Karina Publishing Vienna

KNOCHEN z a r t

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Herausgeber

Detlef Klewer

 

Impressum:

 

Knochenzart

Herausgeber: Detlef Klewer

Anthologie

Originalausgabe

 

ISBN: 9783967244489

 

 

www.karinaverlag.at

Verlegerin: Karin Pfolz

Lektorat: Iwo – www.kritzelkunst.de

Covergestaltung und Illustrationen:

Detlef Klewer – https://www.facebook.com/kritzelkunst.de/

Copyright © 2019

Karina Verlag, Vienna, Austria,

 

 

 

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgeset-zes ist ohne Zustimmung des Verlages, Herausgebers und Autor/en/innen unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Die Personen und Handlungen in diesen Geschichten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zu-fällig und nicht beabsichtigt.

INHALT

 

 

Impressum:

Des Wahnsinns fette Beute

M.W. Ludwig

Knochenzart

Tanja Brink

Auf der Spur der Fische

Holger Göttmann

Der rote Badeanzug

Christine Jurasek

Sei vorsichtig mit deinen Wünschen

J.J. McBlack & Christoph Grimm

Gesetze der Pendants

Martina Schiller-Rall

Der Mann mit der Mistgabel

Leif Inselmann

Hungry Hearts

Nicole Grom

Verdammte Planeten

Andreas Stöger

Jagdsaison

Ina Dünkeloh

Schatten einer Liebschaft

Florian Krenn

Stichtag

Barbara Siwik

Glatzen

Stefan Lochner

Das ist meine Bank

Bilan Borg

Mord für Anfänger

Gisela Witte

Der Tollpatsch vom Dienst

Erich Röthlisberger

Der Überfall

Michaela Kaiser

Die Autorinnen und Autoren

 

Des Wahnsinns fette Beute

M.W. Ludwig

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Der Frühling des Jahres 1896 verdiente diese Bezeichnung nicht. Bis weit in den März verbarg sich die Sonne hinter dichten grauen Wolken, aus denen es sich wahlweise fest oder flüssig ergoss. Nun, am 30. April, schien es, als habe sich die Natur endgültig entschieden, das von vielen Weltuntergangspropheten zum bevorstehenden 20. Jahrhundert vorhergesagte Inferno um vier Jahre vorzuverlegen.

An diesem Nachmittag startete eine kleine Fähre von der Kanalinsel Alderney in Richtung englische Küste. Heftiger Seegang sorgte jedoch dafür, dass der Kapitän bereits nach wenigen Seemeilen befahl, an einer der kleineren vorgelagerten Inseln vor Anker zu gehen, um ruhigere See abzuwarten. An eine Weiterreise war in dieser Nacht beim besten Willen nicht zu denken.

So gingen die Gestrandeten dankbar auf das Angebot des Gastwirtes der einzigen Schänke dieses Eilands ein, die Nacht in seinen Räumlichkeiten zu verbringen. Während er selbst das Feuer im Gastraum anheizte, hieß der Wirt das Hausmädchen Tiffany – eine hübsche junge Frau von kaum mehr als 16 Lenzen – die Zimmer zu richten und den Gästen heißen Grog zu servieren.

 

Vor dem prasselnden Kaminfeuer fanden sich zwei Frauen – die eine jung, spindeldürr und recht nervös, die zweite wohl schon jenseits ihres 60. Lebensjahres, mit zu strengem Dutt gebundenem grauem Haar.

Ihr Begleiter – augenscheinlich gehörten diese drei zusammen – war ein beleibter älterer Herr mit freundlichen grauen Augen unter buschigen Brauen. Das Revers seines Jacketts präsentierte einen großen roten Fleck, der wahrscheinlich auf seinen Lunch schließen ließ.

Ihnen gegenüber nahmen eine Frau und ein Mann Platz.

Während er das Musterbeispiel eines englischen Gentlemans abgab – ein wenig steif und in sich gekehrt wirkend – zog das exotische Äußere der jungen Frau durchaus neugierigere Blicke auf sich. Ihr Umgang des Paares miteinander wirkte so vertraut, dass es gar nicht entsprechender Ringe an beider linken Hand bedurft hätte, sie als Ehegatten zu erkennen. Jedoch ließ sein fürsorgliches Verhalten ihr gegenüber vorsichtig keinen Zweifel daran, dass dieser Ehestand beiden noch recht frisch und ungewohnt vorkommen mochte.

Die ältere Dame beobachtete diese fremden Mitreisenden einige Zeit, beugte sich schließlich vor und richtete freundlich das Wort an sie.

»Furchtbares Wetter, nicht wahr? Da hat man seine Abreise gründlich geplant und organisiert – und dann macht einem das Meer einen Strich durch die Rechnung.«

»Immerhin sitzen wir hier warm und trocken. Ich denke, der Kapitän traf die richtige Entscheidung«, erwiderte der junge Mann freundlich, aber kurz angebunden.

»Oh, gewiss, Sir. Ich hoffe aber, dass Sie auf dem Festland keine dringenden Termine erwarten. Und kein erzürnter Arbeitgeber, der bereits auf seine Taschenuhr schaut.«

Seine Frau ergriff das Wort.

»Mein Mann ist Schriftsteller.«

Augenblicklich schien das Interesse der Grauhaarigen geweckt.

»Ein Autor, da schau her! Haben Sie etwas Bekanntes verfasst? Ich lese für mein Leben gern, wissen Sie?«

»Nun, vor ein paar Monaten erschien eine Reiselektüre von mir«, gab sich der Autor gespielt bescheiden.

»Eine Reiselektüre, na so was! Zu welchem Ort ging es denn? Nein, lassen Sie mich raten! Italien vielleicht? Oder Griechenland? Besuch der alten Tempel? Wobei, mit Blick auf Ihre bezaubernde Gattin möchte man annehmen, Sie bereisten die Kolonien, richtig?«

»Nicht ganz. Wir waren auf dem Mond.«

Drei ungläubig starrende Augenpaare richteten sich auf den Schriftsteller.

»Sie nehmen uns doch auf den Arm, nicht wahr?«, fragte die jüngere Frau, doch da beugte sich der ältere Herr vor und wies auf den Gentleman:

»Einen Augenblick. Ich glaube, von Ihnen habe ich gehört, Sir. Sind Sie nicht dieser Teufelskerl, der einen Mondkrater sein Eigen nennt – und dies in einer spektakulären Wette bewies? Graham McPherson, wenn ich mich nicht irre?«

»Den Krater Gaudibert, stimmt«, bestätigte McPherson und traf Anstalten, mehr darüber zu berichten, als ihn der erzürnt funkelnde Blick seiner Gattin innehalten ließ. Nun ja, insgeheim musste er ihr schuldbewusst recht geben: Sicherlich das Beste, diese Geschichte keiner weiteren kritischen Überprüfung zu unterziehen.

Der Alte erhob sich, um seinem Gegenüber die Hand zu reichen.

»Mr. McPherson, es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen. Mein Name ist Professor Edward Laeddis. Die Damen in meiner Begleitung sind Mrs. Tarr und Ms. Fether. Darf ich annehmen, dass Sie, Mylady, die Gattin diese glücklichen Gentleman sind?«

»Dürfen Sie. Gann McPherson-Li-Pen«, antwortete die exotische Schönheit mit offenem Lächeln. Laeddis deute eine höfliche Verbeugung an, nahm dann wieder Platz.

»Schau an!«, fuhr die ältere Dame derweil fort. »Dann unternehmen Sie derzeit sicherlich erneut eine spannende Lesereise?«

Der Frischvermählte schüttelte den Kopf.

»Wir kommen vom Antrittsbesuch bei meiner Mutter. Drüben in Saint Anne.«

Damit warf er rasch einen unsicheren Blick zu seiner Gattin. Laeddis kicherte, während sich Mrs. Tarr mit bedauerndem Blick Gann zuwandte.

»Ach je, Sie Unglückliche, gestaltete es sich sehr … schlimm?«

Gann lächelte gequält.

»Nun, bis auf die Tatsache, dass meine Schwiegermutter es für angebracht hielt, eine ledige Jugendliebe meines Mannes zum Tee einzuladen …«

»Bitte Gann, Sie wollte nur nett zu Edna sein«, wandte McPherson hastig ein.

»Sicherlich. So nett, dass sie ihr doch tatsächlich meinen Mann zum Geschenk gemacht hätte.«

»Immerhin hat sie sehr wohl registriert, wie glücklich wir miteinander sind.«

»Sie nannte dein … nun … Gebrechen vor dem Pfarrer die thailändische Krankheit …«

Die bis dato schweigende Ms. Fether wandte sich nun besorgt an den Frischvermählten.

»Oh, Sie sind krank, Mr. McPherson? Wie bedauerlich!«

McPherson schüttelte den Kopf und rückte unruhig auf seinem Sitz.

»Es ist … nichts weiter.«

Seit einigen Wochen quälte ihn ein unbestimmtes Leiden an einer recht diskreten Stelle. Aus diesem Grunde stand bereits sein Entschluss, nach Ankunft in London umgehend seinen Leibarzt aufzusuchen. Dr. Jeckyll half ihm schon zuvor mit manchem Arzneimittel, vielleicht gab es ja auch eine Tinktur gegen diese spezielle Unannehmlichkeit. Diese Hoffnung beruhigte ihn einigermaßen.

Mrs. Tarr hüstelte und richtete sich lächelnd an die junge Ehefrau.

»Da Sie diesen Besuch bei ihrer Schwiegermutter hinter sich haben, darf wohl angenommen werden, dass Ihnen die heute bevorstehende Walpurgisnacht nicht mehr viel ausmacht.«

Gann konnte sich ein Kichern nicht verkneifen.

»Siehst du Graham? Diese Herrschaften verstehen mich.«

Mrs. Tarr nickte lebhaft.

»Nur zu gut, meine Liebe, nur zu gut! Mein Mann und ich waren 35 Jahre verheiratet. In den ersten zwanzig Jahren prallten meine Schwiegermutter und ich ständig aneinander.«

»In den ersten zwanzig Jahren? Was geschah danach?«, tat Gann ihr den Gefallen nachzuhaken.

»Sie starb. Als ich von ihrem Ableben erfuhr, hielt ich, es zunächst für einen Scherz, denn der Gehörnte würde es, meiner Einschätzung nach, sicherlich nicht lange mit ihr aushalten – aber anscheinend fügte selbst er sich zwischenzeitlich ihrem Willen. Nun, darauf lassen Sie uns anstoßen!«

Die Erzählerin drehte sich zu Laeddis.

»Herr Professor? Seien Sie doch so gut und bestellen bei dem freundlichen Hausmädchen eine Runde Grog! Das wird uns aufwärmen.«

Erstaunlich flink erhob sich Laeddis, um ihrem Wunsch nachzukommen. McPherson bemühte sich Mrs. Tarr in eine andere Gesprächsrichtung zu dirigieren.

»Und welchem Umstand verdanken Sie und Ihre Begleitung diese Reise?«

»Geisteskrankheit.«

Unsicher, ob dies ein Scherz sein sollte, hob Gann eine Augenbraue.

»Sie nehmen an, dies sei zweifellos die Ursache um bei diesem Wetter unterwegs zu sein?«

»Nein, nein. Ich meine es ganz wörtlich. Meine Kollegin Ms. Fether und ich arbeiten als Krankenschwestern unter Professor Laeddis im Briarcliff Asylum – drüben in Byberry auf der Insel. Man lud uns ein, während einer Fachtagung im Bethlem Hospital in London zu sprechen. Der Professor entwickelte nämlich eine völlig neue Methode, Verrückte von ihrem Leiden zu befreien.« Ihre Augen leuchteten vor Begeisterung wie Bernstein. Voller Neugierde beugte sich Gann vor.

»Sicherlich wissen Sie von Ihrer Arbeit so einiges zu berichten?«

»Das kann man wohl mit Fug und Recht behaupten.«

Mrs. Tarr warf einen vielsagenden Blick zu ihrer Kollegin, den diese lächelnd erwiderte und dann das Wort ergriff.

»Da fällt mir etwas ein! Was halten Sie davon, die Wartezeit zu verkürzen, indem wir uns Geschichten erzählen? Was kann man in der Walpurgisnacht an einem knisternden Feuerchen Besseres unternehmen, als schaurigen Erzählungen zu lauschen? Sicherlich quellen Sie, Mr. McPherson als Schriftsteller vor Ideen nur so über!«

Genant rutschte McPherson tiefer in seinen Sessel.

»Nein, nein danke. Ich lasse Ihnen gern den Vortritt.«

Entgegen der landläufigen Meinung über Schriftsteller, erwies er sich nach eigener Einschätzung im Ausdenken von Geschichten als nicht sonderlich begnadet. Zumindest, was Handlungen auf der Erdkugel anging.

Wie auf ein Stichwort, kehrte Professor Laeddis in diesem Augenblick mit einem Tablett dampfender Becher zurück.

»Bitte verzeihen Sie, dass es so lange dauerte. Unsere Gastleute scheinen sich schon zur Ruhe begeben zu haben. Immerhin bereitete mir das Hausmädchen noch diesen Trunk. Unter anderem.« Lächelnd verteilte er die Getränke.

»Ms. Fether schlug gerade vor, uns gegenseitig mit Gruselgeschichten zu unterhalten«, klärte ihn Gann über das Versäumte auf.

»So? Hat sie das?«

Nach kurzem nachdenklichem Blick auf die junge Ehefrau, klatschte er im nächsten Augenblick begeistert in die Hände und ließ sich in seinen Sessel fallen.

»Eine bezaubernde Idee!«

»Wenn Sie erlauben, eröffne ich den Reigen«, sagte Mrs. Tarr. »Mir schwebt da auch schon eine ganz bestimmte Sache vor. Eine recht makabre Begebenheit, die mir vor einiger Zeit eine Patientin anvertraute, die wir aufgrund von Essstörungen behandelten.«

»Esstörungen? Sie wusste wohl kein Maß zu halten, was?«, lachte Ms. Fether.

»Oh, ganz im Gegenteil. Die Arme weigerte sich standhaft, überhaupt einen Bissen zu sich zu nehmen. Sie kam derart abgemagert zu uns, dass selbst der Tod sich vor ihr gefürchtet hätte.«

Mrs. Tarr musterte herausfordernd ihre ziemlich dürre Kollegin, die mit zusammengekniffenen Augen konterte. Dann nahm sie erneut den Faden ihrer Erzählung auf.

»Ich nenne ihre Geschichte: Mein Mann ist verhindert

 

***

 

Den ganzen Tag verbrachte Susanna damit, in kurzen Abständen voll nervöser Vorfreude auf die Uhr zu schauen. Als es schließlich sechs Uhr läutete, riss die junge Frau eilig ihren Regenmantel vom Kleiderhaken und verließ ihre winzige Wohnung im Eastend. Ginge es nach ihr, wäre dieser Abschied endgültig. Denn heute – ganz sicher – würde ein neuer Abschnitt ihres Lebens beginnen. Vollends in einer glücklichen Gedankenwelt schwelgend, bemerkte sie die ersten fallenden Tropfen nicht.

Als sie endlich das ihr bekannte Haus im weitaus vornehmeren Stadtteil Kensington erreichte, regnete es bereits in Strömen. Vor ein paar Wochen erhielt sie erstmals den Auftrag, unter dieser Adresse eine Geschäftskorrespondenz zu überbringen. Danach immer öfter, und – wichtig! – jeweils zu dieser Uhrzeit. Es galt einige Regeln einzuhalten, immerhin durfte … sie … ja nichts merken. Doch ab dem heutigen Tag sollte mit dieser Geheimniskrämerei endlich Schluss sein!

Angesichts des unerwartet leeren Fußsteigs vor dem Haus, schwand jedoch ihr Selbstbewusstsein mit einem Male. Niemand wartete dort. Verwirrt schaute sie auf ihre Taschenuhr. Auf einmal ertönte eine Stimme hinter ihr.

»Aber warum stehen Sie denn hier draußen im Regen, junge Dame?«

Die inzwischen Durchnässte zuckte zusammen. Sie hatte die ältere Frau nicht kommen sehen, die auf einmal mit einem ausladenden Regenschirm in der Hand hinter ihr auf dem Trottoir stand. Susanna schoss das Blut in die Wangen und ein unbestimmter Fluchtreflex setzte ein. Ihr Mund erwies sich plötzlich als staubtrocken.

Da trat die andere auch schon zu ihr, hielt ihr fürsorglich den Regenschirm über den Kopf und wies mit der freien Hand zur Eingangstür des Hauses hinter ihr.

»Kommen Sie herein! Sie holen sich ja noch den Tod, Kindchen! Keine Bange, ich beiße nicht.«

Selbst vorangehend, den Regenschirm fest in der Hand, zog sie die junge Frau energisch mit sich.

Sobald beide sich im Inneren befanden, schloss die alte Dame die Haustür und drehte den Schlüssel um.

»Sie warten sicher auf meinen Mann …?«

Ehe die verdatterte Susanna darauf erwidern konnte, fuhr ihr Gegenüber bereits mit aufgesetztem Bedauern fort.

»Oh, das tut mir wirklich leid. Aber er ist leider unvorhergesehen verhindert.«

Die junge Frau spürte, wie ihr die Luft wegblieb und ihr Inneres geradezu versteinerte. Unmöglich! Er hatte fest versprochen da zu sein. Sie wollten doch …

Die Alte schien ihre Gedanken zu lesen.

»Ach je, schauen Sie bitte nicht so enttäuscht!«

Schlagartig wurde Susanna bewusst, wer ihr gegenüber stand. Indem sie ihre Fingernägel bewusst möglichst fest in ihre Handflächen bohrte, versuchte sie sich zur Ordnung zu rufen.

»Sie haben dennoch Glück, meine Liebe, denn auch ich sollte aufgrund eines Termines eigentlich ebenfalls gar nicht hier sein. Und wer hätte Sie Ärmste dann eingelassen? Mein Mann schaute ganz verblüfft, als ich ihn damit überraschte, die Verabredung abgesagt zu haben. Ach, ich freue mich doch immer, seine Bürobediensteten kennenzulernen! Nun, leider ist der Gute jetzt verhindert. Aber das soll uns nicht hindern, uns bekannt zu machen, nicht wahr?«

Als die Frau Susanna scheinbar freundlich eine Hand auf die Schulter legte, durchfuhr diese ein Kälteschauer. Dann schien der Hausherrin etwas einzufallen. Der plötzliche Geistesblitz ließ ihre Augen aufleuchten.

»Ich habe sogar einen Imbiss vorbereitet! Mögen Sie Fleischpastete? Ganz frisch zubereitet.«

Zwar stand Susanna absolut nicht der Sinn nach Essen, doch dem Anschein nach würde ihr keine Wahl bleiben.

Irgendwann musste er doch kommen, um sie aus dieser unangenehmen Lage zu erlösen! Nun, bis dahin galt es, das Spiel mitzuspielen. Zudem schien ihr nicht sicher, für wen diese Frau sie tatsächlich hielt. Vielleicht wirklich für eine ganz harmlose Besucherin? Immerhin beschrieb er sie Susanna gegenüber nicht als sonderlich gewitzt. Das Beste würde also sein, das Angebot anzunehmen, und sich nichts weiter anmerken zu lassen.

Mit versonnener Miene führte die Alte ihren Gast zu einem mit teurem Geschirr eingedecktem Tisch. Das Besteck lagerte vornehm auf Stoffservietten. In der Mitte des Tisches – neben Weinkaraffe und massivem Kerzenleuchter – thronte eine große Platte appetitlich duftender und noch dampfender Pastete.

Als gute Gastgeberin bat die Hausherrin Susanna Platz zu nehmen, schenkte ihrem jungen Gast Wein ein und servierte ihr eine große Portion der Fleischpastete.

Sie selbst setzte sich gegenüber, begnügte sich mit einem Glas Wein, ermunterte aber die junge Frau durch deutlich auffordernde Blicke auf deren Teller, bis diese endlich von der Pastete kostete.

Ein überraschend guter Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, der in ihr eine diffuse Erinnerung an ein köstliches Gericht weckte, das sie einstmals genießen durfte. Sicherlich hätte sie unter anderen Umständen sogar großen Appetit verspürt.

»Köstlich, nicht wahr?«

Zaghaft nickte Susanna der lächelnden Köchin zu, die sich nun zufrieden zurücklehnte und zu einer Erklärung ansetzte.

»Ein altes Familienrezept meiner Mutter. Wissen Sie, mein Vater war ein guter Mann, der allerdings gern auswärts … speiste. Irgendwann erdachte meine Mutter dann dieses Rezept mit ihm. Mein Gatte erinnert mich bisschen an meinen Vater. Auch ein guter Mann. Geht ebenfalls gerne … aus. Ach, aber wem erzähle ich das? Sie kennen ihn ja.«

Dann schien ihr Angenehmes einzufallen. Ein versonnenes Lächeln umspielte ihre Lippen, als erinnere sie sich an einen wirklich guten Scherz. Dann schüttelte sie jedoch seufzend den Kopf.

»Nur ist mein Ehemann furchtbar schludrig, nicht wahr? Neulich fand ich eines seiner Hemden mit Lippenstift auf dem Kragen. Eine ordinäre Farbe, die ich niemals tragen würde. Nun ja, verzeihen Sie, aber genau betrachtet … ein bisschen wie die Ihre

Die Gastgeberin fixierte intensiv Susannas Mund, während die sich Mühe gab, dem Blick möglichst gleichmütig standzuhalten – und gleichzeitig unter äußerster Überwindung der Versuchung zu widerstehen, sich den Lippenstift abzuwischen.

Endlich beendete die Alte die Musterung und sprach weiter.

»Gestern vergaß er sogar seine Briefmappe, als er zum Büro fuhr! Stellen Sie sich nur vor: In der Schmutzwäsche! Wirklich schrecklich unachtsam, mein Mann. Damit er nicht womöglich denkt, ich spioniere ihm hinterher, wollte ich die Mappe in sein Arbeitszimmer legen.

Meine Güte, wie viele Briefe der Arme beantworten muss, dachte ich mit der Mappe in der Hand. Und alle diese Anschreiben immer in der gleichen Handschrift verfasst. Nun, unter ihnen befand sich da auch ein Schreiben mit der auf heute datierten Essenseinladung ...«

Vor ihrem inneren Auge sah Susanna sich diesen Brief schreiben. Dann das Kuvert – in Gedanken an ihn – fest an sich pressend. Voller Vorfreude und mit heftig klopfendem Herz schickte sie das Schreiben los.

Warum nur hat er diese verdammte Nachricht nicht gleich verbrannt?

Eine Träne sammelte sich in Susannas rechtem Auge.

Sie weiß es, Sie weiß alles!

Daran gab es keinen Zweifel mehr. Doch was nun?

In gespielter Fürsorge beugte sich die Hausherrin über den Tisch.

»Aber warum werden Sie denn so blass, meine Liebe? Sie armes Ding haben sicher nicht genug gegessen, nicht wahr? Liebe Güte, Sie sind ja auch schrecklich dünn! In Ihrem Alter sollte man gut essen, um bei Kräften zu bleiben.«

Und allmählich begann die junge Frau das teuflische Spiel der Alten zu verstehen. Der letzte Zweifel verflog, als ihr ungebeten eine weitere Scheibe der Pastete aufgetan wurde.

»Ja, Kindchen, essen Sie, ich sehe ja, wie sehr es Ihnen schmeckt. Bestimmt verfügen auch Sie über ein paar gute Rezepte – doch meine sind eben auch nicht schlecht. Mag sein, dass Ihnen dieses Fleisch schon in anderer … Zusammensetzung begegnete, in dieser … besonderen … jedoch sicherlich noch nicht. Oh, verzeihen Sie, sagte ich es schon? Mein Mann ist leider … verhindert …«

                        

***

 

»Oh schämen Sie sich, Teuerste! Das war abscheulich!«

Gespielt entrüstet warf Ms. Fether ihrer Kollegin ein Kissen in den Schoß. Diese schien die erbleichten Gesichter ihrer Zuhörer voller Genugtuung zu genießen.

»Nicht wahr?«, kommentierte die Erzählerin stolz. »Sicherlich können Sie sich vorstellen, dass das arme Ding, nachdem es der alten Hexe entkommen war, Ekelzustände angesichts jedes Fleischstücks erlitt.

»Und wie wurde sie therapiert? Oder verhungerte die junge Frau womöglich?«

»Oh, sie lebt, soviel kann ich Ihnen versichern. Und nach Durchführung einer neuartigen Hypnosebehandlung kehrte auch ihr Appetit wieder. Inzwischen gestand sie sogar, den Geschmack nochmals kosten zu wollen!«

Die Zuhörerschaft keuchte kollektiv auf und Mrs. Tarr lachte.

»Ich mache doch nur Spaß! Hoffentlich bin ich Ihnen nicht zu nahe getreten, meine Herrschaften. Wir Mitarbeiter der Anstalt neigen zuweilen zu einem etwas düsteren Sinn für Humor.«

Gann lächelte, obgleich auch sie etwas bleicher schien als zuvor.

»Oh, das sind Sie keineswegs. Vielmehr habe ich mich gefragt, ob die Köchin aus ihrer Geschichte vielleicht auch ein gutes … Rezept … für meine Schwiegermutter wissen könnte?«

McPherson setzte eine empörte Miene auf.

»Gann, also bitte!«

Laeddis klopfte sich lachend auf den Schenkel.

»Mrs. McPherson-Li-Pen, Sie gefallen mir!«

Sich Lachtränen aus dem Augenwinkel wischend, wandte der Professor sich an den Jungvermählten.

»Nun, Mr. McPherson, wie wäre es nun mit Ihnen?«

Gann eilte ihrem plötzlich errötetem Ehemann zuhilfe.

»Mir kommt da gerade eine passende Geschichte in den Sinn.«

Der Professor lächelte aufmunternd.

»Dann immer her damit!«

»Also gut. Sie heißt … warten Sie … oh ja, sie heißt: Poes Puppenspieler

 

***

Meine Geschichte beginnt in einem Varietee-Theater in Hong Kong. Eines dieser Häuser im Hafenviertel, wo man für ein paar Münzen – gleich welcher Währung – allerhand Darbietungen verschiedener Art und Klasse bestaunen konnte, ehe man sich in den Kellern dem Glückspiel oder anderen Verlockungen hingab. Alkohol und Tabakrauchschwaden schwängerten gleich trägen Wolken die Luft, sobald der Club in den frühen Abendstunden seine Pforten öffnete.

Wenngleich die Gäste größtenteils aus einfachen Leuten, Seemännern und Hafenarbeitern bestanden, so handelte es sich dennoch um kein anspruchsloses Publikum. Im Gegenteil wusste man recht wohl, was gefiel – und was nicht gefiel, zerrte man gnadenlos von der Bühne.

Diese stickige und laute Atmosphäre entsprach ganz dem Geschmack Noel Sinclairs. Sinclair, in der Buchhaltung eines der vielen Reedereikontors im Hafengebiet tätig, verkörperte durchaus, was man als gefürchteten Mann bezeichnete. Mancher Hafenarbeiter erinnerte sich sehr wohl an seine Peitsche, falls Sinclair eine Nachlässigkeit witterte.

Er wohnte im Haus seines Onkels –Vertreter der Reederei in Honkong – der gleichzeitig sein Schwiegervater war. Der Alte machte keinen Hehl daraus, wie sehr ihm sein Eidam missfiel, und ließ Sinclair nur zu gerne die Abhängigkeit von seinem Geld und Gefallen spüren. Schwer zu sagen, was dabei als Ursache und was als Wirkung betrachtet werden sollte: Sinclairs Lasterhaftigkeit – oder die fehlende Anerkennung seines Oheims.

An diesem besagten Tag jedenfalls, verschlug es ihn mit ein paar Kumpanen in dieses Haus, wo man gedachte, den Abend mit Reisschnaps und leichter Unterhaltung zu verbringen. Solange sich zierliche Tänzerinnen auf der Bühne räkelten, war Sinclair auch recht guter Dinge. Als deren Auftritt jedoch endete und statt ihrer ein Hänfling von einem Mann mit einer Puppe auf dem Arm die Bühne betrat, dauerte es kaum 10 Sekunden, bis Sinclair laut zu wettern begann.

Nur die, die ihn bereits kannten, sahen ein kaum merkliches Grinsen über das Gesicht des Künstlers huschen. Edgar Rowen, so sein Name – seines Zeichens Bauchredner – bediente sich einer einfachen wie genialen Methode:

Klein, schmal, ja unscheinbar stand er allein mit seiner Bauchrednerpuppe auf der Bühne, einem gehässig dreinblickenden Gnom namens Mr. Poe. Rowen konnte sicher sein, dass sein schmächtiger Anblick den einen oder anderen Trunkenbold schnell zu einem gehässigen Kommentar reizen würde.

Diesen Moment wartete er geduldig ab, um dann Mr. Poe eine an geschliffener Boshaftigkeit nicht zu überbietende Replik auf den Kerl abfeuern zu lassen, die das übrige Publikum zu johlenden Begeisterungsstürmen veranlasste.

Und genau das geschah. Kaum ließ Sinclair seine Tirade los, drehte sich Mr. Poes Kopf in dessen Richtung. Eine laut vernehmbare Stimme ertönte, die man weder ihm, noch Rowen zugeordnet hätte:

»Ich sehe, da sitzt jemand, dem unsere Darbietung nicht gefallen will, Mr, Rowen!«

Während Rowen daraufhin tat, als spähe er im Publikum nach dem aufsässigen Gast, sprach er derweil ratlos zu der Puppe:

»Wie ist das nur zu erklären? Immerhin haben wir noch nicht einmal begonnen!«

Erste Gäste wandten sich zu Sinclair um, der sich jedoch im Kreise seiner Saufkumpane in der stärkeren Position wähnte. Dann aber antwortete Mr. Poe seinem Herren.

»Nun, schauen Sie sich den Kerl doch an, Mr. Rowen. Ist das nicht Mr. Sinclair? Wir müssen ihm seine fehlende Klasse wohl nachsehen, immerhin ist er bei den Leuten im Hafen dafür bekannt, nicht mit dem Kopf zu denken, sondern mit Faust und Genital. Bei seiner Frau Gemahlin, so wird allerdings im Hafen gemunkelt, drohen ihm indes Prügel, wenn er nach Hause kommt.«

Unter johlendem Applaus des Publikums, von dem manch einer schon mit Sinclair aneinander geprallt war und diesen Moment nun sichtlich genoss, feuerte Mr. Poe eine rethorische Salve nach der nächsten auf den Mann, dessen Selbstbeherrschung zunehmend schwand. Nur mit großer Mühe zwang er sich nicht auf die Bühne zu stürzen, um dem unverschämten Winzling die Puppe aus der Hand zu prügeln.

Einer aus seiner Gesellschaft wandte sich dem Verspotteten grinsend zu.

»Machen Sie sich nichts draus, Sinclair! Jeder gute König hatte auch einen Hofnarren.«

Vergeben und vergessen gehörten jedoch nicht zu Sinclairs Stärken. In den folgenden Stunden versuchte er, seine Wut in den Armen eines Amüsiermädchens zu überwinden.

Als ihm jedoch auch hier – und daran mochte die vorher erlittene Schmach Schuld tragen – ein gewisser Erfolg versagt blieb, er noch dazu auf dem Heimweg zahllose hämische Blicke wahrzunehmen meinte, ließ sich sein Zorn nicht mehr zügeln.

Benebelt vom Alkohol und getrieben von Hass kehrte er Stunden später unbemerkt zurück zum Theater – und schlich zur Garderobe des Bauchredners. Ganz leise, um den Schlafenden nicht zu wecken, drückte er die Klinke und öffnete langsam die Tür. Vor Erregung wagte der Eindringling kaum zu atmen, zwang sich jedoch weiterhin zur Ruhe. Das hingebungsvolle Schnarchen seines Zielobjektes signalisierte ihm, dass Rowen bei seinem Eintreten nicht erwachen würde. Rasch schob Rachdurstige sich in den Raum und verschloss die Tür.

Auf sein Opfer herabblickend, hielt Sinclair einen kurzen Moment inne. Doch dann fiel sein Blick auf die Puppe, die reglos auf einem Tisch vor dem Fenster saß – und ihn aus scheinbar hämisch mit ihren Geieraugen anglotzte. Das brachte flugs seine Vergeltungswut zurück.

Ohne auch nur einen weiteren klaren Gedanken zuzulassen, packte Sinclair Edgar Rowen an der Gurgel. Augenblicklich riss dieser entsetzt die Augen auf, während der Angreifer nun mit wutverzerrter Miene zischte: »Ja, glotz du nur! Ich werde dich lehren, was es bedeutet, über einen Sinclair zu spotten!«

Damit presste er Rowens Hals so fest, dass dessen Kehle nurmehr ein gequältes Ächzen entrang. Rowen leistete nicht sehr lange Widerstand, bis sein zarter Körper in sich zusammensackte.

Nach Vollendung des grauenvollen Werks blickte Sinclair voller Verachtung und ohne den geringsten Anflug von Reue auf den Toten herab, dessen Mund und Augen in letztem Entsetzen weit offen standen. Ein leises Gefühl der Satisfaktion durchfuhr ihn, als er stumm seine Laterne ergriff, um den Tatort zu verlassen.

An der Tür angekommen, drang plötzlich leises Kichern an sein Ohr. Eisiger Schreck durchfuhr lähmend seine Glieder. Unmöglich! Das schwächliche Schandmaul brachte er doch einen Moment zuvor zum Schweigen! Mit Mühe zwang sich Sinclair, sich in dem düsteren Raum umzudrehen.

Auf dem Bett lag Rowen, doch der rührte sich nicht. Und doch schien dem Mörder erneut, als hörte er ein Kichern.

In diesem Augenblick überkam Sinclair eine böse Ahnung.

Es konnte nicht sein. Es musste sich lediglich um blödsinnigen Mumpitz handeln. Und er musste dringend vom Tatort verschwinden! Dennoch gelang es ihm nicht, dem Impuls zu widerstehen, einen Blick zu der Bauchrednerpuppe auf dem Tisch zu werfen.

Tatsächlich schien es ihm im Zwielicht, als huschte ein leichtes Grinsen über deren Züge. Aber dies musste sicherlich seiner Nervosität zugeschrieben werden.

Doch zum Entsetzen des Meuchlers begann Mr. Poe mit leiser, doch durchdringender Stimme zu flüstern

»Einen guten Abend wünsche ich, Mr. Sinclair. Verzeihen Sie, es lag mir fern, Sie zu stören. Sie schienen mir eben sehr beschäftigt.«

Ungläubig und benommen schüttelte Sinclair den Kopf, während die Puppe unbeeindruckt weitersprach.

»Falls es Ihnen indes um Vergeltung ging, so muss ich Sie enttäuschen. Nicht Rowen trieb seinen Spaß mit ihnen. Das war ich! Aber sehr verständlich, dass Sie sich lieber an ihm rächten. Immerhin ist er der Schwächling von uns beiden! Mit mir hätten Sie nicht so leichtes Spiel gehabt!«

Wie von Sinnen hastete Sinclair schreiend auf den furchtbaren Gnom zu, riss ihn empor und schleuderte ihn gegen die Wand, wo er scheppernd niederfiel. Doch sollte ihn das nicht stoppen. Kaum auf dem Boden gelandet, begann Mr. Poe erneut zu kichern, was Sinclair veranlasste, sich wieder auf ihn zu stürzen.

Als er der lachenden Kreatur gerade den hässlichen Schädel vom Puppenleib reißen wollte, wurde die Tür aufgerissen, denn der Lärm hatte zwischenzeitlich die übrigen Schausteller geweckt. Sobald sie den leblosen Rowen erblickten, begriffen sie das Geschehen, und ergriffen Sinclair, der jedoch gleich einem Wahnsinnigen nicht von der Puppe lassen wollte.

Natürlich glaubte ihm niemand, dass eine aus Holz geschnitzte Puppe ihn beleidigt habe. Für den Mord an Rowen wurde Sinclair zum Tode am Galgen verurteilt. Und während ihm die Schlinge um den Hals gelegt wurde, war ihm, als vernehme er das leise Kichern Mr. Poes.

 

***

 

Kaum hatte sie den letzten Satz geflüstert, starrte. McPherson, dem sich dieses erzählerische Talent seiner Frau zum ersten Mal offenbarte, sie nur fassungslos an. Professor Laeddis schien noch nach den richtigen Worten zu suchen, nach kurzer Pause räusperte er sich.

»Eine wahrlich unheimliche Geschichte, meine Liebe! In der Tat, sehr inspirierend! Aber nun sagen Sie bitte nicht, dass auch sie auf tatsächlichen Geschehnissen beruht!«

»Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Sie kam mir jedenfalls zu Ohren, als ich ein paar Jahre später in diesem Haus war.«

Ms. Fether hob die Augenbrauen.

»Sie haben sich tatsächlich als Gast in ein solches Etablissement gewagt?«

»Als Gast … ja.«

Gann McPherson Li-Pen bestätigte schnell und ohne dabei ihren Gatten anzublicken. Zu ihrer Rettung klopfte sich der Professor in diesem Augenblick auf die Schenkel und erhob sich schwerfällig.

»Bitte entschuldigen Sie mich noch einmal. Es gibt noch ein Anliegen, das ich dem Hausmädchen antragen muss!«

Kaum hatte er ihre Runde verlassen, raunte Mrs. Tarr ihrer Kollegin zu:

»Wusste doch gleich, dass er Gefallen an dem dummen Ding finden würde.«

Ms. Fether kicherte.

»Das Mausen steckt der Katze halt im Blut.«

Im nächsten Augenblick wurden sich beide Frauen allerdings wieder bewusst, nicht allein zu sein und bemühten sich hüstelnd um Ernsthaftigkeit. Mrs. Tarr wandte sich in betont damenhafter Contenance an ihre Kollegin.

»Nun, meine liebe Ms. Fether, dann ist die Reihe wohl nun an Ihnen!

»Gut. Aber bitte, meine liebe Mrs. Tarr, lassen Sie die gleiche Unvoreingenommenheit walten, die ich auch zugestanden habe.«

»Haben Sie das, meine Liebe? Nun, dann will auch ich Ihnen diesen Gefallen tun. Aber bedenken Sie, dass Ihre Geschichte einen Titel braucht! Kein Titel – keine gute Geschichte.«

»Nun, wenn Sie das sagen, dann nenne ich die Erzählung halt: Ein böses Lied

                              

***

 

Coraline M. und ihr Mann Jock führten das, was man wohl eine Bilderbuch-Ehe nennen könnte. Seit ihrer ersten Begegnung als er eine Stellung als Sekretär in ihres Vaters Kontor antrat, waren die beiden unzertrennlich.

So schien es lediglich Formsache, als Jock schließlich – kaum wurde Coraline mündig – beim Vater um die Hand der Tochter anhielt, die ihm auch gern gewährt wurde.

Coraline – von jeher vorsichtiger und unsicherer Natur – ließ Unterhaltungen stets noch Tage später in ihrem Gedächtnis Revue passieren, um die Reaktionen ihrer Gesprächspartner zu deuten. Aus paranoider Furcht ausgelacht zu werden, bestrafte sie nicht selten ein Dienstmädchen, das sich erlaubte, hinter ihrem Rücken zu kichern.

Jock betrachtete dies jedoch nur als liebenswerte Schrulle, die er geduldig auszugleichen suchte, indem er ihr stets das Gefühl gab, in seinen Armen sicher zu sein. Aber auch er litt unter einem Trauma, das er Coraline jedoch bereits in jungen Jahren gestand, da er vor seiner Liebsten kein Geheimnis haben wollte. Der Auslöser aber, sich ihr an jenem Tag anzuvertrauen, bestand in etwas gänzlich anderem.

Es war ein Tag im Spätherbst, als das Paar in einem benachbarten Dorf ein Volksfest besuchte. Golden beleuchteten letzte warme Sonnenstrahlen des Jahres die Festwiese mit allerhand Gauklern und fahrendem Volk. Den ganzen Tag hatten sie bereits ausgelassen die herrliche Feststimmung ausgekostet, die manigfaltigen Süßspeisen gekostet und sogar eine Zaubervorstellung besucht, als sie gegen Abend schließlich ein großes Zelt betraten, in dem zur Musik eines Akkordeonspielers getanzt wurde.

Sogleich begaben auch Coraline und Jock sich auf das Parkett, wo sie sich drei oder vier Lieder lang beschwingt und fröhlich im Rhythmus der Melodien wiegten. Als der Musiker nach kurzer Pause das nächste Stück anstimmte, bemerkte Coraline erschrocken, wie Jock sich plötzlich mit weit aufgerissenen Augen und schweißnasser Stirn schlagartig in ihren Armen verkrampfte.

Ehe sich ihr jedoch Gelegenheit bot, ihn nach der Ursache zu fragen, riss er sich los und stürzte hinaus, als ob der Leibhaftige hinter ihm her sei. In der Hoffnung, er werde bestimmt vor dem Eingang auf sie warten, eilte Coraline ihm sogleich hinterher – vergeblich.

Nach langer Suche fand sie ihn schließlich zusammengekauert und zitternd unter einer Brücke, die fernab des Festplatzes über einen Bachlauf führte. Bei ihrem Anblick sprang er auf und entschuldigte sich unter heftigen Umarmungen und Küssen für sein Verhalten. Coraline blickte ihn besorgt an.

»Was hat dich so in Furcht versetzt, Liebster? Kam jemand in das Zelt, der dich in Angst versetzte?«

Betrübt schüttelte Jock den Kopf.

»Es war … das Lied. Dieses unendlich böse Lied

»Aber … wie könnte denn ein Lied böse sein?«, fragte sie irritiert.

»Schon als Kind von vielleicht fünf oder sechs Jahren habe ich diese Melodie zu fürchten gelernt.

Meine Großeltern besaßen ein kleines Häuschen im Dartmoor, wo mein Großvater als Jäger arbeitete. In diesem speziellen Sommer verbrachte ich dort mit meiner Schwester ein paar Wochen in seliger Unbeschwertheit. Jeden Morgen ging Großvater, eben dieses Lied pfeifend, zur Jagd. Und wenn er des Nachmittags wiederkehrte, hörte man die Weise schon von weitem. Bald legte ich mich vor seiner bevorstehenden Heimkehr regelrecht auf die Lauer und horchte auf sein Pfeifen. Dann lief ich ihm entgegen, um ihn freudig zu begrüßen und in die Arme zu schließen.

Etwa eine Woche nachdem ich diesen Sport begonnen hatte, ging meine Großmutter eines Nachmittags aus um Einkäufe im nahegelegenen Ort zu erledigen.

Natürlich hieß sie uns Kinder, niemand Unbekanntem zu öffnen. Eingedenk all der grausamen Märchen mit dieser Thematik versprachen wir ihr dies, verriegelten hinter ihr die Türe und widmeten uns unserem Tagwerk. Gegen Nachmittag, ich saß in der Stube und las ein Buch, ertönte plötzlich des Großvaters Melodie. Ohne lange nachzusinnen, rannte ich voller Freude zur Tür und öffnete sie.«

Jocks Atem ging nun schwer. Sein Blick richtete sich in die Ferne als er nach einer kurzen Weile fortfuhr.

»Nie werde ich meinen Schrecken vergessen, als ich die Türe öffnete: Vor mir stand nicht die vertraut gebückte Gestalt Großvaters, sondern der massige Körper eines Fremden. Im nächsten Augenblick stieß er mich schon beiseite und trat ins Haus. Wenngleich ich mich nach Kräften wehrte, bedurfte es seinerseits nicht mehr als ein paar Hiebe, mich bewusstlos zu schlagen.«

»Aber das ist ja furchtbar!«, entfuhr es Coraline.

»Und doch nichts im Vergleich zu dem, was er … meiner Schwester antat«, antwortete Jock bitter. »Sein Unwesen treibend, pfiff der Unhold unablässig dieses Lied. Tat es immer noch, als er uns schließlich verließ. Als meine Großeltern zurückkehrten, war er längst verschwunden. Meine Schwester wurde zu einem Arzt gebracht. Zwar stand es in seiner Macht, ihre körperlichen Wunden zu versorgen – nicht jedoch die ihres Herzen. Und mir selbst blieb nichts anderes übrig, als damit zu leben, den Verbrecher eingelassen zu haben. Nur, weil der Kerl dieses böse Lied pfiff.«

»Das war sicherlich schrecklich, indes muss es sich doch wohl um einen tragischen Zufall gehandelt haben, dass er eben diese Melodie pfiff.«

»Genau das redete ich mir auch ein. Tag um Tag und Jahr um Jahr. Wie sollte schließlich ein Lied böse sein? Nichts als Aberglaube. Und daher setzte ich mich eines Tages bewusst erneut den Klängen dieser Weise aus, um mir und dem Schicksal eine Lektion zu erteilen.

Ich bat meinen damaligen Zimmernachbarn Frederick, der eine herrliche Stimme sein eigen nennt, dieses Lied für mich zu singen. Tatsächlich geschah zuerst einmal nichts. Was sollte auch schon passieren? Immerhin ging es ja nur um eine Abfolge von Tönen, nicht? So dachte ich und feierte meinen Triumph über Fortuna ausgiebig in einem Pub.

Am nächsten Morgen weckte mich lautes Pochen der Zimmerwirtin an meiner Tür. Als ich schlaftrunken öffnete, fiel sie mir weinend ob der schlechten Neuigkeit in die Arme, denn mein Vater, dessen Besuch ich für diesen Tag erwartete, erlitt einen tödlichen Kutschunfall.

Noch ehe durch die Paralyse des Schocks überhaupt Trauer zu mir durchdrang, beschlich mich ein entsetzlicher Gedanke: Ich musste das Schicksal durch dieses schreckliche Lied herausgefordert haben!«

Kaum beendete Jock seine Offenbarung, brach er weinend in Coralines Armen zusammen.

In den folgenden Jahren unternahm seine Frau alles um zu vermeiden, dass diese Melodie noch einmal an sein Ohr drang. Er dankte es ihr – indem er all seine Liebe an sie vergeudete.

 

Sie mochten vielleicht fünfundzwanzig Jahre verheiratet gewesen sein, als ein Auftrag Jock zu einer Reise auf den Kontinent zwang. Es ging um Veräußerung einer Immobilie an einen osteuropäischen Adligen.

Vor seiner Abreise rang Coraline ihm das Versprechen ab, ihr zumindest täglich einen Brief zu schreiben. Schon jetzt krank vor Sehnsucht, entsprach er nur zu gern ihrer Bitte. Und so erhielt seine Gattin nahezu jeden Tag ein Kuvert mit einer Notiz in seiner Handschrift, gerichtet an »meine geliebte Cora« und voller Liebesschwüre.

So ging es etwa drei Wochen lang. Dann jedoch versiegte seine Korrespondenz urplötzlich. Zuerst empfand Coraline nur Überraschung, dann Enttäuschung, ab dem siebten Tag jedoch bittere Verzweiflung, als der Postillion noch immer keine Nachricht überbrachte. Versuchte sie sich diesen Umstand zu Beginn noch mit schlechten Poststrecken auf dem Kontinent zu begründen, die Jocks Briefe unnötig aufhielten – oder schlimmstenfalls zum Verlust führten – so wuchs in ihr inzwischen zunehmende Gewissheit, dass ihrem Gatten Schreckliches zugestoßen sein mochte.

Was, wenn er auf der beschwerlichen Reise einen Unfall erlitt? Ihm die dort noch in rauer Zahl existierenden Straßenräuber aufgelauert und ihn ums Leben gebracht hatten? Oder schlimmer gar, wenn Jock womöglich einer anderen Frau verfallen war?

Vor Angst und Eifersucht sah sich Coraline bald zu keinem klaren Gedanken mehr fähig.

 

Endlich, Jocks letztes Lebenszeichen lag inzwischen weit über acht Wochen zurück, überbrachte der Bote ein Telegramm von ihm. Coralines ungläubige Freude aber trübte sich rasch durch die nüchterne Sprache, in der er lapidar mitteilte, inzwischen wieder die französische Küste erreicht zu haben – und voraussichtlich in spätestens zwei Tagen heimzukehren.

Kein überzähliges liebes Wort , so sehr sie auch danach suchte. Trotz der Irritation plante Coraline indes, ihm das schönste Willkommen zu bereiten. Bestimmt würden sich all ihre Sorgen mit seiner Heimkehr in Wohlgefallen auflösen!

Als Jock jedoch nach knapp drei Monaten Trennung schließlich vor ihr stand, wich Coraline erschrocken vor ihm zurück.

Diese Person sah zwar aus wie ihr Ehemann, sprach auch wie er, ja selbst sein Geruch stimmte. Und doch wusste sie vom ersten Augenblick an, dass es sich nicht um ihren geliebten Mann handelte. Lag es an der Art seiner Berührung, die sich anders gestaltete – seltsam unbeholfen und … mechanisch? Sein Kuss, der sich so fremd anfühlte? Als er sie in dieser Nacht besuchte und eine nie erlebte wilde Gier an den Tag legte, derer sie sich kaum erwehren konnte, bestand für Coraline kein Zweifel mehr: Dieser Mann war nicht Jock!

In den kommenden Tagen mehrten sich bestätigende Anzeichen für ihre Befürchtung, die aber niemandem außer ihr aufzufallen schienen. Alle Freunde und Verwandten, die sie gemeinsam besuchten, freuten sich über seine Heimkehr, lachten und scherzten mit ihm, ohne auch nur den geringsten Zweifel zu hegen. Nun, es stand ihm auch niemand so nah wie sie!

Eines Tages hielt Coraline es nicht mehr aus und vertraute sich ihrer Schwester an, wobei sie all die feinen Unterschiede aufzählte, die zu ihrer Folgerung führten:

Die Art, wie er seine Kleidung zurechtlegte. Wie er – früher ein Chaot, nun ach so sorgsam – seine Utensilien sortierte. Bestimmte Speisen – einst geliebt und nun verschmäht. Schließlich seine fehlende Zärtlichkeit.

So sehr hoffte die Verzweifelte, in ihrer Schwester eine Bundesgenossin zu finden, eine Vertraute, die ihr beistehen würde. Doch erntete sie lediglich diese liebevollen Blicke, die man einer Verrückten schenkte, der man nicht sagen wollte, dass sie irre sei.

Wie furchtbar sich dieser Zustand für Coraline angefühlt haben musste – zu wissen, dass der über alles geliebte Mensch durch einen Doppelgänger ausgetauscht wurde, mit diesem Wissen jedoch vollends allein zu sein?

Die Situation trieb Coraline fast in den Wahnsinn. Dieser Fremde konnte sich tatsächlich an all die kleinen Geheimnisse erinnern, die sie einst mit Jock teilte, all die Dinge, die sie gemeinsam erlebten. Und doch handelte es sich nicht um Jock!

So sehr sie nach verräterischen körperlichen Zeichen suchte, musste sie feststellen, dass diese Kopie aus der Hand eines nahezu perfekten Meisters stammte. Und doch, besaß Jock nicht einen nun fehlenden Leberfleck neben der rechten Brust? Gab es nicht diese kleine Narbe – jetzt aber plötzlich an anderer Stelle?

Bald empfand Coraline völlige Verunsicherung dahingehend, was sie glauben sollte. In einem Punkt herrschte jedoch Eindeutigkeit – nämlich dass Gewissheit nottat!

Schließlich beschloss sie, den vermeintlichen Jock zur Rede zu stellen. An diesem Abend verweigerte sie ihm den Beischlaf mit dem Hinweis, ihrem Ehemann treu zu sein. Als er sie daraufhin belustigt ansah, als handle es sich um einen Scherz, wäre sie vor Abscheu am liebsten gestorben. Wenngleich es Übelkeit in ihr aufsteigen ließ, blieb ihr auch dieses Mal nicht erspart, sich seinem nachdrücklichen Begehren schließlich zu fügen.

In dieser Nacht jedoch kam ihr der rettende Einfall, wie sich ein für alle Mal beweisen ließ, ob es sich – und da war sie sich nun felsenfest sicher – tatsächlich um einen Doppelgänger handelte. Um diesen Plan in die Tat umzusetzen, bedurfte es einiger Besorgungen und Vorbereitungen, die sie am kommenden Tag akribisch mit längst vergessen geglaubtem Elan umsetzte.

Als der vermeintliche Jock an diesem Abend heimkehrte, gab Coraline sich alle Mühe, die fremden Berührungen zu ertragen, als seien sie ihr vertraut. Es galt, keinen Zweifel in ihm zu schüren, dass sie ihn für ihren Gatten hielt.

Kaum jedoch, dass sie sich zur Ruhe begaben und das Licht löschten, signalisierte Coraline dem Dienstmädchen verabredungsgemäß, im Nebenraum eine Tonwalze zum Laufen zu bringen – mit eben jener wohlvertrauten Melodie, von deren Fluch Jock ihr einst berichtete. Dieses intime Geheimnis sollte die ultimative Probe für diesen Wechselbalg sein, der sich ihrer zu bedienen gedachte!

Und tatsächlich geschah, was Coraline nicht zu hoffen wagte: Sobald die ersten Takte der Melodie erklangen, spürte sie, wie sich der auf ihr liegende Körper verkrampfte. Panische Furcht weitete seine Augen. Überwältigt von Angst riss er sich von ihr los, stürzte zum Fenster und sprang durch das berstende Glas in die Nacht – begleitet von der Melodie des Liedes, dessen Klang seinen Aufprall auf dem drei Stockwerke tiefer gelegenem Straßenpflaster fast gänzlich übertönte.

Coraline aber zog – ob des nun durch den Raum wehenden kalten Luftzugs – ihre Bettdecke höher. Jetzt, da Sicherheit herrschte, dass es sich doch um ihren Jock handelte, würde sie endlich wieder beruhigt schlafen.

 

***

 

Professor Laeddis, zwischenzeitlich zurückgekehrt, kannte diese Geschichte offenbar.

»Tja, wie sich später herausstellte, leidet die arme Seele an einer bislang kaum erforschten Form der Psychose, die ihr diesen »Doppelgänger-Streich« vorgaukelte. Ihr geringes Selbstwertgefühl dürfte dabei eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben.«

»Gute Güte, wie tragisch.«

»Sie sagen es, Mrs. McPherson-Li-Pen. Sie sagen es.«

»Haben Sie bei der Ärmsten je Heilungsfortschritte ergeben?«

»Die Heilung hängt eng damit zusammen, dass die Patientin ihren Anteil an der Tragödie begreift. Davon jedoch ist sie bislang noch weit entfernt. Immerhin ist es ihr inzwischen möglich, davon zu sprechen – wenngleich gern in der Dritten Person. Als Schutz sozusagen.«

»Kehrte Coralines Ehemann denn wirklich verändert vom Kontinent zurück?«, erkundigte sich McPherson, nicht ohne an sein eigenes medizinisches Anliegen zu denken.

»Nun, anläßlich der Autopsie zeigten sich erste Anzeichen der Franzosenkrankheit

»Syphilis? Autsch! Dann scheint ihm in der Tat Einschneidendes zugestoßen zu sein.«

Mrs. Tarr richtete sich voller Empörung zu steifer Sitzhaltung auf.

»Meine Rede! Männer! Allesamt Halunken und Verbrecher!«

Der Professor hob scherzhaft rügend den Zeigefinger.

»Wehrte Kollegin, ich bitte Sie, nicht ungerecht zu verallgemeinern! Aber nun mögen die Herrschaften entschuldigen, wenn ich für meinen Teil diesen Abend beschließe. Wer kann schon sagen, wann wir morgen früh aufbrechen müssen? Außerdem wartet auf mich noch … eine dringende Angelegenheit!«

Er warf einen vielsagenden Blick in die Runde, den die beiden Krankenschwestern lächelnd quittierten, McPherson und Gann jedoch nicht zu deuten wussten.

Ein cleverer Schachzug des Alten, dachte McPherson, sich derart um seine eigene Geschichte zu drücken, und beschloss es ihm gleichzutun, ehe die Reihe womöglich nochmals an ihn käme. So zogen auch die Jungvermählten sich bald in ihr Gastzimmer zurück.

***

Später in der Nacht begab sich McPherson unvorhergesehen doch noch einmal zur Gaststube, denn Gann – durch die Wirkung des Grogs beschwipst – erbat einen Krug Wasser, der ihr voraussichtlich höllisch durstiges Erwachen am nächsten Morgen ein wenig abmildern sollte.

Den düsteren Schankraum betretend, hörte McPherson leises Rascheln hinter einer der angrenzenden Türen. Die Kammer des Hausmädchens?

Tiffany, wenn er sich recht entsann. Zwar etwas peinlich, die junge Frau während ihrer Nachttoilette zu belästigen, doch schien sie immerhin noch wach zu sein.

Er räusperte sich und klopfte zaghaft gegen das Türblatt. Nach einigen Momenten, die sie wohl brauchte, um sich gebührend anzukleiden, wurde die Tür von innen aufgeschlossen. McPherson – gerade im Begriff, seine inzwischen zurechtgelegte Entschuldigungsfloskel aufzusagen – hielt überrascht inne. Zu seiner großen Verwunderung stand ihm nicht Tiffany gegenüber.