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Ursula Isbel

Reiterhof Dreililien 1 – Das Glück dieser Erde

 

Saga

1

Es war ein stürmischer Frühlingsabend, als Kirsty zum erstenmal zu uns kam, und dieser Abend veränderte unser Leben. Heute weiß ich das, doch damals wollte ich es nicht wahrhaben. Ich wehrte mich gegen sie, denn ich dachte, daß sie mir meinen Vater wegnehmen wollte. Und ich hatte doch nur noch ihn, seit Mutter gestorben war.

Und weil ich Angst vor ihr hatte, haßte ich sie. Ich haßte sie, ehe ich sie noch kennengelernt hatte. Der Haß begann, als Vater mir von ihr erzählte – vorsichtig, mit verhaltener Zärtlichkeit, als wollte er mir von einem Schatz berichten, den er gefunden hatte.

„Ich habe eine Frau kennengelernt, Elinor“, sagte er. „Sie ist anders als andere. Ich möchte, daß du sie kennenlernst – daß ihr euch kennenlernt. Du wirst sie gern haben; man muß Kirsty einfach gern haben.“

Ich spürte einen Stich im Herzen. Trotzig dachte ich: Muß man? Und in diesem Augenblick war ich sicher, daß ich sie nicht mögen würde.

Dann, eine Woche nach diesem Gespräch, kam Kirsty in unsere Wohnung. Vater hatte in einem Feinkostladen eingekauft, den Tisch feierlich mit Kerzen und unserem besten Geschirr gedeckt und so getan, als merkte er nicht, daß ich ihm nicht dabei half. Ich saß vor dem Fernseher, sah mir ein albernes Programm an und rauchte, obwohl ich das sonst eigentlich kaum tat.

Ich sah auch nicht auf, als es an der Tür klingelte. Mein Vater fuhr zusammen, warf mir einen hilflosen Blick zu – ich sah es aus den Augenwinkeln – und eilte in den Flur.

In meiner Kehle saß ein Kloß, der sich immer mehr auszudehnen schien. Als ich draußen Stimmen horte, reichte er schon fast bis in den Magen.

Sie hatte eine helle, etwas brüchige Stimme, die jung und ziemlich atemlos klang. „Es stürmt so draußen“, hörte ich sie sagen, und mein Vater murmelte etwas, was ich nicht verstand. Dann trat einen Augenblick Stille ein. Was taten sie? Küßten sie sich? Ich erstarrte bei dem Gedanken.

Mein Väter kam wieder ins Wohnzimmer. Ich hörte an seinen Schritten, wie nervös er war. Noch immer sah ich nicht auf. Ich starrte auf den Bildschirm, ohne zu sehen, was gezeigt wurde.

„Elinor“, sagte Vater bittend, „ich möchte dir Kirsty vorstellen. “

Ich drehte den Kopf nur leicht zur Seite und nahm die Zigarette aus dem Mund. „Ja?“ erwiderte ich möglichst lässig.

Sie war klein – kleiner als ich – und zierlich. Ihre Haare waren goldbraun und nach hinten gekämmt. Erst später merkte ich, daß sie sie im Nacken zu einem dicken Zopf geflochten hatte.

Als sich unsere Blicke begegneten, sah ich, daß sie angespannt und unsicher war. Und ich dachte triumphierend: Sie hat Angst vor mir.

„Kirsty“, sagte mein Vater, „das ist Elinor.“

„Hallo, Elinor“, sagte Kirsty.

„Hallo“, murmelte ich.

Ich weiß, daß sie mir gefallen hätte, wenn wir uns unter anderen Umständen begegnet wären. Sie trug einen alten Bauernrock mit Rosen darauf, der ihr bis zu den Waden reichte, eine bestickte Bluse mit einer kleinen Schafwollweste, und sie sah durchaus nicht wie eine Durchschnittsfrau um die Dreißig aus. Doch da ich sie von Anfang an zu meiner erklärten Feindin gemacht hatte, nahm ich es ihr zusätzlich übel, daß sie so anziehend wirkte.

Mein Vater stellte den Fernseher ab und bot Kirsty Platz an. Ich blieb im Sessel sitzen, rauchte weiter und wäre am liebsten weggelaufen.

Während Vater den Tee aus der Küche holte, herrschte unbehagliches Schweigen. Der Wind heulte ums Haus, und die Stimmung war scheußlich. Ich hatte sie verdorben, das wußte ich. Doch ich konnte und wollte es nicht ändern.

„Setz dich doch zu uns“, sagte Vater, als er zurückkam.

Ich erwiderte: „Ich habe keinen Hunger.“

Das stimmte auch. Der Kloß, der mir in der Kehle, in der Brust und im Magen saß, hatte sich so ausgeweitet, daß ich sicher war, keinen Bissen hinunterzubringen.

Mein Vater stellte die Teekanne ab und trat vor mich hin. „Elinor“, sagte er. „Bitte!“

Da stand ich auf und setzte mich an den Tisch, Ich merkte selbst, daß meine Bewegungen plötzlich hölzern waren, fast wie die einer Marionette. Ich zerdrückte die Zigarette in einem Teller, zog eine neue Packung aus der Jackentasche und zündete mir wieder eine an.

„Mußt du rauchen?“ fragte Vater.

„Ja“, sagte ich, obwohl es mir überhaupt nicht schmeckte.

So begann dieser Abend, so begann meine Beziehung zu Kirsty. Ich aß fast nichts und sprach kein Wort, und mein Vater redete verzweifelt drauf los. Obwohl ich wütend und verletzt war, tat er mir doch auch leid. Seit drei Jahren lebten wir nun allein, und er hatte nichts als mich und seine Arbeit. Er war gerade vierzig; sicher brauchte er mehr als nur eine kameradschaftliche Tochter und eine leidlich gemütliche Wohnung. Aber ich war gerade fünfzehn, und ich brauchte ihn auch . . .

Liebe . . . Unwillkürlich sah ich Kirsty an. Sie lächelte gerade über etwas, das Vater gesagt hatte, und ich merkte, daß sie ein Grübchen im linken Mundwinkel hatte. Dann drang auch das Gespräch zwischen den beiden in mein Bewußtsein vor.

Vater sagte gerade: „Sie muß dir ziemlich ähnlich gewesen sein“, und Kirsty lachte wieder und antwortete: „Ja, das könnte stimmen. Ich erinnere mich oft an eine Szene, als ich sie einmal am Wochenende besuchte. Sie frühstückte gerade in der Küche, und zwischen der Butter und dem Marmeladentopf saß eines ihrer Perlhühner auf dem Tisch und fraß Kuchenbrösel.“

Mein Vater wollte sich ausschütten vor Lachen. Ich aber hatte an diesem Abend keinen Sinn für Humor. Außerdem wußte ich nicht, um wen es ging.

„Tante Karen ist vor einem Jahr gestorben und hat mir ihr Haus und das Grundstück vererbt“, sagte Kirsty, und ihre Stimme war nun wieder ernst. „Ich hatte nie damit gerechnet, daß sie so etwas tun würde. Ich dachte, sie würde alles dem Tierschutzverein vermachen.“

„Und was ist aus dem Haus geworden?“ fragte mein Vater. „Hast du es verkauft?“

Kirsty schüttelte den Kopf. „Nein, das könnte ich nicht. Ich fahre ab und zu hin. Manchmal denke ich, daß ich gern dort leben würde. Es ist sehr friedlich da, eigentlich so etwas wie ein kleines Paradies. Und ich vermute, daß Tante Karen insgeheim gehofft hat, ich würde nach ihrem Tod in ihr Haus ziehen.“

„Möchtest du denn nicht aufs Land?“ fragte Vater.

„Nicht allein“, sagte Kirsty. „Ich stelle es mir wunderbar vor, mit einer Familie dort zu leben. Manchmal, wenn hier in der Stadt alles so grau und schmutzig und laut ist, würde ich am liebsten meine Sachen packen und zu Tante Karens Haus fahren. Aber ich kenne mich zu gut; ich weiß, daß ich nicht längere Zeit so allein und abgeschieden leben könnte.“

„Ich bin auf dem Land aufgewachsen“, sagte mein Vater nachdenklich. „Und ich träume eigentlich schon lange davon, wieder auf dem Land zu leben. Stimmt’s, Elinor?“

Es stimmte, doch ich tat so, als hätte ich seine Frage nicht gehört. Sollte das heißen, daß er überlegte, ob wir mit in dieses Haus ziehen sollten, das Kirstys Tante gehört hatte – als Kirstys „Familie“?

Ich erschrak und dachte: So weit darf es nicht kommen. Daran darf er nicht einmal denken! Ich möchte in der Stadt bleiben; Hierher gehöre ich. Ich will mich nicht auf dem Land vergraben. Ich würde sterben vor Langeweile. Was soll ich unter Hühnern und Dorftrotteln? Keiner wird mich je dazu bringen, aufs Land zu ziehen...

Ich war so sicher, daß nichts und niemand mich dazu bewegen könnte, meine Meinung zu ändern. Zwei Wochen später aber, zu Beginn der Osterferien, fuhren wir doch aufs Land – zu Tante Karens Haus.

2

Vater hatte immer wieder versichert, es wäre ja nur für zwei Wochen, nur für einen kurzen Urlaub. „Du weißt doch, ich hatte das ganze letzte Jahr keine Ferien und habe ein bißchen Erholung dringend nötig“, sagte er.

Schließlich hatte ich nachgegeben. Doch ich nahm mir vor, mich während dieser Ferien von meiner schlechtesten Seite zu zeigen und sowohl Vater als auch Kirsty die Freude am Landleben gründlich zu verderben, damit sie gar nicht erst auf die Idee kamen, einen Dauerzustand daraus zu machen. Ich wollte mich so unmöglich benehmen, daß sie beide froh waren, wenn wir Tante Karens Haus den Rücken kehrten und in die Stadt zurückfuhren. Dann aber kam alles anders, als ich erwartet hatte.

In der Stadt regnete es, als wir losfuhren, und auf dem Land goß es wie aus Kübeln. Die meisten Bäume waren noch kahl, das Gras braun vom Winter. Mein Vater fuhr, und Kirsty saß neben ihm. Sie hatte ihren Hund mitgebracht. Er kauerte neben mir auf dem Rücksitz und tat so, als wäre ich nicht vorhanden.

Ich habe Hunde gern, doch dies war Kirstys Hund; und ich glaube, er spürte meine Abneigung gegen sie. Als wir Kirsty abholten, hatte er mich nur kurz angesehen und mich nicht einmal beschnuppert, während er meinen Vater mit einem gnädigen Schwanzwedeln begrüßte. Er war ein halbhoher Bastard mit wuscheligen, dunkelbraunen Locken, Schlappohren und dicken Pfoten. Um die Schnauze war er schon etwas grau. Kirsty nannte ihn „Herr Alois“.

Herr Alois saß also neben mir und seufzte von Zeit zu Zeit abgrundtief, die Nase auf den Pfoten. Ich versuchte nicht, ihn Zu streicheln, weil mir klar war, daß er etwas dagegen hatte. Eigentlich wirkte er ziemlich kummervoll. Bei einer besonders scharfen Kurve drehte sich Kirsty um, streichelte den Hund und sagte: „Ihm wird beim Fahren so leicht schlecht.“

In der Ferne sah man schon die Berge. Wir verließen die Autobahn und bogen auf eine kleine Landstraße ab, die durch ein verschlafenes Nest führte. Natürlich war kein Mensch unterwegs. Alles wirkte wie ausgestorben. Vermutlich saßen die Bauern in ihren Häusern und schliefen auf ihren Ofenbänken oder machten komische Volksmusik, wie man sie manchmal im Radio hört.

Bei dem Gedanken, wie die Leute hier leben mußten, lief mir ein Schauder über den Rücken. Neben einem Haus am Straßenrand standen ein paar triefnasse Schafe und blökten. Herr Alois raffte sich trotz seiner Übelkeit auf und bellte durch die Scheibe, daß es mir in den Ohren gellte.

Wir fuhren über eine Brücke, an einer Mühle vorbei und durch ein Waldstück, wo das Wasser von den Abhängen auf die Straße sprudelte, so daß wir nur noch im Schrittempo fahren konnten. Dann ging es in Schlangenlinien bergauf. Rechts stand ein Wegkreuz ohne Christusfigur, links streckte ein verwitterter Baum seine dürren Äste gegen den Himmel, und mir kam es vor, als würde ich geradewegs in die Verbannung fahren.

Ausgerechnet da sagte mein Vater: „Schön ist es hier!“

Diesmal seufzte ich, doch keiner außer Herrn Alois schien es zu hören. Er spitzte die Ohren, rollte mit den Augen und schloß sie dann voller Überdruß. Vor uns tauchte eine Ortstafel im Regen auf. Jägerhäusl, Mariabrunn, Dreililien, stand darauf.

„Dreililien“, wiederholte Vater. „Ist es das?“

Kirsty nickte. „Ja. Hinter der Biegung geht’s scharf nach links.“

Wir fuhren einen Berg hinauf und wieder hinunter. Hinter Regenschleiern tauchte eine Kirche auf. Sie stand auf einer Anhöhe und sah aus wie eine Dorfkirche im Bilderbuch.

Wie groß der Ort war, der sich um die Kirche scharte, ließ sich im Regen nicht erkennen. Wir bogen auch kurz vor der Ortseinfahrt ab, fuhren über einen holprigen Weg an steil abfallenden Felsen und einem Wildbach vorbei, den die Regenfluten in ein reißendes Gewässer verwandelt hatten. Die Wolken hingen hier so tief, daß der Gipfel der Felswand darin verschwand.

Die Bäume bogen sich im Wind, und kahle Äste scharrten über das Wagendach. Doch mein Vater schien keine Angst um sein Auto zu haben. Er sagte nur mehrmals: „Das ist ja wildromantisch!“, was ich albern fand.

Der Weg führte abwärts und mündete in ein Tal, das wie ein keilförmiger Einschnitt zwischen Wäldern lag. Und inmitten dieser Talsenke stand ein dunkler Viereckshof, größer als alle Bauernhöfe, die ich je gesehen hatte. Eine Anzahl von kleinen Nebengebäuden war inder Talsenke verstreut.

„Ist er das?“ fragte mein Vater, und Kirsty erwiderte: „Ja, das ist Dreililien.“

Ich traute meinen Ohren kaum. Kirsty hatte doch immer vom „Häuschen“ ihrer Tante gesprochen. Ich hatte mir eine Art Hexenhaus wie im Märchen darunter vorgestellt. Doch sie hatte auch gesagt, daß Dreililien unser Ziel sei, und nun fuhren wir auf diesen riesigen Hof zu, der einer Festung glich.

Kirsty streckte die Hand aus und deutete nach links auf einen kleinen, dunklen Umriß am Rand des Tales. Es war ein Haus, das ich für eine Art Nebengebäude des Hofes gehalten hatte. Sie sagte mit einem zärtlichen Untertön in der Stimme: „Dort ist es.“

Ein Seitenweg zweigte von der Auffahrt zum Hof ab. Er war mit Birken und Haselnußsträuchern gesäumt und führte direkt zu Tante Karens Haus. Zwischen den schlanken weißen Stämmen sah man im Hintergrund immer wieder die Umrisse des Viereckshofes.

Ich fragte mich, wer dort wohnen mochte. Ein reiches altes Bauerngeschlecht vielleicht, das seit vielen Generationen hier lebte. Oder ein Millionär, der in diesem Tal wie ein König residierte und Pferde züchtete.

Pferde . . . Seltsam, daß ich plötzlich an Pferde denken mußte. Es kam wohl von den vielen Zäunen, die das Tal in Quadrate und Rechtecke teilten und mich an die Koppeln in einem Film über Pferde erinnerten.

Dann hielten wir vor Tante Karens Haus. Ich verließ den Wagen nur langsam und zögernd, während Kirsty schon zur Haustür lief, ohne zu warten, bis mein Vater den Schirm herausgekramt hatte. Sie breitete ihren Regenmantel wie ein Zelt über den Kopf, und Herr Alois folgte ihr kläffend.

Ich warf nur einen flüchtigen Blick auf das Haus. Es interessierte mich nicht besonders. Für mich sah es wie ein ganz gewöhnliches, gelbes Haus mit tiefgezogenem Dach aus. Das Rosenspalier um die Eingangstür war noch kahl, und die geschlossenen Fensterläden erzeugten einen Eindruck von Verlassenheit.

Ich versteckte mich unter meinem Schirm und ging hinter meinem Vater her. Es war kalt im Freien. Ein Schauder überlief mich. Kirsty schloß die Haustür auf.

3

Gegen Abend ging der Regen in Sturm über, und der Wind heulte ums Haus, rüttelte an den Fensterläden und verursachte eine Menge ekelhafter Geräusche, die mir unheimlich waren. Außerdem war es kalt im Haus, und das Bettzeug fühlte sich klamm an.

Bei flackerndem Kerzenschein zog ich mich aus und dachte mit grimmiger Genugtuung, daß diese Ferien ja schon gut anfingen: Der elektrische Strom funktionierte nicht, es waren keine Sicherungen im Haus, die Öfen in Küche und Wohnzimmer konnten nicht geheizt werden, da im Keller kein Heizmaterial mehr war; und ohne Feuer und Strom gab es auch keine warme Mahlzeit und keinen heißen Tee.

Kirsty hatte sich mehrmals entschuldigt, und mein Vater hatte immer wieder versichert, daß das alles eine interessante Abwechslung vom perfekten Stadtleben sei; ich aber hatte nicht versucht, meine mürrische Miene zu verbergen.

Jetzt lag ich im Mansardenzimmer Zwischen schrägen Wänden, und es dauerte lang, bis ich einschlafen konnte. Nicht nur die Kälte und der Wind hielten mich wach; auch der Gedanke an Vater und Kirsty. Es war sinnlos, mir etwas vorzumachen. Die beiden liebten sich, und ich war nun nicht mehr der einzige Mensch in Vaters Leben. Kirsty war ihm wichtiger. Ich wußte auch, daß es mehr als nur eine flüchtige Verliebtheit war. Die beiden waren ein Paar. Ich konnte nur danebenstehen und zusehen.

Ich blies die Kerze aus und schloß die Augen, doch allerlei Bilder quälten mich. In diesem fremden Haus fühlte ich mich einsamer als je zuvor in meinem Leben. Ich sehnte mich nach meinem Zimmer in der Stadt, nach den Lichtreklamen der Straßen, dem täglichen Einerlei, über das ich so oft geklagt hatte.

Und ich dachte: Es wird nie wieder so sein wie früher.

Dann schlief ich ein, endlich. Als ich wieder erwachte, war es Morgen. Der Wind hatte sich gelegt, aber es regnete noch immer.

Barfuß tappte ich ans Fenster und sah hinaus. Der Himmel hing grau und schwer über dem Tal. Wenn ich mich nach links beugte, konnte ich den Viereckshof sehen, der auf den zweiten Blick noch ebenso mächtig wirkte wie am vergangenen Tag. Rauch stieg aus einem der Kamine.

Ich fror so, daß meine Zähne klapperten. Es mußte schon spät sein, denn als ich mich vom Fenster abwenden wollte, sah ich, wie das Auto meines Vaters den Weg entlang fuhr und vor dem Haus hielt. Zitternd beobachtete ich, wie Vater und Kirsty ausstiegen und einen großen Sack aus dem Gepäckraum zerrten, in dem vermutlich Kohlenvorräte waren.

Als ich eine halbe Stunde später in die Küche kam, brannte Feuer im Herd. Jetzt, wo der Raum warm war, wirkte er richtig gemütlich, obwohl man merkte, daß hier lange niemand gewohnt hatte. Die hellen Naturholzmöbel machten einen freundlichen Eindruck, hinter den Sprossenscheiben sah man den Wald, und dem alten Schaukelstuhl mit der Häkeldecke fehlte nur die strikkende Großmutter. Es gab Korbsessel, die knarzten, wenn man sich hineinsetzte, und Flickenteppiche auf dem Holzboden.

Mein Vater deckte den Tisch, während Kirsty Müsli vorbereitete. „Wir haben frische Milch mitgebracht“, sagte sie zu mir. „Hast du bei dem Sturm schlafen können?“

„Ich mag keine Milch“, erwiderte ich. „Und ich habe verdammt schlecht geschlafen.“

„Du mußt Spazierengehen“, sagte mein Vater. „Diese Luft! Einfach herrlich!“ Er sah glücklich aus.

Herr Alois thronte auf der Eckbank und schielte mich unter seinen braunen Stirnlocken hervor an. Sein Fell war naß, und er hatte einen Milchschnurrbart.

Nach dem Frühstück ging ich wirklich spazieren – nicht, weil ich es besonders verlockend fand, allein durch den Regen zu stapfen, sondern ganz einfach, weil mir nichts Besseres einfiel. Ich hatte zwar eine Menge Bücher und meinen Kassettenrecorder mitgebracht, doch im Moment war mir weder nach Lesen noch nach Musik zumute.

Die vierzehn Tage lagen wie eine endlose Wüste vor mir. Ich fragte mich, wie ich sie je überstehen sollte. Vater und Kirsty waren natürlich in voller Aktion. Vater stürzte sich sofort mit Feuereifer darauf, einen losen Fensterladen zu reparieren, und Kirsty pusselte mit roten Backen im Haus herum. Später wollten die beiden in den Wald gehen und Holz holen. Ich kam mir ausgeschlossen und überflüssig vor.

In meinen roten Stiefeln und dem gelben Regenumhang sah ich wie eine Ente aus. Doch was machte das schon? Bestenfalls traf ich unterwegs eine Kuh oder ein paar Bauernjungen. Als ich versuchte, Herrn Alois zum Mitkommen zu bewegen, sah er mich düster an und stellte sich taub.

Da es mir im Wald zu naß und zu einsam war, schlug ich den Weg ein, der in die Auffahrt des Viereckshofes mündete. Es regnete jetzt nur noch leicht. Die Luft war mild und roch nach aufgebrochener Erde und Frühling. Widerstrebend gestand ich mir ein, daß das Tal schön war, still und seltsam unberührt wie eine Landschaft aus einer alten Sage.

Als ich an die Wegkreuzung kam, wählte ich den Pfad zur Linken, der zwischen Zäunen und Hecken entlang führte. Knorrige Eichen, Birken und Haselnußsträucher neigten sich über die Einfriedungen. Ich erreichte ein niedriges Gebäude aus rohen Holzstämmen, und da stand plötzlich ein Pferd hinter dem Zaun und sah mir mit großen Augen entgegen.

Ich blieb stehen. Ich mochte Pferde, doch sie waren mir auch ein bißchen unheimlich. Ich hatte bis jetzt noch nie nähere Bekanntschaft mit einem Pferd gemacht. Im Park hatte ich manchmal jemanden vorüberreiten sehen und leichten Neid verspürt. Jetzt stand zum erstenmal ein Pferd dicht vor mir, und ich war froh, daß uns ein Zaun trennte, denn es erschien mir sehr groß und gewaltig.

Das Pferd streckte die Nase über den Querbalken. Ich sah, daß es eine sternförmige Zeichnung auf der Stirn hatte. Es schnaubte und versuchte an meinem Ärmel zu zupfen.

Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück und sagte mit nicht ganz fester Stimme: „Wenn du nach Zucker suchst, tut’s mir leid. Ich hab nichts dabei.“

Es sah mich an, als hätte es mich verstanden. Seine großen, haselnußbraunen Augen hatten einen feuchten Schimmer. Ich merkte plötzlich, daß sie sehr sanft blickten.

Diese Augen waren es, die meine Angst vertrieben. Ich trat nahe an den Zaun heran und streckte behutsam die Hand aus. Das Pferd beschnupperte mich ebenso behutsam. Wie weich seine Lippen und Nüstern waren!

Es war, als würde mich jemand streicheln. Ich schloß die Augen und genoß die Berührung, und das Gefühl von Kälte, das seit Tagen in meiner Brust saß und mir die Kehle zuschnürte, wich.