Vom Mond aus links

 

 

Vom Mond aus links

Teil 1: Auge der Galaxie

 

 

Lea Baumgart

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Buch & Autorin

 

Selene träumt von den Weiten des Universums, ist zu Weltraumreisenden aber nur mäßig qualifiziert: Sie ist Hair- und Make-up Artist für intergalaktische Spezies. Ihr Leben ändert sich jedoch, als der attraktive wie tölpelhafte Kapitän Naajab aus dem Trappisten-System in ihrem Laden auftaucht und vom Auge der Galaxie berichtet. Dieses mysteriöse Artefakt stellt angeblich das perfekte Navigationssystem dar - und lädt nur so dazu ein, gestohlen zu werden. Gemeinsam mit Naajab macht Selene sich auf den Weg ...

 

Lea Baumgart wurde 1995 in der Nähe von Köln geboren und wuchs in einem Haushalt mit magischen Bücherregalen auf, in denen man jedes beliebige Buch mindestens in zwei verschiedenen Ausgaben findet – aber natürlich immer erst, nachdem man es sich schon selbst gekauft hat. Diesen Bücherregalen ist es wohl zu verdanken, dass sie derzeit Literaturwissenschaft studiert und eigene Geschichten veröffentlicht. Inzwischen stapeln sich die Bücher bereits auf ihrem Schreibtisch, aber davon lässt sie sich nicht abhalten; schreiben kann man schließlich überall.

 

Impressum

 

Originalausgabe | © 2019

In Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

Kruppstraße 82 - 100 | 45145 Essen

www.ifub-verlag.de / www.ifubshop.com

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Herausgeber: Mike Hillenbrand

verantwortlicher Redakteur: Björn Sülter

Lektorat & Korrektorat: Telma Vahey

Cover-Gestaltung: E. M. Cedes

Grafikelemente: Unsplash.com

E-Book-Erstellung: Björn Sülter

 

ISBN: 978-3-95936-174-3 (Ebook)

ISBN: 978-3-95936-175-0 (Print)

Kapitel 1: Intensive Kundenbetreuung, um uns gemeinsam auf Ihre Wünsche abzustimmen

 

Selene würde immer das Mädchen vom Mond bleiben.

Sie wusste genau, dass es keine Rolle spielte, wie sehr sie sich anstrengte oder was sie im Leben auch erreichen mochte. Den Status ihrer Herkunft würde sie niemals ganz loswerden.

»Schönen Tag noch!«, rief sie ihrem Kunden eifrig hinterher, bevor sich die Tür hinter dem breiten Rücken schloss.

Statt einer Antwort erklang nur das melodische Klingeln des elektronischen Summers über dem Eingang.

Trinkgeld hatte der Mistkerl auch keins gegeben.

Schon weitaus weniger eifrig griff Selene nach dem Besen, um die Reste auf dem Boden zusammenzufegen. Die meisten Läden verfügten inzwischen über eine technische Ausstattung, die den Schmutz durch Luftschlitze direkt über dem Boden absaugte. Ihr Laden besaß nicht einmal eine Klimaanlage.

Normalerweise waren es Haare, an anderen Tagen diffuser Glibber oder abgeschabte Schuppen, die Selene zusammenfegte. Heute waren es Federn. Unter den Borsten des Besens formten sie einen flammend orangeroten Haufen, der aussah wie trockenes Herbstlaub.

Sie war stolz darauf, dass sie ihren Laden immer sauber hielt, auch wenn sie dafür auf recht archaische Maßnahmen zurückgreifen musste. Eigentlich war es nicht einmal ihr Laden. Sie arbeitete bloß hier, doch der Inhaber ließ sich so selten blicken und ließ ihr so freie Hand, dass sie sich einreden konnte, es wäre ihr Betrieb. Allerdings lief der Betrieb alles andere als glänzend.

Das Geschäft lag auf der erdabgewandten Seite des Mondes. Da das am Sonneneinfall natürlich nichts änderte, hätte es eigentlich keine schäbige Hälfte geben dürfen. Trotzdem war es so. Die erdabgewandte Seite war ganz eindeutig die schäbige Hälfte.

Selene wünschte sich, sie wäre zumindest auf der Erde geboren worden. Dann wäre sie jetzt Terranerin. Das klang nach etwas. Das klang nach einer Herkunft, auf die man stolz sein konnte; jedenfalls solange man sich nicht allzu gut mit Geschichte auskannte. Stattdessen stammte sie aus einer unbedeutenden Kolonie auf dem langweiligsten Himmelskörper, der jemals besiedelt worden war.

Sicher – damals, als ihre Großmutter Marie aufgebrochen war, um sich auf dem Mond selbstständig zu machen, standen die Dinge noch anders. Der Mond wurde als der nächste große Handelsstützpunkt der Erde betrachtet, und ökonomisch gesehen versprachen all die neuen Siedler sich nichts als immerwährenden Aufschwung.

Doch nachdem man einmal die künstliche Atmosphäre geschaffen und Straßen und Gebäude angelegt hatte, trafen die ersten Siedler ein, nur um festzustellen, dass die fremden Zivilisationen ausblieben, von denen man doch so sehr gehofft hatte, ihnen alles Mögliche verkaufen zu können. Wie für so viele, endete auch der Traum ihrer Großmutter mit einer Anstellung in einer der Textilfabriken, die ihren Produktionsstandort nur auf den Mond verlegt hatten, um dort Steuern zu sparen.

Handel wurde getrieben, natürlich, doch statt Zwischenstation auf dem Mond zu machen, legten die meisten Raumschiffe direkt an den Weltraumhäfen auf der Erde an. Auch Selene war schon dort gewesen, auf Schulausflügen und einmal für ein Wochenende mit ihren Eltern, als sie noch jünger war. Doch alles auf ihrem Ursprungsplaneten kam ihr riesenhaft und hektisch vor. Verglichen mit der Erde war der Mond nichts als eine Provinz, wo es nichts gab als gescheiterte Händler und seltsame Sekten, die aufgebrochen waren, um ihre schöne neue Welt zu missionieren.

Selene liebte die alten Retro-Filme, die ihre Großmutter auf einem USB-Stick von absurdem Format auf den Mond mitgebracht hatte. Sie erkannte sich selbst in vielen der Figuren wieder: Sie war das Kleinstadtmädchen, das in die Großstadt reisen wollte, um ein Star zu werden. Auch träumte sie vom Leben der Stars, allerdings wollte sie nicht Schauspielerin werden oder Sängerin. Sie träumte von den Sternen; davon, jeden einzelnen zu besuchen, mit ihrem eigenen Raumschiff.

»Denkst du schon wieder an fremde Galaxien?«, zog eine Stimme vom Empfangstresen sie auf. »Du solltest dich lieber auf deine Arbeit konzentrieren. Die Sterne sind nicht für dich bestimmt, Sel, du bist bloß Friseurin.«

Sie warf dem organischen blauen Klumpen, der direkt neben dem Sparschwein fürs Trinkgeld hockte (und dieses nur um Millimeter überragte), einen finsteren Blick zu.

»Hair und Make-up Artist für intergalaktische Spezies«, korrigierte sie ihn grimmig. »Ich habe ein Zertifikat, Kas.«

Ein tiefes Brummen wie das Anschlagen einer Basssaite erfüllt den Raum.

Nach menschlichen Standards rollte Kas mit den Augen.

Kas war ihr Zeitgobble, und natürlich hieß er nicht wirklich Kas. Die auf dem Mond ansässige Spezies verständigte sich über Schall im niedrigen Sequenzbereich, und sein richtiger Name ließ sich nicht in die menschliche Sprache übertragen. Doch schon kurz nach Ankunft der Menschen hatten die Zeitgobbles gelernt, sich auf ihre Weise mit diesen zu verständigen. Wie sich herausstellte, waren auch sie eine sehr verkaufstüchtige Spezies, und da sie – ironischerweise – nicht besonders lange lebten, befanden sie sich mittlerweile schon in der achtzehnten Generation seit dem Handelsabkommen.

Inzwischen besaß so ziemlich jedes Dienstleistungsgeschäft seinen eigenen Zeitgobble.

Sie waren ungemein nützlich, wenn es darum ging, zum Beispiel einen Haarschnitt zu korrigieren. Und das, noch bevor man überhaupt zu schneiden begonnen hatte. Zeitgobbles konnten die Zeit zurückdrehen und sich an das bereits Geschehene erinnern. Leider funktionierte der Trick pro Moment nur ein einziges Mal. Doch in der Regel reichten Sätze wie: »Sie sagte fünf Zentimeter kürzen, nicht fünfzehn«, oder »Bei dieser Spezies verläuft die Hauptschlagader genau da, wo du gerade die Schere ansetzt«, um ein größeres Blutbad zu verhindern.

Herausragende Zeitgobbles konnten die Zeit bis zu einem ganzen Mondtag zurückdrehen. Ein guter Zeitgobble brachte es auf etwa zwanzig Erdenminuten.

Kas war kein guter Zeitgobble.

Meist reichte es gerade einmal so für eine ganze Minute.

Doch sie kamen gut miteinander aus, mehr oder weniger zumindest. Kas erduldete ihre Träumereien, und Selene erduldete seine schlechte Laune. Eine seltsame Art der resignierten Freundschaft verband sie. Beide hingen sie hier fest, und beide begegneten sie der Langeweile des Alltags auf ihre Weise.

Sie stellte den Besen zurück in die Ecke und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tresen. Es konnte dauern, bis der nächste Kunde eintraf. Manchmal dauerte es Stunden.

»Es muss einfach noch mehr geben, als … das hier.«

Vage gestikulierte sie in den Raum hinein, der es trotz ihrer Putzaktionen und dem weißen Neonlicht irgendwie schaffte, schmutzig auszusehen. Die vielen Spiegel reflektierten nur die Trostlosigkeit der weißen Wände. Und die Stühle mit dem schwarzen Polster blieben an den meisten Tagen leer. Einmal hatte sie versucht, den Laden mit ein paar Blumen freundlicher wirken zu lassen, aber hier auf dem Mond wuchsen Pflanzen nicht natürlich an, und die meisten waren Importgut von der Erde. Importgut war teuer. Es hatte sich nicht gelohnt. Der Raum hatte trotzdem noch schäbig ausgesehen.

»Sicher, es gibt ganze Galaxien dort draußen«, stimmte Kas zu. »Aber welche Qualifikation hast du schon? Im All brauchen sie Piloten, Wissenschaftler und Ingenieure. Keinen Haarschnitt.«

»Oi!«

Selene stieß einen durchdringenden, hohen Pfiff aus, und Kas brummte gequält. Diese Tonsequenz wirkte auf die Zeitgobbles wie Fingernägel auf einer Tafel für das menschliche Ohr.

»Kein Grund … Zeitalarm: Puder deine Nase und überleg dir eine intelligente Antwort auf >Hey<«, unterbrach er sich selbst.

»Was?«, fragte Selene ungläubig, wandte sich jedoch augenblicklich zum Spiegel neben dem Tresen, um ihr Aussehen zu kontrollieren.

Zeitalarm bedeutete, dass Kas die Zeit eigens zurückgedreht hatte, um ihr das zu sagen, es musste also wichtig sein. Auch wenn es nun wirklich nicht so klang.

»Du hast gesagt, ich soll dir das ausrichten«, beschwerte sich der Gobble.

Ihr hüftlanges Haar glänzte seidig. Je nach Lichteinfall änderte es die Farbe – eine neue Spülung, die sie im Selbstversuch ausgetestet hatte. Im Augenblick war es dunkelblau, mit einem Stich ins Violette. Ihr Make-up bestand aus einem Lidstrich, der sich in Richtung der Schläfen in ein extravagantes Blumenmuster verwandelte. Jeder Strich saß absolut perfekt. In ihrem Job war das eigene Aussehen entscheidend, um den Kunden Vertrauen einzuflößen. Sie selbst war das Aushängeschild für die Arbeit, die sie leistete.

Neben ihr erklang der Summer der Tür und kündigte einen neuen Ladenbesucher an.

Selene wirbelte herum und setzte ein strahlendes Lächeln auf, um den Kunden zu begrüßen.

»Hey«, sagte der Außerirdische vor ihr mit einer angenehm tiefen Stimme.

»Ehehe«, machte Selene.

»Du solltest dir eine intelligente Antwort überlegen«, stöhnte Kas.

Der Neuankömmling war humanoid. Auf eine sehr ansprechende Art und Weise.

Er war etwas größer als ein durchschnittlicher Mensch, und seine Haut glänzte silbrig. Aber er hatte zwei Arme und zwei Beine, und der Kopf saß obenauf. Das war noch lange nicht selbstverständlich. Haare hatte er keine, stattdessen verlief ein härter wirkendes Material über seiner Schädeldecke. Am auffälligsten waren seine Wangenknochen, die scharf hervorstachen. Und natürlich die golden schimmernde Uniform, die ihn funkeln ließ wie eine frisch polierte Münze. An seiner Schulter prangte ein Abzeichen, das ihn als Kapitän eines Raumschiffes auswies. Hoher Besuch, zumindest für die schäbige Seite des Mondes.

Routinemäßig ließ Selene ihren Blick zu seinen Händen gleiten, denn die waren in der Regel sehr aufschlussreich, was die Spezies anging.

Auch die Hände waren humanoid, mit fünf Extremitäten, die ihren eigenen Fingern glichen. Zwischen den einzelnen Gelenken entdeckte sie jedoch dünne Schwimmhäute, was ihren Verdacht erhärtete.

Seine ganze Statur wirkte sehr aerodynamisch, und seine Haut schien von anderer Textur zu sein als ihre eigene. Vermutlich konstruiert für einen längeren Aufenthalt unter Wasser. Der Fremde stammte also wahrscheinlich von einem Planeten mit erdähnlichen Lebensbedingungen, jedoch mit noch größeren Wassermassen, die die Oberfläche bedeckten.

Während ihrer Ausbildung hatte Selene lernen müssen, solche Einordnungen in Sekundenschnelle vornehmen zu können. Unterschiedliche Spezies bedurften unterschiedlicher Behandlung. Jemand, der überwiegend im Wasser lebte, reagierte anders auf bestimmte Pflegeprodukte als jemand, dessen Heimat im Inneren eines Vulkans lag.

Und niemand beantwortete gerne unzählige Fragen. Es gehörte zum Service, dass sie die Bedürfnisse eines Kunden ermitteln konnte – und es erhöhte die Chancen auf ein gutes Trinkgeld.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie zuvorkommend, nachdem sie sich wieder einigermaßen gefangen hatte.

Der Fremde bot eine eindrucksvolle Erscheinung, und für einen Moment hatte diese Tatsache sie aus der Bahn geworfen. Er hatte offenbar eine gute Stellung und sah obendrein blendend aus: Er war die Art von Traumprinz, die einen auf seinem weißen Ross davontrug – möglicherweise in die Weiten der Galaxie hinaus. Nur, dass Geschichten wie diese nun einmal nicht wahr wurden – und man mit einem weißen Ross im luftleeren Raum des Weltalls ohnehin nicht weit kam.

»Sie sind doch Hair und Make-up Artist für intergalaktische Spezies?«, vergewisserte sich der Kapitän mit seiner volltönenden Stimme.

Ein kleiner blinkender Punkt am Kragen seiner Uniform teilte ihr mit, dass ein technischer Kommunikator die automatische Übersetzung seiner Worte vornahm.

»Ja«, bestätigte Selene und ergänzte etwas dümmlich: »Ich habe sogar das Zertifikat.«

Diese Stimme machte es ihr schwer, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Die Wangenknochen ebenfalls.

»Gut, denn Sie müssen etwas sehr Wichtiges für mich tun.«

Der Fremde griff in die Brusttasche seiner Uniform und zog ein rechteckiges Stück Papier daraus hervor.

Feierlich reichte er es ihr.

»Sie müssen dafür sorgen, dass ich ganz genau so aussehe.«

Kapitel 2: Professionelles Make-up für alle Spezies (auch permanent und semi-permanent)