Thomas Fröhlich & Corinna Griesbach (Hrsg.)

HARTE BANDAGEN

Die Mumien-Anthologie

 

Horror 4

 


Thomas Fröhlich & Corinna Griesbach (Hrsg.)

HARTE BANDAGEN

Die Mumien-Anthologie

 

Horror 4

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Juni 2015

    Die Herausgeber, die Autoren &

    p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Jörg Vogeltanz

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 035 1

 


Thomas Fröhlich & Corinna Griesbach (Hrsg.)

HARTE BANDAGEN

Die Mumien-Anthologie

 


Zum Geleit durch die Düsternis

 

 

 

nannte Lucas Edel sein Vorwort zu dieser Anthologie, als es noch so aussah, dass sie im Evolver-Books-Verlag veröffentlicht werden würde.

 

Als Peter Hiess, der Evolver-Books-Verleger, im Sommer 2012 auf ihn zukam und ihn fragte, ob er als Juror bei einer Kurzgeschichtenanthologie mitmachen wolle, fragte Lucas Edel: »Worum geht’s?« Peter Hiess’ Antwort war: »Mumien!«

In Lucas’ Hirn rasselte sofort eine Assoziationskette. Eine österreichische Mumien-Anthologie? Eine österreichische Mumien-Anthologie??? Die ersten Sätze, die ihm in den Sinn kamen, waren … »die Wickel mit den Wickel«, … »willst mi wickeln« … – und weitergedacht »willst mi häkeln?«

Beim zweiten Nachdenken dachte er sich jedoch: ›Wieso nicht? Das wird bestimmt ein Spaß.‹ Und er wurde nicht enttäuscht.

Aus neununddreißig Geschichten suchten die Juroren – Thomas Fröhlich, Peter Hiess, Chris Haderer, Sylvia Treudl, Alisha Bionda, Walter Robotka, Jörg Vogeltanz, Lucas Edel und Karl Kilian – die besten Arbeiten heraus, wobei »die Besten« eine absolut subjektive Einteilung war und ist. Jede Geschichte ist eine Welt für sich und wert gelesen zu werden. Die vorliegenden Storys haben aber alles, was nötig ist, um Leserinnen und Leser zu fesseln.

 

Ob der Leser mit Lisa Lercher in »Heimkehr« den Gedanken einer düsteren Mutter-Tochter-Beziehung lauscht, oder eine finstere Geschichte ihren Anfang in einem Museum nimmt, wie in »Palomas Lächeln« von Sabrina elezný.

Doch nicht nur Newcomer zeigen ihre Fertigkeiten im Mumiengenre, sondern auch Größen wie Bettina Ferbus mit »Rattenfänger«, Daniela J. Pusch mit »Lady Carnarvon« oder Christian Enders mit »Eine andere Welt« entführen den der Lektüre Zugeneigten in schaurige Welten. Titel wie »Der Sonderauftrag« von Barbara Büchner, »Ein ganz besonderes Braun« von Susanne Haberland, »Der Londoner Mumienhändler« von Thomas Neumeier, »Sehnsucht« von Wiebke Sikau, »Mumia vera« von Miriam Rieger, »Weit weg« von Ingrid Kalinger oder »Entrückung« von Anna Exel.

Es stöhnt, es ächzt, es schleift, es kratzt, es quietscht, es schreit, es brüllt, es schleppt sich durch die Gänge der Gehirnwindungen auf jeder Seite, die man weiterblättert. Das schwüle Dunkel der ägyptischen Pyramiden greift Raum im Brustkorb, grapscht nach dem Herzschlag und wer sich nicht vorsieht, bei dem werden die Welten von Fantasie und Wirklichkeit verschmelzen … und dann sollte sich der Leser nicht wundern, wenn in seinen Träumen die kalte Hand des Todes nach ihm greift.

 

Bei Evolver Books jedoch sollte die Anthologie dann nicht erscheinen. Peter Hiess gab auf – aus verschiedenen und leider sittsam bekannten Gründen. Susanne Haberland vermittelte den Kontakt, und Peter Hiess unterstützte die Idee nach allen Kräften.

Dass die vom ursprünglichen Team für die Anthologie ausgewählten Geschichten auch bei p.machinery erscheinen würden, war klar; einzig Marlene Geselle zog ihre Geschichte zurück, nachdem diese bereits anderweitig veröffentlicht worden war. Peter Hiess stellte allerdings alle eingegangenen Geschichten – rund sechzig an der Zahl – zur Verfügung, und wir entschieden, Corinna Griesbach, mit der wir schon beim HALLER gut und erfolgreich zusammenarbeiteten, zu bitten, sich das weitere Material auf seine Verwendungsfähigkeit hin anzuschauen. Was sie tat.

Und so ist Christian Endres’ »Eine andere Welt« die letzte Geschichte der ursprünglichen und Kristina Kesselrings »Die vergessene Königin« die erste Geschichte der erweiterten Anthologie.

 

Schaurige Grüße übermittelte Lucas Edel in seinem ursprünglichen Vorwort und wünschte ein gruseliges Lesevergnügen mit »Harte Bandagen«. Dem schließen wir uns unumwunden an.

 

Michael Haitel

Murnau am Staffelsee

Mai 2015

unter Anlehnung an das ursprüngliche Vorwort von Lucas Edel

 


Lisa Lercher: Heimkehr

 

 

 

Die Vergangenheit holt einen immer ein – egal, wie sehr man sich dagegen sträubt. Irgendwann kommt der Moment, in dem es nur noch eine Richtung gibt. Plötzlich ist man bereit, sich zu fügen, ist erleichtert, weil man endlich eine Entscheidung getroffen hat – die einzig Richtige.

 

Nach beinahe einem Jahrzehnt habe ich meine Zelte hier abgebrochen. An ein Leben in der Stadt hätte ich mich nie gewöhnt. Dass meine große Liebe ein Irrtum gewesen ist und ich meinen Job verloren habe, hat meinen Blick für das Wesentliche geschärft. Das Kind unter meinem Herzen wird seinen Platz kennen und in unserer Tradition aufwachsen. Endlich komme auch ich zur Ruhe.

 

Meine Mami erwartet mich an der Türschwelle. Stille Freude spiegelt sich in ihrer Miene, als ich sie umarme. Sie erscheint mir kleiner, schmaler, als ich sie in Erinnerung habe. Ihr Rücken ist gebeugt, die vielen Runzeln in ihrem lieben Gesicht sind Zeugnis eines entbehrungsreichen Lebens.

 

Ich gehe durchs Haus, schaue mich um – wenig hat sich verändert. Ich atme den vertrauten Duft der schweren Möbel ein, fahre mit dem Finger über die Kerben in der Tischplatte und spüre lang vermisste Geborgenheit.

Später steige ich die steile Stiege zum Dachboden hinauf. Das Bett in meinem alten Zimmer ist bezogen. Das kleine Fenster steht offen. Der Tannenkogel bewacht wie immer unsere Idylle.

 

Mami hat mit den Vorbereitungen begonnen. Für mich gibt es vorerst wenig zu tun. Ich gehe viel spazieren, atme die würzige Almluft und erzähle meinem ungeborenen Kind Geschichten aus unbeschwerten Tagen.

 

An einem feuchtnebeligen Herbsttag ist es dann soweit. Ich setze mich an den Küchentisch und schaue Mami beim Zerreiben der Kräuter im Mörser zu. »Weißt du es noch?«, fragt sie leise. Ich nicke. Erst stockend, dann zunehmend flüssig zähle ich alles auf. Ab und zu ergänzt sie ein Detail. Aber insgesamt ist sie zufrieden und stolz auf mich. Das sehe ich ihr deutlich an.

 

Mami ist zusehends schwächer geworden. An manchen Tagen braucht sie meine Hilfe bei den Ritualen. Abends sitze ich oft lange an ihrem Bett und halte ihre Hand. Als dieses Strahlen von ihr ausgeht, weiß ich, dass sie ihr Ziel bald erreicht hat. Meine Trauer schiebe ich zur Seite, sie hat neben ihrer gelösten Zufriedenheit keinen Platz.

 

Mami stirbt in einer stürmischen Novembernacht. Der Wind rüttelt an den Dachschindeln. Graupelschauer peitschen mir ins Gesicht, als ich nach draußen gehe und meinen Schmerz mit den Elementen wüten lasse.

 

Ich werfe einen letzten liebevollen Blick auf meine Mami, ehe ich ihren ausgezehrten Körper in eine Mischung aus Salz und Nitrit bette. Dazwischen lege ich wohlriechende Kräuter und Gewürze, so wie sie es mir beigebracht hat. Den Deckel der Truhe schmücke ich mit Kiefernzapfen und Reisig. Unsere magische Wurzel wacht über Mamis Verwandlung.

 

Den Ofen heize ich rechtzeitig ein. Die Räucherkammer ist neben der Scheune. Die dicken Buchenscheite glosen. Mamis gepökelter Leib schaukelt im Luftzug, als ich die Tür von außen verriegle. Ausgedörrt hatte ihr Körper ausgesehen und leicht rötlich vom Pökelprozess. Durch das Selchen würde sie nun schwarz werden – so wie meine Geschwister, die in ihren hölzernen Truhen auf das Fest warten.

 

Der Tisch ist gedeckt, meine kleinen Brüder liegen in ihren Weidenkörbchen. Mami platziere ich ans Tischende, dort wo sie auch zu Lebzeiten immer gesessen ist. Ihr zur Seite thront meine Großmutter. Meine beiden Onkel lasse ich in ihren Behältern. Der Zahn der Zeit hat ihnen schon ziemlich zugesetzt. Mein jüngster Bruder schwimmt in Spiritus. Als Frühgeburt ist er für die Verwandlung in eine Mumie noch zu klein gewesen.

Dass Mamis Transformation mit der Karwoche abgeschlossen ist, nehme ich als Zeichen – denn Ostern gilt auch bei den Christen als Fest der Auferstehung.

 

Das Kind unter meinem Herzen hüpft vor Freude, als ich die alten Gesänge anstimme. Ich erhoffe mir eine Tochter, damit sie die Familientradition fortführt. Doch auch ein Sohn ist mir willkommen. Meine kleinen Brüder würden sich über einen neuen Spielgefährten bestimmt freuen.

 

 


Sabrina Železný: Palomas Lächeln

 

 

 

Die Kühle und das Halbdunkel des Museums waren wohltuend, auch wenn Sergio einen Augenblick brauchte, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Die Straßen von Arequipa waren in gleißendes Sonnenlicht gebadet, verstärkt durch das Leuchten der hellen Kolonialhausfassaden. In die Schatten zu treten war wie der Übergang in eine andere Welt, zumal Sergio nun auch die Geräuschkulisse der Stadt – Motoren, nervöses Hupen, das Dröhnen von Salsarhythmen und Werbeansagen – hinter sich gelassen hatte. Im Museum herrschte nahezu vollkommene Stille, wenn man vom leisen Surren der Kühlanlagen einmal absah.

Sergio blieb etwas unschlüssig im Eingangsbereich stehen und drehte seinen Hut zwischen den Fingern. Das hier war so etwas wie der Übergang zwischen zwei gegensätzlichen Welten, und er war nicht sicher, ob er diese neue Welt des Museums wirklich betreten wollte.

»Kann ich Ihnen helfen?« Das Lächeln der Museumsassistentin war so perfekt einstudiert, wie es zweifellos auch all die Informationen waren, die sie auf Nachfrage zu den ausgestellten Dingen hätte zum Besten geben können. Sergio musste nicht genau hinsehen, um die bröckelnde Fassade hinter diesem Lächeln zu erkennen. Er wusste nur zu gut, was die junge Frau sah: Keinen hellhäutigen Touristen, von dem sie ein reichliches Trinkgeld erwarten konnte, sondern einen Mann des Hochlands, dessen Haut nicht nur von der Sonne so dunkel war. Bestimmt sah sie die Schwielen an seinen Händen, und vielleicht entdeckte sie trotz des schlechten Lichts die dunklen Ränder, die die Feldarbeit unter seinen Fingernägeln hinterlassen hatte. Für dieses adrette Mädchen mit Hosenanzug und dezentem Make-up war er wirklich ein Fremdkörper aus einer anderen Welt, den sie nur deshalb nicht einfach aus dem Museum schicken konnte, weil die Regeln der Höflichkeit es verboten.

Sergio lächelte zurück und fasste die Krempe seines Hutes fester. »Das ist möglich, Señorita. Ich habe eine Verabredung mit dem Professor Otero. Ist er hier?«

Sie musterte ihn jetzt unter deutlich hochgezogenen Augenbrauen hervor von Kopf bis Fuß, als erwöge sie, ihn direkt der Lüge zu bezichtigen. Sergio wusste ja selbst, dass es nicht zusammenpasste: Er, dessen Art zu sprechen die Spuren der Quechuasprache an sich trug wie Erdklumpen an der Kleidung, wollte einen der angesehensten Archäologen der Stadt Arequipa treffen. Es war absurd.

»Sagen Sie mir Ihren Namen?«

»Sergio Pumacahua. Er muss Bescheid wissen. Wir sind wirklich verabredet.«

Die Museumsassistentin nickte knapp, schenkte ihm noch einen letzten skeptischen Blick und drehte sich dann um. Die Pfennigabsätze ihrer Schuhe klapperten auf dem Boden und durchbrachen die fast weihevolle Stille.

Sergio atmete tief durch. Noch konnte er kehrtmachen und zurück in das hektische Treiben flüchten, von dem das Stadtbild bestimmt wurde. Er konnte sogar noch weiter gehen und das nächste Sammeltaxi nehmen, das zurück nach Hause fuhr – hinaus aus der Stadt, vorbei an Kartoffel- und Zwiebelfeldern.

Aber das wäre keine Lösung gewesen, und er wusste es. Daheim wartete nichts außer Elsa, die in den trägen Schatten der Küche auf ihre gefalteten Hände starrte, und die chacra, das kleine Feld, das Stückchen Erde, das seit Monaten unter der unbarmherzigen Sonne schmorte und nichts hergab außer Staub, wenn Sergio bedächtig hindurchstapfte.

Es gab kein Zurück. Professor Otero war seine letzte Hoffnung.

Absatzklappern kündigte die Rückkehr der jungen Frau an. Sie wirkte ein wenig unbehaglich, als sie Sergio zunickte. »Er ist im Hauptraum. Bei der Vitrine mit der Mumie. Sie können ihn nicht verfehlen.«

»Danke, Señorita«, sagte Sergio, deutete eine leichte Verbeugung an und folgte dem Fingerzeig der Museumsassistentin.

Wahrscheinlich hätte er den Professor auch ohne Nachfrage gefunden. Es befanden sich kaum Besucher in diesem Raum, und die Vitrine war eindeutig dazu da, alle Blicke auf sich zu ziehen. Im matten Schimmer der Innenbeleuchtung kauerte dort der Grund, warum das Museum sich zu den meistbesuchten Sehenswürdigkeit Arequipas zählen durfte: die Knie angezogen, die Arme vor der Brust angespannt, schwarze Locken, die ein Gesicht umkringelten, das auf ewig in einem morbiden Lächeln erstarrt war.

»Juanita.« Der Mann, der diesen Namen so feierlich aussprach, konnte niemand anders sein als Professor Otero. Hochgewachsen, mit einem Anzug und einem ordentlich gestutzten Bart, stand er neben der Vitrine und löste seinen Blick nicht von der Mumie darin, als Sergio näherkam. »Die Prinzessin des Ampato-Vulkans, das Mädchen aus dem Schnee. Das Juwel unseres Museums.«

Sergio räusperte sich. »Professor …?«

Der Professor lächelte der Mumie zu, als müsse er ein wichtiges Gespräch mit ihr nun Sergios wegen unterbrechen, und sah endlich auf. »Pumacahua, nehme ich an.«

Es war keine Frage. Sergio nickte. »Es ist eine große Ehre für mich, Professor. Ich bin sehr dankbar, dass Sie sich die Zeit genommen …«

»Reden wir nicht um den heißen Brei herum«, unterbrach Professor Otero ihn, schob beide Hände in die Hosentaschen und musterte ihn. Es war nicht die Art und Weise, wie ihn die junge Frau eben einer eingehenden Prüfung unterzogen hatte. Otero suchte nach etwas, und Sergio war nicht sicher, ob der Professor es in ihm wirklich finden würde. »Sie kennen die Berge, Pumacahua?«

Sergios Fingerkuppen schmerzten, so tief grub er sie in die steife Hutkrempe. »Ich denke schon, Professor. Ich komme von dort. Mit den Bergen bin ich aufgewachsen.«

»Gut. Sie sind mir aus diesem Grund empfohlen worden.« Otero holte Luft und starrte nun wieder auf die Mumie. So unhöflich Sergio es zuerst gefunden hatte, dass der Archäologe ihn nicht direkt ansah, so dankbar war er jetzt, dass Otero seinen Blick wieder abgewandt hatte, zu unbehaglich fühlte er sich darunter.

»Ihnen ist bekannt, wo Juanita gefunden wurde?«

Sergio schluckte trocken. »Auf dem Gletscher des Ampato-Vulkans.«

»Und Ihnen ist sicherlich ebenfalls bekannt, was sie für Arequipa bedeutet: Tourismus, Einnahmen und Prestige. Dabei mussten wir hart darum kämpfen, dass Juanita zurück zu uns kommt. Die Gringos hatten sie in die Vereinigten Staaten geschafft, ließen sie wie einen Popstar um die Welt touren und wollten sie fast nicht mehr herausrücken.« Otero schnaubte verächtlich.

Sergio wartete. Der Professor konnte ihn nicht herbestellt haben, um mit ihm über die allseits bekannte Geschichte der Mumie Juanita zu sprechen.

Schließlich nahm Otero ihn wieder fest in Augenschein. »Ich mache es kurz, Pumacahua. Es gibt Gerüchte, dass dort oben noch weitere Mumien zu finden sind.«

»Sie meinen … auf dem Ampato?«

Das Nicken fiel knapp und beinahe unwillig aus: »Nein, auf dem Turm der Kathedrale. Natürlich auf dem Ampato, verdammt! Ich versuche, Mittel für eine Expedition zu bekommen. Aber die Universität stellt sich quer. Das Kulturministerium sowieso.« Ein verächtliches Lächeln zuckte über das Gesicht des Archäologen. »Und das Schlimmste ist, ich weiß aus sicherer Quelle, dass die Gringos selbst eine neue Expedition planen.«

»Das Schlimmste?«, fragte Sergio scheu. »Aber könnten Sie nicht bei dieser …?«

»Als Peruaner? Machen Sie sich nicht lächerlich. Wenn die jemanden von hier holen, dann einheimische Bergsteiger, weil die die Wege kennen und billiger sind. Aber einen Archäologen werden sie nie im Leben da ranlassen. Akademischer Futterneid, lassen Sie sich das gesagt sein.« Oteros Augen blitzten. »Ich werde nicht zulassen, dass diese amerikanischen Aasfresser kommen und uns einmal mehr unser Kulturgut entführen. Meine Expedition wird zuerst am Ampato sein. Doch damit ich die Mittel bekomme, brauche ich handfeste Beweise, dass es etwas zu finden gibt.« Er holte tief Luft. »Hier kommen Sie ins Spiel, Pumacahua.«

Sergio blinzelte. Er war nicht sicher, dass er wirklich verstand.

Otero machte eine ungeduldige Handbewegung. »Sie kennen geheime Trampelpfade und weiß der Geier was. Ich will, dass Sie da hochgehen und fotografieren, was Sie finden. Bringen Sie mir meine Beweise.«

»Und wenn ich dort nichts finde?«, flüsterte Sergio. Er wusste es nicht genau, aber er war der Überzeugung, dass die bisherigen archäologischen Expeditionen gründliche Arbeit geleistet haben mussten.

»Sie werden dafür sorgen, dass Sie etwas finden.« Ein beinah wölfisches Lächeln spielte um Oteros Lippen, als er demonstrativ nach seinem Portemonnaie fingerte. »Es soll Ihr Schaden nicht sein, Pumacahua. Sind Sie dabei?«

Sergio starrte auf das Scheinbündel, das in Oteros Hand erschienen war.

Er hatte nie viel für Archäologen übrig gehabt. Es stimmte, dass er mit den Bergen aufgewachsen war, und wenngleich er sich hütete, das vor Otero zu erwähnen, hatte er doch eine sehr klare Meinung zu ihnen. Sie waren nicht einfach nur markante Landschaftsformationen, die man mit geologischen Analysen und Messungen komplett erfassen konnte. Sie waren die alten Schutzherren dieses Landes, und Sergio war damit aufgewachsen, ihnen seinen Respekt zu bekunden. Es waren die Berge, die über Gedeih und Verderb der Ernte entschieden. Wenn dort oben noch Mumien lagen, dann waren das vor Jahrhunderten dargebrachte Menschenopfer, die den Groll der Berggötter besänftigt hatten. Es fühlte sich wie ein Sakrileg an, gegen Geld in das Heiligste der Berge vorzudringen. Sie waren zornig genug, die Dürre war der Beweis dafür.

Gleichzeitig sah er vor seinem inneren Auge wieder das staubige Feld, Elsa auf der Küchenbank, in ihrem Schweigen beinah ebenso vertrocknet wie die Pflanzen. Der Regen konnte noch Monate ausbleiben. Aber Sergio hatte keine Zeit mehr.

Er nickte, obwohl er das Gefühl hatte, dass sich dabei ein Strick um seinen Hals zuzog. »Ich mache das, Professor.«

 

Nicht nur die Entdeckung Juanitas hatte den Ampato mittlerweile zu einem touristischen Brennpunkt gemacht. Trekking stand hoch im Kurs. Sergio wusste, von welchen Dörfern und auf welchen Routen die Touristen auf den Gipfel des Gletschers geführt wurden. Er hingegen hatte als Ausgangspunkt ein abgelegenes Dorf ausgesucht. Es war von den Trekkinganbietern bislang unbeachtet, und das kleine Dorf hatte nicht einmal ein richtiges Hotel, aber der Besitzer des einzigen kleinen Lokals vermietete auch Gästezimmer.

Sergio war froh darüber, dass die gierige Unkrautpflanze des Tourismus noch nicht alles überwuchert hatte, dass er auch davon ausgehen konnte, morgen auf seinem Weg ungestört zu sein. Er war kein großer Trinker, aber an diesem Abend bestellte er ein kaltes Bier. Schmerzhaft schien sich die Flüssigkeit ihren eisigen Weg in Sergios Magen zu graben. Er leerte die Flasche zur Hälfte, bevor er sie absetzte.

Otero hatte ihm nur eine Anzahlung gegeben, um seine unmittelbaren Kosten zu decken. Eine kleine Summe, mehr Geld, als er in den vergangenen Wochen in den Händen gehalten hatte, aber nur ein Teil von dem, was er verdienen konnte, wenn er Oteros Anweisungen befolgte.

Sie werden dafür sorgen, dass Sie etwas finden.

Sergio grübelte über das düstere Auffunkeln in Oteros Augen, über die verborgene Drohung in diesen Worten nach und umklammerte die Bierflasche, bis das letzte Bisschen wohltuender Kälte sich verflüchtigt hatte.

Das Mädchen bemerkte er erst, als es direkt vor seinem Tisch stehen blieb.

Sie war eindeutig ein Kind des Hochlands: schwarze Löckchen, seelenvolle, dunkle Augen und die roten Pausbäckchen, die nicht von der Sonne, sondern der unbarmherzigen Kälte hier oben verbrannt waren. Wie alt sie war, ließ sich schwer schätzen. Zehn, zwölf, Sergio konnte das nicht genau sagen. Er hatte so wenig Erfahrung mit Kindern, und er konnte nur beten, dass die Dürre vorbeiging oder seine Mission hier Erfolg hatte, weil er sonst würde mit ansehen müssen, wie das Leben in Elsas Bauch einem Pflänzchen gleich verdorrte.

»Ich bin Paloma«, sagte das Mädchen mit der größten Selbstverständlichkeit. Ihr Blick ruhte unablässig auf ihm, als sei er ein exotischer Käfer, den es genau zu studieren galt.

»Hallo, Paloma.« Sergio sah sich verstohlen um, aber es waren keine anderen Gäste da, zu denen die Kleine gehören konnte. Vielleicht war sie die Wirtstochter. »Ich heiße Sergio.«

»Was machst du hier?«, fragte das Mädchen.

Sergio fühlte sich mit einem Mal beinahe schuldig, dass er nur Bier und kein anständiges Abendessen bestellt hatte. »Ich trinke Bier.«

Sie musterte ihn mit der leisen Belustigung, die er in seinem ganzen Leben lang immer nur bei Kindern gesehen hatte. »Nein. Warum bist du hierher gekommen? Hier kommen nur Händler zum Markttag. Es ist nicht Markt, und du hast nichts zu verkaufen.«

Nein, dachte Sergio bitter, nur ein Häuflein verbrannter Pflanzentriebe. »Ich will auf den Ampato steigen.«

Die dunklen Augen wurden noch eine Spur größer. »Bringst du ein Opfer? Damit die Dürre vergeht?«

Sergio lächelte traurig und pulte am Etikett der Bierflasche. Es war nass, aber schwierig zu lösen. »Vielleicht.« Wenn es so einfach gewesen wäre.

Paloma legte den Kopf schief und lächelte ihn an. Sergio schluckte, seine Hand glitt von der Bierflasche zur Tischkante, wie um dort Halt zu suchen. Es war kein beruhigendes Lächeln, es war auch kein Lächeln, das er von einem kleinen Mädchen erwartet hätte. Stattdessen schien in diesem Lächeln das gesamte Gletschereis des Ampato zu liegen.

 

Die Kälte kroch durch jede Ritze in das schlichte Gästezimmer, das Sergio sich für diese Nacht genommen hatte. Doch es gab andere Gründe, dass er wach lag und an die Decke starrte.

Bringst du ein Opfer?

Wenn das Kind nur geahnt hätte, worum es wirklich ging! Er war kein Archäologe und auch sonst kein Gelehrter, aber auch er wusste, wie es kam, dass man Juanita und auch andere Kindermumien dort oben im ewigen Eis gefunden hatte. Sie waren Opfer gewesen, mit denen man den Groll der Götter hatte besänftigen wollen. Trockenzeiten, Vulkanausbrüche, es gab so vieles, wobei die Inka den göttlichen Schutz erfleht hatten. Und es war nicht beim Flehen geblieben. Im Weltverständnis der Anden hatte alles seinen Preis, und er musste angemessen sein, wenn man eine Gegengabe erwartete. Es war ein Denken, das die Lebenswelt der Hochlanddörfer bis auf den heutigen Tag durchdrang, und auch Sergio war damit aufgewachsen. Er nahm es als eine Selbstverständlichkeit.

Doch wenn er auf den Ampato ging, würde er kein Opfer bringen. Stattdessen bereitete er sich darauf vor, dem Berg zu entreißen, was ihm einst als Opfer dargebracht worden war.

Mit einem Frösteln zog Sergio die schwere Alpakadecke ein Stück höher, bis die Stoffkante an sein Kinn stieß und seine Zehen ins Freie ragten. Aber die wahre Kälte kroch von innen her in ihm hoch.

Es war zu spät, um zurückzuweichen. Sein Handel mit Otero galt. Wenn er mit leeren Händen zurückkehrte, war er der Verlierer, und den Berg konnte er damit nicht schützen. Die Expedition der Gringos würde so oder so kommen. Nein, er musste seine Ehrfurcht vor den Bergen über Bord werfen und Oteros Aufgabe zu dessen Zufriedenheit erfüllen, ganz gleich, was dafür nötig war.

Bringst du ein Opfer? Palomas Blick schien wieder forschend auf ihm zu ruhen.

Ein Opfer.

Für die Berggötter.

Sie werden dafür sorgen, dass Sie etwas finden.

Mit einem Ruck setzte er sich auf, die schweißnassen Hände in die Decke gekrallt.

Heilige Muttergottes, worauf hatte er sich nur eingelassen?

Er begann zu zittern, als weitere Gedanken in sein Bewusstsein perlten, mit der grausamen Klarheit eines Bergbachs. Sergio hatte das Gefühl, dass ihm die Luft knapp wurde, als stehe er bereits am Gipfel des Ampato. Konnte Otero das gemeint haben? Konnte das wirklich der versteckte Befehl hinter den Worten gewesen sein?

Das Erschreckende war, dass es Sinn ergab.

Dass es vielleicht sogar alle seine Probleme lösen würde.

Wenn er aus dem richtigen Winkel fotografierte, wer würde der Gestalt ansehen, dass es sich nicht um eine jahrhundertealte Mumie handelte? Niemand würde ihm etwas nachweisen können. Es würde ein Unfall gewesen sein.

Und die Dürre … Der Zorn der Berge …

Sergio vergrub das Gesicht in den Handflächen. Ihm war bitterkalt, aber seine Wangen glühten. War er verrückt geworden?

Wieder tanzten die Bilder des staubigen Feldes vor seinen Augen. Erdkrumen, die zwischen seinen Fingern zerbröselten. Brennende Hitze, die jedes pflanzliche Leben im Keim erstickte. Gleichzeitig schien der Gletscher selbst mit eisigen Fingern nach Sergio zu greifen.

Er streckte sich wieder aus und zog die Decke über seinen verschwitzten Körper. Dann schloss er die Augen und versuchte, sich Elsas Gesicht vorzustellen. Aber was sich davorschob, ehe er einschlief, waren Palomas große Kinderaugen.

 

Zu Zeiten der Inka war es einfach gewesen. Jedes Kind hatte gewusst, wie viel von den Launen der alten Götter abhing. Sergio hatte einmal gehört, dass Juanita selbst aus freien Stücken mit den Priestern gegangen war, die sie hinauf zum Ampato gebracht hatten. Dass sie ihr Schicksal wahrscheinlich als eine Ehre begriffen hatte. Die bloße Vorstellung daran drehte ihm noch immer den Magen um, und gleichzeitig hätte er sich gewünscht, fünfhundert Jahre früher zu leben.

Das Dorf lag noch in tiefer Stille, als Sergio auf die Straße trat. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, Dämmerlicht flutete über Häuser und Landschaft und ließ die Umgebung wie eine verblichene Schwarz-Weiß-Fotografie wirken. Weit über sich konnte Sergio das weiße Leuchten des Gletschers sehen, der auch zu dieser Jahreszeit einen Kragen aus Schnee trug wie einen weichen Poncho.

Die beißend klare Morgenluft tat gut, um die Gedankenfetzen der letzten Nacht zu vertreiben. Sergio vergrub die Hände in den Taschen und atmete tief durch, auch wenn es in den Lungen schmerzte. Es war Wahnsinn, was ihm da durch den Kopf gegangen war. Besser, wenn er jetzt schnell mit dem Aufstieg begann. Im Laufen würde der letzte Rest des Irrsinns verfliegen, der ihm in sein Innerstes gekrochen war.

Paloma wartete am Ausgang des Dorfes auf ihn. Sie saß auf einem Stein am Wegrand, so ruhig und ernst, als habe sie schon sehr lange hier gehockt.

Sergio blieb stehen. Der Blick des Mädchens schien eine unsichtbare Barriere vor ihm hochzuziehen, und er konnte nicht einfach mit einem Kopfnicken an ihr vorbeigehen, so sehr er das auch gewünscht hätte.

»Du bist früh wach«, sagte Sergio. Es waren die ersten Worte des Tages. Seine Stimme fühlte sich merkwürdig zerknittert an.

Paloma lächelte. Frostkristalle schienen in diesem Lächeln zu tanzen. »Ich komme mit.«

Bringst du ein Opfer?

Sergio fühlte die Kälte durch seine Adern wandern und schüttelte entsetzt den Kopf. Wenn das Kind ihm wirklich folgte … Nein, er durfte diesen wirren Gedanken nicht nachgeben. Sie lebten nicht mehr zur Zeit der Inkas. Was er sich da ausmalte, war krank!

»Das geht nicht, Paloma! Deine … deine Eltern würden sich Sorgen machen, und du bist zu jung …«

Sie reckte das Kinn und sprang geschmeidig vom Stein auf die Füße. »Ich bin alt genug. Ich war auch schon dort oben. Du suchst Gräber? Ich kann sie dir zeigen.«

Fassungslos starrte Sergio sie an. »Woher weißt du -«

»Wir sind am Fuß des Berges. Wir kennen seine Geheimnisse.« Sie schlenderte näher. Furchtlose Kinderaugen schauten zu ihm auf. »Nimmst du mich mit?«

Niemand wird wissen, dass sie mit mir gegangen ist.

Sergios Mund war trocken wie Sandpapier. Er hasste sich selbst dafür, aber er nickte, und Paloma schob zutraulich ihre Hand in die seine.

 

Als der Kraterrand in Sichtweite kam, blieb Sergio schwer atmend stehen.

Sie hatten den Aufstieg zügig hinter sich gebracht – zu zügig, wenn Sergio ehrlich war. In seinem Rucksack trug er alles, was er für eine Übernachtung benötigte, und er hatte damit gerechnet, sein Ziel erst am nächsten Tag im Morgengrauen zu erreichen.

Doch Paloma wuselte mit der Geschwindigkeit eines Viscachas, des langschwänzigen Andenkaninchens, vor ihm her, zog ihn manchmal mit sich, schien seine Schritte auf geheimnisvolle Weise zu beschleunigen. Die dünne Luft schnitt schmerzhaft in seine Lungen, und er hatte das Gefühl, trockenes Blut zu atmen, während er immer wieder in seine Tasche griff, um sich ein weiteres getrocknetes Kokablatt in den Mund zu schieben. Er versuchte sich einzureden, dass es an der Wirkung der Coca lag, die ihm Hunger und Müdigkeit nahm und ihn antrieb. Das war allemal glaubhafter, als Paloma die Verantwortung dafür zuzuschreiben.

»Von dort drüben«, sagte Paloma vertraulich und wies Richtung Osten, »ist damals Juanita gekommen, sagen sie. Sie war so stolz und fröhlich. Sie hatten ihr ganz feine Kleidung angezogen. Angeblich haben sie gesungen, als sie nach hier oben kamen. Muss es nicht schön sein, so glücklich zu sterben?«

Etwas würgte in Sergios Kehle, und er rang nach Luft. Nur die Höhe, sagte er sich, nichts weiter. »Du bist zu jung, um vom Sterben zu reden, Paloma.«

Sie hob die Schultern. »Wenn du meinst.«

Mit zitternden Fingern löste Sergio Kamera und Stativ von seinem Rucksack. Das Stativ war prädestiniert für das, was er tun würde – und tun musste.

Paloma musterte ihn aus schmalen Augen. »Juanita ist durch einen harten Schlag auf den Schädel gestorben«, vertraute sie ihm an, und Sergio schnürte sich endgültig die Kehle zu.

Ich kann das nicht. Aber Elsa, das Feld, meine Belohnung …

»Du hast gesagt, du wüsstest, wo die Mumiengräber sind«, brachte er hervor. Hoffentlich hielt sie ihn einfach für einen erschöpften Mann, der zu alt für solche Gewalttouren war. Er war zu schnell hier hochgestiegen. Das war alles, ja.

»Ich zeige sie dir«, sagte Paloma. Und lächelte. Sergio wünschte, sie würde das nicht tun. Die Kamera baumelte bleischwer um seinen Hals, das Stativ rutschte ihm beinah aus den nass geschwitzten Händen.

Nur ein Schlag, nur genug Kraft, dann ist es ganz schnell vorbei.

Schnee knirschte erstaunlich fest unter ihren Schritten, als Paloma Sergio ein Stückchen weiter in Richtung Krater führte. Ein paarmal sank er bis fast zu den Knien ein. Vom Horizont zog eine dunkle Wolkenfront auf, der Wind trug erste Schneeflocken mit sich.

»Hier.« Palomas Stimme reiste glasklar auf den Böen, ihre Hand zeigte zu Boden. Sergio riss die Augen auf.

Sie zeigte auf Stellen, an denen ganz eindeutig einmal Mumien vergraben gewesen sein mussten: Eismulden im Schnee, groß genug für menschliche Körper. Zwei nebeneinander schimmerten bläulich zu Sergios Füßen.

Aber sie waren leer.

Seine Gedanken rasten. Wie konnte das sein? Waren die Amerikaner schon hier gewesen? Wer hätte die Gräber sonst plündern sollen? Was sollte er Otero sagen?

In den konfusen Wirbel schob sich eine einzige Gewissheit: Dass ihm jetzt endgültig keine Wahl mehr blieb. Er konnte Otero keine leeren Gräber präsentieren.

Der Wind wurde stärker, zerrte an Sergio, ließ auch Palomas Haare im Wind flattern, immer wieder ihr Gesicht verdecken. Sergio umklammerte das Stativ fester.

»Paloma«, sagte er und schob sich näher an sie heran, nur nah genug, um in Schlagweite zu sein, »die Trockenheit … Seit Monaten gibt es keinen Regen, und ich weiß mir keinen anderen Ausweg mehr …«

Sie lächelte ihn an. Er konnte ihr Gesicht hinter den flatternden Locken nicht sehen. Nur die Augen, die ihn anglühten wie die hungrige Tiefe eines Gletscherlochs.

»Ich weiß«, erwiderte Paloma. »Darum bist du hier.«

Dann riss der Wind ihn rücklings von den Füßen, das Stativ knallte gegen seine eigene Stirn, und die Benommenheit schlug wie Pulverschnee über ihm zusammen. Er schlug hart auf vereistem Boden auf, rang nach Luft, blickte in Flockengestöber, das aus der Höhe auf ihn zutanzte, während das Blut in seinen Ohren rauschte. Lauter und lauter.

Erst im letzten Moment begriff Sergio, dass es das Donnern einer näherkommenden Lawine war.

 

Paloma lächelte.

Schnee blieb in ihren Haaren hängen und schmolz auf ihrer ledrigen Haut, in ihren eingefallenen Augenhöhlen. Sie zog die jahrhundertealten Lumpen näher an sich und sah für einen Moment auf die Stelle, wo nur noch Sergios starre Hand aus der Schneedecke ragte.

Die Kälte glühte in ihrem Lächeln und erfüllte Palomas Innerstes, als trüge sie den Gletscher selbst in sich. Ihren heiligen, behüteten, unentweihten Gletscher. Sie schritt durch Schnee und Eiskristalle und streckte sich in dem Grab aus, das von der Lawine unversehrt geblieben war. Palomas Arbeit war getan. Der Ampato hatte seinen Willen bekommen.

Paloma lächelte weiter, während die Schneeflocken liebkosend auf sie niederfielen, um sie nach und nach für ihren verdienten Schlaf zuzudecken.

Bis zum nächsten Mal.