Corinna Griesbach (Hrsg.)

WAHRE KUNST

Du siehst was, was ich nicht sehe

 

HALLER 16

 


Corinna Griesbach (Hrsg.)

WAHRE KUNST

Du siehst was, was ich nicht sehe

HALLER 16 – Die Prosa

 

Haller 16

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: März 2019

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild & Illustrationen: Kai Savelsberg

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Corinna Griesbach

Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

HALLER im Verlag p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.haller.pmachinery.de

www.literaturzeitschrift-haller.de

 

 

ISSN der Printausgabe: 1869 4624

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 155 6

 


Vorwort

oder

Besucher 1: Das ist ja toll, was Sie da machen.

Das könnte ich nicht.

Besucher 2: Das soll Kunst sein?

Das kann ich auch!

 

 

HALLER ist eine Monschauer Literaturzeitschrift, deren Bildteil bereits von Monschauer Künstlern gestaltet wurde, so zum Beispiel die Ausgabe 4 »Gier« von Manfred Beumers und »Version Zwei« von Kai Savelsberg. Beide Maler sind auch international bekannt und haben Monschau mit ihrer Arbeit bereichert – Manfred Beumers bis zu seinem Tod im Jahr 2013.

Ich freue mich sehr, dass Kai Savelsberg Bilder zu dieser Ausgabe beisteuert, die weder illustrierend zu den Texten gesetzt sind noch diese inspiriert haben, sondern wieder ganz für sich stehen und das Thema mit Kai Savelsbergs Blick betrachten.

 

Monschau hat Erfahrung mit Kunst, internationaler Kunst und Kultur, und gibt vielen Künstlern vorübergehend eine Heimat. So initiierte 1970 der Monschauer Kunstkreis »Umwelt-Akzente. Expansion der Kunst« ein Event im öffentlichen Raum, mit oft noch unbekannten und heute berühmten Künstlern wie Lawrence Weiner, Daniel Buren, Wolf Kahlen, Rune Mields, H. A. Schult und Tim Ulrichs.

Im September und Oktober 1971 wurde die Monschauer Burg nach Plänen von Christo von Handwerkern und Monschauer Bürgern »verpackt«, 2013 zogen die Trash People von H. A. Schult in die Altstadt. 2011 und 2018 wurden die Kunstevents der 70er Jahre retroperspektiv in Erinnerung gebracht.

Dass die Rezeption dieser Kunstevents sich gern an der angeblich provinziellen Reaktion der Monschauer aufhängt, ist schade und wird der Eifelstadt nicht gerecht.

 

Das Thema »Du siehst was, was ich nicht sehe – Wahre Kunst« ist also in unserer Monschauer Literaturzeitschrift bestens aufgehoben.

Es gibt zwei Möglichkeiten, sich der Kunst zu stellen: wegwerfen oder sammeln. Abreißen oder bewahren. So ist die Frage »Ist das Kunst oder kann das weg?« durch eindeutige Statements von Reinigungspersonal, durch gut gemeinte Restaurierungsversuche an christlich geprägter und ägyptischer Kunst tatkräftig beantwortet worden, und wird heute oft ganz praktisch anhand von Architektur, mit und in der wir leben (müssen), beantwortet.

Seelisch erschlagen von den Betonriesen der 60er und 70er Jahre sehnen einige deren Abriss herbei, andere begeistert der Zeitgeist dieser Gebäude.

Unsere Autoren beschäftigen im Rahmen der ewigen Frage nach wahrer Kunst die Themen »Musik«, »das Bildermachen«, »Literatur«, »Körperkunst«, »Betrachtung von Kunst« und »Vernissageerlebnisse«, »Preisverleihungen«, »Biografisches«, und auch das Genre Science-Fiction ist zum Thema »Wahre Kunst« vertreten.

Der Prosateil dieser Ausgabe beginnt mit einem Text über die Unmöglichkeit, innerhalb der Vorgaben einer Ausschreibung Kunst (hier: Literatur) zu schaffen. Diese Materie betrifft mich sowohl als Autorin, die an Ausschreibungen teilnimmt, als auch als Herausgeberin, die solche Ausschreibungen formuliert und damit Grenzen setzt – zeitlich, inhaltlich, formal.

Der Prosateil endet (für den Künstler kläglich) mit dem Werk eines Gedichtsvollziehers.

 

Auf unsere Ausschreibung gab es dieses Mal eine große Resonanz auch von Lyrikern, obwohl HALLER eigentlich nur Kurzprosa veröffentlicht. In diesem Fall, und um möglichst viele Ausdrucksformen zuzulassen, finden Sie hier ausnahmsweise lyrische Beiträge.

Was kann Lyrik, was Prosa nicht kann? Leise und im Detail schaffen die Lyriker in HALLER 16 mal lakonisch, mal emotional, wirklichkeitsgetreu oder fantastisch kleine Momentaufnahmen, die in den Bann ziehen.

Vielen Dank also an die Lyriker, die sich, vom Ausschreibungstext inspiriert, mit ihren Texten an eine Prosaliteraturzeitschrift herangewagt haben … HALLER 16: »Du siehst was, was ich nicht sehe – Wahre Kunst« ist nicht zuletzt dank ihnen dieses Mal eine ganz besondere Ausgabe!

 

Unsere HALLER-Lesungen in Monschau konnten in der Vergangenheit in der Galerie Beumers, im Kunst- und Kulturzentrum KUK, in den Räumen des Stadtarchivs oder in Caféräumen veranstaltet werden. Auch für diese »Wahre Kunst«-Ausgabe planen Kai Savelsberg und die Herausgeberin eine Vernissage mit Lesung – Einladungen folgen!

 

Corinna Griesbach

Monschau, Herbst 2018

 


Haller 16 • Die Prosa

 


Pedro Zobel
Das papiergewordene Kaffeekränzchen

 

 

»Der Umfang darf vier Normseiten nicht überschreiten … Ausschreibungsende ist der 31.08.2017 … eine Vergütung kann leider nicht bezahlt werden … jeder in die Anthologie aufgenommene Autor erhält ein Belegexemplar (und zudem die Möglichkeit, weitere Exemplare um 30 % reduziert [Autorenrabatt] zu erwerben) …«

So oder so ähnlich sehen die Ausschreibungen der Literaturzeitschriften und kleineren Literaturwettbewerbe aus, für die ich mich als übergeschnappter Möchtegernliterat prädestiniert sehe. Aus diesem Grund streife ich einmal wöchentlich durch ein gutes Dutzend Internetseiten, die eben solche Ausschreibungen auflisten, nach neuen Möglichkeiten, um mein stümperhaftes Gekritzel irgendwo veröffentlicht zu bekommen.

Üblicherweise gehe ich dabei so vor, dass ich die Listen daraufhin abchecke, ob ich schon etwas Passendes in petto habe.

Ist dies der Fall, knüpfe ich mir die entsprechende Story am Tag vor dem Einsendeschluss noch mal vor und probiere sie, im Rahmen meiner Möglichkeiten, auf Hochglanz zu polieren. Das wiederum stellt allerdings nichts anderes als einen Euphemismus dafür dar, dass ich mir den Kram noch ungefähr zehnmal durchlese und allerhöchstens noch hier ein Füllwort einfüge oder dort einen Nebensatz streiche. Dass ich in solchen Fällen nur minimale Änderungen vornehme, hat allerdings weniger damit zu tun, dass meine Storys umfangreichere Überarbeitungen nicht nötig hätten, sondern vielmehr damit, dass mir meistens einfach nichts Besseres einfällt und ich es dementsprechend wohl einfach nicht besser kann.

Insgeheim weiß ich natürlich um mein Unvermögen, um meine tiefe innere Unsicherheit meinen Texten gegenüber, darum, dass ich vielleicht mal einen guten Satz hinbekomme, allerdings meilenweit davon entfernt bin, eine packende Kurzgeschichte zu Papier zu bringen, von einem kompletten Roman natürlich ganz zu schweigen.

Sich entwickelnde Protagonisten, clever eingesetzte Dramatik, einen sich stetig steigernden Spannungsbogen, glaubwürdige Dialoge, sinnvolle Wendungen, eine Dramaturgie, die nicht die Holprigkeit einer Vorschultheateraufführung besitzt und als Krönung noch ein komplett unvorhersehbares, aber dennoch schlüssiges Finale.

Fehlanzeige.

Stattdessen banaler und überflüssiger Müll, der seine Austauschbarkeit mit so billigen Tricks wie einer oberflächlichen Gesellschaftskritik im Mantel himmelschreiender Betroffenheitsprosa, präpubertärem Fäkalhumor, irgendwelchen, an den Haaren herbeigezogenen Wie-Vergleichen oder der Komposition neuer Wörter durch das bloße Hintereinanderwegschreiben ebendieser zu kaschieren versucht.

Trotz all dieser gravierenden Mängel und meiner nur allzu offensichtlichen Unfähigkeit, mit Sprache umzugehen, schaffe ich es ganz gut, die Gewissheit über die Nichtigkeit und Plumpheit meiner Schreibe zu verdrängen. Aus diesem Talent erklärt sich wohl auch, warum ich, sobald ich bei meinem Selbstlektorierungsverschlimmbesserungsgepfusche auch nur ein einziges Wort geändert habe, wieder von vorne zu lesen beginne, da ich mir ernsthaft Gedanken darum mache, ob der Textfluss und überhaupt der komplette Sinn des Ganzen auf Seite eins immer noch gegeben ist, wenn ich auf Seite drei das Wort »natürlich« in »selbstredend« ändere. Dementsprechend nehmen die abschließenden Korrekturarbeiten, aufgrund dieses vollkommen irrationalen, ja fast schon zwanghaften Verhaltens, meistens mehr Zeit ein, als die eigentliche Niederschrift des Textes. Das alles ist natürlich unglaublich kräftezehrend, niederschmetternd und demotivierend, andererseits reicht aber häufig auch schon ein einziger gelungener Satz, manchmal auch nur ein einzelner achsokreativer Neologismus (am besten so was Schlüpfriges wie Penispumpenpazifist … hihihi …) aus, damit ich mich wie ein Literaturnobelpreisträger in spe fühle.

Und genau in diesem Zustand, hin und her oszillierend zwischen kompletter Selbstverachtung und immer mal wieder aufflammendem Größenwahn, verbringe ich die Tage vor den jeweiligen Abgabeterminen.

Habe ich es dann tatsächlich irgendwann mal geschafft, den Text in einem Schwung durchzulesen, ohne irgendeine nebensächliche Änderung vorzunehmen, ist es meistens eh schon zwischen 23:50 und 23:57 Uhr, sodass ich mich sputen muss, um überhaupt noch rechtzeitig die E-Mail mit meinem immer gleichen Standardsprüchlein »Sehr geehrte Herausgeber des Trivialliteraturmagazins, im Anhang befindet sich eine meiner Storys für ihre aktuelle Ausschreibung. Mit freundlichen Grüßen, Pedro Zobel« und meiner doch recht überschaubaren Autorenvita zu bestücken, bevor ich den ganzen Schmonzes ein paar Sekunden vor Mitternacht durch die endlosen Weiten des Netzes in Richtung der wahrscheinlich ohnehin schon durch genug literarischen Sondermüll geschundenen Empfänger ballere.

In einem Großteil der Fälle allerdings läuft es bei mir genau andersrum ab.

Bei den Ausschreibungen, bei denen mir das Thema aus irgendwelchen Gründen interessant erscheint oder ich mir einbilde, dass mir dazu etwas einfallen könnte, mache ich mich erst im Nachhinein, also quasi auf Zuruf hin, daran, mir etwas Entsprechendes aus den Fingern zu saugen. Dabei genügt es meistens schon, dass mir beim Lesen der Ausschreibungen ein spontaner Gedankenblitz durchs Oberstübchen poltert, um mich umgehend ein jungfräuliches Word-Dokument öffnen zu lassen und drauflos zu hacken.

Natürlich widerspricht dieses Vorgehen allem, woran man einen ernst zu nehmenden Künstler mit einer konkreten Vision messen sollte. Kein tiefsitzender, individueller Impuls oder gar Drang etwas zu erschaffen oder ausdrücken zu wollen. Keine Jahre voll Selbstdisziplinierung und Entsagungen, nur um beispielsweise ein sechsundzwanzigminütiges Progressive-Metal-Stück zu komponieren oder einen experimentellen, tausendseitigen Roman zu konstruieren. Keine Aneignung von Wissen, um daraus Können zu machen. Keine Lust, sich überhaupt mit irgendetwas längerfristig zu beschäftigen, keine Geduld, Rückschläge und wirkliche kreative Löcher auszuhalten, und natürlich vor allem keinen Mut, etwas auszuprobieren, was Monate oder vielleicht sogar Jahre in Anspruch nehmen könnte, bevor man überhaupt erst mal an einem Punkt angelangt ist, von dem aus man vorsichtige Mutmaßungen darüber anstellen kann, ob man zumindest auf dem richtigen Weg ist. Und es selbst dann weder eine Garantie für das letztendliche Gelingen noch für eine angemessene Veröffentlichung gibt.

Im Grunde genommen noch nicht mal wirklich Lust darauf, zu schreiben, sondern nur irgendwelche abgestandenen, durch und durch klischeehaften Träume von einer Karriere als Schriftsteller, und das alles nur, weil einem ab und an beim Lesen alter und neuer Helden der vollkommen abwegige Gedanke »Mhm … eigentlich könnte ich das ja auch …« durch die Birne rauscht.

Dass man für derlei Unsinn knapp zehn, wenn nicht sogar schon fünfzehn Jahre zu alt ist, müsste als Indiz dafür, dass aller Voraussicht nach eben nicht der nächste Paul Auster oder Mark Danielewski in einem schlummert, eigentlich ausreichen, vor allem, wenn man, so wie ich, nicht mehr als zwei, ab und an mal vier, allerhöchstens jedoch sieben Seiten leicht verdaulichen und komplett vorhersehbaren Fast-Food-Schund hinbekommt, den als Literatur zu bezeichnen nicht weniger als pure Blasphemie darstellen würde.

Stattdessen zensiere ich mich immer wieder freiwillig selbst, indem ich ein vorgegebenes Thema innerhalb einer bestimmten Zeitspanne in eine maßgefertigte Story presse. Indem ich wie selbstverständlich und ohne groß darüber nachzudenken, was das Ganze mit dem Textfluss, der Aussage und der Schlüssigkeit macht, die eigenen Texte kastriere, damit sie auch bloß nicht die maximal zugelassene Zeichenzahl irgendwelcher Ausschreibungen überschreiten und ins Schema passen. Die Anpassung und Unterwerfung an einen Marktmechanismus, der nicht mehr nur solche Ausgeburten der so genannten freien Marktwirtschaft wie Spontanität, Flexibilität und Unabhängigkeit auf die Spitze treibt, sondern die blanke, und vor allem unangefragte Selbstausbeutung zelebriert und das alles lediglich für die äußerst maue Aussicht darauf, in irgendeinem drittklassigen Literaturmagazin zu erscheinen, dessen Leserschaft sich ohnehin nur aus den darin vertretenen Autoren, deren Kumpels und wahrscheinlich noch einem kleinen, eingeschworenen Zirkel, der seine beschränkte Vorliebe für irgendwelchen irrelevanten Underground-Literatur-Schrott nur zu gerne vor sich selbst als distinktionsbedingte, verkannte Avantgardeliebhaberei tarnt, für den die breite Masse der hirngewaschenen Jojo-Moyes-Zombies schlicht und ergreifend einfach viel zu blöd ist, zusammensetzt.

All das zusammengenommen ergibt wohl nicht weniger als ein komplett inkorporiertes totalitäres Regime, das es, wie von Zauberhand, versteht, auch noch den letzten Rest jeglicher künstlerischen Freiheit auszumerzen, um den bornierten Geltungsdrang, sein Gekrickeltes irgendwo gedruckt zu sehen, zu befriedigen.

Natürlich ist mir vollkommen klar, dass der Großteil der hiesigen Herausgeber der kleinen und unabhängigen Literaturzeitschriften mit ihrem Schaffen keinen einzigen Heller verdient, sondern wahrscheinlich eher noch etwas draufzahlt und sich zum Dank dafür auch noch mit einer schier unglaublichen Masse schrottreifer Texte irgendwelcher grenzdebiler Analphabeten rumschlagen muss.

Dass es für mich und meine Niederschriften allerdings auch für viel mehr niemals reichen wird – wenn überhaupt –, dämmert mir in den wenigen lichten Momenten, die mir in meiner ansonsten von Überheblichkeit dominierten Selbsteinschätzung noch geblieben sind, glücklicherweise irgendwo an der Peripherie meines Bewusstseins dann doch noch ab und an, sodass ich mir zumindest die Schmach, bei den großen Verlagen vorstellig zu werden, bis jetzt selbst erspart habe.

 

Nichtsdestotrotz habe ich in den letzten Jahren, laut des Gesendet-Ordners meines eigens für die Ausschreibungen angelegten E-Mail-Accounts, an knapp zweihundert Ausschreibungen teilgenommen. Dabei habe ich mich auf so ziemlich alles gestürzt, bei dem ich nur den Hauch einer Chance gesehen habe, veröffentlicht zu werden. Von einigen Herausgebern habe ich standardisierte Absagen bekommen, in den meisten Fällen gab es jedoch überhaupt keine Rückmeldung.

Und selbst die drei Male, die es geklappt hat, mein Geschreibsel irgendwem unterzujubeln, dürften weniger mit meinem Talent, sondern eher mit den Modalitäten der jeweiligen Ausschreibungen und vor allem meiner Fähigkeit, mich an diesen vorbeizumogeln, zu tun gehabt haben.

Meine erste richtige Veröffentlichung hatte ich sogar in einem echten Verlag, so mit gebundenem Buch, ISBN-Nummer und sonstigem Pipapo. Dass es sich bei der Ausschreibung um ein äußerst dubioses Projekt handelte, bei der man nur in die Anthologie aufgenommen wurde, wenn man sich vorher verpflichtete, mindestens zehn Exemplare (ohne Autorenrabatt) des Buches zu kaufen, muss man ja nicht an die große Glocke hängen. Ebenso wenig wie die Fußnote, dass man auch in die Anthologie aufgenommen werden konnte, wenn man fünfzig Euro pro Seite hinblätterte (und sich verpflichtete, mindestens zehn Exemplare [ohne Autorenrabatt] des Buches zu kaufen).

Zwar gehörte ich zum erlesenen Kreis derer, die nicht auch noch pro veröffentlichter Seite Kohle hinblättern mussten, dennoch hat mich die erste Veröffentlichung einer zweiseitigen Story knapp hundertdreißig Euro gekostet. Leider ist das Buch von der Qualität her mit einem ausgehöhlten Ziegelstein, in dem man mit Tapetenkleister Krepppapier befestigt hat, vergleichbar, sodass die neun Exemplare, die nicht in meinem Bücherregal stehen, seitdem in der hintersten Ecke meiner Abstellkammer vor sich hinschimmeln. Natürlich habe ich damals vor lauter Aufregung über Wochen immer mal wieder das Internet nach Rezensionen durchsucht (bis heute gibt es meines Wissens nach keine einzige) und auch fast stündlich den Amazon-Bestsellerrang gecheckt, da man den Geschichten, die sich in diesem Ding befinden, jedoch selbst mit dem größten Wohlwollen, allerhöchstens die Prädikate Die Literatur gewordene Bad-Taste-Party! Pflichtlektüre für alle Erstsemesterliteraturstudenten, die auf Meta-Ergötzung stehen! oder Nur unter starkem Drogeneinfluss empfohlen aufdrücken kann, verwundert es nicht, dass sich dieser, die ersten paar Tage nach der Veröffentlichung niemals unter der Zahl 7.386.465 befunden hat, bevor das Buch (und mit ihm gleich der gesamte Verlag) dann letztendlich, ohne Angaben von Gründen, ganz vom Markt verschwunden ist.

Die zweite Story konnte ich in einer Gratiszeitung, die eine Supermarktkette zur Neueröffnung einer Filiale im benachbarten Stadtteil herausgegeben hat, unterbringen. Für diese Geschichte habe ich sogar extra tief in die Trickkiste gegriffen, weniger, was die Versiertheit oder Experimentierfreudigkeit, mit der ich zu Werke gegangen bin, angeht, sondern eher in dem Sinne, dass die Ausschreibung eigentlich bloß für Kinder zwischen neun und dreizehn Jahren gedacht war und ich dafür sowohl mein Alter, als auch meinen Namen ändern musste, um überhaupt eine Chance zu haben. Dass letztendlich alle eingesandten Geschichten in das Blättchen aufgenommen wurden und sich dort neben handgemalten Bildern irgendwelcher Vorschulkinder und natürlich jeder Menge Werbung wiederfanden, ist in diesem Falle wohl im wahrsten Sinne des Wortes nur noch Makulatur.

Und zu guter Letzt habe ich erst letzten Monat eine Kürzestgeschichte im Umfang einer Dreiviertelseite in einem lokalen Punkfanzine unterbringen können. Zwar handelt es sich dabei eigentlich nur um eine rüpelhafte Beschimpfungsarie, die die üblichen verhassten Autoritäten wie Staat, Polizei, Kirche, Schule, Eltern und die verblödete Konsumgesellschaft mit wüsten Beleidigungen, für die ich mich vollkommen schamlos an den Spitzen zahlloser Battle-Rap-Songs bedient habe, eindeckt und die man somit mit gutem Willen vielleicht noch als Montage ansehen könnte, die jedoch in Wirklichkeit nichts anderes als ein plumpes Plagiat darstellt. Aber immerhin: Limitiert auf siebenundsiebzig handkopierte Exemplare, besudelt mit Bier-, Ketchup- und den Schweißflecken einiger echter Szenegrößen, hat das Ding eine mehr als reelle Chance, echtes Subkulturkulturgut zu werden. Irgendwann ganz bestimmt so legendär wie Black Flag. Und ich mittendrin.

Doch anstatt diese kleinen Erfolge stillschweigend als Fingerübungen abzutun und dann schnellstens den Mantel des Schweigens darüber zu legen, trug ich all diese Veröffentlichungen feinsäuberlich in meine Bibliografie ein, die ich seither bei jeder Einsendung mitschicke. Und ganz so, als hätte ich mit diesem kindischen Verhalten meiner Reputation noch nicht genug geschadet, hatte ich auch keinerlei Bedenken, dieses lächerlich aussehende Word-Dokument, dass mit seinen sechs Zeilen eine Normseite nicht mal zu einem Zehntel füllt, bei schon längst ausgelaufenen Ausschreibungen, deren Auswahl allerdings noch nicht getroffen ist, nachzureichen, da ich ernsthaft daran geglaubt habe, damit meine Chancen, in der jeweiligen Anthologie oder Zeitschrift vertreten zu sein, erhöhen zu können.

Denn natürlich bin ich, was die jeweiligen Auswertungsstände der Projekte, für die ich etwas eingeschickt habe, angeht, immer bestens im Bilde und auf dem aktuellsten Stand.

Facebook, Twitter, Instagram oder ganz altmodisch die zumeist dilettantisch dahingeklatschten Internetseiten der Klein- und Kleinstverlage: Einen nicht geringen Teil meiner vor mir selbst als Schreibzeit deklarierten Zeit verbringe ich damit, alle möglichen Kanäle nach Informationen darüber abzusuchen, ob ich zu den glorreichen Auserwählten gehöre. Und selbst wenn bei der Ausschreibung klipp und klar angegeben ist, wann die Ergebnisse bekannt gegeben werden, habe ich schon Tage vorher die jeweiligen Internetseiten der Verlage permanent geöffnet, damit ich im Viertelstundentakt auf F5 drücken kann, um zu sehen, ob nicht vielleicht doch schon …

Zu Beginn meines kläglichen Wahns habe ich sogar die Herausgeber in steter Regelmäßigkeit mit E-Mails zum aktuellen Auswertungsstand terrorisiert, auch wenn eindringlich von individuellen Nachfragen abgeraten worden war.

Glücklicherweise wurde ich zumindest von dieser Unsitte recht schnell kuriert, indem mir, als ich in einem Fall äußerst penetrant vorgegangen war und gleich mehrfach erfolglos nachhakte, eine E-Mail mit dem Inhalt: »Sehr geehrter Herr Zobel, hätten Sie in Ihr literarisches Schreiben nur halb so viel Engagement gelegt wie in Ihre nervtötenden E-Mails, könnte ich Ihnen heute sicherlich eine erfreulichere Nachricht zukommen lassen. So aber mache ich es kurz: Sehen Sie von jeder weiteren Kontaktaufnahme ab! PS: Betrachten Sie diese E-Mail gleichzeitig als Ablehnungsschreiben für ihren unterirdischen Literaturimitationsversuch … Nett formuliert würde hier: Sehr geehrter Herr Zobel, das Echo auf unsere Ausschreibung war groß. Fast dreihundert Einsendungen haben uns erreicht. Leider konnten wir uns in der Redaktion nicht für Ihren Text entscheiden. Dennoch würden wir uns freuen, wenn Sie für die nächste Ausgabe erneut einen Text einreichen. Mit freundlichen Grüßen undsoweiterundsofort …stehen, da Sie aber Sie sind, steht hier nur: FUCK OFF!« vor den Latz gedonnert wurde.

Zwar habe ich noch nie eine der Zeitschriften oder eins der Hefte gekauft, in die ich es nicht geschafft habe reinzukommen, und auch das übrige Programm der Verlage, in deren Anthologien ich nicht auftauche, ist mir herzlich egal, dennoch bin wahrscheinlich ich es, der sich am häufigsten auf deren Internetpräsenzen herumtreibt.

Natürlich stehen die Erträge in keinerlei Verhältnis zu dem Aufwand, den ich für diesen ganzen Kram betreibe.

Aber was genau erwarte ich denn auch? Dass ich mit meinem beschränkten Pseudostorys in einer der großen Literaturzeitschriften veröffentlich werde, einen der begehrten Literaturpreise oder gar ein Residenzstipendium abgreife und infolgedessen ein renommierter Verlag auf mich aufmerksam wird?

Jemand wie ich, der den Erfolg seiner täglichen Schreibarbeit nicht an originellen Einfällen, sauberen Ausformulierungen oder gar der Disziplin, Steinchen für Steinchen in ein Fundament, das sich vielleicht frühestens in einem halben Jahrzehnt zu einem schlüssigen Ganzen fügt, einzuarbeiten, misst, sondern lediglich an der quantitativen Ausbeute, die er von der Wörter-zählen-Funktion seines Schreibprogramms angezeigt bekommt.

Jemand wie ich, der noch nicht einmal dazu in der Lage ist, etwas zu kreieren, das länger Bestand hat als die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne, die eine handysüchtige Sechzehnjährige den Beiträgen in ihrem Newsfeed schenkt.

Jemand wie ich, dem zu einer Ausschreibung mit dem Thema »Absturz« nichts anderes einfällt als die hunderttausendste Nach-durchzechter-Nacht-am-nächsten-Morgen-alleine-in-einem-fremden-Bett-aufgewacht-,-gemerkt-dass-alle-meine-Klamotten-weg-sind-und-dann-in-den-überdimensionierten-Lumpen-meiner-Bettgenossin-durch-die-Straßen-nach-Hause-gewankt-Story, der also in etwa so besonders und einzigartig ist wie ein Sandkorn am Strand.

Jemand wie ich, in dessen Geschichten sich selten mehr Inhalt befindet, als dass man ihn nicht, so wie eben, in drei Zeilen zusammenfassen könnte, sodass mir gar nichts anderes übrig bleibt, als auszuschmücken, zu strecken, zu verzerren, aufzuplustern und rumzuschwadronieren, sodass ich irgendwann allen möglichen und vor allem unmöglichen Füllbalast, der in den allermeisten Fällen rein gar nichts mit der eigentlichen Story zu tun hat, mit in den Text aufgenommen habe und meine Geschichten dementsprechend in etwa so mitreißend und energiegeladen sind wie ein aufgeschwemmter Hefekloß.

Jemand wie ich, der nicht nur kein Talent besitzt, sondern vor allem auch keinerlei Kontakte zu irgendwelchen Leuten, die irgendetwas mit Literatur (oder die das, mit dem sie sich beschäftigen, zumindest für selbige halten) zu tun haben. Jemand wie ich also, dem es an jeglicher Vernetzung fehlt, obwohl doch gerade diese, auf dem Kreisliganiveau, auf dem sich die Literaturzwerge, mit denen ich mich seit Jahren vergeblich messe, bewegen, so ungeheuer wichtig zu sein scheint, da man in manchen Schundblättern scheinbar immer auf dieselbe Autorenschaft trifft. Ein Stelldichein des eigenen Bekannten- und Verwandtenkreises, das papiergewordene Kaffeekränzchen.

Neid?

Natürlich, was sonst? Auf die öffentliche Nabelschau all der geltungssüchtigen Gestalten, die einander ansonsten bei Facebook in irgendwelchen als Autorengruppen getarnten Selbsthilfegruppen für manische Egozentriker verbal die Fresse polieren oder ihren dort veröffentlichten Müll gegenseitig vollkommen scham- und vor allem ahnungslos in den Himmel loben. Ein Sammelbecken für alle, die sich nur zu gerne auf irgendwelchen drittklassigen Poetry-Slams tummeln, für die es aber leider nicht bis nach Hildesheim, Leipzig oder Berlin gereicht hat.

Und obwohl mir vollkommen klar ist, dass sich der ganze Zirkus somit im Grunde genommen von Formaten wie Deutschland sucht den Superstar oder Germanys Next Topmodel nur noch durch die deutlich geringere Aufmerksamkeit, die dem Mummenschanz zuteil wird, unterscheidet, würde ich am liebsten überall die Hauptattraktion sein und im quietschebunten Kostümchen durch die Manege hüpfen.

 

In der Realität allerdings traue ich mich mit meinem Kram noch nicht mal auf irgendwelche drittklassigen Poetry-Slams, was ich natürlich vor mir selbst damit rechtfertige, dass dort ja eh nur noch vergnügungssüchtige Proleten rumrennen (die ich aber ganz bestimmt ganz hervorragend mit meiner Durchzechten-Nacht-fremdes-Bett-Story unterhalten würde).

Dem entgegengesetzt halte ich mich natürlich, allerspätestens seit meiner ersten Veröffentlichung, für die Reinkarnation Charles Bukowskis und Franz Kafkas in Personalunion.

Denn dass die Ergüsse jedes pseudokreativen Lohnschreiberlings, der sich mit Freelancerjobs für die Kundenzeitschriften von Aldi oder der Bahn über Wasser hält, im Vergleich zu meinen literarischen Frechheiten, wie das Werk eines viermaligen Bachmann-Preisträgers daherkommen, würde mir nicht im Traum einfallen. Auch dass in jedem verfluchten Oberstufendeutschaufsatz mehr gewagt wird als in meinen einfältigen Storys, wird für mich, aufgrund meines zutiefst erbärmlichen Gebarens, die Schuld für mein Versagen nicht bei mir, sondern bei der Heerschar degenerierter und unfähiger Herausgeber und Lektoren, die gute Literatur noch nicht mal erkennen würden, wenn man sie ihnen auf den Oberschenkel tätowiert, für immer und ewig bar jeder Realität bleiben.

Statt mit all diesen Einsichten habe ich mit nichts weiter als einer riesigen Macke zu kämpfen, einem ungeheuerlichen Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, das sich darin äußert, dass ich schlicht und ergreifend einfach ein Defizit an mir eigentlich zustehender Aufmerksamkeit verspüre und das Ganze nun offenbar, ohne jegliche Fokussierung und Talent, mit einer Selbstkasteiung, deren Ergebnisse immer und immer wieder vergebens sind, zu kompensieren versuche.

Und das alles, obwohl ich, abgesichert vom BAföG und eingelullt von den Zuwendungen, die mir meine Alten immer wieder entgegenbringen, in meinem dreißig Quadratmeter großen Altbau-WG-Zimmer vor meinem MacBook Pro hocke und alle Zeit der Welt habe. Was mir fehlt, sind lediglich relevante, existenzielle Erfahrungen, die ich zu Papier bringen könnte und leider auch die Fantasie, um zumindest literarisch aus meiner kleinen, deutschen, sicheren, schönen, bunten, selbstgefälligen und vor allem stinklangweiligen Lach- und Spaßkomfortzone ausbrechen zu können.

Aber nicht so schlimm. Ich kann das Ganze ja vielleicht irgendwann mal aufschreiben und um ein bis zwei vermeintlich bissige Küchentischsoziologieabsätze à la »Zeitgeistporträt eines innerlich komplett ausgehöhlten, lediglich um sich selbst kreisenden Schaumschlägers, der scheinbar niemals erwachsen wird« ergänzen!

Nur um dann, in primitivster Klappentextmanier, nachzulegen: »Willkommen im Deutschland des Jahres 2017, dem Land, in dem sich Literatur am liebsten immer noch den kleinen, individuellen Wehwehchen ihrer Verzapfer zuwendet, während draußen die komplette Welt zugrunde geht. Kriege, Armut, Hunger, Obdachlosigkeit, Hartz IV, Rechtspopulismus, der bis weit in die sogenannte Mitte hinein reicht, Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte? Egal. Schließlich möchte Jasper doch so gerne irgendetwas Künstlerisches machen, nur etwas dafür aufwenden oder gar riskieren will er lieber nicht. Und seine Freundin hat ihn gestern auch noch verlassen … beste Voraussetzungen also, um das siebzehntausendste Buch über genau dieses Thema zu schreiben und damit die Bestsellerlisten zu stürmen!«

Und selbst mit diesem unbeholfenen Früher-war-alles-besser-Kulturpessimismus würde ich dem Feuilletongeplapper noch um ein knappes halbes Jahrzehnt hinterherhinken.

Aber irgendwann, irgendwann ganz bestimmt, kann ich mit meiner Handvoll Veröffentlichungen, die ich irgendwann, irgendwann ganz bestimmt, in irgendwelchen unbekannten Hinterhofliteraturzeitschriften untergebracht haben werde, meine Vita und meine Bibliografie so pimpen, dass vielleicht irgendwann bei irgendeinem Verlag ein Vertrag für einen Roman, der seit zwei Jahren in meiner Schublade darauf wartet, dass ich vor fünf Jahren begonnen habe, ihn zu schreiben, herausspringt.

Ganz, ganz bestimmt.

Und allerspätestens dann werde ich sagen können, dass das hier der Anfang von alldem gewesen ist.

 


Kai Savelsberg
Allegorisches Ruder

 

 

Von einer Welt der Symbole bleibt irgendwann nur noch eine symbolische Welt.

 


Kai Savelsberg in Haller 16

 

Kai Savelsberg: Avantgarde

(2015, 180 x 90 cm, Acryl auf Holz)

 


Kai Savelsberg
Brief 1

 

 

Kunst ist (vielleicht) die Summe aller Gedanken, die man sich gemacht und (noch) nicht gemacht hat. Dem Nichtgedachten auf die Spur zu kommen ist aber nur ein Gedanke von vielen, der zur Summe aller führt. Auch das tausendfach Gedachte kann mit jedem Mal ein Schritt in die Summe allen Seins sein. Und selbst Rückschritte, Ausfallschritte und Fehltritte summieren sich zu Erinnerungen, die, als Teil der Summe, klüger, vorsichtiger, neugieriger machen. Wer denkt, die Summe der Kunst zu kennen oder denkt, die Summe der Kunst wäre gleichzusetzen mit der Summe für die Kunst, der irrt, so denke ich, aber das ist auch nur so ein Gedanke.

Denken lohnt in Zeiten der erdachten Denkverbote hier und des Verbotsdenkens dort. Kunst ist Kunst, vielleicht so, wie ein Geistesblitz von heute schon morgen nicht mal den Urheber begeistert. Vielleicht ist vielleicht vielleicht, vielleicht weil oder obwohl (?) viel Viel Vieles auch nicht leichter macht. Postfaktisch gesehen ist Kunst die banale Antwort auf eine Hyperrealität, die nur noch schweigt, um dem Seufzer der eigenen Unglaublichkeit Ausdruck zu verleihen. Satiriker reiben sich verwundert die Augenränder ob der faktischen Satire, in die ihre Augenpaare starren, und verweigern jedwede Übertreibung der Unterbietung des schlichten Denkens.

Leiser müsste die Kunst sein und lauter, konzentrierter, weniger bedächtig, sondern mit Bedacht gedacht, gut gemacht, allemal, hier und da, ein ums andere Mal gesehen und vergessen. Zu viel vom Gesehenen ist wohl nicht weitergedacht, zu früh verlacht, vergessen und nie wieder aufgegriffen worden. Wenn alles schon mal da war, wer hat es je (alles) gesehen? Mein Nichtgedachtes ist vielleicht dein Undenkbares, ihr Gedankenkreisel und sein letzter Gedanke. Leise wird die Gedankenwelt, wenn sie erlischt, also denke ich, dass wir denken sollten, solange die Gedanken frei sind, denn wer will die Antithese in Gedanken verbieten. Also denk ich mir meinen Teil und schweige.

Stillschweigend überlagern sich Kunst und Künstlichkeit zur Süßlichkeit des Abendlandes, das es gar nicht nötig hat, abgeschafft zu werden, das schafft es schon allein. Allein, wen interessiert’s, wenn alle durcheinander denken und Gedanken Unerschütterlichkeit atmen und zuweilen kotzen. Muße täte Not, multipliziert mit Mut; welche Kunst, Gedanken als Tauschmittel einer kindlich erwachsenen Achtsamkeitsgesellschaft zu verwenden, die verrückt genug wäre, sich selbst ab und an einen Fingerbreit zu verrücken, um nicht zu sicher zu sein, damit das Unvorhersehbare zumindest nicht ungedacht bliebe.

 


Stefanie Leistner
Happy Little Cloud

 

 

Erschlafft hänge ich in der Kuhle des weichen Sofapolsters, in meiner linken Hand die Fernbedienung. Mein Daumen ruht auf der kleinen roten runden Taste ganz oben. Ich wollte sie schon längst gedrückt haben, wollte schon längst aufgestanden und im Bad gewesen sein, wollte schon längst im Bett statt auf dem Sofa liegen. Doch aus dem ganzen Wollen wurde nichts, denn meinem Willen widersetzte sich erst das nächtliche Programm eines deutschen Kultursenders und nun dieser Mann mit Pilzfrisur. Auf die Leinwand neben sich malt er mit den sanften Strichen eines Flachpinsels eine »Happy Little Cloud«, wie er sagt, in Elfenbeinweiß auf einen fliederfarbenen Abendhimmel, mal eben »ganz locker aus dem Handgelenk«, wie er sagt. Er, der Mann der einlullenden Abendunterhaltung: Bob Ross. Sein magischer Fächerpinsel zaubert grüne Tannen in die Purple Mountain Range, bevor ein kleiner Spachtel das Flusswasser am Ufer zum Kräuseln bringt. »The Joy of Painting« nennt sich die Sendung, in der Bob Ross seit den 80ern erstaunten Fernsehzuschauern das Handwerk des Malens beibringt. Jeder könne Kunst machen, lautet der Slogan seiner Lehrtätigkeit. In Fachkreisen wurde er dafür verurteilt, seinen friedlichen Landschaftsdarstellungen fehle der künstlerische Anspruch. Dabei zählte er sich selbst nie zur zeitgenössischen Künstlerelite. Doch warum galten seine Arbeiten nicht als große, als wahre Kunst? Was macht diesen künstlerischen Anspruch aus? Bob Ross zeigte Millionen Menschen, wie mir hier auf dem Sofa, die Handhabung einer Farbpalette und den geschichteten Bildaufbau einer Nass-in-Nass-Malerei. Vielleicht liegt es genau an dieser Offenlegung des Handwerks, an der Einladung zum Nachahmen. Jene Kunst, deren Herstellungsprozess für den Betrachter schnell fassbar scheint, wird oft als Unsinn abgetan. Der kritische Satz »das könnte ich auch« manifestiert die Annahme, dass wahre Kunst eben nicht von jedem und jeder hergestellt werden könne. Die bloße Umsetzung einer Idee ist demnach nicht ausreichend für das Prädikat Wahre Kunst. Etwas Geheimnisvolles muss ihr inne ruhen, etwas Mysteriöses, gar Heiliges.

Farbige Quadrate, schwarze Striche – die Avantgardisten des zwanzigsten Jahrhunderts trieben die Simplizität der Kunst erstmalig auf die Spitze. Den monochromen Leinwänden und geometrischen Drahtgeflechten liegen einfachste Arbeitsschritte zugrunde, etwas, das wirklich jeder könnte. Trotzdem haben sie große Kunst gemacht. Denn sie waren die Ersten, die sich trauten, Kunst fernab einer konkreten Aussage zu produzieren. Der Betrachter sollte fühlen, reflektieren, assoziieren, vollkommen auf sich alleine gestellt, ohne Hinweis auf eine gezielte Bedeutung. Das Rätselhafte ihrer Arbeiten findet sich nicht bei der Umsetzung, sondern im Sinngehalt, im Brechen von Sehgewohnheiten, im Fragenaufwerfen. Damals wie heute geht es nicht nur um handwerkliches Talent: Es geht um Mut, Neues zu wagen, etwas zu erschaffen, das mehr ist als die Ausführung von gelernten Arbeitsschritten.

Kasimir Malewitsch hängte 1915 sein schwarzes Quadrat leicht angeschrägt in die obere Ecke eines Raumes, an den Ort, an dem in russischen Häusern sonst Heiligenfiguren ihren Platz haben. Damit traf er eine klare Aussage: Kunst ist heilig, in ihrer Neuartigkeit gleicht sie einer göttlichen Schöpfung. Der wahre Künstler kopiert kein vorhandenes Bild, er erschafft einen neuartigen Ausdruck für seine Gefühle und Gedanken, die in ihrer Authentizität direkt zur Seele des Betrachters sprechen.

Die Kunst von Bob Ross versprach nichts Neues, nicht seine Bilder, sondern das Handwerk erstaunte. Dabei war der Maler selbst die Neuheit in der Kunst. Ein weißer Amerikaner mit Afro, dessen Büsche und Bäume sich nie alleine fühlten, weil sie Freunde hatten. Seine Wolken waren fröhlich, seine Wiesen luden zum Barfußlaufen ein. Malen sollte Freude vermitteln. »Nur wer keine Angst vorm Scheitern hat«, sagte Bob Ross, »kann produktiv sein.« Optimismus schürende Aussagen wie diese machten ihn vom Fernsehmaler zum Fernsehtherapeuten, vom Kunstlehrer zum Lebensratgeber und in dieser Neuartigkeit schließlich zur Ikone. Er selbst wurde zur Kunstfigur. »Alles ganz einfach«, sagt er nach seinen fünfundzwanzigminütigen Pinselepisoden. Auch die Purple Mountain Range ist fertiggestellt. Blauer Himmel, weiße Wolken, eine violette Bergkette mit grünen Tannen, die sich im kristallklaren Fluss spiegeln. Feuchtfröhlich glänzt die Landschaft hinter ihm, während er mich unter seiner Haarpracht verabschiedend anlächelt. Einfacher Realismus, pures Handwerk, ein skurriler Typ. Kinderleicht, denke ich und gähne friedlich. Tschüss, Bob! Erleichtert drückt mein Daumen die rote runde Taste. Tschüss, Happy Little Cloud.

 


Fiona Weber
gefangen

 

 

Immer ein Lächeln auf den Lippen. Perfekte Noten. Lachen, wenn einem das Herz blutet. Die Maske immer aufrechterhalten. Zeit für Freunde. Zeit für Sport. Zeit für Schule. Zeit für Familie. Perfekt sein.

Der Blick des Mädchens blieb an ihrem eigenen Spiegelbild hängen. Haare, Augen, Mund und Nase. Sie sah aus wie jede andere. Leichte Augenringe unter der dicken Schicht Concealer. Sie war eine von vielen, auf dem Weg nach Hause, auf dem Weg zur Arbeit, auf dem Weg zu einem Treffen mit Freunden. Das Auto, in dessen Fenstern sie sich gespiegelt hatte, fuhr an. Das Bild verschwand. Wo wollte sie hin? Nach Hause, in ein Haus mit einem Schreibtisch, an dem sie arbeiten konnte, und einem Bett, in das sie sich zum Schlafen legte. In ein Haus, das für sie keine weitere Bedeutung hatte.

Schule. Lernen. Essen. Social Media nutzen, um mit Menschen, die sie ihre Freunde nannte, Kontakt zu halten. Lernen. Schlafen. Dann ging es wieder von vorne los. Emotionslos scrollte sie durch die Bilder, die alle Menschen zeigten. Lachende Menschen. Menschen mit perfekten Leben. Mit einer gesunden Ernährung oder einem Stoffwechsel, der Fast Food, Zucker und Alkohol problemlos zuließ. Menschen mit riesigen Freundeskreisen. Menschen, die viel reisten und die ganze Welt sahen. Mit einem Wischen schloss sie die App. Es fühlte sich an, als würden die Fremden auf den Fotos sie auslachen. Sie verspotten.

Die einzige Fluchtmöglichkeit aus diesem öden Alltag? Lange Nächte mit den Leuten, die man seine Freunde nennt und Alkohol, viel Alkohol. Es brauchte nicht viele volljährige Menschen, um die Jugendlichen mit der für sie noch illegalen Lösung zu versorgen. Alkohol versprach Spaß und Vergessen. Für viele war er die Rechtfertigung, endlich mal etwas tun zu können, das sonst von seinen Freunden als dumm, als verrückt angesehen wurde. Dinge, für die man ausgelacht wurde. Nicht jedoch, wenn man trank. Naja, man wurde schon ausgelacht, aber man lachte halt mit und am nächsten Schultag war die lächerliche Aktion plötzlich cool und man bekam von allen Seiten ein Schulterklopfen.

Sie nippte an der undefinierbaren Flüssigkeit in ihrem Becher. Es war wohl eine Mischung aus allem, was man hatte finden können. Sie wollte gar nicht wissen, was drin war. Aber das interessierte auch sonst nicht wirklich jemanden; solange Alkohol enthalten war, war alles gut. Sie wusste nicht, warum sie trank. Sie trank halt. Die anderen taten es ja auch und die sahen glücklich aus. Laut stimmte sie in das unbeschwerte Lachen ihrer angeheiterten Freunde ein und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Die Wände waren voll Graffiti und knallten gerade so vor Farbe. Hinten in einer Ecke entdeckte sie eine Alkoholleiche. Nichts Neues, schon morgen würde der Junge wieder einigermaßen fit sein und beim Sport seiner Wahl teilnehmen. Ob er Punkte erzielen würde, war die andere Frage. Sie sah sich weiter um, ihr Blick blieb an einem schlichten Plakat hängen. »Wahre Kunst«.

Sie erinnerte sich sofort an Straßenkünstler aus ihrem letzten Urlaub. Deren Bilder hatten ihr sehr gefallen. Tiere, Landschaften, einfache Porträts, die in sich perfekt waren, Malereien von Tänzern und Farben, die ineinander verschlungen waren. Vor langer Zeit einmal hatte sie selber sehr gerne gebastelt, gezeichnet und gemalt. Sie war nie besonders gut gewesen, aber es hatte Spaß gemacht, mehr Gründe hatte ihr zehnjähriges Ich nie gebraucht.

Die Musik kam ihr auf einmal sehr laut vor. Das Lachen ihrer Freunde wurde unangenehm und der Geruch, eine Mischung aus Alkohol, Schweiß und Zigarettenrauch, bereitete ihr Kopfschmerzen. Sie wollte nicht länger hier sein. Sie stand auf, verließ den Raum, das Haus.

Was bedeutete wahre Kunst für sie? Durch die Noten, die sie in der Schule im Kunstunterricht bekam, wusste sie, wie subjektiv Menschen Kunst wahrnahmen. So hatte sie einmal für ein Bild, das sie unglaublich toll gefunden und in dem viel Arbeit gesteckt hatte, eine Vier bekommen. Nicht sonderlich gut, für ihr Meisterwerk.

Fotos von den Menschen, die sie auslachten, zerschossen ihre Gedanken. Die Darstellung der perfekten Leben. Es schien, als sei das Perfektsein dieser anderen die wahre Kunst. Es war Kunst, alles im Einklang zu halten. Das perfekte Zeitmanagement von Schule oder Arbeit, Freunden, Zukunftsplanung, Sport und Familie. Das Perfektsein in all diesen Bereichen. Ihr wurde schlecht. Sie musste hier raus. Raus aus dieser Stadt. Raus aus dieser Welt. Raus aus diesem Leben. Es erdrückte sie. Alles. Von allen Seiten. Es war zu viel.

Sie rannte. Wohin? Egal. Einfach weg. Weit weg. Außer Puste kam sie zwischen Feldern zum Stehen. Die Lichter ihrer Stadt weit hinter sich. Unter sich. Über ihr nur die Sterne. Kalte Luft füllte ihre Lungen, belebte ihren Geist, trocknete ihre Tränen. Weshalb nur wollte alle Welt perfekt sein, wollte, dass sie perfekt war?

Das Feiern zur Flucht aus dem Alltag erschien ihr zunehmend lächerlich. Was hatte sie zwischen diesen Leuten zu suchen? Sie mochte weder deren Musik, noch deren Einstellung zum Leben. Sie wollte frei sein. Malen, Singen, Tanzen, ein gutes Buch lesen. In diesem Moment begriff sie. Wahre Kunst bedeutete Freiheit. Sein, wer man wollte. Zu seinen Werken stehen. Die Meinung der anderen nicht auf sich selbst zu übertragen. Einfach tun, was man will, ohne auf irgendein Feedback Außenstehender zu warten.

 

Frei von den Erwartungen der anderen, war sie endlich im Jetzt angekommen.

Weil wahre Kunst Freisein ist.

 


Klaus Klausens
Die zwei Damen und der Rest vom Plan

– Museales um die hohe Kunst der Kunstmacherei –

 

 

Natürlich stolzierten sie hin und her. Jedes Bein war lang und doch verhängt. Vom teuren Stoff. Die Schuhe zeigten sich mehr und mehr spitz. Oben wackelte der Hut von links nach rechts.

Herr Gebwinkel näherte sich der Dampfwolke der beiden Damen, indem er sie leicht umkreiste. Er wusste, er müsste jetzt eines seiner süßesten Lächeln aufsetzen. Also zog er innerlich am Muskel B in seiner linken Backe und auch am Muskel D seiner rechten Backe.

Es kam etwas zustande, was zu gefallen wusste. Erika Gillenberg senkte den Blick nach unten, nippte dann mit dem Kopf, als sei die Welt ein Glas, und bemühte sich nun um eine Sichtachse zu den leicht verschleierten Augen von Gebwinkel. Dann lachte sie, und man hörte das Rauschen des Stoffes. War es das Kleid oder die darübergehängte Jacke?

»Ach, Gebwinkel!«, sagte sie leicht in den Raum, bis sich auch Jane Köstriehm zu ihm hindrehte und ihrerseits etwas von der eigenen Wolke verteilte, bis sich beide Wolken der zwei Frauen zu einer Neuwolke verdichtet hatten, welche nun wiederum noch emsiger den armen Gebwinkel umkreiste und bedunstete.

Die Köstriehm hatte so dicke Lippen, dass man meinte, es könne Botox sein, tatsächlich hatte Erika Hahn zu Gebwinkel gesagt: »Es muss Botox sein, Herr Gebwinkel.«