Corinna Griesbach (Hrsg.)

Das Staunen der Welt.

Visionen

 

Haller 12

 


Corinna Griesbach (Hrsg.)

DAS STAUNEN DER WELT

VISIONEN

 

Haller 12

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Januar 2016

Corinna Griesbach, die Autoren & Künstler &

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Christian Knieps, Der Sieger

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Corinna Griesbach, Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

HALLER im Verlag p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.haller.pmachinery.de

www.literaturzeitschrift-haller.de

 

ISSN: 1869 4624

ISBN der Printausgabe: 978 3 942533 65 2

 


Corinna Griesbach (Hrsg.)

Das Staunen der Welt.

Visionen

 

Haller 12

 


Vorwort

Stupor mundi – Das Staunen der Welt

 

Stauferkaiser Friedrich II., gekrönt vor 800 Jahren, wurde »das Staunen der Welt« genannt, weil er die Welt in neuen Skalen dachte. Als hochvisionärer Herrscher und Politiker dachte er multikulturell, seine damals unvergleichliche Bildung und Vision von einer besseren Welt ließ ihn für seine Zeitgenossen nicht begreifbar erscheinen. Auch er kannte ein »Königreich Jerusalem«, wollte aber keinen Kreuzzug, um Jerusalem mit Gewalt einzunehmen. Seine Offenheit und seine Wertschätzung anderer Kulturen war einmalig, ebenso seine Vorstellung einer Welt ohne (Religions-) Kriege. Der Papst nannte ihn Bestie, andere »das Staunen der Welt«.

Inspiriert vom Staunen und dem Nichtbegreifen von Visionen, von neuen Kontexten und Welten sind auch die ausgewählten Texte und Bilder der Autoren und Künstler dieser Ausgabe:

 

Ansgar Poloczek zeigt, das Staunen über die Welt kann Menschen unglücklich machen, und wer traurig ist, der sucht sich Freunde, selbst wenn es sie vielleicht nicht gibt.

In Jonas Kissels Geschichte geht es um eine Welt ohne Bücher, Zeitschriften und Papiere. Da Papier, das nicht für Hygieneartikel oder Verpackungen genutzt wird, durch das »Gadget« überflüssig geworden ist, hat man seine Produktion als Umweltschutzmaßnahme verboten. Nur Dinge, die schon vor dem Inkrafttreten des riesigen Gesetzespakets, das von allen nur »Gadget-Gesetz« genannt wird, gedruckt wurden, sind noch legal. Als Buchliebhaber kann Dr. Birn dies kaum ertragen: Eine Welt ohne physische Bücher?

Nele Sickels Vision ist für die Protagonistin unkontrollierbar und führt sie in eine sehr fremdartige Welt.

Peter Zemlas Karpfen ist zu überwältigend, um echt zu sein – eine Vision?

Bei Peter Schnell geht es darum, mittels Kindheitserinnerungen auch in der gegenwärtigen, zu oft vom Alltag geprägten Welt, Ballast abzuwerfen und wieder zeitlos frei zu sein.

Claudia Overbeck erzählt von Fantasiegebilden, die von Mensch zu Mensch stark variieren. Kann man sie lesen? Kann man sie nutzen? Und kann man sie dann auch schützen?

Marlene Fleißig spielt mit Vision und Illusion. Und mit der rückwirkenden Bewertung der Realität, die diese selbst zur Vision werden lässt.

Regina Schlehecks »Tonspur« erzählt von der totalen Überwachung, der Möglichkeit, flüchtigste, nämlich akustische Spuren der Vergänglichkeit zu entreißen, Raum und Zeit zu überwinden, um sich vollständige Kontrolle über andere zu verschaffen. Es ist eine Horrorvision, die umso mehr beängstigt, als mit Sicherheit an dieser Option längst gearbeitet wird.

Sue Becherts Geschichte thematisiert die Vision von einem Leben nach dem Tod, in dem irgendetwas Schönes bleibt, über die Lebensgrenze hinaus. Gleichzeitig ist im Text auch die geheimnisvolle Vision einer Vorahnung des Todes enthalten, die die Protagonistin allerdings nicht bewusst wahrnimmt. Nichtsdestotrotz ermöglicht ihr »das Wiedersehen«, besser mit ihrem eigenen Tod umzugehen. Dadurch wird nicht nur der Schrecken genommen, sondern der Tod letztendlich sogar in ein »rührendes« Erlebnis für die Protagonistin verwandelt.

Christian Knieps dreht in »hätte wäre wenn« die Zeit zurück – oder ist das unmöglich?

Jörn Birkholz schreibt über die Einsamkeit im Alter und auf welch absurde Ideen Menschen kommen können, um ihr zu entgehen.

Tom Davids »Der Preis der Freiheit« nimmt die aktuelle Debatte um den militärischen Einsatz von Drohnen auf und skizziert eine erschreckende Zukunft, in der unwissende Computerspieler im Auftrag zwielichtiger Regierungsmitarbeiter ganze Städte mit einem einzigen Mausklick in Schutt und Asche legen.

Bettina Cordes’ alter Astronaut hat Visionen vom Planeten Mars in einem Meer von Farben, die alles übersteigen, was Menschen jemals gesehen haben. In seiner Vorstellung wäre es das ultimative Erlebnis, diese Erfahrung selbst machen zu können, und er setzt alles in Bewegung, um zum Mars zu kommen. Sein Freund und Kollege muss sich entscheiden, wie er sein restliches Leben gestalten will und welche Werte ihm wirklich wichtig sind.

Daniel Niebuhr erzählt von dem einen, letzten Menschen, der auf der sterbenden Erde bleibt und den Nachlass verwaltet – eine Vision, die für den letzten Verbliebenen ein Albtraum ist. Allein auf der leeren Erde ist die Sinnsuche eine Tortur. Denn je größer die Welt wird, desto mehr ist man in sich selbst gefangen.

Kai G. Kleins »Triptychon« handelt von drei Personen, deren Welten, deren Realitäten »ineinander hängen« und sich ineinander verweben. Alles hängt zusammen. Gedanken reisen durch Raum und Zeit. Alles erscheint im und mit Licht. Und alles wird zu einem Bild. Einem Triptychon.

Lukas Verings »Falsche Flagge« ist eigentlich ein »recycelter« Text, den er für die Ausschreibung neu aufgelegt und überarbeitet hat. Die Grundidee war aber schon immer das Szenario einer Flucht – heraus aus einem (typisch dystopischen) totalitären Überwachungsstaat, hinein in ein fremdes Land, von dem sich der Protagonist eine bessere Zukunft verspricht. Zum Ende der Erzählung sieht der Flüchtling eine amerikanische Flagge auf seiner Seite eines großen Zaunes – eine Verdrehung der Sichtweise. Hier sind es die Bewohner der westlichen Welt, die fliehen wollen. Gerade zurzeit ist die Thematik des Flüchtens ein brennendes Thema, bei dem viele zu vergessen scheinen, dass jeder einmal zum Vertriebenen werden kann und Asyl suchen muss. Was passiert, wenn unsere schöne, heile Welt plötzlich zur Tyrannei wird und wir aus ihr fliehen wollen? Vering: »Dann haben wir uns schon lange mit unseren eigenen Zäunen eingesperrt.«

In Michael Wenzels Text geht es um die ungezählten Meldungen und Meinungen, darum, wie die Presse und die vielen Zuschauer die Welt auslegen, wobei Fred seine eigene Auslegung praktiziert. Der Text lebt von der Parallelität der Handlungen und der verschiedenen Ziele und Motive. Gerade die Brechung ist hier wichtig. Eine Auslegung der Welt ist nicht möglich, wird hier vom »Schicksal« bestraft.

Geranien vor dem Fenster … Peter Paul Wiplinger verrät und verrät doch nicht ihre Bedeutung.

 

Überraschend viele Künstlerinnen und Künstler haben Bilder zum Thema »Visionen« eingereicht, es fiel dieses Mal besonders schwer, die Auswahl zu treffen und ich habe mich dafür entschieden, mehrere, völlig unterschiedliche Kunstwerke zu zeigen. Nur Kai G. Kleins Text wird auch direkt von seinem Bild »sacralsoma« begleitet, alle anderen Bilder stehen für sich.

 


Ansgar Poloczek

Schwarzer Milan

 

15. Mai

Es ist spät geworden. Tiefe Nacht mitten in den Wäldern. Das Lager liegt in schwarzer Kältestarre, aus der wir es anscheinend nur kurz aufgeschreckt haben, als wir gegen elf Uhr endlich ankamen.

Wir fuhren ein sich verengendes Tal hoch, das von einem kleinen Bach durchzogen wurde. Auf der weiten, fast braunen Steppe, die sich zwischen den dunkelgrün bewaldeten Hügeln erstreckte, lagen in lockeren Grüppchen die strahlend weiß wirkenden Filzzelte eingestreut. Die bunt gescheckten Herden aus Schafen und Ziegen dazwischen sahen aus der Ferne wie eine Schicht von Laub auf trübem Wasser aus. Kleine Gruppen von Pferden suchten ängstlich unserer rumpelnd genommenen Straße zu entkommen.

Die Berge an den Seiten rückten immer enger zusammen, und irgendwann hatte uns der Wald verschluckt. Ein lichter Wald, mit viel Strauch und Krautwerk am Boden. Und schmale Taleinschnitte mit feuchtem Grund, wo das Grün dann beinahe sprudelnd wucherte. Die Birken und Lärchen noch vollkommen kahl vom Winter, verstärkten mit ihren weißen und grauen Stämmen den trockenen Eindruck noch.

Weil der Motor unseres Fahrzeugs sich überhitzt hatte, machten wir fast eine Stunde Pause auf einem Pass, wo die hiesigen Leute einen Haufen aus mit blauen Tüchern drapierten Steinen errichtet haben. Beschwörung von Geistern früher, Einladung zum Schnapsgelage heute.

Über den mir sehr kurz vorkommenden Abend brach die Nacht herein, und mit ihr die Kälte. Schnell war die ganze Landschaft in eisige Dunkelheit gehüllt, und Wald und Berg standen nur noch als schwarzer Schattenriss vor dem sterngesprenkelten Himmel.

Auch jetzt, wo ich aus dem holzgerahmten Fenster meines Kämmerchens gucke, sehe ich den funkelnden Himmel hinter Bäumen und dem spitzen Giebel des Schuppens hervorlugen. Ich glaube, ich habe noch nie so viele Sterne gesehen.

 

16. Mai

Wie eine Perlenkette reiht sich die Station am Flussufer auf. Fünf kleine Holzhäuschen insgesamt, dazu ein paar von den Filzzelten. Ich habe ein Zimmer im Dach des größeren Laborgebäudes bekommen, es ist ganz gemütlich. Der Fluss ist eiskalt und von extrem schneller Strömung. Am steinigen Ufer liegen große Eisblöcke als Überbleibsel des Winters. Es ist ein komisches Gefühl, bei heißem Wetter nur in Hemd und kurzen Hosen auf einem Eisblock zu stehen.

Der Professor machte mit mir einen kurzen Rundgang über die Station. Zeigte mir die drei Labors und die Küche, in der wir gestern Nacht schon eine Suppe gegessen hatten. Heute wollte ich mich erst mal ein wenig umsehen. Die Wälder sind noch kahl und grau, hier unten am Fluss sind es größtenteils Lärchen und Birken, die noch auf ihren Sommer warten, obwohl es tagsüber schon richtig warm ist. Der Boden des Waldes ist mit strohartigen Gräsern bedeckt, zwischen denen hin und wieder etwas Grün hindurchschimmert. Aber die Hauptfarbe dieses Waldes ist ein graues Beige, in dem unvermittelt ein strahlend rosafarbener Fleck steht. Ein blühender Busch wilder Rhododendron.

 

19. Mai

Ereignisreiche Tage. Versucht, Reiten zu lernen. Ich weiß nicht, ob ich es geschafft habe, aber ich fange an zu glauben, dass mir die ganze Zeit etwas gefehlt hat. Gestern über den Fluss und weit, weit das hintere Tal hinaufgeritten. Einige Kilometer flussaufwärts, ein Zusammenfluss zweier Flussläufe. Ein weites, noch unberührteres Tal als das unsrige.

Heute erste Flächen zur Probennahme angesehen. Es wird nicht leicht werden.

Seit Mittag schwebt ein Schwarzer Milan hier über dem Lager, als warte er darauf, dass etwas für ihn abfällt. Auch dies Lager ist wie eine kleine Stadt, uneingeladen hat sie sich hineingedrängt, ungewollt verändert sie das Gefüge der Wälder und ihrer Bewohner.

An den Müllkippen vor den Toren der ausufernden Hauptstadt kamen mir die Wolken von Milanen wie ein Haufen zerfledderter Krähen vor, hier in den Wiesen und Bergen muten ihre schön gezeichneten Flügel und ihre kantigen Schwänze majestätisch an und erinnern an mächtige Adler.

 

21. Mai

Eine seltsame Gruppe ist es, die sich hier zusammengefunden hat. S. ist eine Forscherin von uns, ungefähr so alt wie ich. Ich mag sie nicht und weiß nicht, ob ich hoffen soll, dass der Eindruck täuscht.

D. gehört auch zu uns. Nie gesehen vorher. Laut und rechthaberisch. Aber irgendwie lustig, auf seine Art.

Dann ist da noch T., ein dickliches, unscheinbares Mädchen, ziemlich jung und unbedarft.

Eine Gruppe Forscher von der Universität in der Hauptstadt ist hier, drei Doktoren oder so etwas und einige Studenten. Sie wirken nett, auch wenn es sehr schwer ist, sich mit ihnen zu verständigen.

 

25. Mai

Heute versucht, meine ersten Probengebiete festzulegen. Erst wenn man die Gegebenheiten vor Ort kennt, kann man einen richtigen Plan für die Arbeiten aufstellen. In den nächsten Tagen werde ich daran gehen, einen auszuarbeiten. Noch ist ja auch Zeit, trotz der hohen Temperaturen am Tage lässt der Sommer auf sich warten. Die Bäume sind noch komplett kahl, noch nicht einmal Knospen sind zu erkennen.

Das Reiten geht schon recht gut. Je mehr andere Pferde dabei sind, umso schwerer kann ich meins im Zaum halten.

 

27. Mai

Morgens lag Schnee. Gestern heißester Sonnenschein und heute Schnee. So ist das hier. Winterliche Hänge bei warmer Nachmittagssonne.

Noch immer erscheinen die Wälder kahl, die Bäume als triste Winterskelette. Ich sehne täglich den Beginn der Blüte herbei.

 

1. Juni

Regentage, grau, kühl und nass. So ganz allmählich werden die Birken grün, auf den Bergen ringsum erscheint ein matter Schimmer. Im Tal noch so gut wie nichts.

Gestern Abend saßen wir in der Küche zusammen und tranken. Ich bin so viel Wodka nicht gewohnt, und konnte am Ende nur noch schwankend gehen, was mir S. heute Morgen auch noch mal deutlich sagen musste. Sie denkt wohl, es wäre mir peinlich. In ihrer Gegenwart fühlt sich alles unangenehm an. Man hat scheu zu sein, wie man ist, ständig ist man bedroht von ihrem Spott. Selbst wenn sie lacht, ist es distanziert, beinahe bösartig. Vielleicht geht es aber auch nur mir so, D. versteht sich anscheinend recht gut mit ihr, was mich irgendwie wundert, und der Professor scheint sehr große Stücke auf sie zu halten.

Ein kleiner, untersetzter Mann von der hiesigen Universität, erzählte eine Geschichte: Es ging um die Familien, die hier zum Ende des Winters mit großen schweren Lastern in die Wälder fahren und dort die Früchte der Kiefern sammeln. Für mehrere Monate bleiben sie dann in ihren Lagern im Wald, bis sie genügend Kiefernnüsse gesammelt haben. Dann fahren sie zu Beginn des Sommers wieder aus den Bergen herunter, um sie auf den Märkten zu verkaufen. Vor einiger Zeit soll ein kleiner Junge aus einer solchen Familie hier in den Wäldern verschwunden sein. Sämtliches Suchen blieb ergebnislos. Zu weitläufig war das Gebiet, zu dicht der Wald. Wahrscheinlich ist er verhungert und seine Leiche wurde von Wölfen gefressen, die Knochen verstreut im moosigen Unterholz. Es gibt aber auch Berichte von Jägern, die beteuern, ihn gesehen zu haben. Wie ein Tier in der Wildnis hausend. Wie lange das her sei, wollte ich wissen, und wo der Junge angeblich gesehen wurde. Aber der kleine Dicke hat gelacht und sagte nur, das wären Geschichten.

3. Juni

Es regnet immer noch. Der Fluss ist so gewaltig gestiegen über Nacht, dass sich das Gebüsch am Ufer in einen Auwald verwandelt hat. Die Berghänge werden jetzt ganz allmählich grün.

 

9. Juni

Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, den heutigen Tag zu beschreiben. Ich weiß nicht, wie ich irgendwem davon erzählen soll, was sich vor wenigen Stunden zugetragen hat.

Ich war mit dem Pferd weit draußen, dort wo sich der nördliche Flussarm erneut aufteilt, an der Brückenruine vorbei, einen alten Fahrweg direkt am Berghang hochgeritten. Der Weg geht nach und nach in einen kleinen Pfad über, der wohl nur noch von Wildtieren genutzt wird. Ich überquerte den Fluss, der hier nur noch ein flacher Bach war, an einer seichten, sandigen Stelle und ritt eine Zeit lang über eine schmale, schotterige Flussinsel. Dann ritt ich ans andere Ufer. Der Weg war verschwunden. Manchmal glaubte ich erahnen zu können, dass hier einmal wenigstens ein Pfad gewesen sein muss, aber der Eindruck kann auch täuschen. An einer Lichtung band ich mein Pferd an, und schlug mich zu Fuß ein Stück am Ufer längs.

Und dann, hinter einer kleinen Biegung, wo viele kleine Kiesbänke im Bachbett liegen, sah ich ihn:

Ein nackter Junge, zehn, elf Jahre alt, höchstens. Er sprang im Wasser herum, dass die Kiesel fast rhythmisch knirschten. Es war eine Art Tanz, ein Spiel, das er mit sich selber spielte. Am Rande einer Kiesbank hatte er einen kleinen Haufen aus Steinen aufgeschüttet, und kleine Birken- und Erlenzweige mit frischen Blättern hineingesteckt. Ich glaubte, auch Federn zu erkennen. Und er sprang um sein Kunstwerk herum, ging in die Hocke und hüpfte dann hoch, dass das Wasser spritzte und die Steinchen knirschten.

Fasziniert von dem sich bietenden Schauspiel starrte ich das Kind an. Seine Haut war von einem Farbton, der weniger dem goldigen Braun der wettergegerbten Menschen vom Lande entsprach, als vielmehr der des lehmigen Sandes, der an der Uferböschung hervorlugte. Auch sein Haar hatte die stechende Schwärze, die es mal gehabt haben musste, längst verloren, und wirkte wie die Borke von alten Kiefern.

Ich weiß nicht, wie lange ich dastand, direkt am Ufer zwischen niedrigen Birken, und auf die kleine Gestalt starrte, die so sehr ein Geschöpf dieser Wildnis war. Es war, als beobachtete ich ein seltenes Tier.

Ich hatte auf nichts anderes geachtet, ich hatte mich nicht versteckt. Ich stand in der sinkenden Nachmittagssonne wie ein Pfahl am Ufer.

Und dann sah er mich. Seine Bewegungen froren ein, in gebückter Haltung blieb er und starrte mich an. Ich weiß nicht, wie sein Gesicht aussah, ich habe es vergessen oder wahrscheinlich nie gewusst. Alles, was ich noch weiß ist, dass ich erschrocken bin, dass ich so sehr erschrak, wie ich es noch nie zuvor gefühlt habe. Nachdem sein Blick mich getroffen hatte, war mein erster Gedanke die Flucht. Ich drehte mich um, sprang durch das Buschwerk und fiel. Der Schmerz in meinem Knie war so stark, dass er mich beruhigte. Ich atmete tief und rieb meine Glieder. Ich war nicht weit gekommen. Noch immer ängstlich sah ich mich um. Ich erklomm die kleine Anhöhe, über die ich gestolpert war und blickte auf den Bach. Der Junge war verschwunden.

Im ersten Augenblick war ich erleichtert, dass ich ihn nicht mehr sehen musste, aber dann betrachtete ich den Wald und die dichten Büsche um mich herum, und ich wusste, dass er überall sein konnte. Und die Angst, die mich jetzt ergriff, da ich ihn nicht mehr sah, war schlimmer als diejenige, die sein direkter Blick ausgelöst hatte. Es war die Angst des Beobachteten, die Angst des Kaninchens vor dem Fuchs.

Ich rannte. Ich schlug mich durch dorniges Gestrüpp, sprang über halb zersetzte Baumstämme, patschte mit meinen Füßen direkt in Morast. Ich hatte Angst um das Pferd, Angst, die Lichtung nicht wiederzufinden, Angst, allein bleiben zu müssen in diesen Wäldern, an diesem Bach.

Ich fand die Lichtung. Mein Pferd hob den Kopf und sah mich kauend an. Ich glaube, ich war so glücklich, dass ich es auf die warme Blässe küsste. Dann machte ich es los und schwang mich in den Sattel. Ich wusste, dass es hier mitten im Wald nicht schnell laufen konnte, aber jetzt war es unerträglich langsam. Erst als wir den Bach überquerten und auf den kleinen Pfad kamen, konnte ich es in Trab bringen. Mit Erreichen des Fahrwegs rannten wir. Der ungestüme Drang von Pferden, nach Hause zu kommen, erfüllte mich mit so großer Erleichterung, dass ich sie beinahe laut in den mir entgegenpeitschenden Wind geschrien hätte.

Obwohl wir ins Lager hineingaloppierten und mein Pferd schweißnass war, sattelte ich sofort ab, führte es zur Tränke an den Fluss und stellte es zum Grasen in das lichte Birkenwäldchen. Dann legte ich mich auf meine Pritsche, wo ich Ewigkeiten still verharrte. Erst jetzt, Stunden später, kann ich das Erlebte so zusammenfassen, dass ich es hier aufschreiben kann.

 

12. Juni

Heute lange mit dem Professor zusammengesessen. Er wollte mit mir über die grundlegende Konzeption meiner Arbeit sprechen. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, meine Nervosität und meine Unkonzentriertheit zu verbergen. Ich traue mich seit zwei Tagen nicht aus dem Lager heraus. S. fragte mich heute Morgen beim Frühstück, ob mir mein Urlaub gefalle. Ich sagte ja, solange es nicht regne. Was soll man antworten? Sie weiß, dass sie die Überlegene ist, in allen Bereichen, und das spielt sie aus. Eine lächerlich durchschaubare Haltung, und es ist verwunderlich, dass sich niemand daran zu stören scheint.

 

13. Juni

Heute Nacht schien es mir, als hätte ich Geräusche gehört. Auf den knarrenden Bohlen der Veranda. Aber nur kurz, dann blieb alles still.

 

17. Juni

In den letzten Tagen häufig mit D. ausgeritten, hoch in die Berge. Atemberaubend schöne Panoramen, wenn der Wald sich manchmal ein klein wenig lichtet. Teilweise gibt es sogar großflächige Wiesen, die von lange zurückliegenden Holzeinschlägen herrühren.

Bei meinen Ausflügen mit D. habe ich mich gefragt, ob unser Verhältnis nicht eine geradezu klassische Beziehung zum gegenseitigen Vorteil ist. Ich bin der Einzige, der sich seine Tiraden geduldig anhört und er ist für mich derjenige, demgegenüber ich mich für nichts rechtfertigen muss. Seine arrogante Art gefällt mir. Ich glaube, sie beruhigt mich irgendwie. Er scheint die Dinge nicht ernst zu nehmen. Nicht die Station, nicht seine Arbeit, nicht den Professor, ich glaube, eigentlich niemanden. Das finde ich angenehmer und ehrlicher, als die Verbissenheit, die ich bei S. auszumachen glaube. Ich habe D. einmal vorsichtig nach seiner Meinung zu ihr gefragt, er sagt nur, dass sie ihre Arbeit sehr gut machen würde. Ich habe heute überlegt, ob ich ihm von meiner Begegnung erzählen soll, aber letztendlich fehlte mir der Mut dazu. Ich kann seine Reaktion nicht einschätzen. Letztlich ist es wohl einfach die Angst, einen Verbündeten zu verlieren.

 

21. Juni

Schlecht geschlafen heute, deshalb habe ich mich nach dem Frühstück noch mal hingelegt. Bin erst mittags wieder aufgewacht.

In der heutigen Nacht bin ich immer wieder wach geworden, fünf oder sechs Mal, und habe dann immer noch lange gelegen, ohne wieder einschlafen zu können. Zuerst meinte ich etwas auf der Treppe zu hören, dann sogar Schritte auf dem kleinen hölzernen Balkon. Dann blieb es still, und ich fand irgendwie in den Schlaf zurück, bis ich wieder hochfuhr, als ein kratzendes oder scharrendes Geräusch von draußen zu kommen schien. War es auf der Veranda, oder schon auf der Treppe? Es könnte auch ein Tier sein? Aber welches Tier kratzt und scharrt nachts an Häusern herum? Ein Marder? Noch später schien es, als ob jemand vorsichtig an das Laborfenster klopfen würde, direkt unterhalb von meinem kleinen Fenster. Ein leises, vorsichtiges Pochen, als würde man das Material prüfen wollen. Ich blickte hinaus, aber da war nur Schwärze.

Der Mann, der die Geschichte von dem verschollenen Jungen erzählt hat, ist längst wieder gefahren. Ich hätte ihn heute gerne gefragt, ob er sich zumindest vorstellen könne, dass ein Kind so lange in den Wäldern überlebt.

Gerade hat sich S. zu mir an den Tisch gesetzt, wo ich nach dem Mittagessen geschrieben habe. Einen Becher Tee hat sie getrunken und unvermittelt angefangen zu erzählen, wie gut man hier schlafen könne und wie gemütlich die dicken Filzdecken doch seien. Natürlich nur, um mir zu zeigen, dass sie mitbekommen hat, dass ich den ganzen Vormittag verschlafen habe. Ich hasse diese Frau! Jetzt ist sie zum Professor gegangen. Arbeitsbesprechung, oder was weiß ich. Es soll mich wirklich nicht bekümmern, es muss mir einfach egal sein.

 

1. Juli

Ich bin erstaunlich ruhig. Ich habe keine Angst, ich weiß nicht, ob ich blass bin, aber ich zittere nicht. Zumindest nicht mehr.

Heute Morgen, ich habe es geschafft, früh aufzustehen, bin ich gleich nach dem Frühstück losgeritten. Die Arbeit kam nur mäßig voran. Aber ich habe wenigstens etwas getan. Und die Leute im Lager haben gesehen, dass ich etwas getan habe.

Das Lager schien leer zu sein, als ich am Nachmittag zurückkehrte. Die Küche war verschlossen und auch im Labor war niemand. D. ist seit Tagen in den Wäldern, wird erst morgen oder übermorgen zurückerwartet. Die Studenten von der hiesigen Uni lagen entweder in ihren Zimmern oder waren unterwegs. Am Tisch saß niemand und auch am Fluss konnte ich keinen sehen.