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Tarjei Vesaas

DAS EIS-SCHLOSS

Aus dem Norwegischen von
Hinrich Schmidt-Henkel

Mit einem Nachwort von
Doris Lessing

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INHALT

ISISS UND UNN

1. SISS

2. UNN

3. EIN EINZIGER ABEND

4. NEBEN DEM WEG

5. DAS EIS-SCHLOSS

IIVERSCHNEITE BRÜCKEN

1. UNN IST VERSCHWUNDEN

2. DURCHWACHTE NACHT

3. BEVOR DIE MÄNNER GEHEN

4. FIEBER

5. IM TIEFSTEN SCHNEE

6. DAS VERSPRECHEN

7. UNN KANN NICHT AUSGELÖSCHT WERDEN

8. DIE SCHULE

9. DAS GESCHENK

10. DER VOGEL

11. EIN LEERER PLATZ

12. TRAUM VON VERSCHNEITEN BRÜCKEN

13. SCHWARZE TIERE AUF DEM SCHNEE

14. ERSCHEINUNG IM MÄRZ

15. EIN VERSUCH

IIIDIE HOLZBLÄSER

1. DIE TANTE

2. WIE DER TROPFEN UND DER AST

3. DAS SCHLOSS SCHOTTET SICH AB

4. TAUENDES EIS

5. EIN OFFENES FENSTE

6. HOLZBLÄSER

7. DAS SCHLOSS STÜRZT EIN

ANHANG

NACHWORT VON DORIS LESSING

BIOGRAFIEN

ISISS UND UNN

1. SISS

Eine junge, weiße Stirn, die durch die Dunkelheit drang. Ein elfjähriges Mädchen. Siss.

Es war eigentlich erst Spätnachmittag, aber schon dunkel. Hartgefrorener Spätherbst. Sterne, aber kein Mond und kein Schnee, also auch kein Lichtschimmer – dichte Dunkelheit, trotz der Sterne. Zu beiden Seiten totenstiller Wald – mit allem, das zu dieser Zeit darin leben und frieren mochte.

Siss hatte viele Gedanken, wie sie da ging, eingemummt gegen den Frost. Sie wollte zu dem Mädchen Unn, ihr noch halb unbekannt, zum ersten Mal, zu etwas, das sie nicht kannte, darum war es aufregend.

Sie fuhr zusammen:

Ein lautes Krachen mitten in diese Gedanken, in diese Erwartung. Ein langes, brechendes Krachen irgendwie – es eilte weiter und weiter, verlor sich dabei. Es kam vom Eis auf dem großen See weiter unten. Und es war keine Gefahr darin, im Gegenteil, es war fröhlich, das Krachen erzählte, dass das Eis noch ein klein wenig stärker geworden war. Es knallte wie Gewehrschüsse, und lange, messerdünne Risse liefen von der Oberfläche bis tief hinein – trotzdem war das Eis jeden Morgen stärker und sicherer. Es war ein ungewöhnlich langer und harter Kahlfrost-Herbst gewesen.

Knisternde Kälte. Aber vor der Kälte fürchtete Siss sich nicht. Davor nicht. Sie zuckte zusammen bei dem Krachen im Dunkeln, doch dann ging sie weiter, sicheren Tritts auf dem Weg.

Zu Unn war es nicht weit. Siss kannte den Weg, es war mehr oder weniger derselbe wie zur Schule – nur mit einem kleinen Abstecher. Darum durfte sie allein gehen, obwohl es nicht mehr hell war. Was das anging, waren Vater und Mutter nicht ängstlich. Den Hauptweg, sagten sie, als Siss an diesem Abend losging. Sollten sie das ruhig sagen. Siss hatte selbst Angst im Dunkeln.

Den Hauptweg. Trotzdem war das so eine Sache, jetzt allein hier langzugehen. Es machte die Stirn weit und hoch. Ihr Herz pochte ein wenig gegen das warme Mantelfutter. Ihre Ohren waren hellwach – weil es beiderseits des Wegs allzu still war, und es war ja auch klar, dass noch wachere Ohren dort drinnen nach einem selbst lauschten.

Darum musste man sicheren Tritts auf dem steinharten Weg gehen, die Schritte mussten zu hören sein. Gab man der Versuchung nach, sich voranzustehlen, war man erledigt. Ganz zu schweigen davon, wenn man aus Dummheit in Laufschritt verfiel. Das artete bald in sinnloses Gerenne aus.

Siss musste heute Abend zu Unn gehen. Und sie würde es leicht schaffen, die Abende waren ja jetzt lang. Die Dunkelheit kam so früh, dass Siss eine gute Weile bei Unn verbringen und trotzdem zur üblichen Bettzeit wieder zu Hause sein konnte.

Wer weiß, was ich wohl bei Unn Neues erfahre. Sicher erfahre ich was Neues bei ihr. Hab den ganzen Herbst darauf gewartet, seit dem ersten Tag, als die fremde Unn in die Schule kam. Ich weiß nicht warum.

Dass sie sich treffen wollten, war so neu und frisch, es hatte sich gerade an diesem Tag ergeben. Nach langer Vorbereitung ganz urplötzlich.

Unterwegs zu Unn. Mit fein bebender Erwartung drinnen. Die glatte Stirn spaltete einen eiskalten Strom.

2. UNN

Unterwegs zu etwas Aufregendem – Siss dachte darüber nach, was sie von Unn schon wusste, während sie selbst steif und zügig weiterging und versuchte, die Angst vor der Dunkelheit wegzuschieben.

Wenig wusste sie. Und es hätte nichts gebracht, die Leute hier zu fragen, die würden auch kaum mehr über Unn erzählen können.

Unn war so neu hier, war im letzten Frühling ins Dorf gekommen – aus einem recht weit entfernten Ort, zu dem es keine Verbindung gab.

Unn war hierhergekommen, nachdem sie im Frühling zur Waise geworden war, so wurde erzählt. Ihre Mutter war krank geworden und gestorben, in ihrem Heimatort irgendwo. Die Mutter war unverheiratet gewesen und ohne Verwandte dort, aber hier im Dorf wohnte ihre ältere Schwester, und zu dieser Tante war Unn gekommen.

Ihre Tante lebte schon sehr lange hier. Siss kannte sie kaum, obwohl es zu ihr nicht weit war. Sie lebte völlig allein in ihrem Häuschen und kam irgendwie zurecht. Meist war nichts von ihr zu sehen, man konnte ihr auf dem Weg in den Laden begegnen. Siss hatte sagen hören, Unn sei in dem Haus herzlich willkommen gewesen. Einmal war Siss mit ihrer Mutter dorthin gegangen, wegen irgendeiner Handarbeit, die ihre Mutter dringend machen lassen musste. Es war ein paar Jahre her, bevor überhaupt jemand wusste, dass es Unn gab. Die Frau saß einsam in ihrem Haus und war liebenswürdig gewesen, daran erinnerte Siss sich. Man hörte auch nie ein böses Wort über sie.

Mit Unn ging es ebenso, als sie kam: Sie schloss sich den anderen Mädchen nicht sofort an – anders als diese erwartet und gehofft hatten. Sie sahen sie kurz unterwegs und sonst an Orten, wo man ohnehin andere Leute traf. Sie sahen einander als Fremde an. Das war nicht überraschend. Sie war eine Waise, das verlieh ihr ein eigenes Licht, einen Schein, den die anderen nicht recht erklären konnten. Sie wussten auch, dass diese Fremdheit bald vorüber sein würde: Im Herbst würden sie einander in der Schule begegnen – und damit wäre das erledigt.

Siss hatte auch nichts unternommen, um sich den Sommer über Unn zu nähern. Sie sah Unn ab und zu zusammen mit der alten freundlichen Tante. Bei diesen Begegnungen hatte sie gesehen, dass sie beide ungefähr gleich groß waren. Sie sahen einander verwundert an und gingen weiter. Warum verwundert, wussten sie wohl nicht, aber aus irgendeinem Grund –

Unn war so schüchtern, hieß es. Das klang interessant. Alle Mädchen waren neugierig auf die Begegnung mit der schüchternen Unn in der Schule.

Siss freute sich aus einem besonderen Grund darauf: Sie war wie ganz von selbst die Anführerin der Spiele in der Freizeit. Sie war daran gewöhnt, diejenige zu sein, die sich etwas einfallen ließ, hatte nie darüber nachgedacht, es war einfach so, und es missfiel ihr nicht. Sie freute sich darauf, die Anführerin zu sein, wenn Unn dazukam und aufgenommen wurde.

Als die Schule anfing, sammelte die Klasse sich wie immer um Siss, Mädchen wie Jungen. Sie spürte, dass ihr das auch dieses Jahr wieder gefiel, und tat vielleicht auch das eine oder andere, um diese Stellung zu halten.

Die schüchterne Unn stand ein Stückchen abseits. Sie sahen neugierig zu ihr hinüber und befanden sie im selben Moment für gut. War nichts gegen sie zu sagen, wie es aussah. Das Mädchen schien in Ordnung zu sein. Gut zu leiden.

Aber sie blieb abseits stehen. Sie versuchten dies und das, um sie anzulocken, es nutzte nichts. Siss stand in ihrer Gruppe und wartete auf sie, und so verging der erste Tag.

So vergingen mehrere Tage. Unn machte keine Anstalten näherzukommen. Schließlich ging Siss zu ihr hin und fragte:

– Kommst du nicht?

Unn antwortete mit einem Kopfschütteln.

Aber sie sahen bald, dass sie einander mochten. Ein besonderer Funken sprang zwischen ihnen über. Die will ich kennenlernen! Unbegreiflich, aber gewiss.

Siss wiederholte verwundert:

– Kommst du nicht zu uns?

Unn lächelte verlegen.

– Ach nein …

– Warum denn nicht?

Unn lächelte immer noch verlegen.

– Ich kann nicht …

Zugleich war da ein lockendes Spiel zwischen ihnen im Gange, fand Siss.

– Was passt dir nicht?, fragte Siss etwas schroff und dumm, es tat ihr gleich sehr leid. Unn wirkte nicht so, als ob ihr etwas nicht passte. Ganz im Gegenteil.

Unn wurde ein wenig rot.

– Nein, das ist es nicht, aber …

– Ich hab das auch nicht so gemeint! Aber mach doch mit, das wäre schön.

– Frag mich das nicht mehr, sagte Unn.

Das wirkte auf Siss wie ein kalter Guss, und sie verstummte. Ging gekränkt zurück zu ihren Freundinnen und berichtete.

Und sie fragten sie nicht mehr. Unn sollte abseits stehen, wenn sie wollte, sie nahm nicht an den Vergnügungen der anderen teil. Es hieß, sie sei eingebildet, aber das blieb nicht an ihr hängen, und niemand hänselte sie – sie hatte so etwas an sich, das alles dergleichen aufhielt.

Im Unterricht zeigte sich sofort, dass Unn zu den Gescheitesten gehörte. Aber sie ließ es die anderen nicht spüren, und die bekamen einen etwas widerwilligen Respekt vor ihr.

Siss beobachtete das alles genau. Spürte, dass Unn stark an ihrem einsamen Platz auf dem Schulhof stand – sie war keine arme Verlorene. Siss setzte alles ein, um die anderen um sich zu sammeln, und es gelang ihr – und doch hatte sie das Gefühl, Unn da drüben sei stärker, obwohl sie nichts tat und niemanden bei sich hatte. Sie war dabei, Unn zu unterliegen, und vielleicht sahen die anderen das auch so? Sie wagten nur nicht wegzugehen. Unn und Siss standen da wie zwei Parteien, doch ging das still vor sich, es war eine Sache zwischen Siss und dem Neuankömmling. Wurde mit keinem Wort erwähnt.

Bald kam es vor, dass Siss im Unterricht Unns Blicke auf sich spürte. Unn saß ein paar Pulte weiter hinten, da ging das gut.

Siss spürte es als ein seltsames Kribbeln im Körper. Es gefiel ihr derart, dass sie es kaum verbergen konnte. Sie tat, als ob nichts wäre, fühlte sich aber in etwas Fremdes, Gutes eingesponnen. Das waren keine forschenden oder missgünstigen Blicke, es lagen Wünsche in ihnen – wenn Siss schnell war und sie aufschnappte. Erwartung war es. Sobald sie draußen waren, tat Unn so, als ob nichts wäre, kam ihr nicht näher. Aber es war einfach so, Siss spürte das süße Kribbeln: Hinter mir sitzt Unn und schaut mich an.

Fast immer achtete sie darauf, diesen Blicken nicht zu begegnen, wagte es noch nicht – nur ein paar hastige Male, wenn sie sich vergaß.

Aber was will Unn?

Eines Tages sagt sie es.

Draußen stand sie an der Wand und nahm an keinem Spiel teil. Stand da und beobachtete die anderen ruhig.

Warten. Man musste warten, dann würde es eines Tages schon kommen. Bis dahin konnte es so bleiben, wie es jetzt war, und das war ja auch schon besonders.

Den anderen gegenüber durfte sie sich nie etwas anmerken lassen. Sie meinte, das würde ihr gelingen. Dann sagte eine Freundin etwas neidisch zu ihr:

– Du bist ja ganz schön mit Unn beschäftigt.– Nein.

– Nein? Du glotzt unablässig zu ihr hin, denkst du, das fällt uns nicht auf?

Tu ich das?, fragte Siss sich verwirrt.

Ihre Freundin lachte säuerlich.

– Das sehen wir alle schon die ganze Zeit, Siss.

– Gut, dann tu ich das eben, kann ich doch, so viel ich will!

– Pff.

Siss dachte viel darüber nach. Und dann passierte es schließlich, jetzt. Jetzt und heute. Darum ging sie durch den Wald.

Heute früh lag der erste Zettel auf Siss’ Pult, als sie sich hinsetzen wollte:

Will dich treffen, Siss.

Unterschrift: Unn.

Ein Strahl von irgendwoher.

Sie drehte sich um und begegnete dem Blick. Sie vertieften sich ineinander. Eigenartig. Mehr wusste man nicht, mehr konnte man nicht dazu denken.

Zettel waren an diesem guten Tag hin und her gegangen. Viele Hände halfen ihnen von Pult zu Pult.

Will dich auch gern treffen.

Unterschrift: Siss.

Wann kann ich dich treffen?

Wann du willst, Unn! Heute.

Dann will ich heute.

Willst du heute mit zu mir kommen, Unn?

Nein. Du musst zu mir kommen, sonst will ich nicht.

Siss drehte sich rasch um. Was war das? Sie begegnete dem Blick, sah Unn nicken, ja, es war so, wie es auf dem Zettel stand. Siss überlegte keine Sekunde lang, sie schickte die Antwort:

Komme zu dir.

Damit endeten die Zettel. Miteinander redeten sie aber erst nach der Schule. Da standen sie beieinander und sprachen schnell und verlegen. Siss fragte, ob Unn nicht doch mit zu ihr kommen wollte?

– Nein, warum?, fragte Unn.

Siss ließ es sein. Sie wusste, es war, weil sie dachte, sie hätte irgend etwas, das Unns Tante nicht hatte – außerdem war sie es gewohnt, dass die Freundinnen zu ihr kamen. Sie schämte sich und konnte Unn das nicht erzählen.

– Nein, nur so, sagte sie.

– Du hast gesagt, du kommst zu mir, also.

– Ja, aber ich kann nicht gleich mitkommen, ich muss erst heim, damit sie wissen, wo ich bin.

– Ja, mach das.

– Dann komme ich heute Abend, sagte Siss verzaubert. Wovon verzaubert, das war das Unbegreifliche. Von dem, was in ihren Augen Unn überhaupt ganz umgab.

Das war, was Siss über Unn wusste – und jetzt war Siss unterwegs zu ihr, nachdem sie zu Hause Bescheid gesagt hatte.

Die Kälte biss nach ihr. Unter ihren Füßen knirschte es, und das Eis unten krachte.

Jetzt tauchte das kleine Häuschen von Unn und ihrer Tante auf. Es leuchtete zwischen weiß bereiften Birken hervor. Das Herz klopfte vor Freude und Erwartung.

3. EIN EINZIGER ABEND

Unn hatte wohl am Fenster gestanden und nach Siss geschaut, denn sie kam heraus, bevor Siss die Türschwelle erreicht hatte. Sie trug dieselben langen Hosen wie in der Schule.

– Es ist ganz schön dunkel, was?, fragte sie.

– Dunkel? Ja, aber das macht nichts, antwortete Siss, obwohl sie auf dem Weg durch die Dunkelheit und das dichte Waldstück ziemlich angespannt gewesen war.

– Und kalt war es wohl auch? Es ist heute Abend ganz grausig kalt.

– Hat auch nichts gemacht, sagte Siss.

Unn sagte:

– Ich freue mich, dass du herkommen wolltest. Die Tante sagt, du warst erst ein einziges Mal hier, da warst du noch ziemlich klein.

– Ja, ich erinnere mich daran. Da hab ich noch nichts von dir gewusst.

Beim Reden maßen sie einander mit Blicken. Die Tante kam heraus, freundlich lächelnd.

– Ja, das ist also meine Tante, sagte Unn.

– Guten Abend, Siss. Komm schnell rein, es ist draußen zu kalt, um so herumzustehen. Komm ins Warme und leg ab.

Unns Tante sprach freundlich und ruhig. Sie kamen in das kleine warme Häuschen. Siss zog sich die steifgefrorenen Stiefel von den Füßen.

– Weißt du noch, wie es damals hier aussah, als du mal hier warst?, fragte die Tante.

– Nein.

– Es hat sich auch nichts verändert, es sieht genau so aus wie damals. Du warst mit deiner Mutter hier, daran erinnere ich mich gut.

Die Tante schien plauderselig zu sein, sie hatte ja auch nur selten Gelegenheit dazu. Unn musste zuwarten, dass sie ihren Gast endlich für sich hatte. Ihre Tante war noch nicht soweit.

– Seitdem habe ich dich nur woanders gesehen, Siss. Du hattest ja auch nie einen Grund, mich zu besuchen – bis heute, weil Unn zu mir ins Haus gekommen ist. Das ist jetzt etwas anderes. Ja, ich habe Glück, dass Unn zu mir gezogen ist.

Unn stand ungeduldig daneben.

Die Tante sagte:

– Ich sehe es dir an, Unn. Aber nur die Ruhe. Erst muss Siss etwas Warmes in den Leib bekommen.

– Mir ist nicht kalt.

– Es steht fertig auf dem Herd, sagte die Tante. Ich finde, es ist zu kalt und zu spät, um zu der Tageszeit und bei dem Wetter draußen unterwegs zu sein. Du hättest an einem Sonntag kommen sollen.

Siss sah Unn an und antwortete:

– Konnte ich aber nicht, es ist ja heute.

Die Tante lachte. Wohlgelaunt.

– Nein, na dann …

– Und ich komme rechtzeitig nach Hause, bevor Mutter und Vater ins Bett gehen, sagte Siss.

– Na, dann komm mal her und trink das hier.

Sie genossen das gute Getränk, das die Tante ihnen gab. Wurden warm. Die Spannung lag schön verlockend um Siss. Jetzt würden sie bald allein sein.

Unn sagte:

– Ich habe ein eigenes Zimmer. Da gehen wir jetzt rein.

Ein Zucken durchlief Siss. Jetzt fing es an.

– Du hast sicher auch ein eigenes Zimmer, Siss?

Siss nickte.

– Dann komm.

Die freundliche, redefreudige Tante sah aus, als würde sie am liebsten mit in Unns Zimmer kommen. Aber das wurde ihr ganz offensichtlich nicht gestattet. Unn beendete das Gespräch so entschlossen, dass die Tante auf ihrem Stuhl sitzenblieb.

Unns Zimmer war winzig, und Siss fand gleich, dass es etwas Eigenes an sich hatte. Zwei kleine Lampen spendeten Licht. An den Wänden hingen zahlreiche Zeitungsausschnitte, dazu ein Foto von einer Frau, die Unn so ähnlich sah, dass man nicht zu fragen brauchte, um wen es sich handelte. Kurz darauf erkannte Siss, dass das Zimmer gar nicht so besonders war, im Gegenteil, es glich Siss’ eigenem Zimmer.

Unn blickte Siss etwas fragend an. Siss sagte:

– Ein gemütliches Zimmer hast du.

– Wie ist deins? Ist es größer?

– Nein, ungefähr so.

– Man braucht auch kein größeres.

– Nein, braucht man nicht.

Sie mussten erst etwas ins Leere reden, um in Gang zu kommen. Siss saß auf dem einzigen Stuhl, den es hier gab, und streckte die Langehosenbeine aus. Unn saß auf dem Bettrand und baumelte mit den Beinen.

Sie nahmen sich zusammen. Sahen sich prüfend an. Maßen einander mit Blicken. Das hier war nicht so ganz einfach – aus irgendeinem verborgenen Grund. Dass sie so gern beieinander sein wollten, machte sie verlegen. Ihre Blicke begegneten sich voll Einverständnis, mit einer Art Sehnsucht, und doch waren sie zutiefst befangen.

Unn sprang vom Bett und zog die Tür zu. Dann drehte sie den Schlüssel herum.

Das Geräusch ließ Siss zusammenzucken, sie fragte rasch:

– Warum tust du das?

– Oh. Falls sie reinkommt.

– Hast du davor Angst?

– Angst? Ich glaub nicht. Das ist es nicht. Aber ich habe gedacht, wir wollen allein sein, du und ich. Niemand soll hier jetzt reinkommen!

– Nein, niemand soll hier jetzt reinkommen, bestätigte Siss, und sie spürte die Freude aufkommen. Spürte, wie die Verbindung zu Unn sich zu knüpfen begann. Wieder saßen sie beide still da. Unn fragte:

– Wie alt bist du, Siss?

– Elf seit einer Weile.

– Ich bin auch elf.

– Wir sind ungefähr gleich groß.

– Ja, wir sind fast gleich groß.

Obwohl sie sich zueinander hingezogen fühlten, kam das Gespräch nur schwer in Gang. Ihre Finger spielten mit Dingen in Reichweite, sie ließen ihre Blicke wandern. Es herrschte eine behagliche, gute Wärme. Das hatte natürlich mit dem bullernden Ofen zu tun, aber nicht nur mit dem. Wären sie nicht auf einer Wellenlänge gewesen, hätte auch ein bullernder Ofen nicht viel geholfen.

In dieser Wärme fragte Siss:

– Gefällt es dir bei uns?

– Ja, es gefällt mir gut bei meiner Tante.

– Sicher, das habe ich nicht gemeint. Ich meine, in der Schule, und … warum du nie …

– Ach das, ich hab doch gesagt, du sollst danach nicht fragen, sagte Unn kurz angebunden, aber da hatte Siss ihre Frage schon bereut.

– Bleibst du für immer hier?, fragte sie rasch – das war doch wohl ungefährlich. Gab es hier etwas Gefährliches? Nein, wohl nicht, aber man fühlte sich auch nicht ganz sicher, da durfte man nicht unbedacht sein.

– Ja, ich bleibe hier, antwortete Unn, ich habe niemanden mehr als die Tante.

Wieder sagten sie nichts. Dann fragte Unn wie als Versuch:

– Warum fragst du nicht nach meiner Mutter?

– Was?

Siss wich mit den Augen aus und sah an die Wand, als hätte man sie bei etwas ertappt.

– Weiß nicht …, sagte sie.

Sie begegnete Unns Blick wieder. An dem gab es kein Vorbei. An der Frage auch nicht. Sie musste antworten, denn es ging um etwas Wichtiges. Sie stotterte:

– Na ja, weil sie im Frühling gestorben ist. Das habe ich gehört.

Unn sagte laut und deutlich:

– Mutter war auch nicht verheiratet. Darum ist hier kein … Sie hielt inne.

Siss nickte.

Unn redete weiter:

– Diesen Frühling ist sie krank geworden und gestorben. Mutter war nur eine Woche lang krank. Dann ist sie gestorben.

– Ja …

Gut, dass das gesagt war, es war wie eine Erleichterung im Zimmer zu spüren. Die gesamte Nachbarschaft wusste, was Unn da gesagt hatte, ihre Tante hatte dies und noch mehr erzählt, als Unn im Frühling kam. Wusste Unn das nicht? Dennoch musste es angesprochen werden in dieser Einleitung zu der Freundschaft, die sie knüpfen wollten. Etwas stand noch aus. Unn sagte:

– Weißt du etwas über meinen Vater?

– Nein!

– Ich auch nicht, nur das bisschen, was meine Mutter mir erzählt hat. Ich habe ihn nie gesehen. Er hatte ein Auto.

– Ja, sicher.

– Wieso?

– Na … viele Leute haben Autos.

– Ja, stimmt. Ich habe ihn nie gesehen. Jetzt habe ich nur noch meine Tante. Bei der bleibe ich für immer.

Ja!, dachte Siss. Unn bleibt für immer. Unn hatte klare Augen, mit denen sie Siss bannte, jetzt wie auch schon beim allerersten Mal. Ab jetzt war von Eltern nicht wieder die Rede. Siss’ Vater und Mutter wurden nie erwähnt. Siss war sicher, dass Unn alles über sie wusste, sie wohnten in einem guten Haus, Vater hatte eine gute Stellung, sie hatten alles, was sie brauchten, es gab nichts Erzählenswertes. Unn fragte auch mit keinem Wort. Als ob Siss weniger Eltern hätte als Unn.

Aber ihr fielen Geschwister ein.

– Du hast sicher Geschwister, Siss?

– Nein, ich bin allein.

– Dann passt es gut, sagte Unn.

Es wurde Siss klar, worauf Unns Worte eigentlich hinausliefen: Sie würde für immer hierbleiben. Ihre Freundschaft lag offen vor ihnen wie ein verlockender Weg in die Zukunft. Etwas Großes war geschehen.

– Ja, natürlich passt es gut. Dann können wir uns öfter treffen.

– Wir sehen uns ja jeden Tag in der Schule.

– Ja, das auch.

Sie lachten sich kurz zu. Jetzt war es leicht. So sollte es sein. Unn nahm einen Spiegel von einem Haken an der Wand neben dem Bett und setzte sich wieder hin, den Spiegel im Schoß.

– Komm her.

Siss wusste nicht, was sie erwartete, setzte sich aber neben Unn auf die Bettkante. Sie hielten den Spiegel jede auf ihrer Seite, hielten ihn vor sich, saßen ganz still beieinander, fast Wange an Wange.

Was sahen sie?

Sie verloren sich in dem Anblick, ehe sie es wussten.

Vier Augen voller Funkeln und Strahlen unter den Wimpern. Der ganze Spiegel davon erfüllt. Fragen, die hochschießen und sich zurückziehen. Ich weiß nicht: Funkeln und Strahlen, Funkeln von dir zu mir, von mir zu dir, und von mir allein zu dir – in den Spiegel hinein und zurück, und keine Antwort darauf, was das jetzt ist, keine Auflösung. Deine vollen roten Lippen, nein, das sind ja meine, so ähnlich! Das Haar auf dieselbe Art, und Funkeln und Strahlen. Das sind wir beide! Wir können nichts daran tun, es ist wie aus einer anderen Welt. Das Bild beginnt zu schweben, verläuft zu den Rändern hin, zieht sich wieder zusammen, nein, tut es nicht. Da ist ein lächelnder Mund. Ein Mund aus einer anderen Welt. Nein, das ist kein Mund, das ist kein Lächeln, und was das ist, weiß niemand – das sind nichts als aufgerissene Wimpern über Funkeln und Strahlen.

Sie ließen den Spiegel sinken, sahen einander mit geröteten Gesichtern an, verwirrt. Sie leuchteten einander an, gingen ineinander über, es war ein unfassbarer Moment.

Siss fragte:

– Unn, hast du das gewusst?

Unn fragte:

– Hast du es auch gesehen?

Mit einem Mal war es nicht mehr so leicht. Unn schüttelte sich. Sie mussten ein wenig abwarten und sich nach diesem merkwürdigen Erlebnis fassen.

Nach einer Weile sagte eine von ihnen: