Einleitung

In letzter Zeit begegne ich in Gesprächen immer wieder Menschen, die ihr Leben versäumen. Vor lauter Absichern kommen sie nicht in die Gänge. Sie brauchen zuerst noch die oder jene Ausbildung, bevor sie überhaupt antreten und sich um eine Arbeitsstelle bemühen. Sie machen noch mit vierzig Jahren eine neue Ausbildung. Und sie haben noch nie richtig gearbeitet.

Es sind vor allem junge Menschen, bei denen ich den Eindruck habe, dass sie ihr Leben versäumen. Bei vielen Abiturienten spüre ich keine Aufbruchsstimmung. Ich kann mich noch erinnern, wie es war, als ich selbst Abitur gemacht habe. Es war das Jahr 1964. Ich wollte die Welt verändern. Ich wollte die Kirche verändern. Ich wollte die Botschaft Jesu in einer neuen Sprache verkünden. Leidenschaft hat mich damals angetrieben. Diese Leidenschaft vermisse ich heute bei vielen jungen Menschen. Vielmehr nehme ich da eher eine verzagte Stimmung wahr: Es ist alles so schwierig. Es fehlt der Mut, etwas in die Hand zu nehmen.

Allerdings möchte ich nicht verallgemeinern. Es gibt auch sehr viele junge Menschen, die das Leben wagen, die schon in jungen Jahren für eine Weile ins Ausland gehen und wesentlich beweglicher sind, als wir das in unserer Jugend waren. Sie haben den Mut, in Spanien, in Dänemark, in Amerika, in Asien zu studieren und für einige Jahre dort zu arbeiten. Und sie sind viel welterfahrener, als wir es damals waren.

Auf der anderen Seite begegne ich immer wieder auch alten Menschen, die von sich sagen: Ich habe nie gelebt. Sie betrauern ihr ungelebtes Leben. Sie haben jetzt im Alter das Gefühl, dass sie ihr Leben versäumt haben. Und sie sind oft voller Schuldgefühle und Bitterkeit, weil sie das Gefühl haben, sie hätten an sich vorbeigelebt und aus ihrem Leben nichts gemacht. Sie hätten gar nicht wirklich gelebt. Eine achtzigjährige Frau beklagte sich bei mir, dass sie noch nie selbst gelebt hat. Sie hatte sich immer nur angepasst. Und sie war traurig über diese Einsicht, dass sie nie ihren eigenen Gefühlen getraut und ihren Wünschen nachgegangen war. Dieser Frau versuchte ich zu vermitteln, dass es nie zu spät ist, mit dem Leben anzufangen. Es gilt, das zu würdigen, was sie bisher gelebt hat, auch wenn sie den Eindruck hat, dass es noch nicht das eigentliche Leben war. Aber immerhin hat sie es geschafft, achtzig Jahre alt zu werden. Sie soll wahrnehmen, was sie trotz des ungelebten Lebens doch erlebt und vielleicht auch selbst gelebt hat. Und dann soll sie auf dem Hintergrund ihres Lebens jetzt ihre persönliche Spur in diese Welt eingraben. Wenn sie jetzt zu leben anfängt, wird auch das ungelebte Leben zu einem Teil ihres Lebens und ihrer Lebendigkeit.

Als ich angefangen habe, über das Versäumen nachzudenken, dachte ich, versäumen hänge mit dem Saum, mit der Naht zusammen. Doch der Duden hat mich eines Besseren belehrt. Das Wort »säumen« mit der Bedeutung »zögern« ist unbekannten Ursprungs. Es hängt mit dem mittelhochdeutschen Wort »sumen« zusammen, das früher in Bezug auf jemanden oder etwas verwendet wurde im Sinne von: »aufhalten, abhalten, hindern, hemmen«. Daraus entstand dann das mittelhochdeutsche »versumen«. Versäumen bedeutet also: etwas ungenutzt verstreichen lassen, verpassen, jemanden vorbeigehen lassen. Und dazu gehören die Wörter »säumig« = »langsam, träge, sich verspätend« und »Säumnis« = »Verzögerung, Aufschub«.

Das Grimm’sche Wörterbuch bringt viele Redewendungen mit »Versäumen« ins Spiel. Martin Luther spricht davon, dass man Kinder und Jugendliche versäumt. Damit meint er, dass die Erwachsenen sie vernachlässigen. Und er spricht davon, dass manche ihre Jugend versäumen. Sie leben die Lebendigkeit der Jugend nicht. Sie passen sich den Erwartungen der anderen an. Luther gebraucht das Wort »versäumen« auch von Dingen oder Ereignissen. Man soll den Gottesdienst nicht versäumen, die Gnade Gottes nicht versäumen. Sonst versäumt man etwas Wesentliches in seinem Leben. Und Luther kennt Menschen, die »verseumig des guten« sind, die das Gute versäumen, verpassen und vernachlässigen und daher an sich selbst vorbeileben.

Wer eine Gelegenheit versäumt, der verpasst etwas Wichtiges. Er verpasst das Leben, weil es nicht so passt, wie er sich das vorstellt. Das Wort »verpassen« verwendete man im 17. Jahrhundert vor allem beim Kartenspiel. Es meinte, dass ich ein Spiel vorübergehen lasse, dass ich verzichte, das Spiel zu machen. Noch heute sagt man das beim Skatspielen: »Ich passe«, wenn man beim Reizen nicht mitmachen will.

Ich erlebe häufig Menschen, die das Leben versäumen, weil es einfach nicht so passt, wie sie es sich vorstellen. Aber sie können noch so lange warten, tatsächlich finden sie nie das Passende. Immer gibt es etwas auszusetzen. Und weil das Leben nicht passt, lässt man es vorübergehen. Man verzichtet darauf, das Spiel des Lebens zu spielen.

Das lateinische Wort für »säumen« heißt »tardare«. Es kommt von »tardus« = »langsam, zögerlich, dumpf, stumpfsinnig«. Tardare meint: etwas hemmen und hindern. Ich behindere letztlich die Lebendigkeit. Ich zögere, etwas in die Hand zu nehmen, und versäume damit oft mein Leben. Auch das Alte Testament kennt diese Haltung und kritisiert sie. So mahnt Jesus Sirach:

Zögere nicht, dich zu ihm zu bekehren,
verschieb es nicht Tag um Tag!

Jesus Sirach 5,7

Versäumen wird hier mit Aufschieben verbunden. Das ist eine Plage, die viele Menschen kennen. Sie schieben wichtige Entscheidungen auf. Sie schieben das auf, was ihnen unangenehm ist. Aber je mehr ich aufschiebe, desto größer wird der Berg, vor dem ich stehe. Und dann fange ich nie an, ihn abzutragen.

Der Mensch soll nicht zögern, aber auch Gott wird gebeten, nicht zu zögern mit seiner Hilfe. So bittet der Psalm 40 Gott: »Noli tardare!«, das heißt »Säume nicht!« Der Vers heißt vollständig:

Meine Hilfe und mein Retter bist du.
Mein Gott, säume doch nicht!

Psalm 40,18

Beim Kurs »Erwachsen auf Kurs«, zu dem etwa siebzig junge Erwachsene über Silvester in die Abtei kamen, habe ich einen Vortrag gehalten über ihr Jahresthema »Grenzgänger«. Beim Vortrag kam ich auch darauf zu sprechen, dass ich gerade ein neues Buch schreibe. Als ich den Titel sagte: »Versäume dein Leben nicht«, da fragten sofort viele: »Wann erscheint das Buch?« Ich spürte, dass das Thema viele der jungen Erwachsenen bewegt. Die Reaktion der Kursteilnehmer hat mich bestärkt, dieses Buch zu schreiben, auch wenn ich spüre, dass es nur ein Versuch ist, ein Phänomen zu beschreiben, das ich heute bei vielen Menschen wahrnehme.

So möchte ich in diesem Buch um das Thema Versäumen kreisen. Ich möchte darlegen, was mir im Gespräch mit Menschen zu diesem Thema in den Sinn gekommen ist. Dabei möchte ich niemanden anklagen. Ich möchte nur Phänomene beschreiben, die ich beobachtet habe. Und es ist mir wichtig, auch einen Weg aufzuzeigen, wie wir wieder Mut bekommen, unser Leben zu wagen. Diesen Weg versuche ich zu finden im Verhalten Jesu, in seiner inneren Haltung, in seinen Worten und in seinen Taten. Jesus war für mich eine kraftvolle Persönlichkeit. Er hat sein Leben wirklich gelebt. Und er hat sein Leben für uns aufs Spiel gesetzt. Er hat sich eingesetzt und seinen Einsatz mit dem Leben bezahlt. Aber gerade so ist er für uns eine Herausforderung, unser Leben zu wagen, aus der Passivität des Versäumens herauszugehen und das Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Sich absichern

Ein japanischer Zenmeister erzählte von jungen Menschen, die zu ihm kamen, um zu überlegen, wie sie ihr Leben gestalten sollten. Er war erschrocken, als er sie reden hörte. Anstatt das Leben zu wagen und sich auf einen Beruf einzulassen, sprachen sie voller Bedenken: Die Welt ist so unsicher. Wenn ich mich auf diese Firma einlasse, wer zahlt dann meine Rente? Sie dachten jetzt, in ihren jungen Jahren schon an die Rente, anstatt sich erst einmal auf das Wagnis des Lebens einzulassen.

Das ist sicher ein extremes Beispiel. Aber ich erlebe doch bei manchen jungen Menschen ein Überwiegen der Bedenken gegenüber dem Mut, etwas zu wagen. Eine Frau erzählte mir von einem Studenten, der mit sechsundzwanzig Jahren schon eine Sterbeversicherung abgeschlossen hat, um seinen Grabplatz auf dem städtischen Friedhof zu sichern. Die Frau machte ihm Mut, er solle doch erst einmal sein Leben leben, bevor er an die Sterbeversicherung denkt. Doch er wunderte sich, dass die anderen noch keine Sterbeversicherung abgeschlossen haben. Er dachte sofort ans Ende und übersprang sein Leben.

Die Bedenken beziehen sich auf verschiedene Bereiche. Da ist einmal die Angst, nicht genügend vorbereitet zu sein für das Leben. Daher muss man zuerst noch diese oder jene Ausbildung machen. Vor lauter Angeboten, was es an guten Ausbildungsmöglichkeiten gibt, wird man nie fertig.

Ich erlebe Männer, die mit vierzig Jahren noch in der Ausbildung sind und noch nie richtig gearbeitet haben. Sie haben eine wichtige Phase in ihrem Leben übersprungen. Sie meinen, nach der Ausbildung würden sie dann richtig loslegen. Aber ich spüre in mir Bedenken, wenn ich das höre. Oft kommen diese Menschen gar nicht richtig in die Gänge. Sie sind die ständige Ausbildung und Fortbildung so gewohnt, dass sie sich auf eine konkrete Arbeit gar nicht mehr einlassen können.

In der Betriebswirtschaft spricht man von Input und Output. Wir müssen in die Firma etwas hineinstecken, damit etwas herauskommt. Das gilt auch für unser persönliches Leben. Wir müssen lernen, etwas in uns aufzunehmen, damit dann etwas aus uns herausfließen kann. Doch bei manchen Menschen habe ich den Eindruck, dass sie sich vor lauter Input verschlucken. Sie brauchen immer noch mehr Informationen. Sie sitzen ständig am Computer und durchforschen das Internet nach interessanten Informationen. Aber vor lauter Informationen kommen sie nicht mehr dazu, selbst etwas in die Hand zu nehmen und diese Welt zu gestalten.

Ihr Durst nach immer noch mehr Wissen, Informationen und Sicherheit äußert sich auch darin, dass sie denken, sie brauchen noch diese oder jene Fortbildung. Doch ich begegne in letzter Zeit immer wieder Menschen, die vor lauter Fortbildung ihr Leben versäumen. Die Fortbildungen haben ihnen nicht geholfen, ihr Leben zum Fließen zu bringen. Ihr Leben bringt keine Frucht. Vor lauter Gießen ertrinken die Pflanzen, anstatt aufzublühen.

Nur von Informationen kann ich nicht leben. Das Leben bleibt nur im Gleichgewicht, wenn Input und Output miteinander korrespondieren. Wenn nie etwas aus mir herauskommt – oder wenn ich nur ganz wenig Energie für mein Leben aufwende –, dann blockiere ich auf die Dauer die Energie in mir selbst. Ich erlebe dann solche Menschen, wie sie ständig krank sind. Weil die Energie nicht nach außen fließen kann, wendet sie sich gegen den Menschen selbst.

Die allzu starke Absicherung hat auch ganz praktische Nachteile. Wenn Menschen zu viele Ausbildungen machen, tun sie sich beispielsweise schwer, am Arbeitsmarkt noch eine Anstellung zu finden, weil sie überqualifiziert sind. Niemand will sie nehmen, weil sie zu viele Qualifikationen erworben haben. Der Arbeitgeber hat Angst, er müsse dann für die Qualifikationen einen erhöhten Lohn zahlen, den diese Tätigkeit nicht hergibt. Und so erreichen Menschen mit zu vielen Ausbildungen gerade das Gegenteil von dem, was sie sich vorgestellt haben. Sie finden keine Stelle und versäumen nochmals viel Zeit mit der Suche nach einer geeigneten Arbeit.

Manchmal liegt der Grund für die ständigen Fortbildungen entweder in einem übersteigerten Selbstbild oder aber in einem Mangel an Selbstvertrauen. Manche fühlen sich für die normalen Arbeiten zu gut. Sie haben ein so hohes Selbstbild, dass sie sich nicht mehr auf die Durchschnittlichkeit des Lebens einlassen können. Sie haben Angst, dass sie eine Arbeit bekommen, die auch ganz einfache Tätigkeiten verlangt. Sie fühlen sich bereits als Chefs von Abteilungen und weigern sich, erst einmal die einfachen Arbeiten zu tun, um sich auf diese Weise hochzuarbeiten. Andere brauchen eine Fortbildung nach der anderen, weil sie sich nichts zutrauen. Sie meinen, erst durch die Fortbildung würden sie befähigt, diese oder jene Arbeit zu bewältigen. Doch mit jeder Fortbildung wächst die Angst, den Anforderungen der Arbeit doch nicht gewachsen zu sein.

Ich kann eine Arbeitsstelle nur dann finden, wenn ich genügend Demut aufbringe, mich zuerst einmal auf banale Arbeiten einzulassen. Erst wenn ich mich eingelassen habe, kann ich meine Arbeit verändern, kann ich neue Ideen einbringen und zu vermeintlich »wichtigerer« Arbeit aufsteigen. Jesus formuliert das im Lukasevangelium so:

Wer in den kleinsten Dingen zuverlässig ist, der ist es auch in den großen, und wer bei den kleinsten Dingen Unrecht tut, der tut es auch bei den großen.

Lukas 16,10

Jede Firma will den Mitarbeiter erst einmal in kleinen Dingen testen, bevor sie ihm größere und wichtigere Aufgaben zutrauen kann.

Andere haben Angst, dass sie von diesem konkreten Beruf oder von dieser konkreten Arbeit überfordert sind. Sie wollen sich absichern, dass sie keinen Burn-out bekommen, wenn sie diese Arbeit übernehmen. Wenn eine Arbeit ansteht, dann überlegen sie erst, was das mit ihnen macht, ob sie da nicht zu viel arbeiten müssten. Manche rechnen sofort: Das macht vierzig Prozent meines Arbeitspensums aus, das andere sechzig Prozent. Also kann ich nichts mehr dazunehmen. Sie sichern sich ab, damit sie ja nicht über ihre Grenze gefordert werden. Aber dadurch entdecken sie nie, wozu sie fähig sind. Sie stecken schon zu früh die Grenze ab, innerhalb der sie leben wollen. Und so kommen sie nie über die Grenze hinaus. Ihr Leben kreist immer innerhalb der engen Grenzen, die sie sich selbst gesetzt haben.

Was meine Grenze ist, das erkenne ich aber erst, wenn ich über diese Grenze hinausgegangen bin. Wenn ich mich zurückerinnere an die Zeit, in der ich in der Verwaltung angefangen habe: Da habe ich nicht gefragt, ob die Arbeit zu viel ist. Ich wollte einfach anpacken. Ich wollte etwas in Bewegung bringen. Ich wollte erst einmal meine Kräfte erproben, um dann irgendwann meine Grenze zu entdecken und mich auch abzugrenzen. Meine Devise war: mich zuerst auszutoben, bevor ich anfange, zu unterscheiden, was wirklich notwendig ist und was ich lieber loslassen kann. Erst wenn ich mich ausgetobt habe, kann ich in guter Weise Grenzen setzen.

Natürlich ist es wichtig, Grenzen zu setzen. Wer maßlos arbeitet, der gerät leicht in eine Überforderung und vielleicht sogar in einen Burn-out hinein. Doch wer seine Grenzen zu früh setzt, der wird nie richtig in Gang kommen. Er wird immer mit angezogener Handbremse arbeiten. Doch wer ständig bremst, kommt nur sehr schwer weiter. Er braucht zu viel Energie für das Bremsen, und dann ist es wie beim Autofahren: Diese Energie fehlt ihm beim Fahren.

Die Angst vor dem Burn-out zeigt sich bei vielen Menschen in der Dauerausrede vom Stress. Diese Menschen fühlen sich bei jeder kleinen Aufgabe schon gestresst. Anstatt sich auf eine Aufgabe einzulassen, spüren sie vorher schon den Stress, den diese Aufgabe bringen könnte. Manche stöhnen schon bei kleinen Beanspruchungen über den Stress, dem sie ausgesetzt sind. In der Psychologie spricht man heute schon von einer Stress-Hospitalisierung.

Wenn ich mich in junge Menschen hineindenke, die so sehr nach der letzten Absicherung streben, dann versuche ich, sie zu verstehen. Offensichtlich brauchen sie in dieser unsicheren Welt Sicherheit. Früher genügte es, in einer Firma anzufangen und dort gut zu arbeiten. Dann hatte man eine sichere Arbeitsstelle. Heute hat man keine Garantie, ob diese Firma überlebt oder ob sie umstrukturiert wird und der eigene Arbeitsplatz dann wegfällt. Man hat keine Sicherheit, ob man an diesem Ort bleiben kann oder aber in die ganze Welt geschickt wird, um dort zu arbeiten. Das gibt Unsicherheit nicht nur in Bezug auf die eigene Person, sondern auch auf die Familie, die man doch möglicherweise gründen möchte. Die Unsicherheit hat ja auch Auswirkungen auf die Partnerwahl, auf die Erziehung der Kinder und ihr Aufwachsen in einem guten Umfeld. Weil die Unsicherheit größer ist, wächst auch das Bedürfnis nach Sicherheit. Es ist größer, als es in meiner Jugend war.

Mein Vater ist mit fünfundzwanzig Jahren aus dem Ruhrgebiet in das katholische Bayern gezogen, ohne eine Arbeit zu haben. Er hat sich auf dem Bau durchgeschlagen und dann ein eigenes Geschäft aufgebaut. Nach dem Krieg musste er Konkurs anmelden, weil die Zahlungsmoral nach der Währungsreform schlecht war. Dann musste er sich anstrengen, das Geschäft wieder zum Laufen zu bringen. Die äußeren Bedingungen waren auch unsicher. Aber für ihn war es klar, dass er kämpfen würde. Anfang der sechziger Jahre war dieser Kampf bestanden. Dann musste er sich immer wieder einmal auf eine neue Situation am Markt einstellen.

In den fünfziger und sechziger Jahren herrschte in Deutschland Aufbruchsstimmung. Und diese Stimmung hat sich auf auch mich und meine Mitschüler ausgewirkt. Wir wollten jetzt nicht wirtschaftlich aufsteigen. Wir wollten die Welt mit neuen Ideen verändern. Und für mich und meine Mitschüler bedeutete das vor allem: die Kirche erneuern, neue Ideen in die Kirche einbringen, die Botschaft auf neue Weise verkünden. Wir hatten Lust, etwas Neues auszuprobieren. Es genügte uns nicht, nur das Bestehende weiterzuführen.

Natürlich gibt es diese Lust am Neuen und das Wagnis, sich auf Unbekanntes einzulassen, auch bei vielen jungen Leuten heute. Doch ich erlebe bei vielen Abiturienten, dass sie noch gar nicht wissen, was sie wollen. Sie blicken eher verzagt in die Zukunft. Sie wollen sich absichern. Sie zögern, ein Studium zu beginnen. Lieber wollen sie erst einmal eine Auszeit nehmen.

Wenn ich an meine Jugend zurückdenke, dann habe ich nach dem Abitur nicht an Auszeit gedacht. Ich hatte Lust, mich auf Neues einzulassen. So bin ich gleich nach dem Abitur ins Noviziat eingetreten. Da gab es ständig etwas Neues, das mich herausforderte. Und im Studium brannte ich darauf, möglichst intensiv zu studieren, um dann die Botschaft Jesu in einer neuen Sprache verkünden zu können. Ich habe mich durch die Bibliothek hindurchgearbeitet, habe moderne Philosophen studiert, obwohl ich da an die Grenze des Verstehens geriet. Aber ich wollte wissen, wie moderne Philosophen denken und wie ich die christliche Botschaft vor dem Hintergrund dieses Denkens verkündigen könnte.