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RENATE WELSH

KIESELSTEINE

GESCHICHTEN EINER KINDHEIT

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien, MA7 / Literaturförderung, des Zukunftsfonds der Republik Österreich und des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus

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Nationalfonds der Republik Österreich
für Opfer des Nationalsozialismus

Welsh, Renate: Kieselsteine. Geschichten einer Kindheit / Renate Welsh

Wien: Czernin Verlag 2019

ISBN: 978-3-7076-0671-3

© 2019 Czernin Verlags GmbH, Wien

Lektorat: Franziska Lamp

Umschlaggestaltung und Satz: Mirjam Riepl

Autorinnenfoto: Christopher Mavrič

Druck: Christian Theiss GmbH

ISBN Print: 978-3-7076-0671-3

ISBN E-Book: 978-3-7076-0672-0

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

INHALT

Der Kokon

Der Krampus und ich

Keine Tiefenschärfe

Ohrfeigen

Ärger mit dem Christkind

Schwanenfedern auf dem Kopf

Zuckerwasser

Meisterin des Hauses

Der Pelikan

Ein gutes Haus

Rituale

Buchteln

Was ich dir nie sagen konnte

Integration

DER KOKON

Die ersten Sonnenstrahlen malten dem Kerl mit den riesigen haarigen Ohren Kringel in seine böse Fratze. Fast hätte ich ihm eine lange Nase gezeigt, dann ließ ich es. Er konnte aus der Holzmaserung des Schranks neben meinem Bett heraustreten, sobald es dunkel wurde. Ich starrte in das Gleißen, bis ich die Augen schließen musste und hinter den Lidern glühende Flecken sah mit schwarzen, bewegten Punkten darin. Eigentlich musste ich aufs Klo, aber ich wollte niemanden aufwecken. Ich liebte das Gefühl, als Einzige wach zu sein, alles gehörte mir, weil nur ich es sah.

Plötzlich schrillte das Telefon.

Ich hörte meinen Vater aufstehen, hörte seine Schritte im Vorzimmer, hörte ihn sagen: »Ich komme sofort.« Gleich darauf stand er im Nachthemd neben meinem Bett. Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Dein Opapa ist gestorben. Ich gehe jetzt hin. Willst du mitkommen?«

Ich hopste an seiner Hand. Er sah mich verwundert von der Seite an. Das stimmt doch nicht, dachte ich. Die Omi hat sich geirrt. Mein Opapa ist nur scheintot, wie die Frau, von der die Resi erzählt hat, Omi kennt sich da nicht so aus, wir gehen jetzt und wecken ihn auf, mein Papa kann das, dann setze ich mich zum Opapa, ich kann ihm ja vorlesen, wenn er noch müde ist vom Scheintotsein.

Wir gingen die Hietzinger Hauptstraße hinunter, die Robinien dufteten stark, ihre gefiederten Blätter warfen Schattenmuster auf den Gehsteig. Das Haus war wie sonst, rote und grüne Lichter zitterten auf den Fliesen, der Messinghandlauf des Treppengeländers funkelte. Ich rannte vor meinem Vater die Stiegen hinauf und klingelte.

Dann stand meine Großmutter vor mir mit ihrem faltenzerknitterten Gesicht und blickte ernst, aber das würde sich ja gleich ändern, ich drängte mich an ihr vorbei, lief ins Schlafzimmer, umarmte meinen Großvater und küsste ihn auf die Wange.

In diesem Augenblick wusste ich, dass er tot war, wirklich tot, und dass mein Vater nichts tun konnte, um ihn zu wecken. Er sah aus wie immer, aber er war nicht da und er würde nie wieder da sein. Ich stand völlig starr in einem Schrecken, der mir heute noch den Atem nimmt, irgendwann fing ich wohl an zu weinen, Omi führte mich in die Küche, putzte mir die Nase, kochte Kakao für mich. Der Kakao war eine Kostbarkeit und wurde für besondere Gelegenheiten aufgehoben. Mein Vater stand neben mir, strich mir übers Haar, die beiden redeten und ich verstand kein Wort. Hier reißt das Bild ab, setzt erst am Nachmittag wieder ein. Meine Schwestern und ich gehen mit Tante Emmi, Onkel Max und dem Dackel den Berg hinauf ins Café Tiergarten, es ist sehr heiß, Eidechsen flitzen über den Weg. Wir trinken Apfelsaft, die Erwachsenen sitzen in Korbstühlen, ich habe einen Holztisch ganz für mich allein und zeichne Glockenblumen, Margeriten, Skabiosen, Salbei und Zittergras. Über der Stadt liegt ein feiner Dunst, eine Lerche trillert hoch oben, ich kann sie nicht sehen, aber ich bin ja kurzsichtig, das darf nur keiner merken, sonst bekomme ich eine Brille, und ich wundere mich, dass ich gar nicht so traurig bin, sondern nur merkwürdig weit weg. Das gibt es nicht, denke ich, das kann doch nicht sein, ich hab’ ihn doch so lieb, und dann denke ich, dass ich eben ein wirklich schlechtes Kind bin, sonst würde ich jetzt weinen, und ich nehme mir vor, zur Strafe nichts mehr zu trinken, aber als Tante Emmi noch einen Apfelsaft bestellt, trinke ich ihn doch, und der Apfelsaft schmeckt gut, nur hinterher brennt es ganz schrecklich im Hals.

Mein Opapa fehlte mir sehr, fehlte mir zu Hause, fehlte mir auf den Straßen und Gassen, wo wir Hand in Hand spazieren gegangen waren, fehlte mir in der Wohnung, wo jetzt nur Omi und Tante Friedl lebten, fehlte mir, wenn ich etwas Schönes gesehen oder gehört hatte, fehlte mir, wenn ich traurig war, fehlte mir, wenn ich verwirrt war, also fast immer, fehlte mir, wenn ein Spielzeug kaputtging, fehlte mir, wenn ich fröhlich war. Wenn sich jemand in seinen roten Plüschsessel setzte, wurde ich böse, und als Omi anfing, Papiere aus seinem Schreibtisch zu verheizen, wurde ich trotzig vor Verzweiflung.

Die Trauer um ihn begann erst viel später, zugleich wurden die Bilder, die mir von ihm geblieben waren, deutlicher. Wir hatten nicht viel Zeit miteinander gehabt. Als er starb, war ich acht Jahre alt, zwischen meinem fünften und siebenten Lebensjahr war er in Wien und ich in Aussee. Dennoch ist heute noch die erste Heckenrose ein Gruß von ihm. Wenn wir auf den Roten Berg gingen, durch die Dostojewskijgasse, durch die Gogolgasse, durch die Turgenjewgasse, durch die Tolstojgasse, waren wir nicht in einem Wiener Vorort, sondern in Russland. Er machte aus einer Birke in einem Vorgarten eine Allee, die sich bis zum Horizont erstreckte, und aus ein paar Schneeflocken die Tundra im Winter.

Mit ihm konnte ich auf das Fallen eines Tropfens aus einem Eiszapfen warten, einem Farnwedel beim Aufrollen zusehen. Viele Jahre nach seinem Tod habe ich im Gras hockend zugeschaut, wie sich ein Schmetterling unter krampfartigen Zuckungen aus dem Kokon befreite und nach mehr als einer Stunde Anstrengung seine Flügel entfaltete. Mir schliefen die Beine ein, ich stand auf, lief herum. Plötzlich fiel mir ein, wie geduldig mein Großvater warten konnte, bis eine Fliege alle ihre Beine geputzt hatte.

Manchmal saß ich auf einem Schemel neben seinem roten Medaillon-Sessel und er sagte für mich Gedichte auf, die er auswendig konnte. Mörike, Eichendorff, Heine, und immer wieder Homer auf Griechisch. Ich verstand nichts, aber ich liebte den Klang, und wenn ich ein Ohr an seinen Brustkorb lehnte, spürte ich, wie es da drinnen grummelte, und es grummelte anders, wenn er griechisch sprach, und anders, wenn er deutsch sprach.

In sein Begrüßungslächeln konnte ich mich fallen lassen, dann war alles gut, ich war kein freches, unmögliches Kind, nicht störrisch, nicht schlampig, nicht hässlich.

Jahrelang suchte ich auch manche Wege, die wir oft miteinander gegangen waren. Ich suchte sie mit großer Verbissenheit, suchte immer verzweifelter, als ich zwölf, dreizehn wurde und mich immer fremder fühlte, immer weiter weg von den anderen. Ich lief durch den Bezirk, durch Gassen, die ich schon unzählige Male abgesucht hatte, schaute in offene Tore in der Hoffnung, hier irgendwo müsse dieser besondere Weg abzweigen.

Ich fragte meine Großmutter, die schüttelte nur den Kopf. »Das bildest du dir ein. Hier hat es nie einen Teich gegeben.« Ich fragte meinen Vater und bekam die gleiche Antwort. Ich glaubte ihnen beiden nicht. Den schmalen Weg zwischen Sträuchern und Maschendrahtzaun, den hatte ich mir nicht eingebildet. Ich sah noch die Wassertropfen in der unteren Spitze der Drahtrhomben schimmern, sah, wie sie träge herunterschlierten. Ich spürte das Kitzeln in der Hand, wenn ich die reifen Schoten der hohen Rühr-mich-nicht-an-Stauden antupfte und sie mit einem Schnalzlaut wegsprangen. Ich spürte sogar die Brennnesseln an meinen nackten Beinen. Und die, schloss ich logisch, hätte ich mir nie hingedacht. Ich sah, wie der Weg breiter wurde, sah das hohe Gitter mit goldglänzenden Kugeln auf den Speerspitzen, ich hörte den Springbrunnen, ich fühlte den kühlen Druck der Eisenstäbe an meiner Stirn, ich sah das weiße Haus mit den einladend offenen Türen.

Wichtiger noch war der Weg zum Teich, vorbei an umgestürzten Baumriesen, an schreiend gelbem Ginster, durch Wiesen von Wollgras. Am Teich blühten weiße, stark duftende Sternblumen. Mein Großvater und ich saßen auf einem grau verwitterten Steg und hielten die Hände ins Wasser, das fast schwarz war und sehr weich. Die eigenen Hände wurden silbrige, unheimliche Fische in diesem Wasser. Es gab winzige rote Krebse, die manchmal zwickten. Libellen schwirrten laut über uns hinweg, ich duckte mich unter ihren Flügelschlägen. Eine uralte Erle peitschte mit ihren Zweigen das Wasser.

»Die einzigen Teiche, die es hier gibt, sind die Schlaglöcher auf den Straßen nach einem heftigen Regen«, sagten alle. »Du hast geträumt.«

Dann kam ein Tag, an dem meine Schulklasse ins Kunsthistorische Museum fuhr und ich mich in einen Nebenraum verirrte.

Plötzlich sprang mich ein Bild an, postkartenklein, in schwerem, goldenem Rahmen.

Das war der Baum, wo der Weg zum Teich abzweigte. Ich erkannte jeden Knoten im Stamm, jeden knorrigen Ast, erkannte das Wurzelgeflecht.

Wir waren in ein Bild hineingegangen damals.

Vermutlich hatte mein Großvater eine Reproduktion besessen – ich erinnere mich nicht, je mit ihm im Museum gewesen zu sein.

Ich stand völlig starr vor dem Bild, unfähig mich zu rühren, unfähig zu antworten, als man mich rief. Hatte ich mir doch alles nur eingebildet? Wie viel war da sonst, das ich mir eingebildet hatte? Am liebsten hätte ich das Bild von der Wand gerissen, ich fühlte mich beraubt.

Lange Zeit mochte ich überhaupt nicht mehr an unsere Wege denken, und als ich es wieder versuchte, waren sie blass geworden wie alte Fotografien.

Viel später erkannte ich, dass alles wahr gewesen war, auch wenn der Teich auf keiner Landkarte, das Haus in keinem Grundbuch zu finden ist. Allmählich kamen auch die Farben wieder, die Düfte, die Geräusche, aber alles als Erinnerung, nicht als Gegenwart, zurückrufbar, aber nicht mehr betretbar.

Was weiß ich überhaupt über meinen Großvater? Ein paar Daten: 1876 in Wien Gaudenzdorf geboren, Sohn des Franz Weczerz, Kaufmann, geboren 1840 in Hohenstadt, Mähren, und dessen Frau Karoline Auguste, die 1880 gestorben war. Es gibt eine Fotografie von ihr, sie muss sehr schön gewesen sein, mit langen, schwarzen, zu einer hohen Krone aufgesteckten Zöpfen. Franz Wecer, der inzwischen die zwei z abgelegt hatte, ließ sich um die Jahrhundertwende in Öl malen, würdevoll vor dunklem Hintergrund, Hausbesitzer und Essigfabrikant. Nicht der Schatten eines Lächelns erhellt sein Gesicht. Seine Enkelin, meine Tante Elfriede, sprach von ihm nur als »dem alten Wecer«, nie als ihrem Großvater. Ich weiß nicht einmal, ob sie ihn noch kennengelernt hatte, eine von den vielen Fragen, die mir erst einfielen, als auch sie gestorben war. Kurz nach Karoline Augustes Tod heiratete er eine Schauspielerin. Nach Omis Erzählungen hatte die junge Frau nichts weiter verbrochen als manchmal am Nachmittag einspannen zu lassen und in den Prater zu fahren, und es kam vor, dass der eine oder andere Leutnant neben ihrer Kutsche her ritt. Als der alte Wecer davon erfuhr, sperrte er sie ein, worauf sie ihre Kleider packte und ihn verließ. Mein Großvater trauerte ihr lange nach. Sein Vater stellte ihre Schwester zunächst als Haushälterin an, mit der Zeit wurden drei Töchter geboren. Der alte Wecer muss ein Schreckensregiment geführt haben, das Meidlinger Gymnasium wurde zum Zufluchtsort für meinen Opapa. Ein Klassenfoto aus dem Jahr 1891 zeigt ein offenes, fröhliches Bubengesicht. Damals muss der Grundstein für seine Liebe zu Literatur, zu Musik gelegt worden sein. Ich weiß nicht, wie er mit seinen Schulkollegen zurechtkam, vielleicht war, verglichen mit der Tyrannei daheim, alles leicht und angenehm, vielleicht verstand er es einfach, sich in eine eigene Welt zurückzuziehen, wenn er las oder Klavier spielte. Ich weiß, dass er Gedichte schrieb. Dass sie auch die im eisigen Winter 1946 verbrannt hat, habe ich Omi nie verziehen. Nach der Matura bestimmte sein Vater: »Du studierst Medizin!« Im Seziersaal fiel mein Großvater in Ohnmacht. »Wenn ich einen Waschlappen habe und keinen Sohn, dann zahle ich auch nicht das Einjährig-Freiwilligenjahr«, sagte sein Vater. »Vielleicht machen sie im Militär einen Mann aus dir.« Also musste mein Großvater zwei Jahre lang bei der k. u. k. Armee als gemeiner Soldat dienen, und nicht nur ein Jahr als Maturant und Offiziersanwärter. Reiten konnte er nicht, er wird also wohl bei der Infanterie gelandet sein. Nach seiner Entlassung bewarb er sich bei der Bahn und wurde als Eisenbahnadjunkt angestellt.

1910 besuchte er eine Tante in Galizien. Die halbe Woiwodschaft redete von einer gewissen Aurelia, einem schönen Mädchen und unglaublich tüchtig dazu, die mit sechzehn Jahren nach dem Tod ihres Vaters den betrügerischen Verwalter entlassen hatte und seither selbst das Gut verwaltete, zwar das kleinste im weiten Umkreis aber immerhin. Sie hatte nur eine sehr bescheidene Mitgift zu erwarten, doch ihre sonstigen Qualitäten machten diesen Makel mehr als wett, darin waren sich auch die ärgsten Klatschmäuler einig, während sie sorgenvoll die Köpfe schüttelten, schließlich sei Aurelia nicht mehr die Jüngste, beinahe schon zweiundzwanzig, und man wisse aus zuverlässiger Quelle, dass sie schon wieder einen durchaus ernsten Bewerber abgewiesen habe mit der Bemerkung, er habe in der ganzen Woiwodschaft uneheliche Kinder gezeugt und sich noch um keines davon gekümmert, einen solchen Mann könne sie nicht achten, habe sie gesagt, und wenn sie einen Mann heirate, den sie nicht achten könne, wäre sie eine Dirne, nein, schlimmer als eine Dirne. Die Damen am Teetisch der Tante steckten die Köpfe zusammen und überboten einander mit Geschichten darüber, wie Aurelia einen Verehrer nach dem anderen abserviert hatte. Worauf warte sie denn? Auf einen Ritter ohne Furcht und Tadel? Wenn man ihr sage, sie werde noch als alte Jungfer enden, lache sie nur!

Wenige Tage vor seiner Abreise saß mein Großvater mit seiner Tante im Garten, da lief eine junge Frau über den Kiesweg. Ihre dunkelblonden Locken hatten sich aus dem Knoten gelöst. »Aurelia, meine Liebe!«, rief die Tante. Mein Großvater sprang auf.

»Ich war gekommen, um mit seiner Tante zu sprechen«, erzählte meine Großmutter. »Ihr Kutscher hatte einem von unseren Mädchen die Ehe versprochen und sie sitzen lassen. Das arme Mädel war völlig verzweifelt, natürlich war sie selbst schuld, was musste sie auch auf diesen Hallodri hereinfallen, wir hatten sie gerade noch rechtzeitig aus dem Wasser gezogen und ich war sehr zornig, da stand dieser fremde Mann, der mich anstarrte und gleichzeitig so verlegen wirkte, als hätte er etwas angestellt.«

»Und?«, fragten wir. »Hast du den Kutscher dazu gebracht, dass er das Mädel heiratet?«

»Selbstverständlich!«

»Und du hast geglaubt, das könnte gut gehen, so mit Zwang?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ihr habt ja keine Ahnung, was es damals geheißen hat, ein lediges Kind zu bekommen. Es war auf jeden Fall besser so für das Kleine und für die Mutter und zum Schluss auch für den Kutscher – jetzt weiß ich’s wieder, Adam hieß er. Er war kein schlechter Kerl, hätte nur eine feste Hand gebraucht. Kann schon sein, dass die Marie es geschafft hat, sobald das Kind da war.«

»Und wie ist es dann mit dir und Großvater weitergegangen?«

»Er hat mich angeschaut, als ob er mich auswendig lernte. Dann ist er nach Wien zurückgefahren. Und hat Briefe geschrieben.«

»Das wundert mich nicht. Du warst ja wirklich sehr schön. Kein Wunder, dass er sich verliebt hat. Und du?«

Sie antwortete nicht.

Ein Jahr später heirateten sie in Radymno. Ihr Bruder hatte die Landwirtschaftsschule absolviert und konnte jetzt das Gut übernehmen. Die Bedenken ihrer Mutter hatte Aurelia weggewischt. »Wenn ich meinen eigenen Küchenboden schrubben muss, fällt mir keine Perle aus der Krone. Wenn ich einen Mann heirate, den ich nicht achten kann, muss ich mich selbst verachten. Alfred ist der ehrenhafteste Mann, den ich je getroffen habe.« Ihre Mutter hatte Mitleid mit dem Schwiegersohn und war gleichzeitig froh, dass er nun die Verantwortung für Aurelia übernehmen musste, vor allem, weil sie fürchtete, ihre jüngere Tochter Sofie könnte sich ein Beispiel an der Schwester nehmen und ebenso unweiblich und widerspenstig werden. Wenn ich ihr weiches Gesicht betrachte, kann ich mir nicht vorstellen, dass dieses Mädchen, an dem die Haare das Schwerste waren, mit sechzehn Jahren alle Männer auf dem Gutshof zusammenrufen ließ und ihnen sagte: »Hört einmal her! Ihr vertrinkt euren ganzen Lohn. Eure Kinder können im Winter nicht zur Schule gehen, weil sie keine Schuhe haben. Ab sofort bekommt ihr nur mehr die Hälfte, die andere Hälfte bekommen eure Frauen. Sollte ich hören, dass einer seiner Frau einen Heller weggenommen hat, dann will ich ihn nicht mehr auf diesem Hof sehen.« Noch weniger kann ich mir vorstellen, dass die Männer einverstanden waren, aber sie setzte sich durch. Vielleicht spielte dabei gerade die Tatsache eine Rolle, dass sich alle zunächst heimlich lustig machten über dieses halbe Kind, das Gutsherrin spielte und Neuerungen einführte, dass die Leute nicht so sehr gehorchten als ein Spiel mitspielten, das irgendwann zur Gewohnheit wurde? Es ging den Leuten auf diesem kleinen Gut besser als in den Nachbardörfern, und mit der Zeit wäre es wohl nicht leicht gewesen, den Frauen wegzunehmen, was ihr selbstverständliches Recht geworden war.