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Theobald O. J. Fuchs

 

Der zweite Krautwickel

 

Kriminalroman

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Januar 2020)

 

© 2020 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © mauritius images/pa/Daniel Karmann

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-7472-0102-2

 

Inhalt

I. ISOLATION

II. AUSBRUCH

III. VERWICKLUNG

IV. Musik

V. Erbe

Der Autor

 

I. ISOLATION

 

Crash

Am 8. Juli 2007, einem strahlenden Sommersonntag, stand Bernd F. im Garten seines Hauses am Vorderen Grenzweg in Burgthann und starrte auf die immergrüne Hecke, die das Grundstück zur Straße hin abgrenzte. In seinem Kopf hing eine schwarze Wolke, die seinen Geist blockierte, obwohl es viele Dinge gab, über die er dringend hätte nachdenken müssen. Außerdem hatte sich sein ganzes Blut im Bauch versammelt, um die nahrhaften Bestandteile des Schweinebratens abzutransportieren, den er eine Stunde zuvor zusammen mit seiner Frau und seinen beiden halb erwachsenen Söhnen schweigend verspeist hatte. Die Bienen summten, Vögel zwitscherten, die ganze Natur ein einziges Schlaflied.

Bernd F. konnte zu diesem Zeitpunkt unmöglich ahnen, dass er in wenigen Minuten die Identität eines ihm völlig unbekannten Menschen annehmen würde. Noch konnte er keinen Ausweg aus der Falle sehen, in die er sich selbst hineinmanövriert hatte. Seine Probleme erschienen ihm ebenso zahlreich wie unlösbar, er spürte keine Kraft mehr, vielmehr fühlte sich sein Leben wie ein enger Tunnel an, durch den er immer weiter vorwärtskriechen musste, obwohl er wusste, dass der Ausgang verschüttet war.

Morgen war wieder Montag, er würde zur Arbeit gehen und vorgeben, an einem komplizierten Angebot für einen Baukonzern zu schreiben. Sein Blick – aus dem Augenwinkel heraus – würde pausenlos an Schaumüller kleben, der hinter einer Glastür ganze Berge von Aktenordnern durchwühlte. Seitdem der Chef vorige Woche begonnen hatte, die Abrechnungen der letzten fünf Jahre zu prüfen, befand sich Bernd F. in permanentem Alarmzustand. Denn er wusste sehr gut, wonach sein Vorgesetzter suchte. Ein Leck, durch das große Summen Geld verschwunden waren und immer noch verschwanden. Außerdem kam Bernd F., ob er wollte oder nicht, immer wieder die Verabredung in den Sinn, die er am morgigen Abend mit der thailändischen Prostituierten hatte. Angesichts des Ärgers, der ihm im Büro drohte, freute er sich auf das Treffen mit der zierlichen Asiatin wie schon lange nicht mehr.

Er starrte ein Loch in den Rasen und achtete nicht auf seine Umwelt. Weil er sich während der vielen Jahre an die Nähe der Bahngleise gewöhnt hatte, die auf der anderen Seite der Straße verliefen, hörte er schon lange nicht mehr hin, wenn ein zunächst leises, dann rasch anschwellendes Singen und Pfeifen der Schienen das Herannahen des Hochgeschwindigkeitszuges ankündigte.

Viermal am Tag schossen die Züge der schnellen Verbindung zwischen Nürnberg und Wien vorbei, zweimal aus der Nürnberger Richtung, zweimal aus der Regensburger. An diesem 8. Juli jedoch schlugen die vertrauten Schwingungen des Stahls, die um 13.54 Uhr den ICE aus Nürnberg ankündigten, abrupt um in das Kreischen der Vernichtung.

Bernd F. tauchte aus seiner Versunkenheit auf, als der Unfall schon beinahe vorüber war. Das heißt, als die Kata­strophe geschehen und ein von allen Beteiligten als schier unerträglich empfundener, endloser Moment absoluter Stille eingetreten war, ehe dann schlagartig eine infernalische Kakofonie losbrach: Schreie, das Schlagen von Fenstern und Türen, Motorenlärm, eine aufheulende Feuersirene, die Hilferufe der eingeklemmten Verletzten.

Jedes Mal, wenn sich Krautwickel in den folgenden Monaten an das Unglück erinnerte, kam es ihm so vor, als ob die Ereignisse sich über viele Stunden hingezogen hätten – in Wirklichkeit hatte sich sein Leben jedoch innerhalb weniger Minuten geändert. Obwohl er die durch die Luft wirbelnden Trümmerstücke sah, während er gleichzeitig den Donnerschlag und das unmittelbar folgende, die Trommelfelle zerreißende Knirschen hörte, konnte er seine verschiedenen Sinneseindrücke nie zugleich aus dem Gedächtnis abrufen; stets hörte er zuerst den Soundtrack der Zerstörung, ehe er das Auge auf das stumme Etwas richten konnte, das zu ihm in den Garten geschleudert worden war.

Der Hochgeschwindigkeitszug war in einer Kurve vor dem Wohngebiet entgleist. Viele Wochen später, nach Abschluss der offiziellen Untersuchung, würde man als Unglücksursache annehmen, dass unbekannte – von der Bevölkerung bald als »osteuropäisch« verleumdete – Schienendiebe ein Stück Gleis abmontiert hatten. Aber die potenziellen Täter wurden nie identifiziert, und bald tauchten erste Gerüchte auf, die Bahn habe diese These aufgestellt, um von eigenem Versagen abzulenken. Es kochten Spekulationen hoch, skrupellose Profiteure hätten das Geld für Schienenausbesserungsarbeiten in die eigenen Taschen gesteckt. Doch wie immer verlor die Öffentlichkeit irgendwann das Interesse, hatten sich doch längst die nächsten Flugzeugunglücke, Flutkatastrophen, Militärputsche und Skandale ereignet, welche die Aufmerksamkeit auf sich lenkten.

Was immer auch die Ursache gewesen war, gewiss ist, dass die vordersten Triebwagen des ICE zwei Häuser, die dicht am Bahndamm standen, auf Höhe des ersten Stocks abrasierten und mit dem ihnen verbliebenen Rest kinetischer Energie die Außenwand eines dritten Hauses durchbohrten. Dabei verloren acht Einwohner Burgthanns ihr Leben (Bernd F. noch nicht mitgezählt), sowie fünfunddreißig Passagiere (Heinz Krautwickel eingeschlossen), außerdem vier Zugbegleiter und der Lokführer, der in der Küche des besagten dritten Hauses mit zahlreichen Armaturen seines Führerstandes zu einem strukturlosen Klumpen aus Metall, Fleisch und Knochen gepresst aufgefunden wurde. Man musste ihn in einem einzigen Block aus der Zugspitze schneiden. Es heißt, die Frau des Hauses habe den Arbeitern, die mit Schweißbrennern zwei Stunden lang mit dem Wrack kämpften, Bier aus dem Kühlschrank gereicht, der wundersamerweise von dem Triebwagen nur eine Handbreit zur Seite geschoben worden war.

Bernd F. stand fünfzig oder mehr Meter unterhalb des Unglücksortes in seinem Garten, aber nicht außerhalb der Gefahrenzone, wie er sich später – begleitet von starkem Herzklopfen und Schweißausbrüchen – klarmachte. Als er aufsah, weil ihn dicht neben seinem rechten Ohr ein heftiges Geräusch, das dem Zerbrechen von hundert Pressspanplatten ähnelte, aufgeschreckt hatte, bohrte sich der Türrahmen einer Zugtoilette in den Stamm der Zierkirsche; wie das Blatt einer Axt steckte die abgerissene Metallkante im Holz, die Tür selbst fehlte, aber im Rahmen hing die Leiche von Heinz Krautwickel.

Eine stählerne Kante hatte dessen Gesicht glatt abgehobelt. Aus der Schnittfläche, in der wie elfenbeinerne Intarsien die geschwungenen Konturen der Schädelknochen verliefen, quoll nur wenig Blut, die Kopfhaut war komplett ab- und nach hinten gerissen worden, sodass der obere, feuchte Teil des Schädels nackt in der Sonne glitzerte. Die Arme waren an den Schultern ausgekugelt und grotesk nach hinten verbogen, das karierte Hemd des Toten war ebenso wie die Hände unterwegs verloren gegangen. Bernd F. lernte nur zu bald, dass Krautwickel ausschließlich das getragen hatte, was man gemeinhin als Baumfällerhemden bezeichnet.

Der neue Krautwickel hatte später noch genug Zeit, um bis in die letzte Einzelheit zu begreifen, wie teuflisch raffiniert das Schicksal seinen Streich ausgetüftelt hatte, als es ihm die Leiche des ersten Krautwickels in diesem Zustand buchstäblich vor die Füße schleuderte: Wäre nur ein unbedeutender Teil des Gesichts oder der Hände erhalten geblieben, wäre der Tausch, wenn er ihn überhaupt gewagt hätte, misslungen. Er war zwar mit seinem Leben so unzufrieden, dass er alles getan hätte, um sowohl Frau und Söhnen, die ihn allesamt quälten und ihm jeden Nerv raubten, als auch den Unterschlagungen in seiner Firma, deren Aufdeckung besorgniserregend überfällig war, zu entfliehen – mit einer solch perfekten Gelegenheit hätte er jedoch nicht in eintausend Jahren gerechnet.

Der Tote trug ansonsten ein Paar Turnschuhe, die ihm sofort perfekt passten, und die besudelten Reste einer Jeans. An einer dicken Kette, wie man sie häufig an den mit Lederkluft gepanzerten Fahrern schwerer Motorräder sehen kann, baumelte eine dicke Brieftasche. Bernd F. nahm sie an sich und fand darin Geld, die Zugfahrkarte und den Ausweis des Toten, dessen Namen er in diesem Augenblick inklusive des restlichen Inhalts der Brieftasche an sich nahm.

Ein schneller Blick auf das Passbild genügte: Beim Unfall hatte Krautwickel ein lehrbuchmäßiges Dutzendgesicht eingebüßt. Der Kopf nicht ganz rund, nicht ganz eckig, farblose braun-blonde Haare, kurz und ohne erkennbare Frisur, eine normale Nase – nicht perfekt, aber im Wesentlichen gerade, nicht zu schmal, aber auch nicht zu breit –, ein normaler Mund, ein normales Kinn – das alles von einem ungepflegten Dreitagebart bedeckt, sodass selbst ein Kind im Kindergarten sich als eine solche Allerweltstype verkleiden könnte und sofort mit allen anderen verwechselt würde. Das Gesicht des perfekten Tankstellenräubers, dessen Identifizierung ohne modernste DNA-Testmethoden unmöglich war.

Heinz Krautwickel – so hieß er ab sofort – handelte ganz wie ein ferngesteuerter Automat. Er packte den Toten an den Schultern, löste ihn unsanft vom Türrahmen und ließ ihn aufs Gras fallen. Ohne ein Gefühl des Ekels, ohne Bedenken oder Furcht zog er ihm erst die Hose, dann die Unterhose aus und vertauschte letztere mit seiner eigenen. In der Hosentasche des Verunglückten fand sich ein umfangreicher Schlüsselbund. Er streifte dem Toten das beige Hemd über, das er trug, und warf mit einer ungeschickten Bewegung seine Plastikbadeschuhe an den Stamm des Kirschbaums. Mit einer Gießkanne wusch er hastig das Blut von seinen Händen.

Er prüfte, die zusammengeknüllten Fetzen der Jeans fest in der Faust gepackt, mit einem letzten Blick sein Werk und kam zu dem Schluss, dass auch er selbst, würde er in wenigen Minuten diesen abgeschiedenen Teil des Gartens betreten, felsenfest davon überzeugt wäre, von dem Trümmerstück an den Kirschbaum genagelt worden zu sein. In diesem Bruchteil einer Sekunde, während er die Szenerie musterte, nahm er auch endlich die anderen Trümmerstücke des Zuges, die Leichenteile und abgerissenen Äste und Blätter, und sogar ein paar Dachziegel wahr, die rings um ihn niedergegangen waren, ohne dass ihm auch nur ein Haar gekrümmt worden war.

Dann rannte der neue Krautwickel los, nur mit einer Unterhose bekleidet, die Brieftasche in der einen, die zerfetzte Hose in der anderen Hand. Er rannte zum Schuppen, wo er in fieberhafter Eile eine alte Jeans und ein T-Shirt überstreifte, die er dort für den nächsten Anstrich des Gartenzaunes aufbewahrt hatte. Er hatte kurz den Eindruck, dass im Haus laute Stimmen zu hören waren und die Vordertür vom Wind mit einem Knall zugeschlagen wurde. Er ahnte mit einem halben Gedanken, dass seine Frau und seine Söhne wohl nichts Besseres zu tun hatten, als zum Unglücks­ort zu hetzen und wie alle anderen zu gaffen.

Er hatte sich derartig von seiner Ehefrau entfremdet, dass er letztes Jahr zu Hause nicht einmal von dem Eingriff erzählt hatte. Eine tschechische Prostituierte hatte ihn getröstet, nachdem ihm der Hautarzt in Altdorf eröffnet hatte, dass die hässliche pechschwarze Warze auf seinem Handrücken, die seit ein paar Wochen immer wieder einmal geblutet hatte, medizinisch gesehen kein lästiger Schönheitsfehler, sondern ein bösartiger Hautkrebs war. Der Arzt hatte die Wucherung auf der Stelle entfernt und dem völlig verstörten Bernd F. geraten, sich regelmäßig im Krankenhaus einer systematischen Vorsorgeuntersuchung zu unterziehen. Eine Metastase, ein Rezidiv, Bestrahlung, Chemotherapie, wirkungslose Behandlungen, denen ein qualvoller Tod folgte – mit allem war von nun an zu rechnen. Wie mit vollgelaufenen Gummistiefeln durch ein Hochwasser war er durch den Vorraum an den Praxishelferinnen vorbei nach draußen gestapft. Ein anderer Mann, der neben dem Empfangstresen zusammengesunken auf einem Plastikschalensitz kauerte, hatte kurz den Blick erhoben. Gelbes Gesicht, triefende, hervorquellende blaugrüne Augen, ein großer entzündeter Fleck auf dem kahlen Schädel. Ein Vergifteter, hatte Bernd F. gedacht, einer wie er selbst, der ständig den Tod vor sich sieht, auch wenn er die Lider fest verschließt.

Die Betäubung der Hand hatte nach einer Stunde nachgelassen, die Wunde hatte zu schmerzen begonnen, doch das Dröhnen in seinem Kopf war erst in Svetlanas Armen vergangen. Der Angstknoten in seinem Bauch war geplatzt, und endlich konnte er seinen Tränen freien Lauf lassen. Obwohl über der Wunde, die der Arzt bis tief ins Fleisch ausgeschabt und mit drei Stichen vernäht hatte, ein dickes weißes Pflaster klebte, das ihn erschreckend eindeutig an das Kopfkissen in einem Sarg erinnerte, hatte seine Frau keine Fragen gestellt. Er hatte lange dagegen angekämpft, aber am Ende hatte der Hass die Herrschaft über die komplexen Emotionen seiner Frau gegenüber gewonnen. Ein ihm völlig unbekanntes Gefühl hatte sich eingestellt und die Kontrolle über sein Leben übernommen: die absolute Fremdheit gegenüber den anderen Menschen, die diese Welt besiedelten. Er wurstelte sich weiter durch den Alltag wie durch das Drehbuch eines miserablen Films, nahm alles wahr wie durch eine meterdicke Glaswand, und lediglich seine niedrigsten Begierden waren imstande, seine Aufmerksamkeit zu wecken.

Der Waggon, aus dem der Tote geschleudert worden war, hatte inzwischen zu brennen begonnen, sodass die letzten Hinweise auf seine Anwesenheit im Zug zu Asche zerfielen. Nur die Reste der Hose musste Bernd F. noch loswerden.

Als Krautwickel auf die Straße trat, achtete keiner auf ihn, alle stürmten zur Unfallstelle. Er sah die Rücken seiner – nun ehemaligen – Nachbarn, über denen sich eine Säule aus Rauch und Staub aufbaute. In der Ferne heulten immer mehr Sirenen, als sich Krankenwagen und Polizeifahrzeuge näherten; die Burgthanner Feuerwehr war sicher auch schon alarmiert. Um den Rettungsfahrzeugen jeder Couleur nicht zu begegnen, schlug sich Krautwickel östlich der Siedlung in den Wald.

Er war unterwegs zu der Anschrift in seinem neuen Ausweis, die ihm sogar irgendwie bekannt vorkam: Die Saldorfer Straße in Nürnberg, genauer in Gostenhof, dem ehemaligen Glasscherbenviertel südwestlich der Altstadt, das sich vom Plärrer aus zu beiden Seiten der Rothenburger Straße bis zur Bahnstrecke im Süden und entlang der Fürther Straße bis Muggenhof und der Stadtgrenze zu Fürth nach Westen erstreckte.

So schnell er konnte, durchquerte er den Wald bis Schwarzenbruck. Dort stopfte er die zusammengeknüllten Stofffetzen in einen orangefarbenen Mülleimer der Verkehrsbetriebe und nahm den nächsten Bus nach Altdorf, wo er an der S-Bahn-Station ausstieg.

Im Bus fiel sein Blick zufällig auf den Spiegel, der über dem Sitz des Fahrers die Reihen der Fahrgäste reflektierte. Er brauchte ein paar Augenblicke, bis er sich selbst in dem Bild entdeckte. Unscheinbar, bleich saß er auf den gelb-violett gemusterten Polstern. »Verhuscht«, hätte seine Mutter gesagt. Ein ihm Fremder saß da, ein vorübergehender Mensch aus einer Zwischenwelt, der seine alte Identität verloren hat, aber noch nicht in seiner neuen angekommen ist. Den Toten, den er im Garten zurückließ, würde man für Bernd F. halten. Krautwickel hingegen lebte, sein Ziel war Nürnberg.

Während der Fahrt zum Hauptbahnhof hatten die anderen Fahrgäste nur ein Thema: das katastrophale Zugunglück. In Ermangelung verlässlicher Informationen erzählte jeder, wie er sich selbst die Lage vor Ort ausmalte. Krautwickel wusste mehr als alle anderen. Aber sein Auftrag war es nicht, als Augenzeuge den Rest der Welt ins Bild zu setzen. Genau genommen lag er, der Augenzeuge, auch tot im Garten neben dem Haus am Vorderen Grenzweg. Er, Heinz Krautwickel, war hingegen auf dem Weg zurück in eine – seine – ihm völlig unbekannte Wohnung, die darauf wartete, zum ersten Mal von ihm betreten zu werden.

 

Freiheit heißt, nichts mehr zu verlieren zu haben

Unterwegs versank Krautwickel, aus dem Fenster in die Ferne starrend, ohne etwas zu sehen, in eine Art Trance, und widmete sich erst, als der Zug auf Gleis 2 zum Stehen gekommen war, wieder mit höchster Konzentration der äußeren Welt und den Eindrücken, die ihm seine fünf Sinne lieferten.

Er hatte nicht prüfen können, ob der Tote einen Ehering getragen hatte, aber in der Brieftasche hatte er keinen Hinweis auf eine Ehefrau oder eine Familie entdeckt. Kein Foto, keine Adresse oder Telefonnummer für den Notfall, kein handgeschriebener Zettel wie etwa eine Einkaufsliste, keine Haarlocke, kein Medaillon. Knapp dreihundert Euro in bar, der Personalausweis (aus dem hervorging, dass Krautwickel jetzt zwei Jahre jünger war als am Morgen beim Aufstehen in Burgthann) und außer dem Bahnticket die Eintrittskarte für ein Rock-Festival, das am nächsten Tag in Wien stattfinden würde.

Es war ihm klar, dass der Tote womöglich mit einer Freundin oder Ehefrau zusammengewohnt, dabei aber schlicht keinen Wert auf eine Referenz im Geldbeutel gelegt hatte. Es ließ sich nicht einmal ausschließen, dass er noch bei seinen Eltern oder – die schlimmste Variante! – in einer Wohngemeinschaft gelebt hatte.

Als er den Toten seiner Identität beraubt hatte, war er ausschließlich seiner Intuition gefolgt. Sein Bauchgefühl besagte unzweideutig, dass Krautwickel ein Einzelgänger gewesen war. Dennoch wollte die Stimme des Zweifels nicht verstummen: Alles konnte fürchterlich schiefgehen. Er schluckte hart und schloss die Augen – »nein«, murmelte er, »es muss so sein, wie ich es mir wünsche. Es muss.«

Er nahm die U1 Richtung Fürth und stieg an der Haltestelle Gostenhof aus. Er hatte die Erinnerungen an ein paar Wochen Praktikum bei der DATEV aus seinem Gedächtnis gegraben und wusste, wohin er musste.

Bis zum Abend trieb er sich im Kiez herum, umkreiste immer wieder den Häuserblock zwischen der Dilherrstraße und der Saldorfer Straße. Jedes Mal, wenn er – sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite haltend – am Haus mit der Nummer fünf vorbeikam, ging er etwas langsamer, so langsam, dass es gerade noch nicht auffiel, dass er die Fenster musterte. Nach drei oder vier Runden wechselte er auf den anderen Bürgersteig und beäugte vorsichtig die Türklingeln. Neben dem dritten Klingelknopf von unten war ein schmales Messingschild angeschraubt, in das »H. Krautwickel« eingraviert war. Auf dem untersten Schild stand »Müller«, darüber »K. Grausadler«. Neben die Klingel für die Wohnung im dritten Stock war lediglich ein Streifen Papier geklebt, der mit Kugelschreiber gekritzelte Name war vom Regen zum Teil unleserlich geworden. Krautwickel entzifferte die Buchstaben »A. Neum...«. Das war alles. Kein weiterer Krautwickel wohnte in diesem Haus, ebenso nicht in den Nachbarhäusern Nummer drei und sieben, wie er sich noch zur Sicherheit überzeugte, ehe er sich hastig entfernte.

Er rastete eine Stunde auf einer Bank im Rosenaupark, den er nach einer ebenso ziellos angetretenen wie kurzen Wanderung über die Bärenschanzstraße erreicht hatte. Er grübelte über die Frage, welche Anzeichen er bei dem Toten hätte entdecken müssen, damit er von der Tat zurückgeschreckt wäre.

Ein Ehering wäre sicher ein Hinderungsgrund gewesen. Aber auch ein guter Anzug wie bei einem Geschäftsmann. Eine sehr dicke oder sehr dünne oder sehr große oder sehr kleine Statur ebenso. Als er sich bewusst wurde, wie unwahrscheinlich seine Ähnlichkeit mit dem Toten war, überlief Krautwickel ein eiskalter Schauer, vom Steiß hinauf bis zum Scheitel.

»Doch«, sagte er sich, »es war ein unglaublicher Zufall!« Und er entschied sich. Er würde diesen Zufall akzeptieren.

Als es dämmerte, besuchte er das Balazzo Brozzi, ein Kaffeehaus in der Nähe des Parks. Er ging auf die Toilette, wusch gründlich seine Hände und trank am Tresen zur Beruhigung seiner Nerven ein Glas Bier, das er mit Geld bezahlte, welches er dem Toten abgenommen hatte.

Er lauschte angestrengt auf die Gespräche an den Tischen, am und hinter dem Tresen, aber die Katastrophe schien noch kein Thema zu sein, weder Radio noch Fernseher waren eingeschaltet. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sich das änderte und alle Welt über das Unglück sprechen würde, das wusste der neue Krautwickel. Seine Vernunft sagte ihm auch, dass ihn kein Mensch in dem Kaffeehaus kannte – vermutlich war er der erste Burgthanner überhaupt, den es dorthin verschlagen hatte …

»Noch eins?«, fragte ihn eine Stimme aus der dicken Rauchwolke heraus, die über dem Tresen schwebte.

Krautwickel schreckte aus seinen Gedanken hoch und kniff die Augen zusammen. Die Stimme gehörte einer Frau mit dunklem Teint und wilden schwarzen Locken, eine qualmende Zigarette lässig in den Mundwinkel geklemmt, in der Hand schon einen frischen Willibecher, den sie unter den Zapfhahn hielt.

»Äh, wie? Ähm … ach ja, doch, bitte«, stammelte er. War da etwas im Blick der rauchenden Betreiberin dieses Tresens gewesen, das auf ein Erkennen schließen ließ?

»Wohl bekomm’s!«, sagte sie routiniert und wandte sich ohne innezuhalten dem nächsten Gast zu.

Nein. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Dennoch drängte sich ihm ständig der Eindruck auf, jeder im Saal könne ihm ansehen, dass er vor wenigen Stunden einem Toten Kleidung und Brieftasche abgenommen hatte und daraufhin aus seinem Heimatort geflüchtet war. Dies waren Vorgänge von so ungeheuerlicher Tragweite, dass sich Krautwickels Gefühl weigerte, das Gegenteil zu glauben. Aber niemand beachtete ihn. Selbst wenn einer der Anwesenden, am ehesten das Personal oder ein Stammgast, den toten Krautwickel gekannt hätte, blieb das dem neuen Krautwickel verborgen. Zumal die kaum noch zu steigernde Unauffälligkeit seiner Kleidung verhinderte, dass er Aufmerksamkeit erregte.

Er würde sich daran gewöhnen müssen, dass er das Wissen über einen Vorgang mit sich trug, dessen Ungeheuerlichkeit ihn daran hindern würde, sich jemandem anzuvertrauen. Er hatte zweifellos schon wieder etwas Verbotenes getan, diesmal freilich etwas besonders Unerhörtes, Abartiges. Gierig kippte er das zweite Glas Bier in seinen Hals.

Nach Einbruch der Dunkelheit umkreiste er noch ein halbes Dutzend Mal den Block und beobachtete, wie zunächst im ersten Stock, dann im dritten und schließlich im Erdgeschoss Licht aufleuchtete. Die Fenster im zweiten Stock blieben dunkel, sie starrten schwarz auf die Straße und wurden in Krautwickels Phantasie zu lebendigen Augen, die ihn von oben herab, finsterer als die finsterste Nacht, die sich ohne einen einzigen Stern über die Stadt wölbte, vorwurfsvoll anstarrten.

Er redete sich ständig ein, er könne jederzeit umkehren, noch sei es nicht zu spät, er bräuchte nur die nächste S-Bahn zu nehmen und zurück zu Frau und Kindern und Eigenheim und dem Garten, zurück aufs Dorf, in den Vorderen Grenzweg, in seinen alten Job, zu seinen alten Kollegen, seinem alten Chef ... und er wusste die ganze Zeit, dass er es nicht tun würde.

Denn es war Krautwickel sonnenklar, der Rückweg nach Burgthann würde definitiv nicht ohne Folgen abgehen. Die harmloseste Konsequenz wäre immer noch, dass man ihn für alle Zukunft nicht mehr für zurechnungsfähig halten würde. Im Hintergrund lauerten größere Gefahren: die Aufdeckung seiner Diebstähle in der Firma, Entlassung und Anklage wegen Untreue oder Unterschlagung oder wie immer die Vorwürfe lauten würden sowie die Aufdeckung seiner schon seit Jahren bestehenden Sexsucht und daher nicht zuletzt Scheidung und ewige Unterhaltspflicht. Ein Albtraum, dem gegenüber ihm das Anziehen einer Unterhose, die noch warm vom Körper eines toten Passagiers war, wie Pipifax vorkam.

Krautwickel versicherte sich, dass sich weit und breit kein anderer Mensch auf der Straße herumtrieb. Er streckte den rechten Zeigefinger aus und zielte aufs Klingelbrett. Er verharrte ein paar Sekunden regungslos, dann drückte er auf den zweitobersten Knopf. Ganz leise, sodass er fürchtete, sich das Geräusch nur eingebildet zu haben, hörte er es über seinem Kopf schellen. Schnell trat er zur Seite, blickte ringsum, sah dann nach oben zu den Fenstern im zweiten Stock, die unbeeindruckt stumm und blind in den Himmel glotzten. Mit drei, vier Schritten war er beim Haus Nummer sieben und drückte sich in den Torbogen. Alles blieb still, nichts rührte sich: kein Klappen eines Fensters, kein Rasseln eines Türöffners. Nichts. Er wartete fünf Minuten, die er auf der Uhr abzählte, dann verließ er seine Deckung.

 

Geld trifft auf Sex

Wie oft hatte sich der zweite Krautwickel in seinem früheren Dasein ausgemalt, dass er bei irgendeinem dummen Unfall ums Leben käme. Plötzlich und unerwartet. Wie aus dem Nichts, von einem Blitz aus heiterem Himmel erschlagen. Ein Unfall eben.

Alle Handlungen, die ein Mensch in seinem Alltag von morgens bis abends regelmäßig absolviert, hätte er dann zum letzten Mal absolviert gehabt, und zwar ohne dabei zu wissen, dass es das letzte Mal war. Das letzte Mal Sex gehabt, das letzte Mal eine Bratwurstsemmel gegessen, den letzten Kaffee, das letzte Bier getrunken, das letzte Mal mit einem Freund am Flussufer gegammelt und aufs Wasser geschaut, zum letzten Mal auf der Toilette gesessen. Alles ganz normal, so wie immer, so wie Tausende Male zuvor. Und in der unausgesprochenen, absolut beruhigenden Erwartung, auch in der Zukunft diese Dinge noch Tausende Male tun zu können ... Dabei hatte er überhaupt keinen Freund, fiel ihm da auf, aber wenn er einen gehabt hätte … Doch nun drang er in ein fremdes Haus ein. Durch eine fremde Tür, die wenige Stunden zuvor ein anderer Mensch in der Gewissheit, nach ein paar Tagen wieder heimzukehren, hinter sich geschlossen hatte.

In den Tagen und Wochen, die der Diagnose folgten, hatte sich Bernd F. Nacht für Nacht stundenlang schlaflos im Bett (das schon seit Langem im Gästezimmer stand) gewälzt. Die große Angst, die ihn gepackt hatte, wollte nicht mehr nachlassen. Er fühlte sich wie jemand, der sich im Dunklen einem Abgrund nähert, vorsichtig, tastend, immer langsamer werdend, aber ohne jede Chance, stehen zu bleiben. Er wusste: Er war hier, und da war der Abgrund, und die Distanz dazwischen wurde immer kleiner, ohne dass er herauskriegen konnte, wie klein.

Als Bernd F. das letzte Mal mit seiner Frau geschlafen hatte, waren in den Geschäften die Preise noch in D-Mark angeschrieben gewesen. Dennoch hatte er noch jahrelang gehofft, dass sie irgendwann – morgen, nächstes Jahr, in zehn Jahren – einmal wieder ihren ehelichen Verkehr aufnehmen würden.

Irgendwann war dann jene Nacht angebrochen, in der ihn, nachdem er endlich für ein paar Stunden hinüber ins Reich der Träume gewechselt war, grausame Nachtmahre jagten, so heftig wie nie zuvor, und als er am nächsten Morgen erwachte, glaubte er felsenfest, dass ihm sämtliche Zähne ausgefallen wären. Er musste erst den Finger in den Mund stecken und seine Kiefer abtasten, um sich vom Gegenteil zu überzeugen.

In jener Nacht geriet er so sehr in Panik, die Todesangst krallte sich so brutal um seinen Hals, dass er ihre Telefonnummer wählte. Die er einer Anzeige im Stadtmagazin entnommen hatte. Sie praktizierte in Feucht, knapp fünfzehn Minuten Fahrt mit dem Auto, eine freischaffende Prostituierte aus Thailand. Er begann sie regelmäßig zu besuchen, zuletzt selten weniger als drei Mal die Woche, was ihn flotte vierhundertfünfzig Euro kostete – pro Woche.

Auf Dauer hatte er dieses Geld freilich nicht übrig. Sein Gehalt ging für die Schulsachen der Kinder, für Schuhe und Kleidung seiner Frau, für das Auto und die Raten für das Häuschen drauf. Dennoch konnte er nicht mehr auf sie verzichten, auf My Ling, die, so hatte sie behauptet, Spaß an ihrer Arbeit hatte und aus freien Stücken und ohne Zuhälter ihren Körper verkaufte.

Er war süchtig nach ihr geworden, wenngleich sie nie ­einen Zweifel daran ließ, dass ihr Verhältnis ausschließlich geschäftlicher Natur war und immer bleiben würde. Und wenn My Ling – was häufig vorkam – nach Thailand reiste, vermittelte sie ihn an eine Kollegin, die in Altdorf im dritten Stock eines absolut unauffälligen Hinterhauses ihr kleines, sauberes Studio betrieb, in dem Bernd F. bald ebenfalls Stammgast wurde.

Längst hatte er begonnen, das Geld, das ihm für seine erotischen Exkursionen fehlte, im Geschäft zu stehlen. Er hatte keine Angst mehr, er empfand keine Scham mehr, er war seines letzten Funken Ehrgeizes endgültig verlustig gegangen. Er hatte sich buchstäblich in eine Sackgasse hineingeritten. Nur widerwillig kehrte er allabendlich nach Burgthann zurück. Wo er sich mit aller Gewalt zwingen musste, sein eigenes Haus zu betreten. In dem seine Frau eine abscheulich ätzende Atmosphäre verbreitete, indem sie ihm jeglichen Respekt versagte.

Ob verdientermaßen oder nicht – da war er sich nach so vielen Jahren selbst nicht mehr sicher. Vielleicht war er ein antriebsloser Versager, wie sie wieder und wieder behauptete, auch, wenn nicht sogar bevorzugt, vor den Kindern, die irgendwann anfingen, in die Vorwürfe der Mutter einzustimmen, ohne dass er eine Chance gehabt hätte, sich zu verteidigen oder die Stimmung zu seinen Gunsten zu drehen.

Welch entwürdigende Szenen hatte es da gegeben! Seine Frau hatte irgendwann keine Hemmungen mehr gehabt, ihn laut zu beschimpfen. Ihn, um nur ein Beispiel von vielen anzuführen, eine hohle Nuss zu nennen, jedes Mal, wenn er sich ein Bier aus dem Kühlschrank geholt hatte.

Und überhaupt vor den Kindern laut über ihn zu reden, als wäre er nicht anwesend:

»Jetzt besäuft er sich, diese Trantüte, und pennt dann wieder vor dem Fernseher ein.«

»Merkt der überhaupt, was er in sich hineinschlingt? Der würde doch nicht einmal merken, wenn man ihm Hundedreck auf den Teller legte!«

»Wie konnte ich nur so dumm sein und einen Trottel wie diesen Mann heiraten? Ich könnte mich selbst in den Hintern beißen!«

Und so weiter, und so fort. Jeden Tag traf ihn ein vergifteter Pfeil nach dem anderen, und er war außerstande, sich dagegen zu schützen.

Es war ihm zuletzt jegliche Energie, jegliche Entscheidungsfähigkeit, jeder Antrieb abhandengekommen, sodass es nur zwei Möglichkeiten gegeben hatte, wie es mit ihm weitergegangen wäre: Entweder wäre er mit seinem Doppelleben schließlich aufgeflogen und hätte sich anständigerweise auf dem Dachboden erhängt, um wenigstens nicht auch noch der Allgemeinheit auf der Tasche zu liegen.

Oder aus einem wolkenlosen Himmel wäre ein Ausweg buchstäblich zu ihm herabgesegelt …

 

Einbruch in die eigene Wohnung

Während er sich erneut der Hausnummer fünf näherte, versuchte Krautwickel mit all der ihm verfügbaren Einbildungskraft, sich in die Lage eines Einbrechers zu versetzen. Er warf Blicke nach beiden Seiten, um sich zu vergewissern, dass sich auf der Straße niemand in seiner Nähe befand. Schon im Café hatte er, so unauffällig und zugleich so gründlich wie möglich, die Schlüssel an dem Bund, der an dem Toten angekettet gewesen war, gesichtet und zwei ausgemacht, die seiner Meinung nach zum Hoftor passen könnten. Wie es danach, hinter dem Tor weiterging, war ihm schleierhaft.

Er steckte einen der beiden Kandidaten behutsam ins Schloss und drehte ihn um. Der Riegel schnappte, das Tor schwang auf leise quietschenden Angeln nach innen. Krautwickel stand in der dunklen Durchfahrt. Sein Herz pochte, sein Atem ging heftig, er war hoch konzentriert. Er erspähte ein flimmerndes rotes Lämpchen, das zu einem Lichtschalter wies. Als die Neonröhre aufleuchtete, sah Krautwickel, dass die Durchfahrt leer war. Ein grauer Steinfußboden, weiß gekalkte Wände, eine gewölbte Decke. Auf der gegenüberliegenden Seite ein baugleiches Tor, das nach hintenhinaus führte, dahin, wo Krautwickel den Aufenthaltsort von Mülltonnen und Fahrrädern vermutete. Links zwei steinerne Stufen, danach eine gewöhnliche Tür: der Aufgang zum Treppenhaus.

Krautwickel fühlte sich im kalten Licht wie die sprichwörtliche Maus auf dem Präsentierteller. Er musste hier weg, und zwar subito. Drei Schritte später stand er im Treppenhaus, das gediegen aussah, als sei es vor nicht allzu langer Zeit renoviert worden. Das aus Holz gedrechselte, braun gestrichene Geländer glänzte, die breiten und niedrigen hölzernen Stufen wurden von einem roten Teppich bedeckt, der von messingfarbenen Stangen festgehalten wurde. Auch hier gab es nur eine Richtung, in die er gehen konnte. Vorwärts. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die rechte Hand am Geländer, den Kopf vorgestreckt und den Blick nach oben gerichtet, um ja rechtzeitig zu sehen, ob ihm jemand entgegenkam, hastete Krautwickel die Treppe hoch. Sein Herz pochte, die Stufen knarzten, der Schlüsselbund in seiner Linken klimperte.

Im zweiten Stock angekommen, stocherte er mit zitternden Fingern und fliegendem Atem im Schloss, bis endlich einer der Schlüssel, die sich samt und sonders ungewohnt und fremd anfühlten, passte. Langsam öffnete Krautwickel die Tür. Ein dunkler und kurzer Flur lag vor ihm. Er zögerte einen Moment, dann machte er einen großen Schritt über die Schwelle und schloss hinter sich die Tür, indem er sich behutsam mit den Schultern dagegenlehnte. Das scharfe Geräusch des einschnappenden Riegels kam ihm unerträglich laut vor. Zumal aus irgendeinem Zimmer, dessen Tür offen stehen musste, ein hohles Echo zu ihm zurückhallte. Er wartete ein paar Atemzüge lang in der totalen Finsternis, bis er sich sicher war, dass alles still blieb. Er war drin, und niemand hatte ihn gesehen. Dann tastete er mit der rechten Hand nach dem Lichtschalter.

Im Schein einer nackten Glühbirne erblickte er auf dem Boden gleich neben seinem Fuß einen weißen Briefumschlag. Links eine billige Kommode aus hellem Holz, auf der ein Paar Handschuhe, eine Sonnenbrille und eine Schale mit Äpfeln platziert waren. Ansonsten war der Gang leer. Ebenfalls links führten zwei angelehnte Türen zu den Zimmern auf der Straßenseite, unmittelbar rechts von der Wohnungstür befand sich das Bad mit einer Duschkabine und der Kloschüssel. Das alles erfasste Krautwickel, besitzergreifend und alarmiert zugleich, mit einem einzigen Blick in die Runde.

Geradeaus ging es zur Küche, im Türrahmen – weiß lackiert, abgerundete Kanten – hing anstelle einer Tür ein Vorhang aus Perlenschnüren. Krautwickel ließ den Umschlag unbeachtet auf dem Boden liegen. Ging ein paar Schritte hin zu der zweiten Tür links, hinter der es stockfinster war.

Die lackierten Dielenbretter knarrten ohrenbetäubend. Krautwickels Herz klopfte gegen seine Brust. Seit dem Betreten der Wohnung war seine Anspannung maximal. Was, wenn sich im Dunkeln ein anderer Mensch verborgen hatte? Eine kränkelnde Ehefrau, die das Bett hütete? Eine blinde Mutter, die kein elektrisches Licht benötigte?

Unsinn!, schalt er sich selbst und zwang sich, die Wohnung als Unterkunft zu betrachten, die er lange zuvor gebucht hatte. Meldezettel ausfüllen, sich vom Vermieter die Küche erklären lassen, die Rückgabe der Schlüssel bei der Abreise ausmachen. Als wäre er lediglich hier, um zwei oder drei Nächte in einer fremden Stadt zu verbringen, wohin ein unbestimmtes Geschäft ihn verschlagen hatte. Bloß eben ohne Vermieter.

Sobald er dieses Bild vor Augen hatte, ließ die Anspannung nach. Dafür überkam ihn sofort ein übermächtiges Gefühl der Erschöpfung. Was für ein langer, unendlich langer Tag war das gewesen! Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Von der Straße bis hierher war er weniger als zwei Minuten unterwegs gewesen, doch es fühlte sich an, als hätte es Stunden gedauert.

Dann sah er ein zweites Mal auf die Uhr an seinem Handgelenk. Das Blut begann in seinen Ohren zu rauschen, sein Magen verklumpte sich. Er hatte die Uhr anbehalten. Die alte Uhr, die eigentlich zu seinem früheren Leben gehörte.

»Was für eine Dummheit«, stöhnte er.

Krautwickels Hände waren doch abgerissen worden, direkt im Zug, man würde sie nicht im Garten finden. Auch nicht die Uhr, auf die er soeben geblickt hatte. Apropos Blick: Auch vom zermalmten Gesicht keine Spur an der Stelle, wo Bernd F. getötet wurde. Dass er daran nicht gedacht hatte! Dass er das erst jetzt erkannte! Da musste doch selbst der minderbemitteltste aller Dorfpolizisten misstrauisch werden! Ihm wurde schwindelig, sodass er die Wohnräume zur Linken Wohnräume sein ließ, durch den Perlenvorhang schlüpfte und in der dunklen Küche nach einem Schemel tastete.

Er war überzeugt, alles war vergeblich gewesen. Seine Flucht war gescheitert, noch ehe sie überhaupt richtig begonnen hatte.

 

Sozioarchäologie

Es dauerte erstaunlich lange, bis er es kapierte. Selbst wenn sie merken sollten, dass die sterblichen Überreste nicht Bernd F. gehört hatten – wer Krautwickel war, das konnten sie unmöglich erraten. Wie hätte eine Fahndung aussehen sollen? Ein Mensch wird gesucht, dessen Leiche das Gesicht und die Hände abgerissen worden waren, der aber vermutlich in einer neuen Gestalt weiterlebt, irgendwo auf dieser Welt? Die Polizei hatte keinen Ausweis, keine Beschreibung, keine Fahrscheine.

Seltsam, dachte Krautwickel, wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, alles und alle werden elektronisch erfasst und überwacht, und trotzdem kann man nach Belieben in jeden Zug einsteigen, ohne sich irgendwo anzumelden oder auszuweisen.

Dieser Gedanke half ihm, seine Angst vor dem Aufgespürtwerden zu mildern. Das schlechte Gewissen, das er trotz alledem gegenüber dem Toten empfand, den er schließlich bedenkenlos bestohlen und sogar seiner Identität beraubt hatte, ließ sich leichter beruhigen. Denn immerhin war der erste Krautwickel einen beneidenswert blitzschnellen Tod gestorben. Wie es in amerikanischen Schundfilmen manchmal ausgedrückt wurde: Er hatte die Faust nicht kommen sehen, die ihn niederstreckte.

Für das Wohnzimmer ließ er sich Zeit, nachdem er das Bad, die Küche und den Flur rasch, aber aufmerksam inspiziert hatte.

Es war nicht wirklich so, dass in ihm neuer Mut erwacht wäre. Aber nachdem er in der Küche ein paarmal durchgeschnauft hatte, fügte er sich wieder in die selbst geschaffenen Sachzwänge. Er sagte sich: »Du musst abwarten, etwas anderes kannst du jetzt nicht tun. Alles Übrige sind Phantasiegespinste.«

Ohne dass er es bemerkte, begann er in diesen Minuten mit sich selbst zu sprechen. Für die nächsten ungefähr vier Wochen sollte er sich mit sich selbst als einzigem Gesprächspartner begnügen müssen. Eine Angewohnheit, die er, als er ihrer gewahr wurde, zunächst noch zu unterdrücken versuchte. Manchmal, wenn er in der Stadt junge Leute beobachtete, die mit sich selbst redeten, fragte er sich, ob es ausländische Studenten waren, einsam und schrecklich weit weg von zu Hause. Ein wenig wie er, dachte er, und strengte sich noch mehr an, bei den Gesprächen mit sich selbst die Lippen nicht zu bewegen. Irgendwann kam der Punkt, an dem ihm auch das egal war.

Zunächst jedoch fand sich, als das Licht im Wohnzimmer anging, eine, wie er auf Anhieb zu erkennen glaubte, teure Stereoanlage. Gegenüber ein grünes Sofa und zwischen den beiden Fenstern, die zur Straße schauten, ein übermannshoher Sekretär mit Dutzenden Schubladen. Die Wand zum Nachbarhaus Nummer sieben war komplett mit CDs bedeckt.

Von einer höheren Warte aus betrachtet könnte man sagen: Weil es den konkreten Durchschnitt nur in den wenigsten Fällen real gibt, existiert der Mittelwert bekanntermaßen meist nur als mathematische Idee. Versteht man darunter jedoch den Begriff der Gewöhnlichkeit, dann böte sich Krautwickels Wohnzimmer als perfekter Durchschnitt an, ohne die Regeln der Statistik zu verletzen. Anders gesagt: Da gab es absolut keinerlei Auffälligkeiten.

Zumindest in der Küche, dem Bad und im Wohnzimmer. Das Schlafzimmer fehlte ihm noch, denn was er noch nicht entdeckt hatte, war ein Bett, und es war sehr unwahrscheinlich, dass Krautwickel zu den wirklich seltenen Menschen gehörte, die nicht regelmäßig im Liegen schliefen.

Er hatte große Angst, das Schlafzimmer zu betreten. Denn wenn es ihn tatsächlich geben sollte, den bislang unentdeckten Mitbewohner, so musste sich dieser definitiv dort aufhalten. Und wahrscheinlich das tun, was man in einem Bett für gewöhnlich tat, nämlich schlafen, tief und fest.

Krautwickels Hand zitterte, als er in der Tür nach dem Lichtschalter tastete, obwohl bisher niemand von den Geräuschen, die er machte, oder vom Licht, das er in den anderen Zimmern angeschaltet hatte, erwacht war.

Das Bett war ordentlich gemacht und unbesiedelt. Neunzig Zentimeter breit, zwei Meter lang: ein Bett für exakt eine Person. Nicht einmal andeutungsweise die Einladung an eine zweite. Nichtssagende weiße Bettwäsche, ein einfacher Schrank, in dessen linker Hälfte Unterhosen, Socken und T-Shirts in offenen Fächern gestapelt waren, auf der anderen Seite hingen hinter einer Lamellentür Hosen, Hemden und Jacken.