cover

Ursula Isbel

Reiterhof Dreililien 6 – Eine Welt für sich

 

Saga

1

Das Zwielicht des Sommerabends erfüllte Jörns Zimmer im alten Gutshaus, breitete seinen sanften Schimmer über die gemalten Rosen der Bauerntruhe. In den Ecken aber lagerten schon die ersten Schatten. Die Sträuße aus getrockneter Minze, Kamille und Johanniskraut, die von der Decke hingen, bewegten sich sacht im Luftzug.

Jörn kramte in einer Schublade und murmelte etwas; ich aber war mit den Gedanken weit fort, auf Amsterdams Straßen, während Don McLean sang: „Stary, stary night, paint your pallet blue and gray . . .“

Wir hatten dieses Lied über Vincent van Gogh zum erstenmal in einer Amsterdamer Kneipe gehört, Jörn und ich, und es war uns tagelang nicht aus dem Sinn gegangen, während wir im Vondelpark saßen und an stillen Grachten mit träg fließendem Wasser entlanggingen. Dann, Monate später, hatte Jörn es wiederentdeckt, unter Mikeschs alten Platten, und wir hatten es auf Kassette aufgenommen. Seitdem war „Vincent“ zu einem unserer Lieblingslieder geworden. Wir spielten es oft, wenn wir beisammen waren. Für uns war es ein Lied, das trotz aller Schwermut zu Amsterdam gehörte, obwohl die Tage damals für uns glücklich gewesen waren.

„Weinst du?“ fragte Jörn. Er setzte sich neben mich und nahm meine Hand.

You took your life, as lovers often do“, sang Don McLean. „But I could have told you, Vincent – this life was never meant for one as beautiful as you . . . “

Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Nase. „Es ist so traurig“, sagte ich, denn ich hatte an van Gogh gedacht, der sich das Leben nahm, aus Liebeskummer und weil keiner ihn und seine leidenschaftlichen, flammenden Bilder verstand.

Schweigend hörten wir das Lied bis zum Ende. Dann schaltete Jörn den Recorder aus. Durch das geöffnete Fenster drang das Wiehern einer Mutterstute, die nach ihrem Fohlen rief, und das sehnsüchtige, lustvolle Schreien der Lerchen, die sich in den Abendhimmel schwangen.

Ich schnüffelte ein bißchen, und es ging mir durch den Sinn, wie dicht beieinander doch Glück und Traurigkeit liegen. Vielleicht gehörte beides auch zusammen, wer weiß. In zehn Tagen waren Ferien, und irgendwo draußen im verwilderten Garten von Dreililien übte Matty auf seiner Mundharmonika.

„Meinst du, daß sie dir den Urlaub bewilligen?“ fragte ich.

„Die ganzen sechs Wochen bestimmt nicht, weil jetzt zu viele Schwestern und Pfleger ihren Sommerurlaub nehmen wollen. Aber zwei Wochen müßten schon drin sein. Die Oberschwester will mir morgen Bescheid sagen.“

Zwei Wochen; das war nicht viel, aber besser als gar nichts. Endlich konnten wir tagsüber wieder Zusammensein, gemeinsam im Waldweiher baden, ausreiten, im Obstgarten liegen und den Sommer genießen. Während der knapp zehn Monate, die Jörn nun seinen Zivildienst in einem Rosenheimer Krankenhaus leistete, hatten wir viel zu wenig Zeit füreinander gehabt. Ich wartete sehnsüchtig auf diese gemeinsamen Ferien.

„Ich glaube, ich muß die beiden Wochen dazu benutzen, endlich den Dörrboden auszubauen“, sagte Jörn mit düsterer Stimme in meine Gedanken hinein. „Es geht jetzt nicht mehr lang so weiter. Ich kriege ständig Streit mit Vater. Manchmal würd ich am liebsten alles hinschmeißen und abhauen. Du kennst ja meinen Vater, Nell.“

Das schöne Bild von gemeinsamen Ausritten und sonnigen Waldweiherstunden verschwand. Trotz meiner Enttäuschung konnte ich Jörn verstehen. Ich wußte längst, wie schwierig das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater war. Der alte Moberg war immer starrköpfig und herrschsüchtig gewesen. Jetzt, wo Jörn erwachsen war und seine eigene Meinung vertrat, gerieten die beiden fast täglich aneinander.

„Ich mag mich schon gar nicht mehr zum Abendessen an den Tisch setzen, weil er ständig etwas an mir herumzumeckern hat. Der Appetit vergeht mir, wenn ich bloß sein saures Gesicht sehe.“ Jörn starrte vor sich hin. „Vielleicht wär’s besser, wenn ich mir in Rosenheim ein Zimmer nehmen würde, aber . . .“

Ich erschrak, doch er sprach schon weiter, „ . . . aber andererseits mag ich auch nicht weg von zu Hause. Du bist doch hier, und ich hänge an Dreililien und den Pferden. Ich kann’s mir nicht vorstellen, in einem möblierten Zimmer herumzuhängen. Da würde ich eingehen wie eine Primel.“

Rasch sagte ich: „Es wird bestimmt alles besser, wenn du für dich allein wohnen kannst. Der Dörrboden ist ja neben Mikeschs Zimmer, und er hat jetzt Wasseranschluß und elektrische Leitungen nach oben legen lassen. Da könnte man die Anschlüsse bestimmt leicht nach nebenan führen. Wenn du vielleicht sogar eine eigene Küche und eine Dusche hättest . . .“

„So perfekt wird’s nicht werden“, sagte Jörn. „Dazu hab ich einfach nicht das Geld. Ich bin schon froh, wenn’s für ein Waschbecken, einen kleinen Heißwasserboiler und eine Kochplatte reicht. Ein ehemaliger Schulfreund, mit dem ich hier zur Grundschule gegangen bin, ist inzwischen Elektriker. Er würde mir vielleicht helfen.“

„Ja“, sagte ich erleichtert. „Und der alte Dörrofen ist doch auch noch da oben. Dann brauchst du wenigstens keinen Ofen mehr.“

„Zum Heizen kann man das Ding nicht benutzen. Aber es ist schon prima, daß ein Kaminanschluß da ist. Sonst müßte man eigens einen Kamin hochziehen lassen, und das wäre einfach nicht drin.“

„Mikesch wird dir helfen“, sagte ich.

Jörn grinste. „Das ist immer der erste, der dir einfällt, wenn’s Probleme gibt. Natürlich bin ich um jeden froh, der mit anpackt, aber Mikesch wird jetzt bald genug mit den Ferienreitern zu tun haben.“

„Ich helfe dir auch“, sagte ich. „Ich kann Balken saubermachen und den Boden schrubben oder mit Stahlwolle abziehen, die Fenster verkitten und streichen, all so was.“

„Ich werde dich beim Wort nehmen“, erwiderte er.

„Und was meint dein Vater dazu? Ist er einverstanden, daß du auf den Dörrboden ziehst?“

„Er hat nicht viel dazu gesagt. Aber ich glaube, er wird auch froh sein, wenn wir uns nicht mehr dauernd in den Haaren liegen. Außerdem weiß er, daß ich sonst ganz von hier verschwinden würde, und das möchte er wohl doch wieder nicht.“ Jörn schwieg eine Weile. „Manchmal glaube ich, er haßt sich selbst.“

„Matty wird’s schwer haben ohne dich“, sagte ich.

„Ach, der kann besser mit Vater umgehen als ich. Er streitet sich nicht lange mit ihm herum, sondern hält einfach den Mund und tut am Ende doch das, was er für richtig hält.“

Ich dachte an den kleinen, drahtigen Herrn Moberg mit den Krücken und dem verbissenen, abweisenden Gesicht, das von Schmerzen gezeichnet war. Nein, ich stellte es mir nicht einfach vor, ihn zum Vater zu haben. Und obwohl er sich mir gegenüber nie unfair verhalten hatte, war ich ihm in den drei Jahren, die ich nun im Tal von Dreililien lebte, stets ausgewichen, soweit es ging.

„Mich wundert’s, daß Mikesch mit ihm auskommt“, murmelte ich.

„Weil Vater Respekt vor Mikesch hat. Er behandelt ihn höflicher als jeden anderen, weil er weiß, daß der Laden hier ohne Mikesch nicht laufen würde – und weil Mikesch sich nicht einschüchtern läßt. Ich glaube manchmal, da ist so eine Art unsichtbare „Bis-hierher-und-nicht-weiter“-Schranke, die Mikesch um sich herum aufbaut, und die mein Vater genau spürt.“ Jörn seufzte in komischer Verzweiflung. „Wenn ich den Trick bloß auch raushätte!“

Ich lachte. „Ich glaube nicht, daß es funktionieren würde – jedenfalls nicht zwischen dir und deinem Vater. Du bist schließlich sein Sohn. Da gibt’s solche Schranken vielleicht nicht.“

Jörn zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht – jedenfalls ist ’s sauschwer, sich mit seinen Eltern auseinanderzusetzen; schwieriger als mit den meisten anderen Leuten. Nur glaube ich, wenn man’s nicht lernt, sich gegen sie zu behaupten, wird man sich später auch gegen keinen anderen behaupten können. Und ohne das geht’s nun mal nicht. Wenn du nicht wärst, Nell . . .“ Er stockte und fuhr dann fort: „Wenn du nicht wärst, hätte ich vielleicht schon längst das Handtuch geschmissen und wäre abgehauen. Aber das ist natürlich auch keine Lösung.“ „Nein“, sagte ich und legte den Kopf an seine Schulter. „Und der Dörrboden wird bestimmt eine schöne Wohnung. Roddy kann dir auch helfen. Er macht jetzt immerhin schon seit einem Dreivierteljahr eine Schreinerlehre. Einen Schreiner kann man immer brauchen.“

Draußen war es unversehens dunkler geworden. Wind kam auf, und in der Ferne grollte der Donner. Wir gingen ans Fenster.

„Da steht ein Gewitter über dem Gebirge“, sagte Jörn. „Hoffentlich verzieht es sich. Falls es herkommt, müssen wir die Mutterstuten und ihre Fohlen von der Koppel holen. Die Jährlinge auch, die drehen sonst durch.“

„Wenn’s bloß keinen Hagel gibt“, murmelte ich besorgt. „Heute war es den ganzen Tag so schwül.“

„Vorerst sieht es nicht danach aus. Bei Hagel ist der Himmel gelb, und da hinten ist’s rabenschwarz.“

Zwischen den Fliederbüschen tauchte Matty auf. Er sah zu uns hoch und schrie: „Das sieht nach einem mordsmäßigen Gewitter aus. Wenn’s hierherzieht, müssen wir die Pferde hereinholen!“

„Stell dir vor, das haben wir uns auch gerade überlegt!“ schrie Jörn zurück.

Matty grinste uns freundschaftlich zu. Er trug seit neuestem einen „Spezialhaarschnitt“, den Carmen ihm verpaßt hatte. Seine ehemals schulterlangen Haare, die er mit großer Geduld hatte wachsen lassen, waren jetzt sehr kurz geschnitten. Da sie immer die Neigung hatten, in die Höhe zu stehen, hatte Carmen sie so geschnitten, daß sie nun wirklich wie ein Mop von Mattys Kopf abstanden, was ausgesprochen frech und lustig aussah. Der kleine Goldring, den er seit ein paar Wochen im rechten Ohr trug – weil das angeblich gut für die Augen wäre, wie er sagte –, paßte dazu.

Matty verschwand um die Hausecke. „Aber woran soll man rechtzeitig erkennen, ob das Gewitter herkommt oder in eine andere Richtung zieht?“ fragte ich. „So lange, bis es hier ist, können wir jedenfalls nicht warten.“

„Wenn sich der Wind in der nächsten Viertelstunde nicht dreht, kann man ziemlich sicher sein, daß es bald losgeht.“

Wir setzten uns auf die Fensterbank. Wie meistens vor einem herannahenden Sommergewitter verstummten die Vögel, und alle Gerüche schienen sich zu verstärken. Es roch nach den nahen Kornfeldern, dem Bach, nach Tannennadeln und frischem Heu. Der Misthaufen machte sich kräftiger als sonst bemerkbar, und aus den Futterkammern kam der Geruch der eingeweichten Rüben. Vom Garten her duftete es nach wilden Rosen und Jasmin.

Ein Fensterflügel begann zu klappern. „Ich glaube, wir sollten runtergehen und die Fenster schließen“, sagte Jörn. „Im Gesindehaus sind die Dachluken offen, und ich weiß nicht, ob Mikesch seine Fenster zugemacht hat, ehe er weggefahren ist. Im Stall regnet es auch auf der Nordseite leicht herein.“

Wir verließen das Haus und trennten uns auf dem Innenhof. Jörn ging ins alte Gesindehaus hinüber, gefolgt von Diana, der gefleckten Jagdhündin, Ich sah in der Fuhrknechtskammer nach dem Rechten, die Mikesch sich zur Wohnung ausgebaut hatte.

Der Wind riß mir die Stalltür aus der Hand. In der Ferne rumpelte und krachte es bedrohlich. Von einem der Stallfenster aus sah ich Blitze über die Berge zucken wie auf einer Opernbühne. Matty erschien mit total zerzausten Haaren.

„Du siehst aus wie der Fliegende Holländer“, sagte ich.

Offenbar war ihm nicht nach Witzen zumute. „Sollten wir die Pferde nicht besser gleich hereinholen? Was meint Jörn?“ fragte er.

„Er wollte erst noch abwarten, ob sich der Wind dreht.“

„Hm. Blöd, daß wir ausgerechnet heute allein sind. Der Sepp kommt bestimmt nicht mehr. Der wird versuchen, noch rechtzeitig einen Teil von seinem Heu einzubringen.“

„Aber Mikesch taucht sicher auf, wenn’s brenzlig wird“, sagte ich. „Er ist zum Abendessen zu Gesine geradelt.“

„Bei Liebespaaren weiß man das nie so genau“, meinte Matty düster.

„Auf Mikesch kann man sich verlassen, ob er verliebt ist oder nicht.“

Matty verzog das Gesicht. Wir kletterten über die Leiter auf den Heuboden, und er sagte: „O Verzeihung, ich wollte deine heilige Kuh nicht angreifen!“

„Mikesch ist nicht meine heilige Kuh“, versetzte ich, während wir die Dachluken schlossen. „Jetzt fängst du auch noch an! Es reicht schon, daß Jörn mich immer damit aufzieht.“

In der Futterkammer streckten wir die Köpfe wieder aus dem Fenster. „Ich glaube, es zieht zum Chiemsee“, sagte ich, während Matty behauptete, das Unwetter käme direkt zu uns herüber.

„Wetten, daß es kommt!“ sagte er.

„In Ordnung, wetten wir. Wenn’s nicht kommt, mußt du meine Gummistiefel putzen – die für den Stall und die zum Reiten. Sie starren nämlich schon vor Dreck.“

„Pfui Teufel!“ sagte Matty. „Aber gut, das Gewitter kommt sowieso. Wenn ich gewinne, machst du mir so eine indianische Tasche, wie Jörn sie von dir zu Weihnachten bekommen hat.“

Ich schüttelte den Kopf. „Das ist zuviel. Das Leder allein hat schon fast dreißig Mark gekostet.“

Dann besserst du meine Pulloverärmel aus. Bei mir wetzen sich die Ellbogen immer so schnell durch. Lederflecke gehören drauf, das könntest du machen.“

Ich kann aber nicht richtig nähen“, sagte ich.

„Klar kannst du das, es ist keine Kunst.“

„Warum machst du’s dann nicht selbst?“

„Weil ich solche Popelarbeiten hasse.“

„Wie viele Pullover sind’s denn?“ fragte ich mißtrauisch.

„Drei.“

„Also gut, ich mach’s. Aber beklage dich hinterher nicht, wenn es dir nicht schön genug ist!“

Wir gaben uns feierlich die Hand. Es donnerte – gefährlich nahe, wie ich fand.

Ein seltsam fahles Licht lag über dem alten Innenhof. Der Wind schüttelte die Krone der Linde und verstreute ihre Blüten über dem abgetretenen Pflaster. Der Wetterhahn auf dem First des Gesindehauses drehte sich wie verrückt und quietschte verzweifelt. Die Schwalben und Ringeltauben duckten sich unter den Dachvorsprüngen.

Jörn kam, und wir gingen gemeinsam in sein Zimmer, um nachzusehen, wohin die Wetterfront gezogen war. Über dem Bergmassiv der Schlafenden Jungfrau ballte sich eine schwarze Wand, die unablässig von Blitzen erhellt wurde.

„Hoffentlich kraxeln da droben nicht wieder ein paar Urlauber in Shorts und Stöckelschuhen herum“, meinte Matty. „Sonst geht’s ihnen dreckig.“

„Es hat schon fast die Hochries erreicht“, sagte Jörn. „Ich glaub, es ist am sichersten, wir holen erst mal die Mutterstuten mit ihren Fohlen herein. Wenn wir sie umsonst in den Stall gebracht haben, ist das auch kein Beinbruch.“

Die Fohlen waren kein Problem. Sie folgten ihren Müttern ohne Widerstreben, und die Stuten waren klug genug, die Zeichen des herannahenden Unwetters richtig zu deuten. Sie drängten sich schon am Gatter und schienen es an der Zeit zu finden, daß wir sie in den Stall holten.

Schwieriger war es mit den Jährlingen, das wußte ich aus bitterer Erfahrung. Man konnte sie nur mit List und Tücke einfangen. Für sie war jede Änderung im normalen Tagesablauf nichts als ein lustiges Spiel, das sich jemand zu ihrem Vergnügen ausgedacht hatte. Meist ließen sie einen dicht an sich herankommen, rasten dann aber mit Bocksprüngen davon, ehe man sie noch erwischen konnte, und freuten sich diebisch, wenn man mit hängender Zunge hinter ihnen herkeuchte.

„Wenn bloß dieses halbstarke Volk nicht wäre“, sagte Matty, als wir die Stalltür hinter den Mutterstuten und ihren Fohlen schlossen und uns auf den Weg zu den Koppeln machten. „Die lachen sich jetzt bestimmt wieder ins Fäustchen, wenn wir wie die Blöden hinter ihnen herjagen. Paß bloß auf, Nell, daß dir nicht wieder einer der Jährlinge einen Tritt versetzt.“

„So dumm bin ich nicht mehr“, verteidigte ich mich. „Außerdem war damals, als ich den Unfall hatte, das Gewitter schon voll da, und . . .“

„Er hat sich gedreht!“ sagte Jörn.

„Wer?“

„Der Wind natürlich. Seht ihr’s nicht? Die Wolken ziehen jetzt in östliche Richtung.“

Wir blieben auf dem Pfad zwischen den Koppeln stehen. Tatsächlich bewegte sich die schwarze Wand nun mit erstaunlicher Geschwindigkeit weg von unserem Tal und über die Wälder, begleitet von dramatischen Blitzen und knallenden Donnerschlägen.

„Ich glaube, da haben wir noch mal Glück gehabt – auch wenn ich deine Stiefel putzen muß, Nell“, sagte Matty. „So ein Unwetter kann verdammt unangenehm werden. Erst vor kurzem hab ich in der Zeitung gelesen, daß im Rottal ein Blitz in ein Bauernhaus eingeschlagen hat. Der ganze Hof mitsamt den Ställen ist abgebrannt.“

„Haben sie die Tiere retten können?“ fragte ich.

„Ja, zum Glück. Aber wir mit all unseren Pferden . . . das wäre die totale Katastrophe.“

„Aber ihr habt doch einen Blitzableiter!“ sagte ich ängstlich.

„Wenn’s ganz dick kommt, nützt der auch nicht immer was“, erwiderte Jörn.

Erleichtert sahen wir zum Gebirge hinüber. Ein paar versprengte Tropfen klatschten uns ins Gesicht. Die Stuten standen dichtgedrängt am Koppelzaun der Südweide und wieherten. Es klang vorwurfsvoll.

„Sie haben gesehen, daß wir die Mutterstuten in den Stall gebracht haben. Jetzt möchten sie natürlich auch hinein“, sagte Jörn.

Wir legten uns ins Gras und beobachteten den Himmel. Überall standen Gewitterfronten. Manche waren so weit entfernt, daß wir nur die Blitze sahen, aber keine Donnerschläge hörten.

„Schaut euch das bloß an!“ murmelte Matty andächtig. „Wahnsinn, diese Stimmung!“

„Ich glaub, ich hab eine Idee“, sagte ich.

„Ich auch“, sagte Jörn. „Vielleicht ist’s die gleiche. Geht das Wort mit einem B an?“

„Nein, mit einem W wie Waldweiher.“

Er grinste. „Und B wie Baden!“

„Nicht übel“, sagte Matty väterlich. „Bei diesem Wetter ist das bestimmt saustark. Reiten wir, oder meint ihr, daß die Pferde zu unruhig sind?“

„Die haben bestimmt schon gemerkt, daß sich das Gewitter verzogen hat“, meinte Jörn.

Ich sprang auf. „Ich ziehe schnell meinen Bikini an“, sagte ich.

„Gut. Wir kümmern uns inzwischen um die Pferde.“

Wir ritten in den Badeanzügen ohne Sattel und Zaumzeug am Waldrand entlang. Vom Gewittersturm war nur noch ein sanfter, warmer Wind übriggeblieben. Die Vögel hatten schon ihre Schlafbäume aufgesucht, und durchs Gebüsch strichen die ersten Nachttiere – Füchse, Marder und Igel. Wir hörten ihr heimliches Rascheln und Tappen und das Knacken von Zweigen unter ihren Pfoten, denn die Pferdehufe verursachten keinen Laut im dichten Gras. Ein Käuzchen schrie. Jetzt waren mir all diese Geräusche vertraut, die ich früher, als ich noch in der Stadt gelebt hatte, so unheimlich und bedrohlich gefunden hatte.

Der Waldweiher glänzte still und verträumt unter dem Abendhimmel – ein winziger Teil dieser Erde, der noch nicht zerstört, überbaut, verändert oder „erschlossen“ war; ein Einschnitt zwischen Waldstücken, gespeist von unterirdischen Quellen, in dem es noch Fische und kleine Molche gab, Libellen in den Binsen, Frösche und Scharen von Wasserläufern.

Dazwischen war nur eine einzige Uferstelle nicht vom Schilf zugewachsen. Dort ritten wir mit den Pferden ins seichte Wasser. Sie genossen die Erfrischung nach dem schwülen Tag ebenso wie wir, sie prusteten laut und platschten mit den Hufen wie Kinder, die im Wasser spielen.

„Wenn bloß die verdammten Bremsen nicht wären!“ brummte Matty und schlug zu, daß es klatschte. „Immer muß irgendwas sein, das die Romantik zerstört!“

Als die Pferde bis zum Widerrist im Weiher standen, ließen wir uns ins Wasser gleiten und schwammen, denn wir wußten, daß in ihre Augen und Ohren kein Wasser dringen durfte. Hazel kehrte als erste ans Ufer zurück; dann folgte ihr Jörns Schimmelstute Katama. Als letzte watete Rapunzel an Land, schnaubend und triefend wie ein Nilpferd.

Im Licht der fernen Blitze sahen wir, wie sich die Stuten im Gras wälzten und die Beine in die Luft streckten, während wir unter den tiefhängenden Weidenzweigen schwammen, still, die Gesichter vom Wasser umspült. Meine Haare trieben schwer hinter mir her, vollgesogen von Nässe. Fledermäuse schwirrten über den Weiher auf der Suche nach Beute. Das Wasser gluckste zwischen den Schilfhalmen. Ein Frosch quakte, und beim Schwimmen berührte Jörns Arm den meinen.

Ebenso warm wie das Wasser war der Wind, und die beginnende Nacht war hell wie von einem riesigen Feuerwerk. Immer schwächer wurde das Donnergrollen, doch unablässig zuckte Wetterleuchten über dem Gebirge, den fernen Dörfern und Gehöften. Am Rand der Gewitterzone schimmerten die Sterne zwischen Wolkenfetzen. Der Duft der Sommerwiesen mischte sich mit dem Geruch des Wassers. Ein Vogel rief.