Cover

Tanja Polli | EIN LEBEN FÜR DIE KINDER TIBETS – Die unglaubliche Geschichte der Tendol Gyalzur | WÖRTERSEH

 

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2019 Wörterseh, Lachen

Lektorat: Reto Winteler
Korrektorat: Brigitte Matern
Lektoratsleitung und Koordination: Andrea Leuthold
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina
Foto Umschlag: Tendol Gyalzur mit einem Nomadenkind (Privatarchiv)
Bildteil: Privatarchiv; letztes Bild © Fotostudio Adrian Portmann
Bildbearbeitung: Michael C. Thumm
Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Beate Simson
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel

Print ISBN 978-3-03763-109-6
E-Book ISBN 978-3-03763-771-5

www.woerterseh.ch

 

འཛམ་གླིང་ལེགས་ཚོགས་ཡོང་ཆེད་
 
Für das Gute in der Welt

 
Ein guter Mensch zu sein, hängt weder von Religion, Status, Rasse, Hautfarbe noch von politischen Ansichten ab. Für mich geht es allein darum, wie du andere behandelst.

Tendol Gyalzur

 

Inhalt

Über das Buch

Über die Autorin

Liebe Leserin, lieber Leser …

Vorwort

Die Flucht

Im Widerstand

Leben im Flüchtlingslager

Windpocken und prügelnde Lehrer

Dharamsala

Vom Krieger zum Lehrer

Die Seife

In der Fremde

Unterhosen, Nudelsuppe und die Fabrik

Japaner und eine kleine Rebellion

Erste Lehrjahre

Freiheit

Nicht unbedingt der Mann der Träume

Vier Männer und die Schweiz

Wilde Heimat

Straßenkinder

Nächstenliebe

Behördenmarathon

Vorwürfe

»Wichtige Leute«

Läuse und Wanzen

Dämonen und Schmerzmittel

Karma oder Fluch?

Trügerische Idylle

Die Söhne kommen

Die unfreiwillige Pensionierung

Gleichberechtigung

Shangri-La

Die schwerste Entscheidung

Die Honigmädchen

Kuriose Ideen

Eine große Familie

Unruhige Zeiten

Wo die Liebe hinfällt

Verwaiste Räume

Mission nicht erfüllt?

Hiobsbotschaft

Dunkle Wolken

Eskalation

Tölung – am Ende

Bier und eine ungewisse Zukunft

Nachwort

Dank

 

Über das Buch

Tendol Gyalzur ist noch ein Kind, als sie 1959 auf sich allein gestellt aus Tibet fliehen muss. Auf dem beschwerlichen Weg über die Pässe des Himalajas verliert sie ihre Eltern und ihren Bruder. Jahre später nimmt sich der Dalai Lama des Waisenmädchens persönlich an, schickt es nach Deutschland, wo es zusammen mit elf anderen tibetischen Waisen in Wahlwies in einem Pestalozzi-Dorf aufwächst. Nachdem Tendol ihren späteren Mann Lobsang Tsultim Gyalzur kennen gelernt hat, kommt sie in die Schweiz. Die beiden heiraten und werden Eltern von zwei Buben.

Als die Söhne vierzehn und sechzehn Jahre alt sind, kehrt Tendol zum ersten Mal nach Lhasa zurück. Allein. Sie steht vor dem Potala-Palast und realisiert, dass an diesem heiligen Ort Kinder auf der Straße leben, hungern. Kinder, wie sie eines war. Tendol kann nicht anders, sie bleibt. Mit ihren bescheidenen Ersparnissen eröffnet sie das erste Waisenhaus Tibets. Heute sind Tendol und Lobsang Ersatzeltern von über dreihundert tibetischen und chinesischen Kindern. Ihre Söhne, für die Tendols Entscheid, in Tibet zu bleiben, anfangs schwer zu verstehen war, unterstützen sie heute mit all ihrer Kraft. Der ältere, Songtsen, lebt heute im tibetischen Hochland und hat dort die erste Craft-Beer-Brauerei Tibets eröffnet, die ein Ausbildungs- und Arbeitsort für ehemalige Heimkinder ist. Der jüngere, Ghaden, lebt in der Schweiz und fördert das Projekt von hier aus. Was die beiden an ihrer Mutter besonders schätzen, ist ihr selbstloses Engagement, für das Wohl hilfsbedürftiger Kinder zu kämpfen.

Tendol Gyalzur weiß nicht, wann sie geboren wurde. Nicht, in welchem Jahr, und schon gar nicht, an welchem Tag. Sie ist sich aber sicher, dass sie im Oktober 1950, als vierzigtausend Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee in Tibet einmarschierten, noch nicht auf der Welt war. Neun Jahre später, im März 1959, floh der Dalai Lama nach Indien, wo er heute noch lebt. Unzählige Tibeterinnen und Tibeter taten es ihm gleich. Unter den Fliehenden war auch Tendols Familie. Tendol erinnert sich an Schüsse. Im Getümmel verliert sie Mutter, Vater und Bruder aus den Augen. Sie wird alle drei nie mehr wiedersehen. Dass das damals ungefähr siebenjährige Mädchen die gefährliche Reise über den Himalaja auf sich allein gestellt schaffte, kommt einem Wunder gleich. Dabei geholfen haben ihr zwei Dinge, auf die sie sich schon damals verlassen konnte: ihr unbändiger Wille und ihre große Unerschrockenheit. Später im Leben nutzte sie beides, um in Tibet den bedürftigsten Kindern das Überleben zu sichern.

 

Über die Autorin

Tanja Polli
© Ursula Markus

Tanja Polli, geb. 1969, arbeitet als freie Journalistin, Texterin, Autorin und als Yogalehrerin. Ihr erstes Buch, »Das Geschlecht der Seele – Transmenschen erzählen«, erschien 2013 im Elster Verlag. Für Wörterseh verfasste sie bereits zwei Bücher: »Die Rebellin – Ein Leben für Frieden und Gerechtigkeit«, die Geschichte der Psychoanalytikerin Ursula Hauser, sowie »Das Doppelleben des Polizisten Willy S.«, die Geschichte des inzwischen pensionierten Polizisten Willy Schaffner. Beide Bücher wurden Bestseller. Für ihr neustes Buch reiste sie mit der Tibeterin Tendol Gyalzur aufs Dach der Welt und führte unzählige Gespräche mit ihr. Dabei lernte sie eine Frau kennen, die sie tief beeindruckte. Tanja Polli lebt und arbeitet in Winterthur. www.tanjapolli.ch

 

Liebe Leserin, lieber Leser

Bevor Sie in mein Leben eintauchen, möchte ich Sie wissen lassen, dass ich mich versöhnt habe mit meiner Geschichte, mit der Geschichte meines Herkunftslands. Tibet ist für mich nach meiner dramatischen Flucht in der Kindheit wieder zu einer Heimat geworden. Alles Böse aus der Vergangenheit ist verziehen. Was zählt, ist die Gegenwart, meine mich liebende Familie, meine Verwandten, Freundinnen und Bekannten. Die Zuneigung der vielen Kinder, denen ich zu einer besseren Zukunft verhelfen konnte, überstrahlt alle Schatten. Ich bin zuversichtlich und freue mich über all jene Menschen, die sich für den Frieden und das Wohlergehen aller fühlenden Wesen einsetzen.

Was ich noch sagen möchte: Die politische Situation auf dem Dach der Welt ist vertrackt. Wir haben beim Schreiben dieser Geschichte versucht, niemanden zu verletzen und niemanden in Gefahr zu bringen. Was Sie lesen werden, ist wahr, nur die Namen der Kinder haben wir geändert, und wir haben darauf verzichtet, ehemalige Mitstreiterinnen und Mitstreiter namentlich zu erwähnen.

Allen bin ich unendlich dankbar.

Tendol Gyalzur

 

Vorwort

Als ich elf Jahre alt war, hat mich mein Großvater verlassen, um zurück in sein Heimatland zu gehen. Es war einer der traurigsten Tage meines Lebens. Seit meiner Geburt war er für mich da gewesen, hatte mich in Schutz genommen, auch dann, wenn ich nicht gehorchte.

Drei Jahre später reiste auch Tendol ab, meine Mutter, die wir Amala nennen. Sie wollte sich einen »Traum« verwirklichen. So habe ich es als Vierzehnjähriger verstanden. Ich war in der Pubertät und hatte so viele Flausen im Kopf, dass ich auch Vorteile darin sah, dass die ewig korrigierende, anthroposophisch angehauchte Mutter das Haus verließ.

Mein Bruder ist zwei Jahre älter als ich. Auch er steckte mitten in der Pubertät und wehrte sich nicht gegen die Abreise unserer Amala.

Mein Vater versuchte, das Beste aus der Situation zu machen. So gut er konnte, übernahm er auch die Rolle einer Mutter. Man muss sich das vor Augen führen: Mein Vater, Sohn einer angesehenen Großfamilie aus Tibet, ein Mann, der zusammen mit seinem Vater als Handelsreisender die Seidenstraße bezwungen hat, ein Kämpfer, Gelugpa-Mönch und diplomierter Lehrer, war jetzt ein einfacher Arbeiter in einer Schweizer Maschinenfabrik, verheiratet mit einer Frau, die im Westen aufgewachsen war und ihre Familie für einen »Traum« verließ!

Heute bin ich über vierzig Jahre alt, verheiratet mit einer Schweizerin und Vater zweier Jungs. Mir ist bewusst, dass der Wandel die einzige Konstante ist, und ich bin dankbar dafür, in der Schweiz ein privilegiertes Leben führen zu dürfen. Was mich nachdenklich stimmt, ist, dass wir Tibeter in der Schweiz keine Gemeinschaft mehr sind.

Meine Mutter und mein Großvater sind die prägenden Figuren meiner Kindheit. Als mich meine Mutter verließ, sprang mein Vater ein und begleitete mich mit harter Hand auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Unterstützt haben mich auch mein Bruder, meine Eishockeytrainer, Lehrmeister und Freunde, die mir bis heute verbunden geblieben sind. Sie haben mich zu dem gemacht, was ich nun bin.

Rückblickend ist mir klar, dass meine Mutter nicht ging, um ihren persönlichen »Traum« zu verwirklichen. Sie verließ uns, um ihrer Bestimmung zu folgen. Heute weiß ich, dass es Menschen gibt, die in ihrem Leben eine ganz besondere Aufgabe haben. Meine Mutter gehört dazu.

Ghaden Gyalzur

 

Die Flucht

Am Anfang war es ein Spiel. Tendol aus Lhasa, ungefähr siebenjährig, genoss das rhythmische Schaukeln auf dem Rücken des kleinen, kräftigen Pferdes. »Wir gehen auf eine Reise«, hatten ihre Eltern gesagt. Es war dunkel, eine Nacht im Jahr 1959. Ein fremder Mann hatte sie auf dem Rücken des Tiers festgebunden. Es ist Tendols früheste Kindheitserinnerung. Was davor passierte und was mit ihren Eltern geschah, weiß sie bis heute nicht. Sie trug damals ihr bestes Kleid. Die Nacht war kühl, der warme Atem des Pferdes bildete kleine Wölkchen. Das Mädchen mit den langen schwarzen Zöpfen zählte die Sterne, die zu Tausenden am pechschwarzen Himmel funkelten. Wenn das Pferd schnaubte, zuckte Tendol zusammen. Und sie fragte sich, wer diese Frau war, die ihr Pferd führte. Die Frau trug eine tibetische Tracht, ihre glänzenden schwarzen Haare waren zu einem Dutt gebunden, aus der Tasche, die sie auf dem Rücken trug, lugte der Hals eines Streichinstruments. Sie sprach kaum. Tendol hatte sie noch nie gesehen, genauso wenig wie die vielen anderen Frauen, Männer und Kinder, die mit ihr meist schweigend durch die Nacht wanderten. Auch ein fremder Hund trottete mit. Tendol fühlte sich einsam, denn ihr Vater kam nicht, um die engen Seile zu lösen, die ihr die Beine abschnürten, die Mutter nicht, um ihr gute Nacht zu sagen. Irgendwann schlief Tendol ein, verfiel in unruhige Träume.

Nach dieser ersten Nacht auf dem Pferderücken folgten weitere, dazwischen endlos scheinende Tage. Heute weiß Tendol, dass die Reise von Tibet nach Bhutan führte. Endlose Märsche durch Wälder, Täler und über schneebedeckte Pässe. Oft war das kleine Mädchen hungrig, manchmal bis auf die Knochen durchfroren. Tendol spürte, dass es ihr nicht zustand, Fragen zu stellen. Sie fürchtete die Reaktion der wortkargen Frau, die sie zurechtwies, wenn sie weinte. In den wenigen Stunden, die das Mädchen schlief, träumte es von einem großen jungen Mann. Sein dunkles Haar reichte ihm bis über die Schultern, und er trug eine reich verzierte tibetische Tracht. Der junge Mann war der freundlichste Mensch, den Tendol je gesehen hatte, und er versprach ihr, sie ein Leben lang zu beschützen. Zwei Worte fielen Tendol dazu immer wieder ein: »Dhara Tsang«. Sie hatte keine Ahnung, was sie zu bedeuten hatten.

Heute ist diese Tendol, deren Namen sich aus den beiden tibetischen Bezeichnungen »Tenzin« (Verteidiger des Glaubens) und »Dolkar« (Bodhisattva – erleuchtetes Wesen – des Mitgefühls) zusammensetzt, ungefähr achtundsechzig Jahre alt. Ihr Name weist darauf hin, dass ihre Eltern »Gelugpas«, Anhänger der Gelbmützen, waren. Mitglieder also jener buddhistischen Schule, deren Gelehrter Sonam Gyatso im 16. Jahrhundert als Erster den Titel »Dalai Lama« verliehen bekam. Soweit Tendol heute weiß, wurde sie in Shigatse, im südwestlichen Tibet, geboren. Sie hatte vermutlich einen älteren Bruder und Eltern, die in Lhasa erfolgreich mit Textilien handelten.

Als ich Tendol zum ersten Mal zu einem Interview für dieses Buch treffe, empfängt sie mich in Rapperswil, in einer Wohnung, die ihrem jüngeren Sohn gehört. Das Sofa hat sie mit Tüchern bedeckt, um es vor Gebrauchsspuren zu schützen. Die Frau, die ich als unermüdliche Kämpferin kennen lernen werde, trägt ein einfaches T-Shirt und eine Pyjamahose. Sie fährt sich mit den Händen durch das kurze schwarze Haar und fragt die Besucherin, ob die neue Frisur gefalle. Dann steht sie auf, macht tibetischen Tee mit viel Zucker und breitet auf dem Couchtisch Fotos aus. Diese zeigen Kinder: lachende, weinende, Kinder mit schmutzigen Gesichtern und zerrissenen Kleidern.

Mehrere Jahrzehnte nach Tendols überstürzter Abreise aus Tibet weiß sie, dass damals rund achtzigtausend Tibeterinnen und Tibeter mit ihr geflohen sind. Und sie ahnt, wer der Mann in ihren Träumen gewesen sein muss: ihr älterer Bruder. Sie hat ihn nie wiedergesehen, genauso wenig wie ihre Eltern.

Obwohl Tendol kein Kleinkind mehr war, als die seit 1950 in Tibet präsente chinesische Armee 1959 nach einem Aufstand der Bevölkerung tausende Tibeter – darunter den 14. Dalai Lama Tenzin Gyatso – in die Flucht schlug, findet sie in ihrem Kopf kein Bild von Mutter und Vater. Da ist nur dieser Hauch einer Erinnerung an Schüsse und die Leere danach. Und diese innere Unruhe, die sie bis heute erfasst, wenn sie Gewehrsalven hört. Wie lange sie damals, vor fast sechzig Jahren, unterwegs war, weiß niemand. Wochen müssen es gewesen sein, Monate vielleicht. Zu essen gab es dann, wenn die Frau, die Tendols Reittier führte, in einem der Dörfer Musik machen konnte und als Dank Almosen erhielt. Das Streichinstrument, das seltsam weinerliche Töne von sich gab, trug sie immer bei sich.

Es muss kurz hinter der Grenze in Bhutan gewesen sein, diese Bilder hat Tendol noch genau vor Augen: Sie erinnert sich, dass die Menschen anders sprachen, die Frauen die Haare kurz trugen und ihre Beine unter den Chubas, den traditionellen Mantelkleidern, die man auch in Tibet trug, nackt waren. In einem der bhutanischen Dörfer befahl die Frau, die Tendols Pferd führte, dem Mädchen, abzusteigen. »Zieh dein Kleid aus!«, herrschte sie es an. Tendol stieg ab, zog sich aus. Und die Frau tauschte ihr schönstes Kleid gegen eine viel zu große, abgetragene Chuba. Tendol hätte am liebsten losgeheult. Immerhin erhielt die Gruppe dafür Tsampa, geröstete Hochlandgerste, die nährte und satt machte. Die Frauen im Dorf waren freundlich.

Tendol erinnert sich nur an unzusammenhängende Sequenzen. Doch eine Nacht blieb in ihrem Gedächtnis haften: Sie war aufgewacht, war ganz allein. Sie lag auf einer Decke vor einem großen Haus. Von der Anführerin ihrer Gruppe keine Spur, genauso wenig von den anderen Familien, die mit ihr unterwegs gewesen waren. In diesem Moment, sagt Tendol Gyalzur rückblickend, sei etwas mit ihr passiert. »Ich habe realisiert, dass ich selber auf mich aufpassen musste, wenn ich überleben wollte. Dass es da niemanden mehr gab, dem ich vertrauen konnte.« Sie stand auf, schlich sich aus dem Dorf und rannte. So schnell sie konnte. Sie musste die Gruppe einholen. Obwohl sie ahnte, dass die Anführerin sie mit Absicht zurückgelassen hatte, war diese Frau die einzige Bezugsperson, die sie hatte. Wahrscheinlich, sagt Tendol heute, sei das damals ein weiterer Tauschhandel gewesen: Arbeitskraft gegen Essen. Es grenzt an ein Wunder, aber das kleine Mädchen holte die Gruppe tatsächlich ein. Erschöpft bettelte es darum, wieder aufgenommen zu werden. Die Anführerin nickte stumm – sei es aus Mitgefühl oder weil sie begriff, dass sie jetzt beides, sowohl Kind wie Esswaren, hatte.

Irgendwann auf der weiteren Reise, erinnert sich Tendol, habe sich die Vegetation verändert. Die Wälder seien dichter geworden, die Luft schwerer. Die Gruppe hatte die Himalaja-Region wohl verlassen, war im schwülen Klima Indiens angekommen. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah Tendol Elefanten, wenn auch nur aus der Ferne – und von nahem Schlangen. Das kleine Pferd schnaubte laut und tänzelte, Tendol klammerte sich mit ihren kleinen Fingern an der Mähne des Tiers fest. Schlimmer aber als die Schlangen waren die Blutegel, die sich an Beinen, Bauch und Armen festsaugten. Der Hund, der die Flüchtenden begleitete, brach irgendwann zusammen.

Weitere lange Tage und kurze Nächte später schaffte es die Gruppe ins Flüchtlingslager Baksa in Nordostindien. Bei der Ankunft waren zwar alle erschöpft, ausgehungert, aber offenbar war unterwegs niemand gestorben. Tendol erinnert sich an das Zusammentreffen der verschiedenen Flüchtlingsgruppen im Auffanglager. An die großen Militärbaracken, an die Häuser auf Stelzen, an Schweine und Hühner, die frei umherliefen. Die Atmosphäre im Lager wirkte auf sie gespenstisch, überall Schlamm und Dreck, überall saßen Männer, Frauen und Kinder in schmutzigen Kleidern, viele schienen krank. In den langen Bambushütten drängten sich Körper an Körper, draußen lagen Menschen auf improvisierten Schlafplätzen. Wer Holz fand, machte ein kleines Feuer und kochte Tee. Ein Bild taucht bis heute in Tendols Träumen auf: jenes des alten Mannes, der sein Lager neben der gemeinschaftlichen Müllhalde aufgeschlagen hatte und laut herumschrie. Er machte ihr Angst. Still wurde er nur, wenn ihm jemand etwas zu essen brachte.

Wie sie sich damals gefühlt hatte, kann Tendol nicht mehr genau sagen. »Ich war einfach traurig, und ich verspürte starke Sehnsucht nach dem jungen Mann in meinen Träumen. Ich war mir sicher, dass ich ihn eines Tages treffen würde. Das hat mich am Leben erhalten.« Trotz schwierigen Verhältnissen im Flüchtlingslager, sagt Tendol, sei die Ankunft dort eine Erleichterung gewesen. Die anderen Kinder und all die Tibeterinnen und Tibeter, die ihr versicherten, dass man bald gemeinsam zurückkehren werde ins geliebte Heimatland, trösteten sie.

Ihre Erinnerungen an die Zeit im Lager sind lückenhaft. Auch hier gab es Schlangen. Eine besonders große tauchte an der Wasserstelle des Lagers auf. Tendol erinnert sich an Männer, die mit dicken Bambusstöcken auf das Tier einschlugen. Tibeter versuchten, die Männer davon abzuhalten. Erst später begriff sie, dass es Tibetern aufgrund ihrer Religion nicht erlaubt war, andere Lebewesen zu töten. Auch gefährliche Schlangen nicht. Weiter erinnert sich Tendol an den Tod eines hohen Lamas: Eines Tages stellten sich alle Bewohnerinnen und Bewohner des Lagers in langen Reihen auf. Der Leichnam des Lamas wurde auf einer Art Bahre herangetragen und auf einem großen Feuer verbrannt. Der Rauch ziehe Richtung Tibet, sagten die alten Männer und nickten freudig: »Das ist ein gutes Zeichen, unsere Rückkehr in die Heimat steht kurz bevor!«

Die Baracke, in der Tendol untergebracht war, lag nicht weit von einem improvisierten Sportplatz entfernt. Junge tibetische Männer fochten dort Wettrennen und Ringkämpfe aus. Einige dieser Männer waren auch Widerstandskämpfer aus dem Volk der Khampa. Sie trugen ähnliche Gewänder wie der junge Mann in Tendols Träumen. Immer wieder näherte sie sich dem Platz und rief laut, sie heiße Tendol. Von ganzem Herzen hoffte sie, dass eines Tages einer dieser Männer sich ihr zuwenden, sie in den Arm nehmen und ihr sagen würde: »Hab keine Angst. Ich beschütze dich.« Es sollte nie geschehen.

 

Im Widerstand

Während Tendol im Flüchtlingslager in Indien darauf wartete, heimkehren zu können, tobte in Tibet ein erbitterter Guerillakrieg. Einer der jungen Männer, die sich den Aufständischen angeschlossen hatten, hieß Lobsang Tsultim Gyalzur. Er war siebzehn Jahre alt, als er sein Pferd sattelte und mit einer Gruppe von Mitstreitern loszog.

Geboren wurde Lobsang in Osttibet, in der Nähe von Gyalthang. Heute nennt sich die in der Provinz Yunnan gelegene Stadt Shangri-La. Lobsangs Eltern gehörten zu den Familien, die im damaligen tibetischen Feudalsystem die Geschicke der Region mitlenkten. Sie besaßen große Ländereien, viele Tiere. Genau genommen lebten auf dem Hof der Gyalzurs neben neun Familienmitgliedern vierzehn Bedienstete, neunzig Yaks, siebenunddreißig Pferde, fünfundsechzig Schafe, vierzig Schweine, fünfzehn Hühner, acht Milchkühe, zwei sogenannte Dzos – eine Kreuzung zwischen einem Yak und einem Hausrind –, fünf Ochsen und ebenso viele Hunde. Die Familie war seit Generationen mit dem nahen Kloster Ganden Songtsenling verbunden und mitverantwortlich für das Wohl der dortigen Mönche. Das Kloster war damals das größte Zentrum der Gelugpa-Schule in Yunnan. Trotz den Privilegien und dem relativen Reichtum war das Leben für die Gyalzurs hart: Neun Kinder hatte Lobsangs Mutter geboren, aber nur Lobsang und eine Schwester überlebten das Kleinkindalter. Vor den kalten Wintern und gefährlichen Infektionskrankheiten waren auch wohlhabende Familien nicht gefeit. Im Alter von sechs Jahren schickte man Lobsang ins nahe Kloster. Mehr als zweitausend Mönche lebten dort. Dies war die einzige Möglichkeit, einem Kind Bildung zukommen zu lassen. Lobsang sollte Schreiben und Rechnen lernen, aber vor allem eine religiöse Ausbildung genießen. Der Bub mochte jedoch die Schule und den streng geregelten Tagesablauf im Kloster nicht. Er war wild und vorlaut, tat sich schwer mit dem stundenlangen Sitzen in den ungeheizten Räumen. Die Erziehung war hart, Schläge waren an der Tagesordnung.

Lobsang ist heute achtzig Jahre alt und verheiratet mit Tendol. Mehr als siebzig Jahre nachdem er ins Kloster geschickt worden war, besuche ich mit ihm Ganden Songtsenling. Es hat einiges an Ausstrahlung eingebüßt: Das Kloster gehört heute zu den wichtigsten Touristenattraktionen Osttibets, Zehntausende besuchen es jährlich. Mich irritieren die Verbots- und Hinweisschilder an jeder Mauer, die Mönche, die gelangweilt in ihre Smartphones starren, der große Souvenirshop. Man hat sich eingerichtet auf die zahlreichen Reisegruppen, die aus ganz China hierherreisen. Trotzdem erahne ich die Wirkung, die dieser Ort einmal auf Menschen gehabt haben muss. Wie sich Kinder gleich dem kleinen Lobsang gefühlt haben müssen, als sie zum ersten Mal in einer der riesigen Gebetshallen standen? Lobsang Gyalzur senkt instinktiv den Blick, als wir gemeinsam den Raum des Klosters betreten, in dem er als Kind gebetet hat. Er zeigt auf zwei Sessel am Rand des Raumes. »Mönchspolizei«, sagt er. Mehr nicht. Hier saßen die Mönche, welche die Aufgabe hatten, die Kindermönche zu beaufsichtigen – und zu züchtigen. Lobsang Gyalzur erinnert sich vor allem an die kalten Morgenstunden, die er mit den anderen kleinen Mönchen betend verbringen musste. Nur in ein Tuch gewickelt, oft bei Temperaturen unter null Grad. Immer wieder passierte es, dass er den Urin nicht zurückhalten konnte – und dafür Schläge kassierte.

Doch Lobsang hatte Glück im Unglück: Da er einer wohlhabenden Familie angehörte, die das Kloster unterstützte, wurde er besser behandelt als seine Kameraden. In einem dreistöckigen Gebäude, das im Besitz der Gyalzurs war, lebten Mönche und Lamas. Darum durfte Lobsang während der gemeinsamen Gebete auf einem Podest sitzen, und auch ältere Mönche verneigten sich vor ihm. Begleitet wurde Lobsang Schritt für Schritt von »seinem« Tulku, einem Jungen, von dem man glaubte, er sei die Wiedergeburt des ehemaligen Abtes des Klosters Ganden Songtsenling. Er war als Sohn einer Tante von Lobsang zur Welt gekommen. Im Alter von achtzehn Monaten hatte man den Buben in die Obhut von Lobsangs Eltern gebracht. Der kleine Tulku sollte nach seiner Ausbildung für das spirituelle Wohl des Klosters, aber auch des Familienclans sorgen. Mit dem Einzug des Tulkus wurde die Familie Gyalzur zum sogenannten Labrang, zum Heim eines »kostbaren Gelehrten«, eines Rinpoches. »Er teilt sich nun den Platz in meinem Herzen mit dir«, erklärte Lobsangs Vater seinem Sohn.

Auf meiner Reise, die ich im Herbst 2018 auf den Spuren Tendols unternehme, besuche ich nicht nur das Kloster Ganden Songtsenling. Mit einem Geländewagen, der problemlos an überschwemmten See- und Flussufern durch hohes Wasser fährt, gelangen wir auch in das Dorf, in dem Lobsang Gyalzur seine ersten Jahre verbracht hatte. Es liegt idyllisch wenige Meter vom See entfernt. Der stahlblaue Himmel und die weißen Berggipfel rund um die Hochebene verleihen der Gegend etwas Märchenhaftes. Bis heute leben Verwandte von Lobsang hier. Die großen Bauernhäuser aus Holz sind alle so gebaut, dass sie über einen geräumigen Innenhof verfügen. Hier wird gearbeitet. Im Stall stehen ein paar wenige Schweine, Schafe und Pferde, im Hof wird Tsampa, die Hochlandgerste, geröstet. In den Wohnzimmern, deren Wände mit kunstvollen Schnitzereien verziert sind, stehen heute Flachbildschirme neben den Gebetsmühlen. Der Cousin, der hier wohnt, hat wie viele seiner Landsleute zwei Frauen. Trotzdem sind die Familien kleiner geworden. Wir finden problemlos Platz um den kleinen Couchtisch. Die Frauen servieren frittierten Käse, aus der Milch von Yak-Kühen hergestellt, in flüssiger Butter, dazu salzigen Tee.

Mitten in die Idylle hinein sagt Lobsang Gyalzur: »Es war hart hier. Die Kälte setzte uns zu, und da waren diese Räuberbanden, die wir mit Waffengewalt von unseren Vorräten und Tieren fernhalten mussten.«

Zu seinem Vermögen war Lobsangs Vater als Handelsreisender gekommen. Mit Lebensmitteln und Stoffen zog er regelmäßig von Gyalthang nach Lhasa, von dort ins indische Sikkim und wieder zurück. Wenn sein Vater zu Hause war, durfte auch Lobsang das Kloster verlassen. Zweimal pro Jahr war die Familie zusammen. Kaum auf dem elterlichen Hof angekommen, rannte der kleine Mönch auf die Pferdeweide, schwang sich auf den Rücken eines Hengstes und trieb ihn zum schnellstmöglichen Galopp an. Die traditionellen Reiterspiele, die das Kloster Ganden Songtsenling durchführte, wurden für Lobsang schnell zum Höhepunkt des Jahres. Er gewann so gut wie jedes Rennen und wurde als wagemutiger Reiter weitherum bewundert.

Die Kindheit endete früh im alten Tibet. Im Alter von dreizehn Jahren durfte Lobsang zum ersten Mal mit auf eine Handelsreise. Eines kühlen Frühlingsmorgens stand sein Vater vor den Toren des Klosters und holte ihn und den Tulku, Gyalzur Rinpoche, ab. Neunundvierzig Pferde waren mit Tee, Glasnudeln und Süßigkeiten aus Yunnan bepackt. Lobsangs Vater trieb die beiden Buben zur Eile an. Ein halbes Jahr würden sie unterwegs sein, bis sie in Lhasa ankamen: der Vater, der Rinpoche und Lobsang im Sattel sowie fünf Hirten, die den Weg zu Fuß meistern mussten.

Als Lobsang von dieser Reise quer durch Tibet erzählen soll, tut er sich schwer. Zu viel, das er lieber vergessen hätte, passierte in diesen entbehrungsreichen Wochen. Und trotzdem: Lobsang Gyalzur lacht viel. Mehr, als man es ob der traurigen Geschichten erwartet hätte, die er mir erst viel später in Rapperswil erzählt.

Auch nach Jahrzehnten in der Schweiz spricht er nur gebrochen Deutsch. Tendol springt immer wieder als Übersetzerin ein, als wir uns ein weiteres Mal in Rapperswil treffen. Lobsang hat gekocht. Momos, tibetische Teigtaschen, und süßen Tee. »Unser Leben bestand aus harter Arbeit, fast von Beginn an«, erzählt er. Würden seine Kinder, Enkel und andere Menschen, die in der Schweiz aufgewachsen sind, jemals verstehen, was er erlebt hat? Sollte er es überhaupt erzählen? Konnten sie sich die Kälte, die Krankheiten, die Erschöpfung, die Mensch und Tier dahinrafften, überhaupt vorstellen? Die Nächte, die man, um die Handelsware geschart, bei klirrender Kälte draußen verbrachte? Noch keine vierzehn Jahre alt war Lobsang, als er eine Waffe bekam, um Banditen zu erschießen. Es scheint, als ob sich Lobsang an jede einzelne Minute dieser entbehrungsreichen Reise erinnert.

Die Ankunft in Lhasa war eine Erlösung. Doch das Glück währte nicht lange: Kaum angekommen, verkündete der Vater, dass er ihn hier zurücklassen würde. Lobsang sollte zusammen mit dem Tulku, dem Rinpoche der Familie, eine klösterliche Schule besuchen und seine Ausbildung vervollkommnen. Doch der Teenager dachte nicht daran, denn seine Mutter war schwer krank und die Schwester kümmerte sich allein um den Hof. Niemals würde er im fernen Lhasa in einem Schulzimmer sitzen, während seine Schwester schuftete. Lobsang war groß geworden, stark und hart. Es war das erste Mal, dass er sich offen gegen seinen Vater stellte: »Lässt du mich nicht heimkehren, springe ich von der großen Brücke in den Yarlung Tsangpo«, drohte er. Yarlung Tsangpo heißt der Oberlauf des heiligen Flusses Brahmaputra, und Lobsang war wild entschlossen, ihn wenn nötig zu seinem Grab zu machen.

Das Risiko, den einzigen Sohn zu verlieren, war Lobsangs Vater zu groß. Er erlaubte ihm die Rückkehr nach Gyalthang. Ein Jahr lang unterstützte der Sohn die kranke Mutter und seine Schwester. Er war nun kein Klosterschüler mehr, sondern Familienoberhaupt ad interim. Lobsang handelte mit Tieren, beaufsichtigte die Arbeiter auf den Feldern und half im Haushalt mit. Vier Jahre später starb Lobsangs Mutter, keine vierzig Jahre alt. Woran, weiß Lobsang genauso wenig wie bei seinen sieben Geschwister. Wie auch – niemand aus seinem Clan hatte je einen Arzt gesehen.

Ein Jahr nach seiner Heimkehr reiste Lobsang ein weiteres Mal nach Lhasa. Während sich die Situation auf dem Hof einspielte, hatte sich das politische Klima im Osten Tibets verschärft. Die Kommunisten, so sagte man, versuchten, den tibetischen Großgrundbesitzern das Privateigentum zu entziehen. Großbauern, Mönche, Väter und Söhne beschlossen, Widerstand zu leisten. Lobsang, inzwischen sechzehn Jahre alt, hörte von bewaffneten Truppen, die sich in den Hochtälern Khams formiert hatten. Er wäre am liebsten sofort losgeritten. Viele sahen wie Lobsang und sein Vater die religiöse Freiheit in Gefahr, befürchteten, die Klöster könnten geschlossen oder der Buddhismus verboten werden. Schon bald kam der Aufruf, jede Familie müsse einen Sohn in die Guerillatruppen der Khampas schicken. Lobsangs Vater zwang stattdessen einen seiner Arbeiter, sich den Truppen anzuschließen.

Er selber zog mit Lobsang und einer Karawane nach Indien. Auf die Maultiere hatte er Wolle geladen, die er in Indien gegen Silbermünzen, Mehl und Zucker eintauschen wollte. Als sie im indischen Kalimpong ankamen, machten dort bereits Gerüchte über die Richtung Tibet rückende chinesische Armee die Runde. Wer jetzt dorthin zurückkehre, werde sterben, hieß es. Aber Lobsangs Vater wollte nicht in Indien bleiben – er musste mit seiner Ware nach Lhasa zurück. Um unterwegs sicherer zu sein, schlossen sie sich in Indien mehreren anderen Karawanen an.

In der Heimat der beiden Männer passierte inzwischen Schlimmes: Die Krieger der Khampas hatten die ersten Schlachten verloren, ein beträchtlicher Teil des Klosters Ganden Songtsenling lag in Trümmern. Viele der Aufständischen hatten sich aus dem Osten des Landes nach Zentraltibet zurückgezogen. Dort schlossen sich immer mehr Tibeterinnen und Tibeter dem Aufstand an, die Zahl der Toten stieg täglich.

Es waren keine gesicherten Informationen, die Lobsang und sein Vater erhielten. Es waren Gerüchte, Erzählungen aus zweiter Hand. Trotzdem beschlossen sie, ihre Karawane mit den rund fünfhundert Maultieren östlich von Lhasa zu stoppen. Mehr als einhundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt, ließen sie die Tiere weiden und richteten sich darauf ein, hierzubleiben, bis wieder Ruhe eingekehrt sein würde. Nach wenigen Wochen, so waren sie überzeugt, wäre der Spuk vorbei, und man würde die Reise fortsetzen können.

Lobsang aber fehlte die Geduld. Er war jung und voller Tatendrang. »Gib mir ein Pferd, ein Gewehr und eine Pistole, und lass mich gehen!«, bettelte er seinen Vater an. »Es wäre ein Ritt in den Tod«, entgegnete dieser. Lobsang hörte nicht. Zwei Tage nach diesem Disput stand er frühmorgens auf, versteckte eine Pistole im Hosenbund, sattelte sein Lieblingspferd und ritt im gestreckten Galopp davon. Schon wenige Tage nachdem er die Karawane verlassen hatte, stieß er auf eine Gruppe Widerstandskämpfer. Die schwierigste Zeit seines noch jungen Lebens begann.

Nach ein paar Wochen verließen auch der Vater und Gyalzur Rinpoche das provisorische Camp in der Nähe von Lhasa. Sie brachten sich und die bepackten Maultiere im nordostindischen Assam in Sicherheit. Lobsang hatte keine Ahnung, wie es um seine Familie stand. Seine Truppe bestand aus zweiunddreißig Gleichgesinnten. Die jungen Männer kämpften Tag und Nacht. Sie schliefen kaum, litten oft Hunger. Gegen die Maschinengewehre der gegnerischen Soldaten kamen ihre Pistolen nicht an. Bald hatte Lobsang mehr als die Hälfte seiner Mitstreiter verloren.

»Warum ausgerechnet ich verschont wurde, weiß ich nicht«, sagt er heute, schüttelt den Kopf und lacht. Seine Heiterkeit wirkt ob der schrecklichen Dinge, die er erlebt haben muss, irritierend. Sie wird all unsere Gespräche begleiten, diese Gelassenheit, dieses Gefühl, es habe alles seinen Sinn, genau so, wie es geschehen ist. Ganz selten nur wird es im Wohnzimmer in Rapperswil still. Dann nehmen sich die Geister der Vergangenheit ihren Platz. Sie sind kurz, diese Momente, und meist so überraschend zu Ende, wie sie gekommen sind.

Dreimal verlor Lobsang im Kampf vorübergehend sein Gehör, weil direkt neben ihm Schüsse abgefeuert wurden. Mehrere Male sah er, wie Kameraden starben. Er selbst blieb bis auf kleinere Fleischwunden unverletzt. Als er von der ständigen Anspannung, vom fast unerträglichen Hunger erzählt, greift er sich an den Bauch, verzieht das Gesicht. Manchmal erhielten sie nachts von tibetischen Bauernfamilien, die den Aufstand unterstützten, etwas zu essen. Wenn sie sich in den Bergen versteckten, jagten sie wilde Schafe, Steinböcke und Gazellen. Mit jedem Tag, der verging, wurde die Lage der jungen Tibeter aussichtsloser. Es war der Tod seines erst sechzehnjährigen engsten Gefährten, der Lobsang dazu brachte, aufzugeben. Der Junge hatte direkt neben ihm gestanden, als er erschossen wurde. Zusammen mit den wenigen Überlebenden seiner Truppe floh Lobsang nach Bhutan.

Mit zerrissener Kleidung, barfuß kamen sie an. Halb verhungert. Auf dem ersten bhutanischen Bauernhof, auf den sie trafen, baten sie um etwas Tsampa. Die Bauernfamilie war freundlich, lud die jungen Männer ein, bei ihnen wieder zu Kräften zu kommen. Bereits am dritten Tag bot der Vater dem groß gewachsenen Lobsang eine Tochter zur Frau an. Lobsang fühlte sich geehrt, hatte aber in keiner Weise vor, zu bleiben. Erstens hatte er als Mönch das Gelübde abgelegt, unverheiratet zu bleiben, und zweitens gab es dieses Gerücht: Tibeter, die zu lange in Bhutan blieben, würden schwach und krank. »Damals war ich dumm«, sagt Lobsang und lacht wieder sein ansteckendes Lachen, »ich habe das geglaubt.« Um den bhutanischen Vater mit seiner Absage nicht vor den Kopf zu stoßen, bedankte er sich höflich. In derselben Nacht aber schlich er sich aus dem Haus, setzte sich auf sein Pferd und verließ das Dorf in der Dunkelheit.

Nach wenigen Wochen erreichte Lobsang mit seinem Pferd das Flüchtlingslager im nordostindischen Baksa. Wie Tendol erinnert auch er sich an einen Mann neben der Müllhalde, der unentwegt schrie und nur verstummte, wenn ihm jemand etwas zu essen vorbeibrachte.