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Bruno, Gerda, Miriam und Patrick, sie waren einmal Subkultur, Mountainbiker, die in den Wäldern der Provinz rund um Winterthur illegale Bike Partys organisierten. Jetzt sind sie in der Stadt angekommen. Radfahren tun sie, wenn überhaupt noch, allein. Dafür stehen sie sich im Weg. Bewusst und unbewusst. Sie versuchen, im Leben Fuß zu fassen, aber sie landen im Wasser, im Dreck oder auf der Wache.

Die Vergangenheit, die an die Tür klopft, lässt die Freundschaften bröckeln. Und manch einer, sein Leben in den Griff kriegen möchte, fragt sich, wozu das gut sein soll, wenn am Schluss doch alles wieder anders kommt.

In griffigen Dialogen und bisweilen surreal anmutenden Szenen erhalten wir tiefe Einblicke in das Innenleben der Figuren und deren Suche nach einem Weg um die zahlreichen Abgründe des Lebens herum. »Geht Wollenmüssen?« ist nur eine der existenziellen Fragen, die dabei gestellt werden.

Tom Combo hat einen aufrüttelnden Roman geschrieben über Freundschaft, Selbstbestimmung, die alternative Szene, und darüber, wie bei aller Liebe alles auseinanderdriftet. In klarer Sprache erschafft er Bilder, die sich lange im Kopf halten.

Tom Combo, geboren 1965 in Winterthur, ist Autor, Musiker und Singer-Songwriter. Er veröffentlicht regelmäßig Beiträge in Zeitschriften, Zeitungen und Anthologien. Musik komponiert er für unterschiedlichste Filme und Kunstprojekte. Er schrieb Hörtexte für Schweizer Radio DRS 3 und verfasste und vertonte unzählige Hörspiele für Radio Stadtfilter. Die Radionovela »Hasenrain 21«, die er mitproduzierte, brachte es auf über zweihundert Folgen. Im Winter 2019 erscheint sein Solo Cello Album »Thaw«. Im Verbrecher Verlag erschien sein Erzählungsband »Vielleicht nur Teilzeit« und der Roman »Spielraum«.

TOM COMBO

INNERES LIND

ROMAN

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Erste Auflage

© Verbrecher Verlag 2019

Gestaltung und Satz: Christian Walter

ISBN: 978-3-95732-409-2
eISBN: 978-3-95732-416-0

Printed in Germany

Der Verlag dankt Laura Lo Conte und Morten Schneider.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

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Bichelsee, Ende Oktober. Wassertemperatur: acht Grad. Vereinzelt Schwebeteilchen, sonst klare Sicht. Das Licht der Taschenlampe gleitet über die mit Quaddeln übersäte Haut eines Körpers, der bäuchlings auf dem Grund liegt. Der Taucher fährt neugierig mit einer Hand über das Quaddelmuster, bevor er den Körper umdreht. Er schaut für einen Moment in die weit geöffneten Augen, während durch den Mund einige Luftbläschen entweichen und sich tänzelnd den Weg zur Wasseroberfläche suchen. Er zieht den Körper über den Grund ans nächste Ufer, wo er ihn auf das feuchte Gras legt. Das Muster auf der Haut scheint im kalten Licht der Herbstsonne rötlich zu leuchten. Vom Parkplatz her kommen die Sanitäter und Beamten herbeigeeilt.

»Die haben sich nackt ausgezogen und sind in den See gesprungen, der eine ist losgeschwommen und der andere hinterher. Die haben gelacht und sich angespritzt. Eine Frau war auch da, am Ufer, ja, Rock, oranger Pullover, schwarze Haare, Brille. Als die reingesprungen sind, hat sie den Kopf geschüttelt und ist weggegangen. Und da beginnt der eine plötzlich, mit den Armen zu rudern und wird rot, extrem rot. Ja, das ist ein ziemlich gutes Teleobjektiv, wird auch für Sportaufnahmen genutzt. Nein, ich hab nicht abgedrückt, man hat ja noch einen Anstand. Ja, auch gut für Naturaufnahmen. Und dann hat der Rote sich an den andern geklammert, ja, an den mit den kurzen Haaren und dem Bart. Der hat sich aber befreit und ihn weggestossen. Nein, ich weiss nicht, ob er ihn unter Wasser gedrückt hat, ich war ja auf der anderen Seite der Strasse, dort bei den Panzersperren. Also ich hab ja gedacht, die haben irgendetwas genommen, wie die sich benehmen, und so rot wird man doch nicht von alleine, und da ist die Frau zurückgerannt ans Ufer und hat angefangen zu schreien und dann hab ich gesehen, dass der Rote verschwunden ist und wie sie da hin und her rennt, denk ich natürlich ›oha‹, und sie geht in den See mit allen Kleidern und sie schreit und schreit, schon brusttief im Wasser, ehe der andere sie festhalten kann. Irgendwann ist sie ruhig geworden, und der andere, immer noch nackt, wohlverstanden, schleppt sie hinter sich her ans Ufer, und bellt sie an, sie solle sich ins Gras setzen und dort bleiben. Wir hatten ja früher viel Hippies hier in der Nähe. Und wie sie endlich still war, ist er wieder ins Wasser gegangen und ist mal da mal dort abgetaucht, ich glaube kaum, dass er bis zum Grund gekommen ist, sind immerhin sieben Meter und kalt ist es auch da unten, und dunkel, der hat da nichts gesehen. Am Schluss ist er nur noch rumgeschwommen und hat einen Namen gerufen, wahrscheinlich ja den von dem Roten, aber das hat natürlich keinen Zweck, jemanden zu rufen, der am Grund unten liegt und tot ist. Wenn er überhaupt tot ist, bei so kalten Temperaturen kann es ja sein, dass …« Der Mann räusperte sich. »Vielleicht habe ich zu lange gewartet, ja, aber tun hätte ich eh nichts können, und dann hab ich ja die Rettung alarmiert. Und wie ich nach dem Anruf wieder hinsehe, da schlägt und tritt die doch einfach auf den ein, also auf den, der wieder rausgekommen ist und der liegt einfach so da, ich meine, wer macht das denn, einfach so daliegen, wenn er verprügelt wird, auch wenn’s eine Frau ist. Und sie hat was geschrien, aber ich hab nichts verstanden, die ist total ausser sich gewesen und hat sogar die Brille verloren. Und ich bin dann vorsichtig Richtung Strasse gegangen und ich hab auch mal gerufen, sie solle aufhören, aber die hat gar nicht reagiert. Und dann habe ich gewartet, bis die Ambulanz kommt.

1

»Auch wenn es dir unangenehm ist«, sagte Bruno, »wenn du bei uns arbeiten willst, dann musst du ein bisschen was über dich erzählen. Sonst kann ich meine Partnerin kaum davon überzeugen, einen Typen ohne Hochbauzeichner-Abschluss einzustellen, der noch dazu ein perspektivisch falsches Kreuz auf seinem Arm hat.«

»Hm.« Kaspar schaute kurz auf das Tattoo.

»Und noch dazu jemanden«, fuhr Bruno fort, »der früher nicht gerade zu unseren Freunden gehörte.«

Kaspar schaute Bruno fragend an, dann sagte er, »Ah Mann, klar!« und lüftete seine grüne Schirmmütze. »Hab ich ganz vergessen, du hast zu diesen Bike-Typen aus Bassersdorf gehört! Mann, ich wollte da früher so dazu gehören, das glaubst du gar nicht!«

»Deshalb hast du auch … hast du nicht mit Steinen nach uns geworfen?«

»Hab ich schon, die Gewerbezone war mein Revier.« Kaspar dachte kurz nach und zog seine Mütze zurecht. »Das war allerdings früher, bevor es mit eurer Gruppe so richtig losgegangen ist.«

»Offenbar kannten meine Eltern deine Familie. Jedenfalls haben sie uns verboten, in die Nähe eures Hofes zu gehen.«

»Das war vernünftig.«

»Stimmt es, dass euer Vater Schnaps gebrannt hat?«

»Ich glaube, das war eines der wenigen illegalen Dinge, die er nicht getan hat. Ihm fehlte wohl zwischen Gefängnisaufenthalten, Saufen, Bordellbesuchen und dem Verprügeln von Allem, was in seine Nähe kam, die Zeit dazu.«

»War das nicht euer Haus, das damals abgebrannt ist?«

»Doch, ja.«

»Es haben noch mehr gebrannt damals, wenn ich mich recht erinnere. Der Brandstifter war ein Bauer, der bei der Freiwilligen Feuerwehr war.«

»Er hat bestritten, dass er unseres angezündet hat.«

»Es war das einzige, in welchem Leute umkamen.«

»Ja, meine Eltern.«

Bruno schaute Kaspar von der Seite an. Keine sichtbaren Regungen.

Bruno sagte: »Das klingt hart.«

»Nicht härter als das vorher, aber schon, ja. Meine Schwester ist bei einer grossen Familie untergekommen. Schien alles gut, dann hat sie begonnen, immer mehr zu essen. Sie ist sehr dick geworden und hat die Tour durch die regionalen Kliniken gemacht. Schliesslich ist sie vor den Zug gesprungen.«

Bruno war irritiert von der Nüchternheit in Kaspars Stimme, als dieser nach einer kurzen Pause fortfuhr: »Man lernt, Dinge zu akzeptieren.«

»Dann hast du auch nie erfahren, wer euren Hof angezündet hat?«

»Nein. Am Anfang wollte ich es unbedingt herausfinden. Aber mein Alter hatte viele Feinde. Und er hatte die Angewohnheit, im Bett zu rauchen. Und dann«, Kaspar stockte kurz, dann fuhr er fort, »passieren Dinge, die wichtiger sind und die Frage verliert an Bedeutung.«

»Was ist aus deinem Bruder geworden?«

»Der war erst im selben Heim wie ich. Als er fünfzehn war, ist er in eine Wohngruppe gezogen. Mit achtzehn ist er wegen eines Überfalls auf eine Filiale der Post in den Knast gekommen. Er behauptete, er habe die Sache ganz allein durchgezogen. Aber ich hab ihn in der Nacht nach dem Überfall gesehen und er war ziemlich auf allem, worauf man sein kann. Die Beute war weg, ich glaube, er ist von irgendwelchen Leuten benutzt worden. Er hatte so ein Talent dazu, verarscht zu werden.«

»Und was tut er jetzt?«

»Ich hab keinen Kontakt mehr zu ihm.«

Miriam und Bruno hatten definitiv die Nase voll von den Architekturbüros, bei denen sie angestellt waren. Genug von ihren Chefs und den nach ihnen stinkenden Häufchen, die sie in den öffentlichen Raum setzten. Ein wenig Erspartes und ein mittlerer Auftrag, der ihnen Arbeit für eineinhalb Jahre sicherte, ermöglichte ihnen den Absprung. Miriam und Bruno gründeten ihre eigene Firma, ALSO. Einige Aufträge aus dem erweiterten Freundeskreis kamen hinzu und es sprach sich herum, dass ALSO eine gute Lösung war, wenn man wenig Geld hatte und etwas Aussergewöhnliches plante.

Zum Beispiel den Umbau eines von einer Frauen-WG bewohnten Hauses in Oberwinterthur zu einer voll funktionsfähigen Bierbrauerei inklusive Abfüllanlage.

Doch Miriam und Bruno verstanden zu wenig von IT. Sie arbeiteten zwar mit den üblichen Adobe- und CAD-Programmen und Bruno machte nebenher Computermusik, wenn es jedoch um Netzwerk- und Hardwareprobleme ging, mussten sie jeweils einen Experten kommen lassen, was ziemlich ins Geld ging. Ausserdem brauchten sie jemanden für das ganze administrative Zeugs. Und jemanden, der sie dazu bringen konnte, halbwegs Ordnung in ihren Maschinen und an ihren Arbeitsplätzen zu halten.

Miriam war nicht begeistert, als Bruno erzählte, er hätte im Eck diesen Kaspar getroffen und mit ihm darüber geredet. Sie nahm ihre Brille ab und putzte sie mit dem Ärmel ihres Pullovers: »Kaspar Hartmann, sagst du, aber nicht der von den Nürensdorfer Hartmanns?«

»Doch schon, aber so wie der klingt, ist er einigermassen geläutert. Und ich glaube, er erfüllt alle Anforderungen.«

»Ach ja, und wo hat er bis jetzt gearbeitet?«

»Praktisch überall.«

»Hat er Referenzen?«

»Nein.«

»Irgendwelche Qualifikationen?«

»Eine nach zwei Jahren abgebrochene Lehre als Hochbauzeichner und danach etwa zwanzig Jobs.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Erinnerst du dich an die Diskussion, die wir vorgestern in der Küche hatten?«

»Klar, von wegen was Abschlüsse und Zeugnisse und so Dinge wert seien.«

Bruno nickte: »Er meint, er hätte die Lehre im Internet zu Ende gemacht und er würde jede Prüfung bestehen. Ich hab ihm ein paar Fragen gestellt und er hat alle beantworten können. Ausserdem ist er primär für den IT-Bereich zuständig.«

»Ja, und für IT hat er auch keinen Abschluss. Ich weiss nicht, wir haben bei der Konkurrenz eh schon den Ruf, unprofessionell zu sein«, meinte Miriam.

»Du weisst, dass das zum einen Teil an unserer Kundschaft liegt«, wandte Bruno ein, »und zum andern an der Art unserer Projekte. Oder haben wir je irgendwo einen Pfusch abgeliefert?«

Miriam schüttelte den Kopf.

Doch es ging noch eine Weile, bis sie sich unter vielen Vorbehalten dazu bereit erklärte, es mit Kaspar versuchen zu wollen. Sie bestand auf einer Art Test, um festzustellen, ob dieser über die nötigen Kenntnisse in IT und über genügend architektonisches Wissen verfügte.

Kaspar bestand den Test. Selbstverständlich hätte er Miriam im Bereich IT alles Mögliche vormachen können, er kannte sich allerdings auch mit dem neusten CAD-Programm und mit Adobe aus und hatte zumindest eine gewisse Ahnung von Statik und Bauphysik. Mehr jedenfalls, als man von jemandem mit abgebrochener Lehre erwarten würde. Miriam war beeindruckt. Zugleich blieb sie skeptisch, weshalb Bruno meinte, Kaspar habe wahrscheinlich mehr Bau-Praxis als sie beide zusammen, was in der Planung zusätzlich Vorteile bringen würde. Ausserdem würde niemand sonst für den Lohn arbeiten. Miriam nickte, dann sagte sie: »Na dann, meinetwegen. Aber wir machen schon irgendwas falsch. Kaspar weniger zu bezahlen als uns selbst, wäre ungesetzlich.«

Bruno nickte: »Irgendwann müssen wir unser Geschäftsmodell mal überdenken, aber vielleicht schauen wir erst mal, wie das mit Kaspar anläuft. Könnte ja sein, dass es besser wird mit den Finanzen, die IT-Ausgaben sparen wir uns schon mal.«

»Hm ja. Ewig geht das auch nicht mehr, dass Ardiana praktisch gratis nach Sophia schaut«, sagte Miriam und runzelte die Stirn.

Bruno nickte, er verstand, dass es nicht einfach war auf ihre Art zu arbeiten und dabei für ein Kind zu sorgen. Aber sich die Projekte und die Kunden bis zu einem gewissen Grade selbst aussuchen zu können, hatte seinen Preis.

Warum das Eck Eck hiess, war in der langen Geschichte des Lokals untergegangen. Die Lage konnte es nicht sein, denn es lag in der Mitte einer langen, leicht gebogenen Häuserzeile im Stadtkern. Auch im Innern des Lokals hätte man vergeblich nach einem Hinweis auf den Namen gesucht: Im Erdgeschoss befanden sich Küche, Bartresen und ein paar Tische, ein Stockwerk höher die Klos, ein kleines Büro und der Raucherraum. Nichts davon war besonders eckig.

Untrennbar verbunden mit dem Eck war Mark, der sein ganzes bisheriges Leben an diesem Ort verbracht zu haben schien. Breit gebaut, mit etwas schütteren hellbraunen Haaren stand er hinter dem Tresen, die Arme verschränkt, sein im Raum umherwandernder Blick wachsam und ruhig zugleich. Gleich daneben, im hinteren Teil befand sich der Platz der Stammkundschaft, oder des Inventars, wie sie im Eck genannt wurde. Wie Mark gehörte das Inventar zur alten Garde, es bestand aus Achtziger- und Neunziger-Fossilen, die es irgendwie geschafft hatten, sich weder kaputt zu saufen, noch allzu konformistisch zu werden. Ausdrücklich links war man immer noch, nur abgeklärter und dem einen oder der anderen fiel es schwer, sich an heutige, kurzlebigere und ideologisch weniger untermauerte Formen des Widerstands zu gewöhnen. Und im Gegensatz zu früher lag man sich mit der Polizei nur noch selten in den Haaren. Einige Schwierigkeiten gab es mit einem übereifrigen Polizisten, Herrn Merz, der mal wegen des Rauchverbots, mal einer Ruhestörung und mal wegen unerlaubten Trinkens vor dem Haus einmarschierte. Manchmal kam er auch in Zivil herein und man fand ihn im Keller wieder, den er angeblich nach Drogen durchsuchte.

Seit den Achtzigern führte ein Kollektiv das Eck. Mark war es zu verdanken, dass es sich nicht mehr wie zu Anfang KollEcktiv schrieb. Die Kundschaft bestand aus Linksaktivisten und Linkspassivisten, Neo- und Ex-Punks, FCW-Fans, Veganern, Hängern, Sinn- und Asylsuchenden, später auch aus Skatern, Bikern, Snowboardern und Hipstern. Kaum jemand fiel auf, weil hier alle auf irgendeine Weise auffällig waren.

Der einzige, der auf den ersten Blick aus dem Bild stach, war Patrick. Nicht wegen des Bartes, einen solchen trug hier jeder Dritte. Patrick war eine Legende, der mit Abstand beste Downhill-Biker der Region. Bis zu dem Tag, als er bei einer Bike-Tour spurlos verschwand.

Fast ein Jahr lang hörte niemand von ihm.

Dann kam er zurück.

Im Eck tat man damals so, als ob man sich erst grad gesehen hätte.

Mark sagte: »Hallo Patrick.«

Patrick sagte: »Hallo Mark, ein Bier.«

Mark sagte: »Schöner Rollstuhl.«

2

Vierviertel, Bruch, dürre Esche, Knistern, Hieb mit Sanddorn, Schlag Tanne, und dann frage ich mich, wo soll ich hin, es zieht mich in alle Richtungen und wenn ich einen Schritt gemacht habe, spannt sich ein Band um meinen Bauch und ich gehe weiter und das Band spannt sich immer mehr, bis ich den Halt verliere und zurückschnelle und stürze, und ich rapple mich wieder auf und gehe woanders hin, doch es ist immer das gleiche, manchmal gehe ich gleichzeitig in mehrere Richtungen und dann Wumm! Eiche, Halbbruch, Knistern, Reisig.

Bruno war auf dem Weg zur Arbeit, als jemand auf dem Sulzerarreal seinen Namen rief.

Gerda. Mit Kaspar.

Bruno hielt an.

»Hi.«

»Hi.«

»Hi.«

Stille.

Eigentlich war alles klar.

»Bist du morgen im Büro?« fragte Bruno Kaspar, um einfach irgendwas zu fragen.

»Klar«, meinte Kaspar und zog seine grüne Schirmmütze ein bisschen nach hinten.

»Dann bis dann«, sagte Bruno, boxte Gerda im Losfahren leicht in den Oberarm und sagte: »Bis bald.«

Bruno schaltete, offensichtlich mit ein wenig zu viel Druck auf die Pedale, sodass die Kette über den hinteren Zahnkranz raspelte. Gerda, technisch die bessere Radfahrerin als er, würde es registriert haben. Sie würde daraus folgern, dass er angespannt sei. Sollte sie doch, meinte ein Teil Brunos, ein anderer fragte, warum er angespannt gewesen sei, bis sich beide Teile mit ihren Kumpeln trafen, um die beste Linie durch den Stadtverkehr zu finden.

Während er ins Innere Lind fuhr, fragte er sich, weshalb Kaspar nichts davon erzählt hatte, dass sie zusammen waren. Oder Gerda. Andrerseits waren sie ihm auch keine Rechenschaft schuldig.

Bevor er ins Büro trat, hielt er einen Moment lang inne. Er wunderte sich einmal mehr darüber, was für seltsame Tattoos Kaspar hatte, zum Beispiel dieses perspektivisch falsche Kreuz, Klassiker, allerdings für Leute, die zwanzig Jahre älter waren als er, dann ein mit Rosen verziertes »Fuck You« und schliesslich dieses Windrad, das aus vier Fächern bestand und aussah, als hätte es ein Achtjähriger gezeichnet.

Ihr Büro befand sich in einem alten kleinen Waschhaus im Inneren Lind in der Nähe der Geleise. Öffnete man die grün lasierte Eichentür trat man in einen kurzen Flur und darauf in einen grösseren Raum. In dessen Mitte stand ein grosser Tisch, um ihn herum waren drei Arbeitsplätze angeordnet. An der Wand neben dem Eingang befand sich ein länglicher Korpus und darauf das Modell eines zylinderförmigen Gebäudes. Daneben standen Versandrohre in verschiedenen Längen und ein weiterer Korpus mit einem Drucker darauf. Ein paar Schritte weiter führte eine Tür in eine kleine Küche mit Tisch, Stühlen und Kochnische. Die Aussenwände des Büros bestanden aus rostrotem Sichtbackstein. An der Trennwand zwischen Küche und Büro war eine breite weisse Pressholz-Platte angebracht worden, an der verschiedene Fotos und Pläne von Bauprojekten hingen.

Bruno war erst dagegen gewesen, das Haus zu mieten, er meinte, das sei so architektenmässig, die Büros in alten schmucken Gebäuden zu haben. Miriam meinte bloss, sie seien Architekten.

Bruno war froh, dass Miriam ihn schliesslich überredet hatte, war es doch fast schon idyllisch, hier zu arbeiten. Das Häuschen war umgeben von einem Urwald an wild wuchernden Pflanzen und Sträuchern, die gerade jetzt im Frühsommer um die Wette zu blühen und zu riechen schienen.

Miriam schaute auf ihr Smartphone und sagte: »Das Plexiglas ist ok. Theoretisch sollte es halten bis zu einer Last von zwei Tonnen pro Quadratmeter.«

»Deine Statik-App in Ehren,« sagte Bruno. »aber das Problem ist die Punktlast.«

»Was, denkst du denn, könnte an dieser Stelle eine derart hohe Punktlast erzeugen.«

»Eine Giraffe.«

»In einem Schwimmbad, dazu noch auf einem Dach? Hab ich noch nie gesehen.«

Bruno zuckte mit den Schultern: »Ich vertrau der Sache erst, wenn’s mir nicht deine App sondern der Statiker bestätigt hat.«

»Hm ja, genau«, Miriam schnaubte kurz, »der Statiker, für den wir unbedingt Geld ausgeben müssen, noch bevor wir den Auftrag haben.«

Bruno sah sie schräg an und sagte: »In den Richtlinien des Ideen-Wettbewerbs steht, dass bei den ersten drei die Auslagen bis zu einem Betrag von zweitausend Franken gedeckt sind, und ich geh jetzt mal davon aus, dass wir mindestens den dritten Platz belegen.«

Die Tür zu Brunos Altbauwohnung in Winterthur-Töss liess sich nur schwer öffnen. Man musste mit einem Ruck daran ziehen, damit das schwere Holzteil aufschwang und es sogleich wieder abbremsen, damit die Klinke nicht in die Wand einschlug. Davon, dass dies nicht jedem gelang, zeugte ein tiefes Loch in der Rigips-Platte dahinter. Brunos Technik bestand darin, die Tür mit viel Impuls zu öffnen und sie nach einem Griffwechsel sogleich wieder abzubremsen. Alles sehr gekonnt, doch jemand, der vor der Tür stand, war in der Regel überrascht von der Vehemenz, mit der sie geöffnet wurde.

Diesmal war es Kaspar. Er war nicht überrascht.

»Kann ich reinkommen?«

»Klar.«

Bruno führte ihn in die Küche.

»Was zu trinken?«

Kaspar sagte nichts.

Bruno schaute aus dem Fenster: »Worum geht’s denn?«

»Gerda.«

»Ja?«

»Sie macht mir Angst.«

»Ok?«

»Sie hat doch mal bei dir gewohnt.«

Bruno fragte sich, ob Gerda den Teil mit ihrer Beziehung ausgelassen hatte. Obwohl, Beziehung war vielleicht etwas zu viel gesagt. Oder zu wenig? Bruno konnte diese Frage noch immer nicht genau beantworten.

Tatsache war: Gerda war zunächst Patricks Freundin gewesen. Als dieser spurlos verschwand, zog sie bei Bruno ein. Sie verbrachten unheimlich viel Zeit zusammen. Und ja, Bruno verliebte sich in Gerda. Dann kam Patrick zurück. Als er erfuhr, dass Gerda bei Bruno eingezogen war, kam er die beiden besuchen. Er liess sich von ihnen im Rollstuhl in die Wohnung hochtragen. Dann zerstörte er ein paar Dinge. Danach sagte er, dass sie ihn wieder runtertragen sollen. Bald darauf zog Gerda aus und sie verloren sich für eine gewisse Zeit aus den Augen.

Bruno sagte zögernd: »Hat sie, ja.«

»Ist dir nichts aufgefallen?«

Bruno war eine Menge aufgefallen. Ihre Anmut, die Art, wie sie die Zähne putzte, wie sie ihr rostbraunes Haar kämmte, wie sie ihr schwarzes Haar kämmte, wie sie ihr blondes Haar kämmte, dass sie die Schuhe nie band, sondern die Senkel immer so locker hielt, dass sie einfach hineinschlüpfen konnte, beziehungsweise bei Sportschuhen, die enger gebunden sein mussten, erst versuchte, die Füsse in den Schuh hinein zu quetschen, damit sie die Senkel nicht öffnen musste, um dann meist schnaubend festzustellen, dass das eigentlich nicht ging, worauf sie fluchend den auf einen Stecknadelknopf zusammengeschrumpften Knoten löste und dann die Schuhe aus Trotz so eng band, dass Bruno sich fragte, ob noch Blut durch den Fuss fliessen konnte, was offensichtlich der Fall war, denn sie schlug ihn bei den meisten Sportarten und ihre Füsse sahen danach genauso geschmeidig und frisch aus wie zuvor. Ausserdem ihre braunen Augen und der dunkle Fleck in der linken Pupille, oder dass sie jedes Mal die Nase rümpfte, wenn sie an einem Heftpflaster roch …

Er packte all dies in ein beiläufiges Schulterzucken.

Kaspar schaute ihn an: »Weisst du, was sie meint, wenn sie schreibt, ›kein kontakt, modus‹?«

Bruno runzelte die Stirn, doch noch bevor er etwas antworten konnte, meinte Kaspar: »Sorry. War ein Fehler, herzukommen.«

Bruno winkte ab und erzeugte ein paar beschwichtigende Geräusche mit seinem geschlossenen Mund. Kaspar war jedoch bereits aufgestanden und verliess mit einem Nicken die Küche. Bruno wartete darauf, dass die Klinke in die Wand gerammt wurde, doch Kaspar hatte die Tür offensichtlich im Griff, denn abgesehen von einem kurzen Quietschen und Kaspars Schritten war nichts zu hören.

Bruno zog sich um, nahm sein Mountainbike und fuhr von Töss her über die Breite hoch zum Eschenberg. Das Falkentobel lag im Nordwesten des Waldes, in der Nähe des Ortes Sennhof. Oberhalb des Tobels befand sich eine steile Passage, an der Bruno schon öfters gescheitert war. Heute schaffte er sie. Es war nur ein kleiner Teil seiner Rundfahrt, einer Route durch den ganzen Eschenberg, die er im Turnus von etwa drei Monaten fuhr. Alles Single Trails, ein Teil davon bestand aus Pferdewegen und aus bestehenden Pfaden, den anderen baute er selbst: Holz aus dem Weg räumen, den einen oder anderen Busch schneiden, Äste und Steine über zu grosse Löcher legen. Hin und wieder baute er Kurven mit der Klappschaufel, die er immer dabeihatte. Der Trail sollte nicht auffallen. Trotzdem hatte der eine oder andere Waldarbeiter die Reifenspuren schon gesehen. Dies hatte jedoch lediglich dazu geführt, dass einige Stellen mit Schlagholz zugedeckt worden waren. Nägel oder so Zeugs konnten sie nicht streuen, sonst hätte sich das Wild verletzt.

Bruno fragte sich, ob er den Abschnitt nochmal fahren sollte. Er entschied sich dagegen und beschloss, stattdessen eine Kurve auszubessern und ein paar Tonaufnahmen zu machen. Field Recordings, auf die Idee war er vor zwei Jahren gekommen, als er nachts nach einer Tour plötzlich die Geräusche der Fahrt wieder zu hören schien: Das Brechen von Ästen, das Rascheln von Blättern und das Knirschen von Holz, alles fügte sich in seinem Kopf zu wiederkehrenden Rhythmen zusammen. Also nahm er das nächste Mal einen Rekorder mit, um Geräusche aufzunehmen, die er zuhause schnitt und erst zu Rhythmen und dann zu eigentlichen Stücken zusammenfügte. Statt eines Titels versah er sie mit kurzen Beschreibungen: »Schlag, Buche, morsch, dünn, dumpfer Bruch, Eschenzweig, hell, Reisig, Knistern, vielleicht Snare«, oder: »Buche, mittel, grün, kanadische Föhre, korkig, ähnlich wie Styropor, quietschend«. Oft notierte er einen Grundtakt, der allerdings meist von anderen Rythmen überlagert wurde. Die Holzsorten kannte er aus der Materialkunde. Allerdings nahm er es mit deren Bestimmung nicht so genau.

Anfangs lud er die Klänge noch in einen Sampler und spielte sie in verschiedenen Geschwindigkeiten und Tonhöhen ab, doch mit der Zeit versuchte er immer mehr, Originalklänge so zu kombinieren, dass sich neue Harmonien und Rhythmen ergaben. Oder er suchte nach Geräuschen, die selbst schon aus kleinsten Rhythmen und Melodien bestanden.

»Hallo Krüppel«, sagte Gerda, als sie hereinkam und an Patricks Tisch vorbei ging.

»Hallo Schlampe«, sagte Patrick.

Im Eck senkte sich bei diesem Dialog noch nicht mal mehr der Geräuschpegel. Was die beiden miteinander und was sie gegeneinander gehabt hatten – sie waren offenbar darüber hinweg, denn gleichzeitig beugte sich Gerda hinunter und küsste Patrick auf die bärtige Wange.

Bevor sie sich an ihren Tisch setzte, blickte sie hinüber zu Bruno, der bei der Theke stand. Er nickte kurz, und nahm einen Schluck Bier. Eigentlich hatte er nur kurz was trinken wollen. Mittlerweile hatte sich der Laden gefüllt, und er war bei der dritten Flasche angelangt. Neben ihm stand der Schnauzer. Der Schnauzer trug, wie der Name andeutete, einen Schnauzbart, ausserdem war er oft auf Koks oder Thurgau-Speed und laberte daher ziemlich viel.

Der Schnauzer sagte zu Bruno: »Weisst du, was ich hier am meisten mag?«

Bruno schüttelte den Kopf.

»Dass dir hier niemand Fragen stellt.«

Bruno wandte ein, dass er ihm eben eine gestellt habe.

Der Schnauzer sagte: »Yeah, stimmt, cool«, und Bruno schüttelte genervt den Kopf. Er drehte sich zu Mark um, der gerade Flaschen ins Kühlregal stellte, und sagte, dass er nach Hause gehe. Mark nickte: »Viel Glück für morgen.«

»Danke.« Bruno drehte sich um, dann hielt er einen Moment lang inne. Auf dem Weg nach draussen musste er an Patricks Tisch vorbei. Das würde nicht gehen, ohne ein paar Worte zu wechseln, denn mehr als kurz begrüsst hatten sie sich heute noch nicht. Also drehte er sich nochmal um, legte fünf Franken auf die Theke und sagte zu Mark: »Noch eine Flasche.« Dieser zog die rechte Augenbraue hoch und meinte, während er Bruno die Flasche reichte: »Du hast doch gesagt, die Präsentation morgen sei wichtig.«

Bruno winkte ab, bedankte sich für das Bier und ging zu Patricks Tisch.

»Ja, die Leute schwimmen in fünfzehn Metern Höhe und nur einige Zentimeter Plexiglas bewahren sie davon, zusammen mit ein paar Tonnen Wasser auf den Steinboden der Halle zu klatschen.« Vor Bruno standen zwei weitere leere Bierflaschen und drei ebenso leere Schnapsgläser. »Stell dir vor, das Sonnenlicht bricht sich in den Wellen und dem Plexiglas und sorgt auf dem Boden für ständig sich verändernde Bilder.«

»Beeindruckend, ja, das hätte ich dir nicht zugetraut«, meinte Patrick und fuhr sich kurz durch seinen schwarzen Bart.

Die Tür öffnete sich. Kaspar kam herein, ging nach einem Blick durch den Raum zu Gerdas Tisch, legte ihr kurz die Hand auf die Schulter und nahm sich einen Stuhl vom Nachbartisch. Gerda schaute nur kurz und sagte »Hi Kaspi«, dann wandte sie sich wieder ihrem Gesprächspartner zu. Severin war ein aktives Mitglied der SP-Winterthur, der bei einem Start Up arbeitete, das sich auf Marketing für Firmen im Medizinalbereich spezialisiert hatte. Bruno hatte ihn einmal bei einer Podiumsdiskussion zum Thema ›bedingungsloses Grundeinkommen‹ gesehen, wo er ein ziemlich fundiertes Statement abgegeben hatte. Er fand er ihn recht nett, wenn auch ein bisschen langweilig.

Severin rückte widerwillig von Gerda weg, sodass Kaspar seinen Stuhl ein bisschen zurückversetzt zwischen sie stellen konnte. Die Szene wirkte seltsam auf Bruno. Kaspar und er blickten sich einen Moment lang an, während sich Severin zu Gerda hinüber neigte, ihr sein Smartphone entgegenstreckte und sagte: »Wollt ich dir schon lange mal zeigen, weisst du noch, Anti-WEF auf dem Helvetiaplatz, da hinten gleich neben dem Soundmobil, das bist du!«

Patrick stiess seine Faust in Brunos Oberarm. »Hey aufwachen … Denkst du, ihr habt eine Chance mit dem Schwimmbad?«

»Ich weiss nicht, wir sind schlecht im Verkaufen, sagt jedenfalls Miriam. Sie probt schon seit einer Woche für die Präsentation.«

»Ah krass, und die ist morgen, hast du gesagt.« Patrick schaute auf die leeren Flaschen und Gläser, räusperte sich und sagte: »Und da denkst du, es ist gut, wenn zwei Drittel eurer Belegschaft hier rumsäuft.«

»Ach, Kaspar hat damit nichts zu tun und Miriam macht die Hauptsache eh alleine.«

Patrick nickte und sagte in etwas kühlerem Ton: »Wie geht’s ihr eigentlich, Miriam? Weiss nicht, wann sie das letzte Mal hier war.«

»Ok, glaub ich.«

»Und dem Mädchen?«

»Auch nicht schlecht, Miriam stellt jeden Monat ein neues Foto auf den Schreibtisch und jede Woche eines auf Instagram. Würd ich ja nicht tun … nimmst du noch ein Bier?«

Patrick schüttelte den Kopf: »Ich sollte …«

»Du musst noch fahren, haha«, sagte einer am Tisch, Patrick lächelte müde durch seinen Bart hindurch und quietschte mit einem Rad.

Bruno fasste erneut den Entschluss, nach Hause zu gehen. Er schaute zur Bar und runzelte die Stirn. Der Schnauzer lehnte sich mit dem Rücken an die Theke, ein Bier in der Hand. Kaspar stand gleich neben ihm. Er bestellte gerade, als der Schnauzer auf Gerdas Tisch zeigte und etwas zu Kaspar sagte. Dieser drehte den Kopf und schaute zu Severin, der die eine Hand auf Gerdas Arm gelegt hatte, während er mit der andern sein Smartphone hielt und mit dem Daumen darüberwischte. Dann stellte er das Gerät auf den Tisch und beide schauten lachend auf den Bildschirm.

Kaspar bezahlte, trug das Bier zu seinem Platz, stellte es auf den Tisch und rammte Severin die Faust ins Gesicht.

Im Eck war schon eine Weile nichts Ähnliches mehr passiert, doch die alten Reflexe funktionierten noch: Zwei Typen kamen und hielten Kaspar fest, während Mark nach dem Knüppel unter dem Tresen griff. Als er merkte, dass er ihn nicht brauchen würde, liess er ihn wieder los und ging zu Severin, der mit den Händen vor dem Gesicht auf dem Boden lag. Bruno schaute erst zu ihm, dann zur Tür, die Gerda gerade hinter sich schloss. Severin richtete sich mit der Hilfe Marks auf und drehte sich zu Kaspar um: »Hätte ich mir ja denken können, dass du bloss so eine dumme Fascho-Sau bist!« Blut und andere Flüssigkeiten rannen über sein Kinn, »Aber nicht mit mir, du Idiot, nicht mit mir, das kriegst du zurück, aber sowas von!« Er langte nach seinem Telefon, auf dem nach wie vor ein Video lief, in welchem Leute mit Anti-WEF-Transparenten zu sehen waren. Dazu lief ein Manu Chao-Song. Severin stoppte das Video und rief die Polizei an. Normalerweise wäre er dafür gleich nochmal gehauen worden, das hier war das Eck und hier wurden keine Bullen gerufen. Doch man machte eine Ausnahme, führte ihn sanft nach draussen und setzte ihn auf einen der Raucherstühle neben der Eingangstür. Ein Angestellter holte Desinfektionsmittel und einen Brotkorb voller Servietten. Er stellte das seltsame Gedeck neben Severin auf einen Tisch. Dann wählte er die Nummer eines Taxifahrers, der angeblich nicht so heikel tat wegen Blut. Nachdem das Taxi bestellt war, sagte er zu Severin: »Das ist billiger als eine Ambulanz und bringt dich ebenso schnell in die Notaufnahme.« Severin nickte, und sagte, so gut das ging, dass er erst noch kurz mit den Beamten reden wolle.

Drinnen hatte man die Spuren des Vorfalls beseitigt und die unterbrochenen Gespräche nach kurzer Zeit wieder aufgenommen. Kaspar wurde immer noch bewacht, was ein bisschen seltsam aussah. Von seiner Wut war ihm nichts mehr anzusehen. Bruno wollte auf ihn zugehen, Kaspar schüttelte jedoch den Kopf und gab ihm zu verstehen, dass er besser gehen solle. Bruno nickte, er war ohnehin zu betrunken, um etwas Vernünftiges tun zu können. Und da war ja auch noch diese Präsentation. Scheisse. Bruno nickte Kaspar zu und machte sich auf den Heimweg.

Kaspar wurde ebenfalls nach draussen geschoben, nicht nur wegen der Bullen und des auf der Stelle ausgesprochenen Hausverbots, sondern auch, weil die beiden Typen, die seine Bewachung übernommen hatten, rauchen wollten. Sie stellten sich zwischen ihn und Severin, um ein Aufflammen des Konflikts zu vermeiden. Kaspar gab ihnen jedoch zu verstehen, dass er ihm nichts mehr tun würde, auch wenn sie ihn nicht dauernd anstarren würden. Als er nach einer Zigarette fragte, lockerte sich die Stimmung ein wenig. Alle ausser Severin rauchten und niemand sagte etwas, bis sich eine Streife durch die Fussgängerzone tastete.

Bruno war immer noch daran, sein Rad aufzuschliessen, als sie auf seiner Höhe war. Er fluchte.

Der Wagen stoppte und zwei Beamten stiegen aus. Der ältere der beiden zeigte auf das Eck und fragte: »Warst du da drin?«

Er nickte und sagte grinsend: »Jawoll Herr Merz.« Es war nicht das erste Mal, dass er mit dem Stammpolizisten des Eck zu tun hatte. Dieser blickte drohend und machte einen Schritt auf Bruno zu, als den beiden vom Eck her zugerufen wurde, dass sie hier gebraucht würden. Etwas, worauf sie nicht unbedingt reagiert hätten, wäre der Ruf nicht von einem Rollstuhlfahrer gekommen.

Bruno winkte Patrick zu und schickte ein tonloses Danke hinterher, bevor er sein Rad aufschloss und nach Hause schlingerte.

In dieser Nacht klopfte es an Brunos Tür. Er hörte es nicht.

Als er kurz aufstand, um zu pinkeln, merkte er, dass die Tür zum Arbeitszimmer verschlossen war. An ihr klebte ein Post-it: »Ich bleibe eine Weile, wenn ok. Gerda.«

»Ich bin ausgetickt«, sagte Kaspar. Der jüngere Beamte machte das Protokoll. Herr Merz hatte es sich nicht nehmen lassen wollen, im Eck einmal ausgiebig nach dem Rechten zu sehen.

Der Beamte blickte auf: »Ausgetickt. Was genau verstehen sie darunter?«

»Rot gesehen halt, durchgedreht.«

Der Beamte tippte die Worte mit zwei Fingern in die Tastatur, dann fragte er: »Gab ihnen das Opfer einen Grund dafür?«

Kaspar sagte nichts.

Der Beamte schaute ihn fragend an.

»Er hatte so eine Art, und er hat meine Freundin angefasst.«

Wieder schrieb der Beamte und fragte dann: »Und, machte ihre Freundin den Eindruck, dass sie nicht angefasst werden wollte?«

Kaspar schaute weg und biss sich auf die Lippen: »NEIN, VERDAMMT! DEN EINDRUCK MACHTE SIE NICHT! WAS SOLL DIESE VERFICKTE SCHEISSE HIER!« Ein kurzer gepresster Laut war alles was zu hören war.

Nach einer Pause sagte er: »Nein.«

Er atmete nochmal und zählte innerlich fünf Dinge auf, die er wahrnahm.

Jemand kam herein, legte ein Papier auf den Tisch und verliess den Raum wieder.

»Hm, fast kein Alkohol im Blut«, sagte der Beamte.

»Hab ich ja gesagt.«

»Wär vielleicht besser gewesen, sie hätten was getrunken.«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Immerhin, das erspart ihnen die Ausnüchterungszelle. Andrerseits bräuchte ich irgendeinen Anhaltspunkt, dass von ihnen keine Gefahr mehr ausgeht. Was ist, wenn sie heute nochmal ›austicken‹«?

Der Beamte schaute auf die Tattoos: »Irgendwie seltsam, das gekritzelte Windrad da auf ihrem Arm, kommt mir ziemlich psychomässig vor.«

»Ich bin kein Irrer, wenn sie das meinen.«

»Das ist nicht genug. Sie wissen, dass Schläge auf den Kopf unheimlich gefährlich sind. Die Leute sehen das ja dauernd im Fernsehen und denken, das sei nicht so schlimm, aber ein Schlag an die falsche Stelle, oder jemand fällt um, das kann übel enden.«

Kaspar nickte und verkniff sich ein »Ich weiss was ich tue«.

Der Beamte schaute in den Computer und sagte: »Sie arbeiten in einem Architekturbüro, haben sie gesagt.«

»Ja.«

»Da ist man wahrscheinlich auch nicht so begeistert, wenn die Angestellten nachts Leute verprügeln.«

Kaspar rollte kurz mit den Augen. Der Beamte hatte längst entschieden, dass er ihn gehen liess, das hier war bloss noch das Einfordern von Respektsbekundungen.

Nach einigen belanglosen Fragen und Feststellungen nickte der Beamte abschliessend und verliess das Büro.Nach einer Weile kam ein anderer herein und sagte, er solle das Protokoll unterschreiben, dann könne er erstmal gehen. Sie würden abwarten, ob das Opfer Anzeige erstatte und dann weitersehen.

Kaspar unterschrieb das Papier, nachdem er es überflogen hatte, und verliess das Büro mit einem kurzen »Ade«.

Als er draussen war, nahm er sein Handy hervor und schrieb Gerda. Sie antwortete nicht.

»Scheisse«, sagte Kaspar.

Sechsachtel, dann unbestimmt, wechselnde Geschwindigkeit, verschiedene Brüche, Birke, unregelmässige, federnde Schläge mit Zweigen, ich weiss, es ist jetzt schon so lange her, aber für mich fühlt es sich oft so an, als wäre es gerade erst geschehen. Meine damalige Therapeutin meinte, ich solle versuchen, alles einfach hinter mir zu lassen. Doch das geht nicht. Wir sind auch mal rausgefahren an den See und sie hat gesagt, ich solle doch jetzt trauern, also habe ich mich ins Gras gesetzt und so getan, wie wenn ich trauern würde, doch ich habe überhaupt nichts gefühlt und mehr als einen nassen Hintern hat mir das nicht gebracht. Die jetzige Therapeutin ist besser, die sagt, dass es halt so lange brauche, wie es brauche. Wir reden immer mal wieder darüber, wenn’s drängt. Der Tag wiederholt sich auch heute noch in meinem Kopf: Hm, alles beginnt mit dem Morgenessen und der Nachricht von Patrick, ob wir rauskämen, er habe eine Abfahrt präpariert in der Nähe des Sitzbergs. Du kennst die auch, hast du mal gesagt. Also für mich kam das im fünften Monat natürlich nicht mehr in Frage, aber sie haben mich gebeten, sie kurz hochzufahren, … auch ziemlich faul von denen, die paar Höhenmeter, und dann bin ich zum Bichelsee gefahren und hab gedacht, ok, warte ich noch am Ende des Trails, bis sie ankommen. Ich weiss es nicht, ich glaube, wenn ich stattdessen nach Hause zurückgekehrt wäre, wären sie nicht in den See gesprungen, die hatten dieses Konkurrenzdings vor allem dann, wenn ich dabei war. Und wenn ich an dem Morgen nicht mit Florim gestritten hätte, vielleicht hätte er dann mehr nachgedacht, langsame träge Abfolge von Reibgeräuschen von grober Tannenrinde, dann schnelle Schläge von trockenem Hartholz mit Tannen-Bass.

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