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Susanne Klein

wurde 1966 in Bergisch Gladbach geboren und lebt inzwischen seit vielen Jahren gemeinsam mit ihrem Mann am Rande der Wahner Heide, dem scheinbar so idyllischen Naturschutzgebiet. Sie begeistert sich für kriminale Literatur und veröffentlicht mit „Sperrgebiet!“ ihren Debütroman.

SPERRGEBIET!

Das Verlassen der Straßen und Wege ist untersagt!

Susanne Klein

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Susanne Klein

Sperrgebiet!

Das Verlassen der Straßen und Wege ist untersagt!

Fotos: Harald Arz

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eISBN 978-3-96136-065-9

Print-ISBN 978-3-96136-064-2

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Inhalt

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREIßIG

EINUNDDREIßIG

ZWEIUNDDREIßIG

DREIUNDDREIßIG

VIERUNDDREIßIG

FÜNFUNDDREIßIG

SECHSUNDDREIßIG

SIEBENUNDDREIßIG

ACHTUNDDREIßIG

NEUNUNDDREIßIG

VIERZIG

EINUNDVIERZIG

ZWEIUNDVIERZIG

DREIUNDVIERZIG

VIERUNDVIERZIG

FÜNFUNDVIERZIG

SECHSUNDVIERZIG

SIEBENUNDVIERZIG

ACHTUNDVIERZIG

NEUNUNDVIERZIG

FÜNFZIG

EINUNDFÜNFZIG

ZWEIUNDFÜNFZIG

DREIUNDFÜNFZIG

VIERUNDFÜNFZIG

FÜNFUNDFÜNFZIG

SECHSUNDFÜNFZIG

SIEBENUNDFÜNFZIG

ACHTUNDFÜNFZIG

NEUNUNDFÜNFZIG

SECHZIG

EINUNDSECHZIG

ZWEIUNDSECHZIG

DREIUNDSECHZIG

VIERUNDSECHZIG

FÜNFUNDSECHZIG

SECHSUNDSECHZIG

SIEBENUNDSECHZIG

ACHTUNDSECHZIG

NEUNUNDSECHZIG

SIEBZIG

EINUNDSIEBZIG

ZWEIUNDSIEBZIG

DREIUNDSIEBZIG

VIERUNDSIEBZIG

FÜNFUNDSIEBZIG

SECHSUNDSIEBZIG

SIEBENUNDSIEBZIG

ACHTUNDSIEBZIG

NEUNUNDSIEBZIG

ACHTZIG

EINUNDACHTZIG

ZWEIUNDACHTZIG

DREIUNDACHTZIG

VIERUNDACHTZIG

FÜNFUNDACHTZIG

SECHSUNDACHTZIG

SIEBENUNDACHTZIG

ACHTUNDACHTZIG

NEUNUNDACHTZIG

NEUNZIG

EINUNDNEUNZIG

ZWEIUNDNEUNZIG

DREIUNDNEUNZIG

VIERUNDNEUNZIG

FÜNFUNDNEUNZIG

SECHSUNDNEUNZIG

SIEBENUNDNEUNZIG

ACHTUNDNEUNZIG

NEUNUNDNEUNZIG

EINHUNDERT

EINHUNDERTEINS

EINHUNDERTZWEI

EINHUNDERTDREI

EINHUNDERTVIER

EINHUNDERTFÜNF

EINHUNDERTSECHS

EINHUNDERTSIEBEN

EINHUNDERTACHT

EINHUNDERTNEUN

EINHUNDERTZEHN

EINHUNDERTELF

EINHUNDERTZWÖLF

EINHUNDERTDREIZEHN

EINHUNDERTVIERZEHN

EINHUNDERTFÜNFZEHN

EINHUNDERTSECHZEHN

EINHUNDERTSIEBZEHN

EINHUNDERTACHTZEHN

EINHUNDERTNEUNZEHN

EINHUNDERTZWANZIG

Epilog

PROLOG

Erotik knisterte unter dem festlich eingedeckten Tisch, an dem er mit sieben weiteren angehenden Ärzten aus seinem Semester saß und das Dessert einnahm. Es war der Abschluss eines vorzüglichen Menüs, das im Rahmen des Medizinerballs kredenzt wurde. Sie alle waren in weiblicher Begleitung. Seine Tischdame saß ihm gegenüber und hatte einen ihrer High Heels diskret abgestreift. Mit dem schuhlosen Fuß suchte sie sich den Weg bis in seinen Schritt und leckte sich währenddessen imaginäre Reste der cremig geschlagenen Sahne von ihren Lippen. So kannte er sie gar nicht – aber es gefiel ihm. Sehr sogar. Ein großer Schluck seines Champagners verlagerte für Sekunden seine Erregung in den Kopf und er konnte einen Augenblick lang versuchen, den Aussagen der Professorengattin, die links neben ihm saß, zu folgen. Vergeblich, denn der Fuß hatte sein Ziel gefunden. Eine Erektion war zwangsläufig und nicht aufzuhalten. Auch nicht mit einem weiteren Glas Champagner. Er breitete eine Serviette auf seinem Schoß aus während er versuchte, Frau Professor und ihrem Monolog über die neue Satzung des ortsansässigen Reitclubs zu folgen. Leicht benommen vernahm er die scheinheilige Frage seiner Tischdame: „Schatz, geht’s Dir nicht gut?“ Zu einer Antwort war er nicht imstande. In seinem Hirn hatten sich schon zu viele Synapsen verbunden, die einen Orgasmus auf keinen Fall mehr verhindern wollten. „Komm, ich bringe Dich mal an die frische Luft“, sagte sie. Dieses Luder. Der Professor stand ebenfalls auf, als sie sich erhob und bot seine Hilfe an. Geschickt ignorierte sie das Angebot und kümmerte sich fürsorglich um das Wohlergehen ihres Freundes. So begleitete sie ihn und seinen Riesenständer in die Katakomben des Unigeländes. Nichts von seiner Lust hatte nachgelassen, ganz im Gegenteil. Er schmiegte sich an ihren tadellosen jungen Körper und versuchte, sie auf dem Weg nach unten zu küssen. Ihr Abwehrverhalten steigerte seine Erregung ins Unendliche und als er sah, was sie vorhatte, konnte er sich kaum noch zügeln. Sie hatte ihn in den Untersuchungsraum der pathologischen Abteilung gebracht und drängte ihn sanft Richtung Seziertisch, der zuvor in seine vertikale Position gefahren worden war. Sie fixierte ihn an Füßen und Händen und betätigte den Knopf, der ihn und den Tisch in die Horizontale versetzte. Sollte sie nicht besser abschließen?

Das Licht wurde grell und die Folter begann.

EINS

Erika Walter hatte, wie sich im Laufe der polizeilichen Ermittlungen herausstellen sollte, ziemlich genau ihr siebenundsechzigstes Lebensjahr vollendet, als sie verschwand und in einem Bett aus Moos, Sand und Heidekraut für lange Zeit ihre vorletzte Ruhe fand. Leicht bedeckt und umgeben vom vertrockneten Laub der vielen zurückliegenden Jahre. Eingebettet in einen sogenannten Bombentrichter, einer mahnenden Hinterlassenschaft aus früheren Zeiten.

Sie war zu Lebzeiten sage und schreibe fünfmal verheiratet gewesen und hatte, so informierte jedenfalls das Stammbuch der Stadt Rösrath, einen heute 46-jährigen Sohn, dessen Vater unbekannt bleiben sollte. Der Junge hatte in seiner Kindheit, aus Gründen des Lebenswandels seiner Mutter, unterschiedliche Einrichtungen, aber auch Pflegefamilien durchlaufen und wurde zur Adoption freigegeben, konnte jedoch trotz aller Bemühungen nie erfolgreich vermittelt werden. Beider Lebensumstände ließen sich erst nach und nach, durch die Verkettung der Ereignisse, in einem fortgeschrittenen Stadium der Recherche erahnen. Nämlich, als es schließlich und endlich gelang, Frau Walter zu identifizieren und ihren Tod zu rekonstruieren.

Dabei stellte sich heraus, dass Erika Walter nach dem Ableben ihres letzten Ehegatten zwar sehr reich, dann aber äußerst unauffällig, zurückgezogen, mit wenig Kontakt zur Außenwelt und ohne Verbindung zu ihrer Familie gelebt hatte, sodass sie nach ihrem Abgang nicht vermisst worden war. Niemand bekam mit, dass sie ihr Haus verlassen hatte und nicht wieder dorthin zurückgekehrt war. Das Leben hatte sie eingeholt, ihr die Jahre der Missachtung seiner Güte vorgeworfen und schließlich Gerechtigkeit gefordert.

Entdeckt hatte ihre Überreste ein unbeteiligter Fahrradtourist, beziehungsweise war sein Hund beim Stöbern und Markieren seines neuen Reviers auf das, was von Frau Walter übrig geblieben war, gestoßen. Der Rüde schnüffelte mit aufrechtstehender Rute am Boden des großen Kraters, der mitten im Gelände durch einen Bombeneinschlag bei einer Truppenübung vor vielen Jahren entstanden war. Dort, wo das Laub nicht mehr hoch genug lag, hatte der Vierbeiner die Einzelteile gefunden und sie aufgewühlt. Die Knochen waren stark verwittert, an einigen Stellen deutlich nachgedunkelt und auf Distanz – zumindest für einen Laien – nicht mehr auf Anhieb als menschliches Skelett erkennbar. Deshalb war Josef Gruber, so hieß der Mann aus Bayern, der auf seiner Fahrradtour das Areal der Wahner Heide erkundete, bei seinem Fund fast geneigt, einfach weiterzuradeln. Aber eben sein Hund, ein Bayerischer Gebirgsschweißhund mit ausgeprägtem Jagdinstinkt, wollte nicht mehr von seiner appetitlichen Beute lassen und knabberte euphorisiert am Wadenbein der Frau Walter. Zwar verzichtete der Rüde auf das sonst übliche Apportieren, knurrte aber besitzanzeigend, als sein Herrchen zu ihm herunterstieg und ihn am Halsband wegzuzerren versuchte. Nicht nur, weil sich der Hund zu einem unberechenbaren Hüter des für ihn äußerst reizvollen Fundes entwickelte und genüsslich weiternagte, sondern auch, weil die Anordnung des Knochengebildes, das vor ihm lag, auf den zweiten Blick, und wenn man es wieder zusammenlegen würde, durchaus dem eines Menschen ähnelte, wählte Josef Gruber schließlich die 110 und informierte die Polizei über seine Entdeckung.

„Wo in etwa befinden Sie sich denn, Herr Gruber?“

„Jo mei, des woass i doch ned“, bayerte er.

Da sich sein Standort so ohne weiteres am Telefon geografisch nicht zuordnen ließ, rückten Streifenwagen aus unterschiedlichen Wachen an und suchten erst einmal nach ihm und seiner Entdeckung. Immerhin erstreckt sich die Wahner Heide östlich der Stadt Köln über 28 Kilometer in nordnordwestliche Richtung und nimmt eine Gesamtfläche von unüberschaubaren etwa 177 Quadratkilometern ein. Erst nach Ortung seines Handys fanden sie ihn schließlich – fernab seiner mehr als vagen Angaben.

„Herr Gruber?“, fragte einer der Polizisten.

„Joa, wer bitt schee soanst?“, gab dieser die Frage genervt zurück.

„Danke, dass Sie uns verständigt und hier gewartet haben, Herr Gruber.“

„Bassd scho!“

Die Beamten stiegen in den Trichter hinab, zogen Herrn Gruber hoch an den Rand und baten ihn an Ort und Stelle zu bleiben, um keine weiteren Spuren zu verursachen.

„Und leinen Sie Ihren Hund bitte an!“ Verständlich, denn der befand sich immer noch mittendrin in dem Knochengebilde und verwechselte es offenbar mit der Feinkostabteilung von Fressnapf. Als die Rufe und Pfiffe von Herrn Gruber den Hund nicht bewegten, sein Revier zu verlassen, half nur ein Schuss in die Luft aus der polizeilichen Dienstwaffe. Und schon verschwand er wie vom Blitz getroffen.

„Kruzifix, Herrschaften!“, hörte man Herrn Gruber in die ansonsten stille Natur rufen, bevor er das Fahrrad fallen ließ und seinem „Pauli“ nachrannte.

Die vier anwesenden Polizisten konnten sich jetzt ohne das Verteidigungsgehabe des Tieres ungefährdet der Fundstelle nähern und einen ersten Status erheben. Man kam schnell zu der Erkenntnis, dass es sich um die Überreste eines Homo sapiens handelte. Soweit so gut. Ihre mitgeführten Utensilien reichten aber nur zu einer oberflächlichen Untersuchung am Fundort und konnten keine konkreten Hinweise auf Identität oder Todesursache liefern. Da half es auch nicht, mit der Dienstwaffe im Laub zu stochern und die Gebeine freizulegen. Die sterblichen Überbleibsel bestanden definitiv nur noch aus blanken Knochen, die unversehrt schienen, aber keinen Hinweis auf die Person oder eine mögliche Todesursache würden geben können. Körpersekrete Fehlanzeige. DNA-trächtige Haare waren ebenfalls nicht vorhanden, da die Schädeldecke komplett fehlte. Wahrscheinlich war sie im Rahmen der Nahrungskette von den heimischen Tieren verschleppt und entweder verscharrt oder komplett abgenagt worden. Vielleicht aber hielt sich jemand den Skalp als Trophäe und er würde nie wieder auftauchen, weil er hauchdünn und transparent auf einen Rahmen gespannt wurde und an einer finsteren Kellerwand neben anderen Erinnerungstücken eines Massenmörders hing. Wer wusste das schon? Aber dieses Szenario stimmte bei weitem nicht mit der Schönheit der Natur und der trotz der Nähe zur Großstadt Köln eher dörfliche Umgebung überein. Man mochte es sich gar nicht erst vorstellen und machte kurzerhand einen Haken dran.

Für weitere Untersuchungen verwertbar schienen nur der noch am Knochen des Ringfingers der rechten Hand steckende Ehering, mit einem eingravierten Datum, und die Zahnprothese, die durch den geschlossenen Biss noch dort steckte, wo einmal Mund und Zahnfleisch den Kiefer umgeben hatten. Die entdeckten Stoffteile eines karierten Wollgemischs in unmittelbarer Nähe konnten zu den übrigen Fundstücken gehören, mussten sie aber nicht. Man ging nach den Untersuchungen vor Ort davon aus, dass die Person vermutlich weiblich war und durchaus eines natürlichen Todes gestorben sein konnte. Hier musste nicht zwingend ein Tötungsdelikt vorliegen. Wie gesagt, die Knochen waren unbeschädigt und wiesen keine Verletzungsmerkmale auf. Die Polizisten einigten sich auf Porz als Leichenfundort und einer der beiden Streifenwagen rückte über das holprige Gelände wieder Richtung Troisdorf in seine Heimatwache ab. Die Besatzung des anderen erklärte sich gegenüber dem Präsidium in Köln als zuständig und prüfte über das polizeiinterne Portal in einem mitgeführten iPad die Vermisstenfälle der vergangenen zehn Jahre.

Das System spuckte nichts Passendes aus. Alle abgängigen Personen aus der letzten Zeit waren längst gefunden worden, tot oder lebendig. Es war keine Vermisstenmeldung offen, sah man von einer 14-Jährigen aus Köln ab, die aus einem Heim verschwunden und seit einigen Tagen in der Einrichtung nicht mehr aufgetaucht war. Da sie das aber nicht zum ersten Mal getan hatte, wertete man das Fernbleiben mehr oder weniger als Ausflug und investierte nicht in ihre Suche, sondern hoffte auf die Mithilfe der Bevölkerung, die in solchen Fällen nicht untätig blieb und sehr aufmerksam war. Die Knochen vor ihnen lagen eindeutig länger hier, als das Mädchen vermisst wurde. Sehr viel länger. Und so verzichtete man darauf, die Spurensicherung zu verständigen, skypte aber immerhin mit den Kollegen in Köln, um ihnen ein paar Livebilder zu übermitteln und sich dann kopfnickend gegenseitig darin zu bestärken, nicht zu viel Gedöns um die Sache zu machen. Schließlich sei Freitagnachmittag kurz vor Schichtwechsel und die meisten Verantwortlichen schon fast im Wochenende. Im Übrigen gäben die Knochen ohnehin kaum bis keine Analysemöglichkeiten mehr her. Erst recht nicht ließe sich der Todeszeitpunkt erheben. Nach kurzer Rücksprache bestellte man ganz einfach einen, den Tod bescheinigenden, Notarzt und dazu den nächstgelegenen Bestatter. Im Ergebnis attestierten alle Anwesenden lapidar einen natürlichen Tod. Eine fatale Fehleinschätzung, wie sich zeigen sollte.

Herr Gruber tauchte mit Pauli erst wieder auf, als die übrigen Anwesenden die Fundstücke und das Skelett in einen grauen, viel zu großen Leichensack mit Reißverschluss verfrachteten und diesem das Namensetikett „Heidi“ anhefteten. Er hinterließ wunschgemäß seine Daten und verabschiedete sich mit einem gut gemeinten „Grüß Gott“. Die beiden hatten die Tote längst verkraftet und verschwanden hinter der nächsten Abzweigung im Großen und Ganzen des Geländes, wo nach einem kurzen Augenblick der Leichenwagen um die Ecke bog. Der schwarze Kombi des Bestatters fuhr vor und ein dunkel gekleideter Fahrer lud den Sack um in einen Zinksarg und schob beides ins finstere Wageninnere. Die Scheiben der gediegenen Limousine waren mit weinrotem Samt verhangen und ließen keinen letzten Blick zu. Der Mitarbeiter des Beerdigungsinstituts verlieh der ansonsten anonymen Zeremonie eine gewisse Ehre und er stieg mit Würde und großem Respekt vor dem Tod in den Wagen. Das war schließlich das Mindeste, was er einem verstorbenen Menschen auf seiner finalen Reise mitgeben konnte. Erst recht auf seinem direktem Weg in die Arme des Teufels. In den Glutofen, der in diesem Fall schon am Folgetag auf das, was vom Leben übrig geblieben war, wartete.

Die gefliesten Räume beim Bestatter waren eine eigentlich überflüssige Zwischenstation, wo üblicherweise Leichen umgebettet und nett zurechtgemacht in einen Holzsarg verfrachtet wurden. Im Fall von „Heidi“ brauchte man das nicht, denn Aufhübschen war weder nötig, geschweige denn möglich. Wo sie aber nun so vor ihm lag, führte der erfahrene Leichenbeschauer des Bestattungshauses einige standardisierte Untersuchungen durch und stellte ebenfalls keine Schädigungen an den Knochen fest. Da sie komplett frei von menschlichen Rückständen waren, nahm er an, dass das Skelett seit einigen Jahren dort gelegen haben musste. Unterschiedliche Laubrückstände sprachen ebenfalls dafür. Über die Fleisch- und Fettreste sowie die Muskelfasern hatten sich, seinen Angaben zur Folge, im Laufe der Zeit heimische Tiere – höchstwahrscheinlich Wildschweine, die als Allesfresser und ihrem Überlebenstrieb folgend auch gerne Aas verspeisten – vor deren endgültiger Verwesung hergemacht. Der Rest war in der biologischen Kette einfach nur verwest. Hinweise auf die Todesursache waren naturgemäß wegen der vermutlich langen Liegedauer und ohne vorhandene Gewebeteile nicht mehr zu finden. Die Beckenknochen und die Hände ließen auf das Skelett einer Frau schließen, der Zustand und die Beschaffenheit der verbliebenen Zähne, auf ein Alter jenseits der 55. Etwas konkreter würde man es zwar anhand einer Analyse der Handwurzelknochen feststellen können, aber so genau wollte es ja offensichtlich niemand wissen. Für ihn war schließlich ebenfalls Freitagnachmittag und solange niemand mehr in seinem Einzugsgebiet beabsichtigte zu sterben, stand auch sein Wochenende unmittelbar bevor. Also sah er von weiteren Untersuchungen ab und erhob nur die Fakten. Neben der Schädeldecke und deren Rückseite fehlten ein paar Rippen und die linke Schulter. Abschließend, und weil er es glauben wollte, trug er in sein vor ihm liegendes Formular „natürlicher Tod“ ein und unterstrich damit die Fehleinschätzung der Polizei und die des Notarztes. Eine fatale Kettenreaktion.

So geschah, was geschehen musste. Der Fund landete am Samstag im Krematorium in Mechernich, wurde verbrannt und anonym auf Kosten der Stadt Köln auf Melaten bestattet. Mangels brauchbarer Daten und ohne Vorlage einer Vermisstenmeldung, würde es für das Ordnungsamt auch im Nachhinein schwierig werden, nach Hinterbliebenen zu suchen, um sich die entstandenen, nicht unerheblichen Kosten zurückzuholen und der Toten einen Namen zu geben. Immerhin waren Gebühren in Höhe von 4.700 Euro inklusive Sarg entstanden, die sich unter Umständen nach Ablauf einer Frist mit ihrem teuren Ehering verrechnen lassen würden. Der Ring, ihre Zahnprothese, sowie die nicht definitiv ihr zugeordneten Kleiderfetzen, landeten in einem kleinen Plastikbeutel in den Asservaten des Beerdigungsinstituts. Der Bestatter würde sie mit der Rechnung seiner Auslagen der Stadt Köln zur Verfügung stellen. Was auch immer sie damit anstellen würden – für ihn war der Fall damit abgeschlossen.

Als man wenige Tage danach Teile des Schädels und den kläglichen Rest einer struppigen Frisur in der Wahner Heide fand, kam Dynamik in den Fall und die Kripo wurde informiert. Die Meldung landete im Polizeipräsidium Köln und dort auf dem Schreibtisch von Sara Lange. Sie war seit zwei Monaten als Assistentin im Dezernat XI beschäftigt, das unter anderem in Fällen mit ungeklärten Todesumständen ermittelte.

ZWEI

„Guten Morgen, Sara. Ich habe hier einen Fall, den Du Dir mal anschauen solltest!“, begrüßte mich Andreas, der unser Dezernat leitete und die Unterlagen provozierend und mit einem verschmitzten Lächeln in die Höhe hielt. Und das natürlich nur, um genau in dem Moment, als ich versuchte danach zu greifen, die Hand, in der er sie hielt noch ein wenig weiter nach oben zu nehmen. Ich gönnte ihm den Spaß und lachte darüber. „Haha, sehr witzig. Gib sie mir biiiiitteeee!“

Jetzt musste er auch lachen und wir waren beide happy, so in den Tag zu starten. Unbeschwert eben – was kein Widerspruch zur Polizeiarbeit bedeuten musste. Ganz und gar nicht bei all den Gefühlsfacetten, die der Job mit sich bringt.

„Ich will noch nicht zu viel verraten, aber es handelt sich um einen Leichenfund, der Fragen aufwirft. Viele Fragen!“ Er schilderte mir zunächst in Kurzform das Geschehene und sein Vorwurf über die Ersteinschätzung der Kollegen vor Ort, es handele sich um einen natürlichen Tod, schwang schon hier mit.

„Yes!“ Ich jubelte innerlich. Das schien mir ein sehr geeigneter Vorgang für einen Anfänger wie mich.

Andreas übergab mir nach einer gefühlten Ewigkeit endlich die blaue Mappe mit der Aufschrift „Heidi – Knochenfund//Wahner Heide“. Zum ersten Mal hielt ich tatsächlich das Grauen in der Hand und vergaß darüber beinahe das Atmen. Eine Mischung aus freudiger Erwartung und großer Nervosität vor der neuen Aufgabe, verströmte eine hohe Dosis Adrenalin durch meinen Körper und nahm mir für einen Moment den Atem. Erst in dem Augenblick, als Andreas mir seine Hand auf die Schulter legte, setzte mein Organismus wieder ein und ich schnappte nach Luft.

„Bleib locker, Sara. Du machst das schon.“ Er traute mir einen solchen Fall demnach bereits zu und bestärkte mich durch den flüchtigen körperlichen Kontakt. Atmung und Verstand beruhigten sich und ich blätterte stolz in den überschaubaren drei Seiten Akteninhalt. Bislang hospitierte ich meistens bei der Lösung von Fällen und unterstützte das Team mit Recherchearbeiten. Ich brannte längst für einen eigenen kleinen Fall. Auch, wenn ich nur eine Art Sachbearbeitung betrieb und im Hintergrund agierte. Für Heidi war ich ab jetzt verantwortlich.

„Die Sache ist deshalb brisant und bei uns gelandet, weil die gefundenen Knochen längst verbrannt waren, als durch einen Zufall vor ein paar Tagen ein Skalp mit einem Stück Schädeldecke in der Nähe der Fundstelle entdeckt wurde, der gut und gerne zu dem Rest gehören könnte. Damit hätte man das Puzzle zusammensetzen und sehen können, ob es eine Einheit bildet und zu einer Person gehört. Aber so …!“

Er ließ das Gesagte durch den Raum schweben, damit er seine Fassungslosigkeit möglichst nicht durch Worte untermauern musste. „Gesichert wissen wir bis jetzt nur, dass die Knochen zu einer Frau gehören, die vermutlich so um die 60 war. Nur ein paar Zähne und ein Ehering sind von ihr übrig geblieben. Alles andere ist futsch.“ Andreas rollte mit seinen Augen, um das Fehlverhalten der Kollegen auf seine Art zu missbilligen. Er schaute mich auffordernd an, als erwarte er eine Antwort oder zumindest eine Bestätigung seiner grenzenlosen Empörung. Ich blieb aber stumm und ließ ihn weiter berichten.

„Ein Journalist, der für einen Artikel über Bombentrichter und andere Relikte des Militärs in der Wahner Heide recherchierte, hat das Haarbüschel dort gefunden und die Polizei verständigt. Der hat es sich allerdings auch nicht nehmen lassen, die Geschichte exklusiv dem EXPRESS zur Verfügung zu stellen.“ Er zeigte auf die reißerische Titelseite, die den Journalisten mit dem verfilzten Mopp in der Hand zeigte. „Konzentrier‘ Dich am besten nur auf das wenige Wesentliche.“ Er blätterte einfach weiter und hielt mir nun den Bericht der involvierten Polizisten inklusive der Zeugenaussage eines Herrn Gruber unter die Nase. „Vielleicht lässt sich ja mit dem, was wir haben zumindest die Identität klären. Der Rest ist wie gesagt leider schon durch den Kamin in Mechernich“, erklärte er mir und verdrehte jetzt seine kompletten Gesichtszüge. „Gibt’s Fragen?“, wollte mein Chef noch wissen.

„Gab es keine Handtasche?“, fragte ich.

„Wie bitte?“

„Ist dort oder in der Nähe keine Handtasche gefunden worden? Eine Frau geht doch nicht ohne Handtasche!“

Er verharrte vor meinem Schreibtisch und nestelte an seinen Bartstoppeln.

„In die Natur offenbar schon – sie hatte jedenfalls keine dabei oder sie war längst weg. Du kannst ja mal im Fundbüro nachfragen. Willst Du sonst noch was wissen?“

„Nein, alles klar.“ Mist, da wollte er gerade gehen und mir fiel ausgerechnet jetzt noch etwas ein: „Das heißt, eine Frage habe ich noch: Vermutest Du ein Verbrechen?“

„Schwer zu sagen. Durch das schnelle Vorgehen …“, er brach den Satz ab, weil er selber merkte, dass seine Anklage den Kollegen gegenüber allmählich zu weit ging. Etwas sachlicher fuhr er fort: „Es wurden leider keine tiefergehenden Untersuchungen durchgeführt oder Spuren an den Knochen, geschweige denn am Fundort gesichert. Aber vielleicht lässt sich noch auf anderem Wege etwas rausfinden. Wir haben ja jetzt zumindest Haarreste.“ Die Frisur war seine Hoffnung. „Zusammen mit den Zähnen, die mit den Knochen gefunden wurden, lässt sich wenigstens klären, ob beides zu ein und derselben Person gehört.“

Voller Vorfreude auf meine vor mir liegende Arbeit war ich gedanklich längst abgedriftet und wusste nicht, was ich noch sagen könnte. Den Moment, in dem mein Chef wieder verschwand, konnte ich kaum abwarten. Um meine Ungeduld zu unterstreichen, scharrte ich mit den Füßen unter meinem Schreibtisch und trommelte mit den Fingern auf der Arbeitsplatte. Er verstand es nicht und setzte mit seinen gut gemeinten Ratschlägen fort.

„Am besten nimmst Du zuerst Kontakt mit der Stadt auf und beauftragst das Ordnungsamt, damit wir Akteneinsicht und den Ring, der noch an den Knochen steckte, bekommen. Nicht, dass die noch auf die Idee kommen, damit ihre Kosten zu verrechnen“, schlug er vor, anstatt zu gehen. „Und veranlasse bitte die Haaranalyse. Hoffentlich haben wir eine passende DNA.“

Warum macht er nicht gleich alles selbst?, fragte ich mich.

„Ja, okay!“ Ich blieb wortkarg, um noch verständlicher zu zeigen, dass er mich durchaus mit meinem Teil der Sache jetzt allein lassen konnte und mit mir aktuell kein weiterer Dialog möglich war. An Empathie mangelte es Andreas sonst nicht, aber heute blieb er in der Sache unsensibel.

„Finde irgendetwas heraus, was nicht in der Akte steht.“ Pause. Ich presste die Lippen zusammen und verkniff mir jede Konversation. Das animierte ihn allerdings nur, fortzufahren. „Und sollte es sich doch bestätigen, dass unsere Leiche eines natürlichen Todes gestorben ist, oder Dir weitere Ermittlungen aussichtslos erscheinen, kannst Du die Akte schließen.“

Leichen können nicht sterben, dachte ich und war geneigt, es auszusprechen. Da war er aber endlich gegangen.

DREI

Ziel und meine primäre Aufgabe hier im Präsidium sollte irgendwann in absehbarer Zeit die eigenständige, administrative Unterstützung von insgesamt sechs Kriminalisten sein. Je selbstständiger ich dabei agierte, desto besser – hatte mir der Personalchef bereits in meinem Vorstellungsgespräch ziemlich deutlich gesagt. Und genau darauf arbeitete ich seit dem ersten Tag akribisch hin. In den letzten Wochen hatte ich viel beobachtet, gelernt und mich langsam an die Polizeirealität herangetastet. Nach der Probezeit und einer damit einhergehenden Einarbeitungsphase würden die Tätigkeiten ausgedehnt und ich wäre dann in der Lage, eigene Erkenntnisse in die Ermittlungen zu tragen. Wenn alles gut lief, war dieser kleine Fall ein Quantensprung.

Meine Vorgesetzten und die besten Chefs der Welt, sind der eben erwähnte Andreas Kurani, 50 Jahre alt, Kriminaloberkommissar und Frank Labonte, 44 Jahre alt, sein Stellvertreter, ebenfalls Kriminaloberkommissar. Beide scharfe Analytiker und hervorragende Kriminalisten, aber ansonsten absolut unterschiedlich. Während Andreas sehr introvertiert und – sieht man mal von seinem Monolog von eben ab – eher still und einsilbig auftritt, ist Frank immer und überall präsent. Sobald er einen Raum betritt, füllt er ihn mit seinem Charisma. Bääähm! Auch optisch ist er genau das Gegenteil von Andreas. Es kommt nicht selten vor, dass Frank wie für ein Männermodemagazin gestylt, nach teuren Parfüms duftend und im Designeranzug auf der Arbeit erscheint und die reinste Provokation für diejenigen ist, die morgens aus dem Bett und in ihre nichtssagenden Klamotten vom Vor- und gerne auch mal vom Vorvortag springen. Andreas gibt sich eher so, wie man einen typischen Kriminalbeamten aus dem Fernsehen kennt. Etwas mürrisch, ansonsten kernig und sportlich. Auch optisch. Jeans, Shirt, Turnschuhe. Fertig. Vier weitere Beamte und ich sind den beiden unterstellt. Während sie ermitteln und die Arbeiten am und rund um den Tatort vornehmen, hüte ich in der Regel unser Büro im Linksrheinischen am Rande der Kölner Innenstadt. Kalk – am Puls der Kriminalität und mitten im sozialen Brennpunkt der Stadt.

Die Kollegen aus meiner Truppe sind immer die Ersten an einem Tatort und in mehreren Schichtdiensten rund um die Uhr im Einsatz. Sie werten zusammen mit den Mitarbeitern der Spurensicherung die frühen und unangetasteten Spuren aus, bevor die Vorgänge dann mit der Mordkommission gemeinsam ermittelt werden. Erst wenn ein Verbrechen mit Todesfolge aufgeklärt ist oder es nach dem Ablauf einer bestimmten Zeit nicht gelöst werden kann, wird die Mordkommission verkleinert und das Dezernat XI wieder abgezogen. Es kommt dann auch vor, hängt aber vom Arbeitsaufkommen der verschiedenen Abteilungen ab, dass wir Vermisstenfälle mit übernehmen oder im kleinkriminellen Milieu, beziehungsweise bei der Drogenfahndung ermitteln.

Nach über zwanzig Jahren im Vertrieb einer Versicherung in Köln, kam ich als absolute Quereinsteigerin und in relativ fortgeschrittenem Alter zur Polizei und genoss in diesen ersten Wochen noch die volle Aufmerksamkeit der Kolleginnen und Kollegen und eine Art Welpenschutz. Es gefiel mir, die Verantwortung auf anderen breiten Schultern zu wissen und nicht selber im Fokus zu stehen. Am 1. Januar war für mich mit dieser Stelle ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen. Und trotz einer ausgiebigen Silvesternacht mit wenig Schlaf und meines ersten Feiertagsdienstes war ich voller Motivation und mit viel Vorfreude gestartet. Ich war stolz, diese Chance zur rechten Zeit für mich erkannt und angenommen zu haben. Schon seit Kindheitstagen wollte ich zur Polizei. Allerdings war es in meiner Generation zum damaligen Zeitpunkt noch nicht weit verbreitet, sich zur Polizeibeamtin ausbilden zu lassen und in den Jahren danach war ich viel zu bequem geworden für eine solche Veränderung, die damals wie heute erhebliche finanzielle Einbußen bedeutet.

Gefangen in meinem persönlichen Rückblick schweifte ich ab und war so vertieft im eigenen Gedankenuniversum, dass ich den Vortrag meines Chefs von vorhin trotz der vielen Informationen nicht mehr abrufen konnte und jetzt krampfhaft überlegte, was er mir so lange und breit angeraten hatte. Nachfragen zu müssen, wäre natürlich der Supergau und an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Also kramte ich in allen Gehirnschubladen, fand langsam zurück in einen Konzentrationsmodus, der die Hinweise in einer Art Endlosschleife vor meinen Augen umherflimmern ließ, bis ich wieder in der kriminalistischen Spur war und mir einfiel, dass ich zuerst bei der Stadt Köln anrufen wollte.

Nervös tastete ich über das Tattoo in meinem Nacken, das den meisten wegen meiner langen Haare verborgen blieb. Es war ein kleiner Schutzengel, der mir Kraft und Ruhe gab.

Bisher war es für mich nie unmittelbar um Tote gegangen, und jetzt blickte ich erstmalig auf eine. Das Foto zeigte die Fundstücke fein säuberlich zu einem Knochengerüst zusammengefügt. Sie waren nicht Furcht einflößend, erinnerten vielmehr an meinen Biologieunterricht in der achten Klasse, als uns Tom, das Schulskelett vorgestellt wurde und wir Schüler vom Amboss bis zur Speiche des Wadenbeins alle menschlichen Knochen persönlich kennenlernten.

Okay, um mich für meine Aufgabe zu stärken und mein Mantra zu zentralisieren, tastete ich noch mal den Engel im Nacken ab. Alles klar.

Ich griff zum Telefonhörer, räusperte mich aufgeregt und wählte die Nummer der Stadtverwaltung Köln. Nach vier Fehlversuchen und etlichem Weiterverbinden wegen nicht zuständig sein, landete ich nach einer gefühlten Ewigkeit bei einem Sachbearbeiter. Endlich, freute ich mich – verfrüht …

„Guten Morgen, ich bin Sara Lange von der Kripo Köln. Wir haben ein paar Fragen im Zusammenhang mit dem Fund der sterblichen Überreste einer Frauenleiche, deren Knochen kürzlich auf Ihre Anweisung hin im Krematorium in Mechernich eingeäschert wurden.“

„Ja, und welche?“

„Welche was?“

„Welche Fragen?“

„Ach so! Wir würden gerne versuchen, sie über ihre familiären Verhältnisse und die Daten in ihrem Ehering zu identifizieren und bräuchten dazu dringend Akteneinsicht. Und den Ring.“

„Aha.“

Langsam wurde ich wütend. Wie träge war der denn?

„Könnte ich die Sachen bei Ihnen abholen lassen?“

Ich visualisierte meine Vorstellung von ihm. Bestimmt saß er zurückgelehnt in einem abgehalfterten Bürostuhl, schaute genervt an die Zimmerdecke und kaute an seinem Rotstift, mit dem er im Laufe des Tages Bewilligungen aus dem Leben Bedürftiger strich.

„Ja, sicher. Aber frühestens morgen.“

Als ich ansetzte mich aufzuregen, hatte er längst aufgelegt und sich vermutlich seinem Büroschlaf gewidmet. Mannomann!

VIER

Das frustrierende Gespräch mit der Stadt Köln sollte mich nicht entmutigen, ermahnte ich mich. Als ich allerdings am Folgetag die angeforderten Dokumente in der Hand hielt, verschwand mein Enthusiasmus dramatisch unter null. Betrachtete man die gesamte Bearbeitungskette, war mein Telefonat mit dem Sachbearbeiter noch das Harmloseste. Die maßlose Gleichgültigkeit im Umgang mit der toten Frau lag nun schwarz auf weiß vor mir und eine Annäherung an die Identität der Person rückte in weite Ferne. Es gab nichts Verwertbares, und ich konnte mir nur mit Mühe vorstellen, wie ich aus einer DIN A 4 Seite, auf der nichts weiter vermerkt war, als die Anzahl der unvollständigen Knochen, eine Zusammenstellung der drei Fundstücke, die mit der Leiche im Zusammenhang standen oder stehen konnten und dem Hinweis „Natürlicher Tod“, für weitere Ermittlungen brauchbare Erkenntnisse ziehen sollte. Immerhin wurde bei der Knochenschau deutlich, dass ein großes Stück der Schädeldecke fehlte und man davon ausgehen konnte, dass der Skalp zu dem Häufchen Asche gehörte, dass nun anonym beerdigt auf Melaten lag. Im Moment schien mir nur die Gravur im Ehering hilfreich, um überhaupt an Informationen zu kommen. Der große, rote Stempelaufdruck „Krematorium“ auf dem Dokument erstickte wie erwartet jede Hoffnung, weitere Spuren zu erheben. Ihre DNA war längst in der flammenden Hölle zu Staub geworden.

Ich würde trotzdem, oder jetzt erst recht, tiefer in den Fall abtauchen und meine ganze Energie aufwenden, der Toten einen Namen zu geben.

FÜNF

Einige Tage verstrichen und inzwischen kümmerten sich die anderen Kollegen längst wieder um das Tagesgeschäft und ihre Gedanken an „Heidi“ waren verblasst. So ist das eben bei der Polizei – ich würde mich daran gewöhnen müssen, statt mich hoffnungslos an die Akte und ein paar Knochen zu klammern.

Immerhin konnten wir klären, dass das verfilzte Haar und die im Kiefer steckenden Zähne mal mit ein und demselben Kopf verbunden waren. Die Recherche im Hinblick auf eine mögliche Tasche blieb hingegen ergebnislos. Nach und nach hatte ich die Fundämter im Großraum Köln befragt. Alle meldeten negativ. Keine Handtasche oder andere abgegebenen Fundstücke in dieser Region.

„Ein Versuch war’s wert, Sara“, versuchte Frank mich aufzumuntern, der meine zahlreichen Anrufe bei sämtlichen Sammelstellen der Stadt mitverfolgt und mich immer wieder dasselbe hatte sagen hören.

„Es war wirklich ein guter Ansatz. Ich glaube, da wären wir Männer so schnell gar nicht drauf gekommen.“ Vielleicht hatte er ja recht und sein Trost war ernst gemeint. „Lass uns einen Haken an die Sache machen. Sie frisst sonst unsere Energie. Am besten schreibst Du einen Fünfzeiler in unser Polizeiportal, berichtest kurz über den Fund und darüber, dass wir mangels Hinweisen die Sache abschließen und davon ausgehen, dass es sich um einen natürlichen Tod handelt.“ Ich schaute ihn an, als käme er von einem anderen Stern. „Wie, natürlicher Tod?“ Ganz selbstverständlich und als hätte er nie etwas anderes angenommen, meinte er: „Ist so – frag halt nicht!“

Also verkniff ich mir weitere Fragen – aber ganz aufgeben wollte ich noch nicht. Ich schrieb den kurzen Bericht, so wie Frank es wollte, setzte ihn in unser Portal und ließ die Akte in meiner Schublade verschwinden. Man weiß ja nie. Auf jeden Fall würde ich „Heidis“ Ehering für unsere Datei professionell ablichten und auf seinen Wert schätzen lassen. Dazu steckte ich ihn in eine kleine Schachtel und brachte diese zu unserem Kurierdienst, der die Fahrt zu einem Sachverständigen für Schmuckstücke in die Kölner Innenstadt übernahm. Darüber und über meinen Plan, für heute die Arbeit niederzulegen, informierte ich Andreas auf dem Weg Richtung Ausgang des Polizeipräsidiums.

„Habt ihr noch was für mich oder kann ich Feierabend machen?“, säuselte ich ihm ins Ohr, damit er sofort erkannte, dass es nur eine Antwort gab.

„Klar kannst Du abhauen. Wir haben nichts mehr.“

„Daaaanke“, jubelte ich und verschwand in der Menschenmenge der Kalker Hauptstraße, bis die nächste U-Bahn-Station mich verschlang und die Bahn mich am Neumarkt wieder ausspuckte. Ich machte alles, was in den letzten Wochen zu kurz gekommen war. Shoppen, Eis essen, weiter shoppen, was anderes essen, weiter shoppen. Es war herrlich und ich fuhr beschwingt nach Hause. Für morgen nahm ich mir vor, die Akte „Heidi“ zu schließen und den Fall hinter mir zu lassen. Die anderen hatten vermutlich doch recht: Natürlicher Tod!

SECHS

Die polizeiliche Ignoranz machte ihn wütend und es begann, schmerzhaft in ihm zu brodeln. Sage und schreibe vier Jahre hatten sie gebraucht, die Tote zu finden. Erst ein Typ aus Bayern musste dafür durch die Wahner Heide reisen und über die Knochen stolpern. Hätte er Name und Adresse, würde er ihm dafür ein Geschenk schicken oder gar einen Orden. Dankbar war er jedenfalls. Die Polizei hatte es nicht hinbekommen, das Opfer zu finden, geschweige denn, das Verbrechen an der Frau zu bemerken. Sie hatten sie jahrelang ignoriert und nicht einmal mitbekommen, dass sie verschwunden war. Die Nummer Eins auf seiner Liste. Dabei hatte ihre Leiche mitten in der Wahner Heide gelegen – sozusagen auf einem Präsentierteller. Nicht zugedeckt – nicht vergraben – nicht versteckt. Und, als wäre die polizeiliche Ignoranz nicht schon genug, taten sie es nach ihrem Auffinden in einem lächerlichen Fünfzeiler, zu allem Überfluss und lapidar, auch noch als natürlichen Tod ab. Lächerlich! Er war frustriert, hätte alleine deswegen schon wieder ausrasten können und hoffte doch sehr, dass sein zweites Opfer deutlich schneller gefunden werden würde. Es war zum jetzigen Zeitpunkt noch in voller Schönheit und wartete darauf, die gebührende Aufmerksamkeit zu erhalten. Und auch dieses Mal war es nicht zugedeckt – nicht vergraben – nicht versteckt. Die Kraft für die tagtägliche, vergebliche Hoffnung auf einen Bericht über das Auffinden der nächsten Leiche, konnte und wollte er nicht ein weiteres Mal aufbringen. Seine Werke verdienten mehr Respekt. Sie sollten Aufsehen erregen und für Schlagzeilen auf den Titelseiten der Presse sorgen. Und endlich jedem verständlich machen, dass es keine andere Wahl für ihn gab und, dass er noch nicht am Ziel war. Noch lange nicht!

SIEBEN

Das rotweiße Absperrband der Polizei flatterte mit dem Wind, obwohl die Entdeckung der Knochen bereits ein paar Wochen her war und der Fund längst nicht mehr im Fokus der Ermittlungen stand. Inzwischen hing es allerdings in einem Dornenbusch, einige Meter vom Fundort entfernt. Vielleicht hatte es eines der Tiere, die in der Wahner Heide leben und vorbeigezogen waren, in seinem Gehörn mitgeschleift und der nächsten dornigen Hecke überlassen. Für sie war längst wieder animalische Normalität eingekehrt – da störte auch das Plastikband nicht.

Die meisten Lebewesen hier sind überwiegend in den Nächten auf Streife, um Nahrung zu suchen. Da ist die Ruhe auch für sie am größten und sie können, auf ihrer Jagd nach etwas Fressbarem, ihre Beute besser über die Sensorik ihres feinen Gehör- oder Geruchssinnes wahrnehmen. Die lehmigen Randstreifen entlang der Straßen der Region sind dann spätestens in den Morgenstunden aufgewühlt und deuten auf Wildschweine hin, die dort regelmäßig in der schützenden Dunkelheit wühlen. Hier ist der Boden etwas weicher, als der der freiliegenden Flächen im Inneren des Areals. Und nicht so sandig. Auf einem der Parkplätze, die entstanden waren, nachdem die Kasernen der Belgischen Armee abgerissen und dem Erdboden gleichgemacht wurden, stand seit einiger Zeit ein Mini Cooper mit dem amtlichen Kennzeichen SU – X 1029.

ACHT

„Polizeidienststelle Siegburg, Sie sprechen mit Sebastian Börne. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

Die Polizeidienststelle Siegburg wurde am 4. April 2017 über das Verschwinden von Lena Grimm informiert, ungefähr vier Wochen nachdem sie ihren Wagen auf einem Parkplatz in der Wahner Heide abgestellt und offenbar nicht wieder bewegt hatte. Der Anruf war kein Notruf, sondern ging über die amtliche Leitung ein, sodass er zunächst als harmlose Information über eine möglicherweise vermisste, erwachsene Person bewertet wurde. Der diensthabende Börne hatte die Hinweise eines Oliver Neyer entgegengenommen, der nicht mit Frau Grimm verwandt, verschwägert oder nach dessen eigener Aussage anderswie verbandelt war. Er sei, so sagte er, ihr Chef im Sportstudio „Die Fitmacher“ in Lohmar. Dort leitete sie bis vor wenigen Wochen als selbstständige Trainerin verschiedene Gymnastikkurse und hatte ihre Tätigkeit für die Zeit einer geplanten Abwesenheit unterbrochen. So war jedenfalls ihr Plan gewesen. Außer ihm hatte Lena Grimm zuvor niemand vermisst. Zum einen hatte dies mit der angekündigten Reise zu tun – zum anderen war der Kreis ihrer Kontaktpersonen wohl ohnehin in den letzten Jahren nicht mehr sehr groß. Das meinte jedenfalls Herr Neyer. Der Rest war aktenkundig.

Ihre Familie lebte nicht mehr und sie war von ihrem Ex-Mann seit Jahren getrennt und offiziell geschieden. Grund für das Scheitern ihrer Ehe waren seine vermerkten zahlreichen körperlichen Übergriffe, wegen derer es sogar ein Verfahren gegen Herrn Grimm gegeben hatte. Zu einer Verurteilung war es seinerzeit nicht gekommen, weil seine Frau die Anzeige gegen ihn zurückgezogen hatte. Da er sie danach aber immer wieder stalkte und ihr gerne an dunklen Plätzen auflauerte, und ihr mehrfach erneut mit seiner Faust drohte, wurde er verwarnt. Er bekam ein Kontaktverbot und einen Platzverweis für die gemeinsame Wohnung. Ihm wurde in mehreren Gefährderansprachen untersagt, sich seiner Ex-Frau bis auf 20 Meter zu nähern. Es schien aber überwunden, denn seitdem war es zu keinerlei Zwischenfällen mehr gekommen. Im Hier und Jetzt lebten beide unauffällig und zurückgezogen.

Lena Grimm galt als meditativ, sehr sportlich und naturverbunden. Laut der späteren Zeugenaussagen einiger Mitdozenten und Studenten war sie in der Tat Anfang März aufgebrochen, um in eine etwa vierwöchige Auszeit nach Lanzarote zu starten. Sie lehrte hauptberuflich Sportmedizin an der Uni Köln und hatte sich noch während des Semesters beurlauben lassen, um eine Ruhephase auf der Insel dafür zu nutzen, sich von der Ausarbeitung einer medizinisch, wissenschaftlichen Studie zu erholen, an der sie in den Monaten zuvor Tag und Nacht gearbeitet hatte. Ziel war die Veröffentlichung der Studie und eine damit einhergehende Professur. Intellektuelles Fundament für das Thema „Biochemische Prozesse und Unfruchtbarkeit bei Frauen, bedingt durch den Wirkstoff Syptonil, nach mehrjähriger, illegaler Einnahme leistungssteigernder Mittel im Spitzensport“ waren ihre absolvierten Semester in Medizin und Biochemie.

Ihr Verschwinden wurde tatsächlich erst bemerkt, als sie nach der geplanten Rückkehr nicht zu ihrem Nebenjob im Fitnessstudio erschienen war. Die Bauch-Beine-Po-Fraktion und der Studioinhaber, Oliver Neyer, warteten an dem besagten Morgen um 09.00 Uhr vergeblich auf die ersehnte Rückkehr der Trainerin. Der Anruf des Besitzers bei der Wache in Siegburg wurde getätigt, nachdem Lena Grimm nachmittags auch nicht ihrer Verpflichtung als Power Plate-Spezialistin nachgekommen war und diejenigen, die die Rüttelplatte für Sport hielten, an diesem Tag ohne Training blieben.

Mit viel Getöse hatte Neyer seine Annahmen zum Abgang von Frau Grimm in einem langatmigen Telefonat mitgeteilt, sodass sein Gesprächspartner gereizt reagierte. „Herr Neyer, es ist wirklich nett, dass Sie uns anrufen. Aber bei erwachsenen Menschen können wir nicht viel machen. Sie verschwinden eben manchmal. Nicht immer ist ein Verbrechen die Ursache dafür. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Den gelangweilten Unterton konnte er kaum verbergen. Und er legte noch einen drauf. „Sie tauchen meistens aber nach ein paar Tagen wieder auf oder schicken irgendwann eine Postkarte aus der Karibik oder von sonst wo.“

„Hören Sie Herr Börne, ich sage Ihnen nur das, was ich wahrnehme. Und das ist das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt. Was Sie jetzt mit den Informationen anfangen, ist Ihre Sache. Guten Abend!“ Neyer legte auf. Er war unüberhörbar sauer und verfluchte sich dafür, überhaupt angerufen zu haben.

NEUN

Börne hatte die Daten zwar oberflächlich auf einem Fetzen Papier notiert, wertete den Anruf aber allenfalls als mehr oder weniger alltägliche Vermisstenmeldung, die zunächst keine allzu große Beachtung fand. Trotzdem würde er seine Kollegen am nächsten Tag anweisen, die Meldeanschrift von Lena Grimm zu überprüfen. Als Sebastian Börne später von den Kollegen der Kripo wegen seiner defensiven Zurückhaltung befragt wurde, wies er wohl etwas schnippisch, aber zu Recht darauf hin, dass es sich um eine erwachsene Person handelte, deren Lebensumstände durchaus auf eine Ausdehnung ihrer geplanten und, in der Wahrnehmung aller, auch angetretenen Auszeit hätte hinweisen können. Weil man sie eben auf Lanzarote vermutete, hatte es selbst aus ihrem Umfeld bisher niemand für möglich gehalten, dass Lena bereits seit mehr als vier Wochen verschwunden war. Im Gegenteil: Man nahm an, dass sie die Reise eben wegen des sonnigen Wetters, der schönen Strände und der angenehmen Lebensbedingungen auf unbestimmte Zeit verlängert hatte. Sie war ja schließlich alt genug. Und unabhängig. Eine solche und spontane Entscheidung habe zur ihr gepasst, hörte man mehrfach bei den späteren Befragungen der Studenten. Und auch, dass sie darüber niemanden in Kenntnis gesetzt hatte.

Der guten Ordnung halber fuhren zwei Beamte der Polizeiwache Siegburg zur Meldeanschrift und überzeugten sich außen wie innen davon, dass Lena Grimm nicht zu Hause war. Der Hausmeister hatte ihnen Zutritt zur Wohnung verschafft, sodass die Tür nicht beschädigt werden musste und die Bedingungen, falls sie zurückkehrte, genauso waren wie vorher. Gefahr im Verzug berechtigte sie in diesem Fall, eine Wohnung ohne Durchsuchungsbefehl zu betreten. Es war schließlich denkbar, dass sie verletzt oder krank hinter der verschlossenen Türe lag und sich in einer Notsituation befand. Wenn man mal von dem einen oder anderen vergammelten Lebensmittel und der latenten Unordnung absah, war nichts Auffälliges festzustellen. Durchwühlt war nichts. Aber, um die Sache zumindest den Vorschriften entsprechend ernst zu nehmen, und um über jeden Vorwurf erhaben zu sein, hielt man mit dem Fitnessstudio Kontakt. Man ging ebenfalls dem Hinweis des Hausmeisters nach, dass der Wagen von Frau Grimm mit ihr verschwunden war und fahndete nach dem PKW. Auch über die gängigen Medien und die sozialen Internetplattformen. So konnte der sehr auffällige Mini Cooper bereits nach wenigen Tagen, durch die Aufmerksamkeit einer Spaziergängerin, auf einem der Parkplätze der Wahner Heide gefunden und zur Sicherung von Spuren auf einem Hänger, mit weiteren abgeschleppten Fahrzeugen, nach Köln zum Präsidium gebracht werden.