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G.F. Barner
– 155 –

Flucht im Blizzard

G.F. Barner

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-477-2

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»Was ist da los?«, fragt jemand. »He, wer hat geschossen?«

»Ich, Brabham«, erwidert der Deputy. »Leuchte, wenn du kannst, Dexter. Hier liegt einer von drei Burschen, die im Store von Jim gewesen sind.«

Dexter stellt die Lampe ins Fenster. Brabham hat nun genug Licht. Das Gesicht dieses Burschen kommt Brabham irgendwie bekannt vor. Zwei, drei Männer erscheinen aus dem Saloon, und einige der Anwohner tauchen auf.

»Teufel«, sagt einer, der eine Laterne heranbringt und den Burschen anleuchtet, »du hast ihm die Kugel in die rechte Schulter gejagt. Brabham, sie sitzt ziemlich hoch, gefährlich kann es für den Kerl nicht sein. Wo kam er her?«

»Aus Jims Store. Ich sehe besser nach, was mit Jim ist.«

Brabham hat den Mann durchsucht, aber keine weitere Waffe außer einem Messer gefunden. Mit der Laterne geht er zum Store. Dort findet er Jim Henderson an das Bett gebunden. Als er ihn losgemacht hat, hört er, was sich abgespielt hat.

Auch Sheriff Dunn ist gekommen, geht los, um nach den Spuren zu sehen und sagt, als er zurückkehrt:

»Da waren noch drei andere. Einer scheint ihre Pferde gehalten zu haben, während die anderen Jim besuchten. Well, schaffen wir den Kerl ins Office.«

Der Gefangene erwacht auf dem Weg ins Office, schweigt aber bei jeder Frage, während der Doc ihn untersucht. Auf Dunns Frage schüttelt der Doc den Kopf.

»Nicht gefährlich. Der ist in vierzehn Tagen wieder gesund.«

»Er scheint die Sprache verloren zu haben«, brummt Sheriff Dunn. »He, du, wie heißt du? Kannst du nicht reden?«

Der Mann dreht das Gesicht der Wand zu und ist still.

»Sie haben kaum Geld erbeutet«, stellt Dunn fest. »Aber sie haben sich eine Menge Sachen mitgenommen, die man zum Überwintern braucht. Möchte wissen, woher sie gekommen sind und was ihr Ziel ist. He, was ist, Brabham?«

Der hat die Steckbriefe durchgeblättert und legt einen auf den Tisch.

Sheriff Dunn wirft einen Blick auf den Steckbrief, dann tritt er in die Zelle und packt den Gefangenen hart an.

»Umdrehen, sieh zum Licht, Freundchen! Teufel, er will nicht. Brabham, hilf mir mal.«

Als das volle Licht das Gesicht des Gefangenen trifft, nimmt Dunn den Steckbrief hoch und vergleicht.

»Wen haben wir da erwischt«, sagt er grimmig. »Darum hat er nicht geredet. Freundchen, hast du gedacht, weil die Bahnbrücke über den Green River eingekracht ist und keine Züge mehr durchkommen, hätten wir deinen Steckbrief nicht erhalten? Hallo, Rich Monrose, alias Quentin, alias Gene Miller – gesucht wegen Mordes.«

Brabham hat einen Mörder gefangen.

*

Dunn hat es längst aufgegeben, mit Monrose zu reden. Jeder Versuch, etwas über die Komplicen des Mörders zu erfahren, bedeutet nur verschwendete Zeit.

Durch den Telegrafen haben sie von Cheyenne die Namen einiger Leute bekommen, mit denen Monrose zusammen gewesen ist. Unter diesen Männern befinden sich zwei ehemalige Felljäger, die sich in den Bergen auskennen. Nach dem, was Monrose und dessen Freund im Store gestohlen haben, scheinen sich die Burschen für eine Überwinterung in den Bergen eingerichtet zu haben.

Die Banditen haben sich die komplette Ausrüstung von Fallenstellern zusammengeraubt.

Dunn sieht durch das Fenster, das zur Hälfte hochgefroren ist, den Mann draußen auftauchen. Dann erscheint der Telegrafist der Bahnstation auch schon an der Tür. Schnee wirbelt herein.

»Ho, ihr habt es warm«, sagt Taylor, der Telegrafist, schnaufend. »Sheriff, wir haben wieder Verbindung mit Green River, man hat die Leitung nach Westen flicken können. Brabham sagte mir, dass ihr diesen Mörder nach Cheyenne bringen müsst. Gilt das für jedes Transportmittel?«

»Sicher«, erwidert Dunn. »Warum fragst du?«

»Nun, weil durch den Draht die Nachricht gekommen ist, dass Ross Shane unterwegs ist. Shane kennt sich in dieser Gegend aus. Er hat sich in Green River eine Kutsche genommen. Mit der will er nach Cheyenne oder wenigstens bis Laramie. Er wird jedoch nach Cheyenne müssen, denn nach Laramie kommt er sicher nicht durch.«

»Shane?«, fragt Brabham überrascht. »Ich denke, er steckt bei den Bauarbeiten der Oregon-Nebenlinie. Was will er in Cheyenne?«

Es gibt kaum jemanden in diesem Land, der Ross Shane nicht schon irgendwann getroffen hat. Bereits Shanes­ Vater arbeitete beim Bau der Union Pacific an leitender Stelle mit. Ross hat es vor Jahresfrist übernommen, die Materiallager der Union Pacific beim Bau der Oregon-Nebenstrecke zu versorgen. Durch seine Hände laufen alle Material-, Verpflegungs- und Beschaffungskosten.

»Weiß ich nicht«, sagt Taylor. »Aber ihr kennt Shane ja. Wenn er sich vornimmt, mit einer Kutsche nach Cheyenne zu fahren, dann macht er es auch. Kommt er einigermaßen schnell voran, Dunn, dann müsste er morgen früh hier sein. Ich dachte, wenn ihr doch diesen Mörder nach Cheyenne bringen müsst …«

»Das ist keine schlechte Idee«, sagt Dunn nachdenklich. »Fragt sich nur, was Shane dazu sagt, wenn er die Reise in Gesellschaft eines Mörders machen soll.«

*

Shanes dunkle scharfe Augen haben einen Ausdruck angenommen, der Dunn den Blick senken lässt. Nicht nur, dass Shane den Sheriff um einen ganzen Kopf überragt – Shane hat auch das gewisse Etwas im Blick, das einem Mann die Furcht einjagen kann.

»Einer von uns beiden ist verrückt«, sagt Shane kalt und scharf. »Du brauchst mich – der Teufel noch mal – nicht an das Gesetz zu erinnern, Dunn, merk dir das! Ich weiß verdammt genau, dass ich dem Ersuchen eines Sheriffs Folge leisten muss, aber May Rowes fährt mit. Dazu einen Mörder und zwei Deputies mitnehmen. Mensch, wie denkst du dir das? Schließlich ist May Rowes nicht irgendwer, sondern die Tochter des Vizepräsidenten einer Bahngesellschaft. Schlage es dir aus dem Kopf, dass sie …«

Er hat laut gesprochen, vielleicht zu laut, denn die Tür zum Nebenraum des Saloons öffnet sich.

May Rowes, eingehüllt in einen dicken Mantel, eine Kapuze, die nicht zugebunden ist, auf dem Kopf, tritt in den Raum und sieht von Shane zum Sheriff.

»Mr Shane, warum streiten Sie?«

»Dieser Sheriff«, brummt Shane mit einem wilden Blick auf Dunn, »macht sich einen Spaß daraus, mir zuzumuten, einen Mörder samt Bewachung in der Kutsche mitzunehmen, Miss Rowes. Das würde bedeuten, dass Sie vielleicht eine Woche in der Gesellschaft dieses Burschen zubringen müssten. Kein Grund, erregt zu sein, wie?«

»Ein schlimmer Bursche, so ein richtiger Mörder? Shane, mir macht es nichts, mit einem Mörder zu reisen. Ich wette, meine Freundinnen werden das Gruseln bekommen, wenn ich es ihnen erzähle. Ja, ich denke, wir sollten den Mann mitnehmen, Shane.«

»Allmächtiger, wissen Sie, was Sie sagen, Miss Rowes? Nur um Ihren Freundinnen etwas Nervenkitzel zu bieten, wollen Sie sich mit einem Mörder in eine Kutsche setzen? Glauben Sie mir, Miss Rowes, ich habe meine Gründe. Wir können den Mann nicht mitnehmen.«

May Rowes furcht die Brauen. In diesem Moment erinnert sie Shane wieder einmal an Chris Rowes, ihren Vater.

Auch Rowes besitzt einen Dickschädel. Seine Tochter scheint ihm in nichts nachzustehen.

»Ihre Gründe sind lächerlich, Mr Shane«, antwortet sie scharf. »Ich fürchte mich vor keinem Mörder. Was immer Ihre Gründe sind, Shane – Sie arbeiten für meinen Vater, wie? Sie haben den Auftrag angenommen, mich nach Cheyenne zu bringen. Die Kosten trägt mein Vater, oder nicht? Shane, dieser Mörder kommt mit, das ist mein letztes Wort.«

Einen Augenblick hat Sheriff Dunn den Eindruck, als wollte Shane explodieren.

Dunn zuckt die Achseln.

»Miss Rowes, im Grunde hat Shane recht, aber der Gefangene muss nach Cheyenne. Sie hätten Shane niemals sagen dürfen, dass er für Ihren Vater arbeitet. Ich hätte auch nie über die Kosten gesprochen. Ross Shane hat es nicht nötig, für irgendwen und irgendwas zu arbeiten. Er ist freiwillig zur Bahn gekommen. Es hat, soviel ich weiß, mit der Freundschaft zwischen Ihrem und Shanes Vater zu tun, aber nie mit Geld. Schätze, Shane ist beleidigt, er wird nicht mehr für Ihren Vater tätig sein wollen.«

»Nun, dann lässt er es«, gibt sie zurück. »So wichtig ist ein Mr Shane sicher nicht.«

Dunn sieht sie erstaunt an und schüttelt dann den Kopf.

»Ich sehe, Sie kennen Shane nicht«, sagt er. »Miss Rowes, Shane kennt dieses Land wie sich selbst. Er spricht vier oder fünf Indianerdialekte und hat der Bahn allein dadurch mehr geholfen als ein Regiment Blaujacken. Ohne ihn hätte es hundertfachen Ärger mit den Indianern gegeben, ehe der Bahnbau begonnen wurde. Was immer Shane vorschlägt, die Bahn macht es. Es wird ein Schlag für Ihren Vater, dass Shane die Arbeit hinwirft. Nun, jetzt wissen Sie es, hoffentlich besinnt sich Shane noch.«

Aber Shane besinnt sich nicht.

Als Sheriff Dunn May Rowes erklärt, wer Shane ist, steht Ross Shane gebückt in der Kutsche, die man vor den Stall der Poststation gefahren hat.

»Dieses schwarzhaarige, närrische, eigenwillige und sensationslüsterne Frauenzimmer«, sagt Shane in der Kutsche wütend. »Zum Teufel damit, ich habe meine Gründe, sage ich ihr, aber sie will nicht hören. Hölle und Pest, ich konnte ihr nichts sagen. Niemand außer mir weiß es …«

Er hebt den einen Sitz aus und wirft einen finsteren Blick auf die Reisetasche. Sie liegt zwischen Putzwolle und ein paar Lappen. Und in ihr sind siebenunddreißigtausend Dollar in Scheinen und Münzen – Bahngelder, die dringend nach Cheyenne gebracht werden müssen.

»Siebenunddreißigtausend Dollar«, murmelt Shane. »Das ist genug, um manchen ehrlichen Mann verrückt zu machen.«

Er hat das verdammte Gefühl, auf einem Pulverfass zu sitzen.

*

Sie sind in den Hügeln ostwärts des Nord Platte Rivers, als Shane die Leinen an Mitch Harper übergibt. Das Wetter hat sich noch verschlechtert. Es schneit kaum, dafür aber treibt der böige Wind den Schnee vor sich her. Die Sicht beträgt kaum dreihundert Schritt.

»Bei dem Wetter«, sagt Shane und beobachtet unter dem Hut hervor jede Regung im Gesicht des Mörders, »kommt man auch nicht zu Pferd durch.«

Die Lider von Monrose zucken.

»Auch deine Freunde werden dir nicht folgen, Mann«, sagt Shane. »Du hoffst vergeblich, Mörder.«

Monrose reißt die Augen weit auf, starrt Shane an. Es kommt für die beiden Deputies und die Lady genauso überraschend. Was Monrose im nächsten Augenblick hinauszischt, trifft sie alle wie ein Schock.

»Du Hund!«, keucht Monrose wild. »Noch habt ihr mich nicht in Cheyenne. Ich bringe dich um, ich schlage dir deinen Schädel mit den Schellen ein! Ich …«

Als er hochkommt, kann Deputy Welsh ihn gerade noch zurückreißen. Monrose aber scheint sich in ein wildes Tier zu verwandeln. Seine bisherige Gelassenheit verschwindet und macht dem tierhaft Bösen Platz. Am Boden liegend, tritt Monrose mit den zwar gebundenen, aber immer noch beweglichen Beinen aus. Sein Stoß fährt jedoch an Shanes Hüfte vorbei, dafür aber treffen seine Stiefelabsätze den linken Arm von May Rowes, die entsetzt aufschreit.

Brüllend wirft sich nun Brabham auf Monrose, der wie ein Irrer tobt.

Dann hören sie alle den nächsten Schrei, aber dieser Schrei ertönt nicht in der Kutsche. Er kommt von draußen.

Mitch Harper schreit gellend, doch sie verstehen die Worte nicht.

Im nächsten Moment neigt sich die Kutsche auf die linke Seite.

Und dann fliegen sie durcheinander, als schüttele sie ein Hurricane.

Die Stagecoach kracht auf das Dach.

*

Harper ruft: »Vorwärts – zieht, zieht!«

Er hebt die Peitsche, zwei der vier Pferde springen gehorsam an. Aber ihr Sprung ist es, der die Deichsel anzieht und die Stagecoach jäh seitlich herumfliegen lässt. Zudem prallt nun der zweite Gaul auf den glatten Boden. Danach reißt es den dritten um. Die Katastrophe kommt, ehe Harper mehr als nur eine Warnung schreien kann.

Plötzlich gerät die Kutsche völlig in die Windrichtung und auf die immer steiler abfallende Fläche. Keine zwei Sekunden darauf steht sie quer auf dieser Gefällsenke und neigt sich.

Mit einem schrillen Schrei gelingt es Harper noch, den Bock zu verlassen. Er springt ab, doch die Kutsche donnert nun auf die linke Seite. Die Räder fahren, indem sich der Kasten über das Dach abrollt, in die Höhe. Harper spürt einen Hieb, der sein rechtes Bein trifft. Dann knallt ihm das andere Vorderrad in die Rippen.

In einer Wolke Schmerz verliert Harper das Bewusstsein. Neben ihm donnert die Kutsche den abfallenden Steilhang hinab. Dabei überschlägt sie sich viermal. Doch sie fällt nun in den tieferen Schnee.

Abgebrochen im Vorderschemel steckt noch ein Stück der Deichsel. Mit dem Hauptende der Deichsel kommen die Pferde von der vereisten Fläche herunter in den Schnee und bleiben stehen. Die Kutsche aber, deren Räder zerbrochen sind, kommt nun auf dem Dach zu liegen. Der Kasten ist ein einziger Trümmerhaufen.

*

Als sie kippen, krallt Ross Shane seine Hände um die Vorderstange der Gepäckablage, hält sich eisern fest und fährt dennoch mit den Beinen hoch. Seine Stiefel treffen irgendwen. Ein erstickter Ruf ertönt, der aber im hellen, entsetzten Schreien der Lady untergeht.

Jäh steht Shane auf den Beinen. Es gelingt ihm, die Beine unter den jenseitigen Sitz zu rammen, die Lady dadurch gegen die Polster zu drücken und am Herumwirbeln zu hindern. In den nächsten Sekunden stehen sie wechselweise Kopf oder wieder auf den Beinen. Sie drehen sich mehrmals seitlich, Holz splittert, Scheiben zerbersten klirrend.

Und dann ist Ruhe.

Die Lady liegt ohnmächtig quer auf dem Polster. Welsh liegt über seinem Gefangenen. Brabham kauert in der Ecke. Durch die zertrümmerte linke Tür kriecht er ins Freie. Welsh rührt sich nicht, doch unter ihm bewegt sich etwas.

Das sieht Ross Shane noch, dann greift er nach der Lady und zieht sie hinaus.

»Brabham, hilf ihr, ich muss nach Harper sehen.«

Während Ross Shane neben der Lady im tiefen Schnee kniet, kauert Brabham wie benommen unter dem einen sich drehenden Rad der Kutsche. May Rowes ist besinnungslos, an ihrer linken Kopfseite ist eine Beule in Höhe der Schläfe. Shane, der ihr das Gesicht mit Schnee abreibt, erkennt nun, dass sie Glück im Unglück gehabt haben. Die Kutsche ist zwar den ganzen Hang hinabgekollert, aber der hier aufgewehte Schnee hat den Aufprall beim Überschlagen gedämpft.

Harper, der wie tot mit ausgebreiteten Armen gut fünfzehn Schritt höher liegt, wird vom Schnee zugeweht.

Shane lässt die Lady liegen, hastet durch den Schnee, in dem er bis an die Brust einsinkt, zu Harper. Unter ihm bewegt sich Brabham und sieht sich verstört um. Entsetzt starrt Brabham auf die zertrümmerte Seite der Kutsche, das eingedrückte Dach, und fasst sich an den Hals. Brabham schmerzt die rechte Schulter. Sein Kopf brummt, als stecke ein ganzer Schwarm Hornissen darin.

Dazu kann er das linke Bein kaum bewegen. Er hat sich das Knie angeschlagen.