahren. Es verallgemeinert ihre Positionen und zieht künstliche Grenzen.

Hilal Sezgin

Mimosen, Mimesis und Mimimi

Zwischen linker Solidarität und betroffenheitspolitischer Vereinzelung

Charlotte Busch

Typisch rechts war typisch links

Wie sich die Rechte aus dem Fundus klassischer Aktionsformen bedient

Andreas Rüttenauer

Aufstieg von rechts

Welche Schuld trägt links?

Hadija Haruna-Oelker

II.VERSTRICKUNGEN

Triggerwarnung!

Critical Whiteness und das Ende antirassistischer Bewegung

Massimo Perinelli

Es gibt doch ein Richtig oder Falsch?!

Antideutsche und andere Dogmaten

Saba-Nur Cheema

Alles nur geklaut

WTF ist eigentlich Cultural Appropriation?

Deborah Krieg

Alles richtig gemacht, und mit Sternchen

Der Bilderbuchfeminismus von #MeToo zwischen Populismus, aktivistischen Reflexen und neurechtem Punk

Eva Berendsen

Content Warning

(Un)Zumutbares in Wissenschaft und Lehre

Sarah Elsuni

Oder kann das weg?

Über Sexismus, Rassismus und die Freiheit der Kunst

Lena Gorelik

Zu queer um wahr zu sein

Der Kampf um mehr Freiräume von LGBTIQ ist ein komplexer dialektischer und manchmal ambivalenter Prozess. »Pinkwashing«-Vorwürfe gegen Israel werden diesem Umstand nicht gerecht, sondern sind vor allem eins: antisemitisch.

János Erkens und Meron Mendel

»Doch hier spricht gerade nicht Kollegah, sondern Felix Antoine Blume«

Observation eines Skandals

Céline Wendelgaß und Tom David Uhlig

Warum wir Linke über den Islam nicht reden können

Zur Ideologie der »vollen Identität«

Sama Maani

III.VERHANDLUNGEN

»Wir machen Identitätspolitik aus Notwehr«

Auf eine Lemonade beim Missy Magazine

Stefanie Lohaus und Hengameh Yaghoobifarah sprechen über das Bashing der Identitätspolitik, die üblichen Fan-Probleme und – Lederhosen.

Wenn die Wahrheit verboten ist

Warum westliche Staats- und Regierungschefs sich weigern, dschihadistischen Terror beim Namen zu nennen und wie die akademische Welt das Streben nach Wahrheit durch ein Wahrheitsverbot ersetzt

Gadi Taub

Kein Kommentar

Es lebe die Streitkultur: Ein Twitter-Rant zu Gadi Taub

Ayesha Khan (@problematash)

»Kannst du nicht einmal deine Klappe halten, für zehn Minuten? Ich muss das schon mein ganzes Leben tun.«

Antiracism sells: Gedächtnisprotokoll einer leidvollen Theatererfahrung

Saba-Nur Cheema und Meron Mendel

Weil sie einverstanden sind

Bettina Wilpert

Macht euch schmutzig!

Oder soll man es lassen? Über die Schmerzgrenzen der Satire

Leo Fischer

ZEHN PUNKTE FÜR DEN ULTIMATIV RICHTIGEN UMGANG MIT BETROFFENHEITEN, IDENTITÄTEN UND ALLIANZEN

Eva Berendsen, Saba-Nur Cheema und Meron Mendel

Kurzbiografien

FINGER AUF WUNDEN ODER: DER DIREKTE WEG INS FETTNÄPFCHEN

Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen

Eva Berendsen, Saba-Nur Cheema und Meron Mendel

Von #Trigger-Warnung bis #Content Note: Auf Twitter, Facebook & Co. finden sich Hinweise, die Leser*innen1 auf eventuell verletzenden Inhalt aufmerksam machen sollen. Auch offline sollen Trigger-Warnungen verstärkt für den Schutz von Minderheiten im Alltag sorgen. Immer häufiger ertönt der Ruf nach Hinweisen, dass bestimmte Informationen triggern, also betroffene Personen an eine traumatische Situation erinnern und sie diese emotional und körperlich abermals durchleben lassen können. Dies betrifft insbesondere akademische und zivilgesellschaftliche Zusammenhänge sowie aktivistische Szenen, aber zunehmend auch öffentliche Debatten. Professor*innen sollen Trigger-Warnungen aussprechen, bevor es in Seminaren, Vorlesungen oder wissenschaftlichen Texten um sexuelle Gewalt, Rassismus, Trans- und Homosexuellenfeindlichkeit und andere Formen von Diskriminierung geht. Hochschulleitungen sollen einen Safe Space garantieren und mithin das Versprechen leisten, dass Angehörige marginalisierter Gruppen – und ihre Alliierten – sich an der Uni nicht mehr mit Worten, Kommentaren und Bildern auseinandersetzen müssen, die Unbehagen, Unwohlsein oder gar den Flashback eines Traumas verursachen können. Redner*innen mit entsprechendem Trigger-Potential sollen von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen, wieder aus- bzw. idealerweise gar nicht erst eingeladen werden.

Um mögliche Trigger zu vermeiden, wird das Vokabular einer kritischen Revision unterzogen und um potentiell verletzende Begriffe bereinigt. Make the world a safer place, wenn sich diese Welt schon nicht als besserer – im Sinne von umfänglicher sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit für alle garantierender – Ort einzurichten ist.

Zweifellos ist es ein richtiges und wichtiges Anliegen linker Identitätspolitiken, die auf den Schutz und das Empowerment von gesellschaftlichen Minderheiten, von Frauen, Schwarzen, People of Color, Jüdinnen und Juden, LGBTIQ und Migrant*innen abzielen, auf die psychischen Folgen von Sexismus, Rassismus, Antisemitismus und anderen Formen der Menschenfeindlichkeit hinzuweisen, die sich in westlichen Gesellschaften auch heute noch jenseits der Frage, wer welche Jobs in welchen Positionen besetzt, auf vielfältige Weise im Alltag artikulieren.

Vom Kinderbuchklassiker über das Karnevalskostüm bis zu kulinarischen Vorlieben mit kolonialen Bezügen – zweifellos sind unsere Sprache, unsere Bildwelten, unsere Alltagspraxen, die Art und Weise, wie wir uns kleiden, wie wir reisen, essen, konsumieren und uns unterhalten lassen, voller politisch unkorrekter Ungeheuerlichkeiten mit mikroaggressiven Potentialen, mit denen wir – oft genug unbewusst, um nicht ignorant zu sagen – einander symbolisch auf die Füße treten. Zu einem Zeitpunkt, da Minderheiten und Minderheitenpositionen in den öffentlichen Sphären zunehmend sichtbar werden, sind es die Mikroaggressionen des Alltags, mit denen ihnen auf besonders subtile Weise vermittelt wird, wo ihr »eigentlicher« Platz liegt: Den Versprechen moderner Demokratien mit ihrem Gleichheitspostulat zum Trotz ist dieser jedenfalls nicht dort, wo man sich auf Augenhöhe begegnen könnte. Zweifellos sind diese diskriminierenden Alltagspraxen, was die (Un)Möglichkeiten des gleichberechtigten Zusammenlebens in einer vielfältigen Gesellschaft anbelangt, nicht zu unterschätzen.

»Wo kommst Du eigentlich her?« »Ich bin in Deutschland geboren.« »Ich meine, wo kommst Du wirklich her?« Also nein, Ausgrenzung und Diskriminierung treten nicht erst mit Shoah, Kolonialismus und Sklaverei zutage.

Auch ist eine positive Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte, dass es in linken Kreisen inzwischen eine Art Anerkennung der Selbstsorge gibt. Denn zweifellos haben alle, die sich auf unterschiedliche Weise für soziale Gerechtigkeit engagieren, einen mehr oder weniger ausgeprägten Bedarf nach Schutzräumen, in die wir uns zurückziehen können, um uns von einem feindlichen Außen und unseren sexistischen, rassistischen, antisemitischen, homosexuellen- und transfeindlichen, ableistischen und fat-phobischen Mitmenschen zu erholen. Auch der »Social Justice Warrior«, wie ihn die amerikanische Rechte in ihrer grenzenlosen Verachtung gerne nennt, braucht mal ein Päuschen in seinem Safe Space. Und weil die Mitgliedschaft in einer Antira-Gruppe und die halbe Stelle als Sozialarbeiter*in in einer Unterkunft für Obdachlose oder Geflüchtete aus uns noch keinen neuen Menschen macht, sitzen manchmal auch Leute in unseren Safe Spaces, die sich wahlweise klassistisch, sexistisch, rassistisch, antisemitisch, homosexuellen- und transfeindlich, ableistisch und fat-phobisch äußern. Potz Blitz: Manchmal ist man das ja sogar selbst! Dass das Umfeld so etwas natürlich auch nicht einfach ignorieren kann, versteht sich für kritische Geister wiederum von selbst.

Die selbstreferentiellen Schleifen linker Selbst- und Chauvinismuskritik sind schon so häufig Vorlage für inner- und außerlinke Lachsalven gewesen, dass man es hier dabei belassen kann, auf Monty Pythons bereits 1979 in »Das Leben des Brian« persiflierten Clinch zwischen der »Volksfront von Judäa« und der »Judäischen Volksfront« zu verweisen. Doch zweifellos ist es richtig und wichtig anzuerkennen, dass auch die Akteur*innen in progressiven Zusammenhängen den eigenen hohen Ansprüchen zum Trotz nicht frei von unreflektierten problematischen Positionen sind. Wo Wokeness angesagt ist, präsentieren sich nicht immer alle ganz ausgeschlafen.

Nach hartnäckigen Kämpfen sind diese (selbst)kritischen Haltungen aus linker Politik nicht mehr wegzudenken. Sie flankieren die Erkenntnis, dass sich die Herrschaft von bestimmten Gruppen strukturell entlang der Frage ausdrückt, nach welchen Maßstäben die Welt gesehen und regiert, nach welchen Maßstäben und zu wessen Gunsten Politik betrieben wird, wie Institutionen gestaltet sind. Es ist der besondere Verdienst der linken (post)strukturalistischen Geistes- und Sozialwissenschaften und entsprechend inspirierter sozialer Bewegungen, die falschen Versprechen eines angeblich neutralen Universalismus als machtvolle Verallgemeinerungen partikularer Interessen sozialer Gruppen zu enttarnen, welche im Laufe der Geschichte förmlich ausnahmslos weiß, männlich und heterosexuell besetzt waren und es teilweise noch sind.

Auch die eigene linke Theorie- und Praxisproduktion seit Karl Marx blieb dabei nicht verschont: Dass gesellschaftliche Ungleichheiten nicht nur von einem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit künden, sondern sich diese in kapitalistischen Gesellschaften entlang verschiedener Achsen der Differenz etablieren, ist eine zentrale Einsicht etwa der feministischen, intersektionalen Forschung. Dass Antisemitismus und Rassismus, Nationalsozialismus und Kolonialismus, Holocaust und Völkermord nicht ausschließlich über Kapitalismus und Imperialismus abzuleitende Phänomene sind, ist ein wichtiger Beitrag sowohl der kritischen Theorie als auch Teilen der postkolonialen Forschung. Dass das eine nicht dasselbe wie das andere ist, haben wir einer (herrschafts)kritischen Antisemitismusforschung zu verdanken.

Hinter die Kernanliegen progressiver, emanzipatorischer Identitätspolitik wollen wir nicht zurückfallen. Jedenfalls wenn es um analytische Schärfe geht, die wir gewinnen konnten. Und nicht um Punkte auf dem Moral-Konto.

Und doch. Wie aus manchen Schüler*innen von Karl Marx »Vulgärmarxist*innen« wurden, so erleben wir momentan die Verbreitung einer vulgären Identitätspolitik mit fundamentalistischen Zügen. Der Ruf nach Trigger-Warnungen und Safe Spaces bringt dabei eine Tendenz linker Identitätspolitik auf den Begriff, die wir für problematisch, mehr noch: für grundfalsch halten. Die Verallgemeinerung der medizinischen und klinischen Beschäftigung des Triggers aus der Traumaforschung in politisierter Absicht wird zunehmend – mal intendiert, mal zufällig – zum Mittel, um Gegenredner*innen oder unbequeme Positionen aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Hinzu kommt eine vereinfachte, manichäische Spaltung der Welt in Gut und Böse, in »globaler Süden« und »der Westen«. Eine oberflächige Lektüre etwa von Michel Foucault führt in diesem vulgären Poststrukturalismus zur Gleichsetzung von Macht und Bosheit. Folglich reicht allein die Schwäche der Gruppe, dass man ihr ultimatives Recht zusprechen muss. Die an sich zentrale Perspektive der Betroffenen von menschenfeindlicher Gewalt, die in Mainstream-Debatten üblicherweise keine oder noch viel zu wenig Berücksichtigung findet, avanciert hier zum einzigen Maßstab, um sich eine Meinung zu bilden und ein Urteil zu fällen. Szenetypisches Überwachen und Strafen erfolgt hier auf dem Rücken einer Betroffenenperspektive, die man sich nur im Singular vorzustellen vermag. Die Betonung der Differenzen, der Marginalisierung der eigenen Position und des Status als Opfer (oder dessen Anwält*innen) legitimiert die selbstgerechte Abschottung einerseits und das Abkanzeln, Rügen oder gleich Niederkrähen von Gegner*innen andererseits – und das können in diesen beschleunigten Zeiten des Bescheidwissertums schon jene sein, die nicht ganz up to date sind, mit welchem Abkürzungskonvolut sich aktuell die Vielfalt der sexuellen Identitäten oder die Gruppe der auf unterschiedliche Weise von Rassismus betroffenen Personen korrekt zusammenfassen lässt. (Apropos: Auf Social Media ist schon längst nicht mehr von »Trigger Warnung« die Rede, sondern – zumindest zur Zeit der Drucklegung – von »Content Note« und »Content Warnung« oder einfach #CN und #CW.)

In ihrer exzessiven Ausprägung wird die Betonung von Differenz und Privilegien zum Selbstzweck und schließt für all jene den Raum, die ihre Position nicht mit ihrer Identität und Minderheitenzugehörigkeit belegen können oder wollen. Wenn den bereits Legende gewordenen »alten weißen heterosexuellen Männern« auf diese Weise etwa eine profeministische und rassismuskritische Haltung abgesprochen werden muss, wenn Personen auf ihre potentielle Betroffenheit reduziert werden, wenn mehr oder minder subtil zur Debatte steht, welche Diskriminierungsform die anderen an Härte noch zu übertreffen vermag und stellvertretend zum Schutz der angeblich besonders Schutzlosen das Wort ergriffen wird, wenn Menschen als »privilegierte« markiert und dafür schuldig gemacht werden –, dann versperrt hier ein »positionaler Fundamentalismus« (Paula-Irene Villa) politische Allianzen der Verschiedenen und die Idee von hybriden Identitäten genauso wie er die Opferkonkurrenz befeuert und neue Paternalismen auf den Plan ruft.

Was kann die Identitätspolitik der Mehrheit der Gesellschaft anbieten? Was bleibt den »alten weißen heterosexuellen Männern« und anderen Mitgliedern »privilegierter Gruppen«, als die eigene »privilegierte Position« zu bedauern und sich dafür schuldig zu fühlen? Dann befinden wir uns schon sehr nah an der alten christlichen Moral, indem das Handeln durch Schuldgefühle über eine Ursünde bestimmt werden soll.

Es ist daher kein Zufall, dass der Diskurs einen fast schon religiösen Charakter bekommen hat: Dissens wird auf moralische Kategorien von Gut und Böse verengt, was wiederum eine Dynamik entfaltet, die Kommunikation versperrt. Viele verstummen lieber als einen verbalen Fehltritt mit dem Potential des Szeneausschlusses und entsprechendem Aufschrei in den Filterblasen der sozialen Medien zu riskieren. Und natürlich geht es hier auch um Eitelkeiten und aktivistisches Marketing in eigener Sache in einem Umfeld, in dem »Gutsein« die Währung ist (Angela Nagle) und sich die Akteur*innen traditionell auf der richtigen Seite der Geschichte wähnen.

Während wir es uns in unseren Safe Spaces wahlweise zu gemütlich machen oder uns darin selbst zerfleischen, bleiben allerdings unsere Fähigkeiten zu streiten und zu argumentieren nach Außen auf der Strecke. Diese sind allerdings angesichts des Erstarkens rechtspopulistischer Bewegungen und rechter Parteien sowie umfassender ökonomischer und gesellschaftlicher Krisenprozesse dringend gefordert. Kurz gesagt: Es wird Schluss gemacht mit Politik. Und das auch noch mit besonders schlechtem Timing

Trump in den USA, Kurz in Österreich, Orban in Ungarn, Kaczynski in Polen, Salvini in Italien, Bolsonaro in Brasilien: Die Liste der rechtspopulistischen Regierungen weltweit wird länger. Der Erfolg rechter Parteien in Europa und den USA deutet darauf hin, dass der gegenwärtig mit linken Politiken assoziierte Identitätsdiskurs an den Anliegen vieler Menschen vorbei geht. Und mindestens ein Vermittlungsproblem hat: Für wen sind Allgender-Toiletten gedacht? Warum sollen Weiße keine Dreadlocks tragen? Wieso dürfen sich Kinder an Fasching nicht mehr als Indianer verkleiden? In Zeiten von Rechtspopulismus und neoliberalem Kapitalismus, in denen die einen nach Schuldigen für den Aufstieg der Rechten suchen und die anderen angeblich endlich wieder sagen dürfen, was sie sich zuletzt nur hinter vorgehaltener Hand oder in den (im Übrigen recht geräumigen) Safe Spaces ihrer rechten bis konservativen Öffentlichkeiten zu sagen trauten, werden Minderheiten-Issues als Luxusprobleme einer Bildungselite verächtlich gemacht.

Druck kommt von allen Seiten: In Teilen der Linken wird die akademische und aktivistische Beschäftigung mit Positionen und spezifischen Erfahrungen historisch und gesellschaftlich marginalisierter Personen nun als Steigbügelhalter beim Aufstieg der Neuen Rechten gebrandmarkt, auch indem die Belange von Minderheiten als »Pipifax« (Robert Pfaller) veralbert werden. Nach den langen, mühsamen Kämpfen für die Integration der Perspektiven von Minderheiten in linke Theorie und politische Praxis erleben wir derzeit eine Art Backlash des marxistischen Hauptwiderspruchs. Dieses Revival wird von seinen Verfechter*innen als Befreiungsschlag verkauft. Nach den Ablenkungen durch das vom Linguistic Turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften befeuerte »Gedöns«, wie Gerhard Schröder einst das Ressort der Frauen- und Familienpolitik bezeichnete, könne man jetzt wieder aufatmen und sogar aufstehen, wie Sahra Wagenknecht und Bernd Stegemann ihre zur Drucklegung immer noch nicht recht in Fahrt gekommene linkspopulistische Sammlungsbewegung nennen. Reaktionäre bis rechte Kreise wiederum sehen endlich ein Möglichkeitsfenster geöffnet, ihr Unbehagen am Verschwinden der alten Ordnung, die sie durch Unisex-Toilettenhäuschen sowie »politisch korrekte« Alternativen zum Z-Schnitzel auf Speisekarten und zum N-König im Kinderbuch verdrängt sehen, mit ungehemmter Hetze gegen die Sprechverbote des »linksversifften« Mainstreams zum Ausdruck zu bringen. Und Donald Trump ist endlich einer, der sagt, was ist. »Politische Korrektheit gehört auf den Müllhaufen der Geschichte«, bekundet wenig überraschend die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel.

In dieser verfahrenen Situation eine solidarische Kritik zu äußern, die nicht den Rechtspopulist*innen und Reaktionären in die Hände spielt, bleibt nicht ohne Risiko. Wir machen uns keine Illusionen: Dieser Sammelband hat das Zeug, sich falsche Freund*innen und neue Feind*innen zu machen.

Und doch. Eine emanzipatorische Linke sollte sich selbst befragen, ob sie sich in Zeiten, in denen vor dem Hintergrund institutionell und strukturell abgesicherter Ungleichheiten schon lange nichts mehr gewonnen wurde außer einem schwarzen US-Präsidenten, einer ostdeutschen Kanzlerin und Hijab-tragender Models in der Katjes-Werbung, ob sie sich in Zeiten der Ohnmacht (Georg Seeßlen) und der gefühlten Vergeblichkeit der Kämpfe nicht über Gebühr an Symbole und Semantiken, an Gendersternchen und Dreadlock-Verbote für Weiße klammert – ungefähr so wie zum Beispiel der sich vegan ernährende Umweltschützer an Mülltrennung und das Regal mit den Seitanschnitzeln, jetzt auch im Discounter, angesichts von Klimawandel und des absehbaren ökologischen Kollapses unseres Planeten. Auch diese Analogie kann nur über eine Leerstelle gelingen, indem die Umwelt aus dem Feld der sozialen Kämpfe immer wieder ausgespart wird.

Es ist zu vermuten, dass diese ganze Kultur der Kränkung vor allem damit zusammenhängt, dass das kranke System seiner Verlottertheit zum Trotz in der Lage ist, sich putzmunter immer wieder neu zu erfinden. Ob die Macker*innen aus den eigenen Reihen, denen man antisemitische oder rassistische Gehalte in ihren Positionen und Haltungen nachweist, dann tatsächlich mit demselben Eifer bekämpft werden sollten wie der AfD-Funktionär im Quartier, ist eine schwierige Abwägungsfrage und muss natürlich jede*r Aktivist*in oder Social Media-Nutzer*in entlang des eigenen Wertekanons selbst entscheiden. Wir meinen mit aller Vorsicht: tendenziell nein! Vielleicht hilft es dabei, weniger auf festgenagelten Grundsätzen zu beharren, sondern etwas offener und mit Verweis auf sozialpsychologische Effekte zu argumentieren: Erfahrungsgemäß erzielt man mit der Kultur des Aufschreis selten Lerneffekte. Öffentliche Kritik wird von den Kritisierten eher als Tribunal oder als Pranger wahrgenommen. Umso mehr, je gnadenloser sie formuliert ist. Schon um keinen Gesichtsverlust zu erleiden, beharren Kritisierte eher auf ihrem problematischen Standpunkt, als dass sie sich offen zeigten für Kritik. Diese affektmotivierte Dynamik macht das, was zu den Glaubenssätzen linker, kritischer Theorie und Praxis gehört, unmöglich: emanzipatorische Politik als einen gemeinsamen Prozess zu begreifen, in dem nicht das einseitige Auflösen, sondern das Aushalten von Widersprüchen die Prämisse ist, welche linke Praxis von jener des rechten Lagers unterscheidet.

Dieser Sammelband wirbt für mehr Fehlertoleranz in linken Zusammenhängen, die sich – vor allem was politische Fehltritte anbelangt – durch ein beeindruckendes Elefantengedächtnis auszeichnen. Das Buch tritt ein für eine Öffnung und eine Irritation des elitären Jargons, der durch das Beharren auf sprachlicher und symbolischer Korrektheit wiederum extrem ausschließend wirkt. Die Beiträge erteilen schlichten Beiß- und Abwehrreflexen eine Absage und richten den Blick dorthin, wo es aus unserer Sicht zwickt und weh tut: wo Identitätspolitik sich in Symbolpolitik erschöpft. Wo Abgrenzungskämpfe zum Zweck narzisstischer Fingerübungen oder der Herausbildung einer postpubertären Cliquenidentität geführt werden. Wo die Betonung der Differenz vergessen lässt, dass man nicht mit allem identisch sein muss, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Das Herausstellen von Unterschieden kann übrigens jene triggern, vor deren Chauvinismus mit Trigger-Warnungen geschützt werden soll, und ist daher zumindest aus pragmatischen Gründen schon keine smarte Idee: Wer die eigene Wir-Gruppe bedroht sieht, besagen Studien, neige zu intolerantem Verhalten und größerem Misstrauen nach außen. Aus Angst, zur Minderheit zu verkommen, würden Weiße in den USA lieber republikanisch wählen.

Eine emanzipatorische Linke sollte im Kampf gegen Rechtspopulismus soziale und ökonomische Fragen nicht gegen Rassismus-, Antisemitismus oder Sexismuskritik ausspielen. Durch einseitige Verengungen gewinnt man hier nichts – weder analytisch noch politisch. Wer glaubt, der Kampf für die Einrichtung von Unisexklos würde die Revolution bedrohen, bedient im Kern die Angst-Ideologie der Rechtspopulist*innen. Was eine gesellschaftliche Veränderung vermutlich aber am meisten bedroht, ist eher die Neigung, sich gekränkt auf die stillen Örtchen zurückzuziehen und das Unbehagen am großen Ganzen mit Edding auf der Türinnenseite einer öffentlichen Toilette zu hinterlassen, weil der Schmutz der Kloake da draußen das ästhetische Empfinden, das sich über eine weiße Weste definiert, massiv verletzen könnte.

Also, Achtung: Hier können Menschen, die sich als links und Ismenkritisch verstehen, verletzt werden.

Unser Dank gilt den Autorinnen und Autoren dieses Sammelbands, die unserem Aufruf gefolgt sind, einen Beitrag zur hoffentlich konstruktiven Öffnung dieser schwierigen Debatte zu leisten, und die nicht davor zurückgeschreckt sind, sich den Fallstricken und Ambivalenzen rund um das Thema auf unterschiedliche Weise und über unterschiedliche Zugänge – wissenschaftlich, journalistisch, essayistisch, literarisch – zu nähern. Kristine Listau und Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag danken wir herzlich für ihre Bestärkung und Euphorie, das Buch mit uns zu machen – auf die Freundschaft und die Bildungsstätte Anne Frank edition! Den Kolleginnen und Kollegen aus dem Arbeits- und Diskussionszusammenhang der Bildungsstätte Anne Frank danken wir für die produktive Kultur des Streitens, die wir gemeinsam etabliert haben – den alltäglichen Ungeheuerlichkeiten und schmerzvollen Erfahrungen zum Trotz, welche die Bildungs- und Beratungsarbeit im Feld Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt immer wieder aufs Neue produziert. Ganz herzlich bedanken wir uns bei Charlotte Busch, die uns im Management von allem, was so ein Band inhaltlich und organisatorisch benötigt, genial unterstützt hat – vielen Dank für die Geduld, die Kreativität und die Fehlertoleranz an den richtigen Stellen.

1 Über die Art des Genderns entscheiden die einzelnen Autor*innen dieses Bandes.

I. VERORTUNGEN

TRIGGER-WARNUNGEN

Zur Politisierung eines traumatherapeutischen Konzepts

Markus Brunner

Der Begriff der Trigger-Warnung machte in den vergangenen Jahren in Tageszeitungen die Runde, die über hitzige Campus-Debatten an amerikanischen Universitäten berichteten. An verschiedenen Orten gab es studentische Klagen über Lehrveranstaltungen als potenziell traumatisierende Räume bzw. darüber, dass Lehrinhalte, allen voran literarische Werke, bei Menschen mit Gewalterfahrungen Retraumatisierungen auslösen (triggern) könnten. An der Columbia University in New York entflammte beispielsweise eine Debatte um die graphische Darstellung von Vergewaltigung und sexueller Belästigung in Ovids »Metamorphosen«, die bei Frauen, insbesondere Überlebenden von Vergewaltigungen, kaum zu ertragende Gefühle auslösten.1 Gefordert wurde jeweils je nach Ausrichtung der studentischen Proteste zum Beispiel einfach, dass die Studierenden im Unterricht zukünftig vorgewarnt werden sollten, wenn im Lehrstoff graphische Darstellungen von sexueller Gewalt oder selbstverletzendem Verhalten oder rassistische Beschreibungen vorkämen, die Studierenden der Columbia University forderten eine Schulung der Professor_innen zum Umgang mit potenziell triggerndem Material und von massiven Gefühlen überrollten Studierenden im Unterricht. An anderen Orten wurde darauf bestanden, potenziell traumatisierende Stoffe ganz aus dem Unterricht zu nehmen. Eine amerikanische Sexualrechtsprofessorin berichtet sogar von Forderungen Studierender, dass sie den Begriff »verletzen« nicht mehr benutzen solle, weil er Opfer von Gewalt triggern könne.2

Gegen die studentischen Forderungen liefen Hochschulangehörige, aber auch journalistische Kommentatorinnen Sturm: Von liberaler wie konservativer Seite wurden die studentischen Klagen als Zensurmaßnahmen angeklagt und als Folgen einer lächerlichen Political Correctness gelesen, die erstens die fundamentalen Prinzipien der Redefreiheit und des akademischen freien Austauschs von Argumenten angreife und zweitens Ausdruck einer narzisstischen Selbstbezüglichkeit und Verweichlichung der heutigen Studierenden sei. Gerade von liberaler und linker Seite wurde eingeworfen, dass es doch gute Bildung auszeichne, dass sie die zu Unterrichtenden nicht nur intellektuell, sondern auch emotional herausfordere, sie aus ihrer Comfort Zone herausreiße und es so ermögliche, auch kontroverse Debatten auszuhalten und sich in ihnen zu engagieren – kontroverse Debatten, in denen es genau um die wichtigen Themen ginge, die auch den Studierenden ein Anliegen seien: Rassismus, Sexismus oder andere Formen gesellschaftlicher Diskriminierung.

Die Debatte um Trigger-Warnungen beschränkte sich keineswegs nur auf die Universitäten, sondern auch auf andere Bereiche der Öffentlichkeit. In New York wurde zum Beispiel eine Petition lanciert, die forderte, ein umstrittenes Gemälde des Malers Balthus, das ein junges Mädchen in einer als sexuell aufreizend wahrgenommenen Pose zeigt, aus dem Metropolitan Museum zu entfernen. Auch in Deutschland gibt es mittlerweile solche Diskussionen: Die Berliner Alice Salomon Hochschule kündigte an, den vehementen Forderungen von Studierenden nachzukommen und ein Gedicht von ihrer Fassade zu entfernen, in dem gleichermaßen die Schönheit von Alleen, Blumen und Frauen bewundert wurde. In der Populärkultur sind explizite Trigger-Warnungen sowieso schon gang und gäbe: Zahlreiche Fernsehsender und Streaming-Seiten warnen ihre Zuschauerinnen vor Beginn von Filmen und Serienepisoden vor graphischen Darstellungen von Gewalt, Sexualität oder Drogenkonsum.

Die zum Teil hohe Wellen schlagenden Debatten, vor allem um den Unterrichtsstoff an Universitäten und um öffentliche Kunst, führten dazu, dass das Jahr 2013 von der Internetzeitschrift Slate gar zum »Jahr der Trigger-Warnung« erklärt wurde. Der englische Begriff »trigger warning« war etwa ein Jahrzehnt davor erstmals im Internet aufgetaucht, wohl zuerst in Fanfiction-Communitys, wo sorgsame Schreiber_innen ihre Leser_innen vor möglicherweise verstörenden Inhalten zu warnen versuchten.

Der Begriff »Trigger« stammt aus der Traumatheorie und bezeichnet bestimmte Reize, die unwillkürlich die Erinnerung an ein zurückliegendes Trauma auslösen und dadurch Flashbacks hervorrufen können; die Traumatisierten fühlen sich dann plötzlich in die traumatische Situation zurückversetzt, werden von Angst überflutet und reagieren – wie in der früheren traumatischen Situation – mit Zuständen psychischer Dissoziation, massiven Aggressionen oder werden psychisch gelähmt.

Es ist denn auch die Möglichkeit von solchen Retraumatisierungen durch Schlüsselreize, die in den sensibelsten Beiträgen zur Trigger-Warnungsdebatte im Zentrum stehen: Häufig aus den Disability Studys stammende Pädagoginnen3 argumentieren, dass es zum Beispiel Opfern von Folter, Krieg oder sexueller Gewalt verunmöglicht werde, am Unterricht weiter teilzunehmen und sich mit dem Unterrichtsstoff zu beschäftigen, wenn sie durch Gewaltdarstellungen getriggert und dadurch paralysiert würden. Triggerwarnungen dienen hier einem möglichst inkludierenden, barrierefreien Unterricht: Könnten sich die Traumatisierten psychisch auf solche Darstellungen vorbereiten, würden sie auch nicht von der Traumadynamik überrollt, was es ihnen ermöglichte, am Unterricht besser teilzunehmen. Richtigerweise betonen die Autorinnen, die aus dieser Richtung schreiben, dass eine Retraumatisierung etwas anderes sei als das Rütteln an der eigenen Komfortzone oder das Konfrontiertwerden mit unangenehmen Wahrheiten. Trigger-Warnungen hätten in diesem Kontext gerade nicht die Funktion, dem verstörenden Material auszuweichen, sondern im Gegenteil sollen sie es den Betroffenen gerade ermöglichen, sich mit diesem auseinanderzusetzen.

Um psychische Zusammenbrüche zu verhindern, ist ein Unterricht, in dem eine Sensibilität gegenüber der Wirkung von Gewaltdarstellungen vorherrscht und in dem die Studierenden auch im Vorfeld gewarnt werden, sicher nicht verkehrt. Darauf zielt zum Beispiel die Resolution der Minnesota Student Association, die Lehrende ersucht, Trigger-Warnungen bei graphischen Darstellungen von Missbrauch, Folter, sexueller Gewalt, Selbstverletzung und bei der Porträtierung von Menschen mit schweren psychischen Problemen oder Essstörungen auszusprechen.4 Studien in den USA zeigen auch, dass über die Hälfte der College- und Universitätsdozierenden in den USA immer wieder solche Warnhinweise im Unterricht geben.5

Solchen Maßnahmen zur Traumaprävention sind allerdings Grenzen gesetzt. Triggern können nämlich nicht nur explizite Gewaltdarstellungen, sondern schon äußerst subtile Wahrnehmungsmomente: Bestimmte Gesichtszüge, Gesten oder Stimmen können an die Täter_innen erinnern, spezifische Gerüche oder Geräusche an den Ort der Tat, zuweilen kann nur ein durch Vorhänge produziertes Licht-und-Schatten-Spiel oder das Parfüm des Sitznachbarn Flashbacks auslösen. Kein auch noch so sensibel gestalteter öffentlicher Raum kann also Betroffene vor retraumatisierenden Situationen wirklich schützen. Angesichts dessen wäre es eher wichtig, Lehrpersonen für diese Möglichkeiten zu sensibilisieren, und eventuell dadurch einen Raum zu schaffen, in dem sich Betroffene auch vertraulich an diese wenden können und die Möglichkeit haben, im Notfall den Raum zu verlassen – auch wenn natürlich Lehrpersonen keine Traumatherapeut_innen werden können und sollen.

Solche Forderungen nach einem inkludierenden Unterricht und einer Sensibilität für Überlebende von Gewalt oder Menschen, die unter schwereren psychischen Krankheiten leiden, würde wohl kaum auf riesigen Widerstand stoßen und hitzige Debatten auslösen. Was aneckt ist, dass die Forderung nach Trigger-Warnungen Teil politischer Kämpfe ist, die sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr mit Traumadiskursen verwoben haben. Das hängt ebenso mit allgemeinen diskursiven Verschiebungen zusammen wie mit einer Eigenart des Traumadiskurses selbst, der immer schon sehr dezidiert Teil politischmoralischer Debatten war.

José Brunner6 verortet das Aufkommen des Diskurses über psychische Traumatisierungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem erst in der bürgerlichen Gesellschaft auftauchenden individualistischen und demokratischen Ethos, der das Individuum nicht nur mit spezifischen Rechten und Pflichten ausstattet, sondern es auch als vor Unrecht zu beschützendes Wesen konzipiert. Die ersten Traumadebatten in Deutschland fanden denn auch vor Gericht statt, als im Zuge einer neuen Sozialgesetzgebung, welche nach Arbeitsunfällen arbeitsunfähig gewordenen Arbeiterinnen Rentenansprüche gewährte, auch Arbeiterinnen Renten einklagten, bei denen nach Unfällen keine physische Versehrung nachzuweisen war, die aber psychische Schädigungen geltend machten. In den Gerichten ging es darum, die wirklich Kranken von den Simulant_innen zu trennen, während es den Klägerinnen darum ging, auf Arbeiterinnenrechten zu beharren. Das Trauma als nicht sicht- oder messbare Größe – eigentlich ist das Trauma, das lateinische Wort für Wunde, im Bereich des Psychischen immer schon ein metaphorischer Begriff, der sich auf die Vorstellung einer psychischen Integrität bezieht, die verletzt wurde – wird zum Teil eines Anerkennungskampfes, in der es kein richtig oder falsch gibt. Ähnliche Debatten wie bei den Arbeitsunfallklagen gab es bei den Soldaten des Ersten Weltkrieges, wo die »Kriegszitterer« als Simulanten oder sogenannte Rentenneurotiker abgetan wurden, und noch im Zuge der Schadenersatzklagen von KZ-Überlebenden im postnationalsozialistischen Deutschland wurden Klagende mit der Begründung abgewiesen, ihre Symptome hätten nichts mit der erlebten Gewalt zu tun, sondern seien Effekt ihrer mangelhaften biologischen Konstitution.7 In den wissenschaftlichen Diskurs über Traumata selbst war so immer schon ein moralischer eingeschrieben, in dem es um die (Nicht-)Anerkennung eines von außen zugefügten seelischen Leides ging. Brunner verweist auf eine immer stärkere Ausweitung des Traumadiskurses im Zuge einer immer breiteren Ausdehnung des demokratischen Ethos: Im Zuge von feministischen Debatten über Vergewaltigungen und häusliche Gewalt wurden Frauen, im Zuge von Debatten über Kindsmissbrauch wurden Kinder und im Zuge von Debatten über die psychischen Folgen von Rassismus wurden Schwarze als – aufgrund ihrer sozialen Position – besonders verletzliche Individuen anerkannt, die aufgrund der höheren Wahrscheinlichkeit, traumatisierenden Übergriffen ausgesetzt zu sein, eines besonderen Schutzes bedürften.

Dass aber der Traumadiskurs mittlerweile so unmittelbar mit in politische Anerkennungsdiskurse verwoben ist, hat, so zeigen Fassin und Rechtmann8, mit einem Wandel des Diskurses über Traumata im Zuge der Debatten über die Holocaustüberlebenden zu tun. Während davor wie gezeigt der Traumadiskurs vor allem auch einer war, der stets Verdacht und Zweifel ausgesetzt war, wandelte er sich im Zuge der Anerkennung der Traumatisierung der Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung und den psychologischen Studien zum sogenannten Überlebendensyndrom zu einem Authentizitätsdiskurs: Die Überlebenden verkörperten nun die Leiden der Verfolgung, ihr Trauma wurde zum lebenden »Zeugnis für das Unaussprechbare«, das für die erlebten Schrecken bürgte. Die autobiographischen Analysen von Bruno Bettelheim oder Primo Levi und andere Auseinandersetzungen mit der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden und ihren psychischen Auswirkungen, allen voran natürlich in der US-Fernsehserie »Holocaust«, wurden breit rezipiert, die sogenannten Zeitzeug_innen wurden zunehmend in Schulen eingeladen, um über ihre Erfahrungen zu berichten, aber auch davon, was diese mit ihnen machten, und Claude Lanzmann taxierte die Berichte der Überlebenden in seinem Interview-Film »Shoah« als »Verkörperung der Wahrheit«. Spätestens in den Studien und im Diskurs über die transgenerationellen Auswirkungen der Shoah bei den Kindern der Überlebenden wurde die Gewalt, die sich da über Generationen hinweg in die Körper einschrieb, offenbar. Der Verdachts- und Simulationsdiskurs war damit an den Rand gedrängt worden.

Die sehr spezifischen Debatten um die psychischen (Spät-)Folgen der Shoah wurden zum Vorbild für eine Veränderung der Wahrnehmung von Traumatisierung, die später zu einer Universalisierung des Traumadiskurses führte: Wer heute Leiden glaubhaft und gesellschaftliche Gewalt sichtbar machen will, beruft sich auf den Traumabegriff. Spätestens mit dem Einzug der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) in den psychologischen Krankheitsmanualen, der von friedensaktivistischen Ärzt_innen und Psychologinnen vorangetrieben wurde und die Vietnamkriegsveteranen als zuweilen durch ihre eigenen Taten traumatisierte Opfer des Krieges etablieren half, hatte sich der Traumabegriff im medizinischen und bald auch öffentlichen Diskurs etabliert.

Während das Aufzeigen der psychischen Folgen von Leiden im Zuge der feministischen und antirassistischen Kämpfe sicher zu begrüßen ist – sie führte überhaupt erst zum Beispiel zu einer psychologischen Auseinandersetzung mit Vergewaltigungen und häuslicher Gewalt –, brachte der damit erfolgte Fokus auch die Gefahr einer Psychologisierung und Therapeutisierung des Politischen mit sich. So haben Feministinnen spätestens seit den späten 1990er Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass der Fokus auf Frauen als Opfer von Gewalt, die eines besonderen Schutzes bedürften, den Kampf gegen patriarchale Strukturen und die damit verbundenen Gleichheitsforderungen auch durchkreuzen könnte.

von anderen Autorinnen wird die Liste noch ergänzt durch Rassismus, Klassismus, Hetero- und Cissexismus, Ableismus und sogar Kannibalismus oder Lookismus – verbunden mit dem Hinweis: »Realize that all forms of violence are traumatic«.10