Wolf Welling

DIE WÄCHTERIN

 

 

AndroSF 75

 


Wolf Welling

DIE WÄCHTERIN

 

AndroSF 75

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Februar 2018

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Sandra del Pilar

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 123 5

 


1

 

 

 

Sie war ins Wisu-Tal geflogen, denn dort wuchsen in besten Lagen auch einige seltene Pflanzen und Kräuter. Mit wenigen Flügelschlägen war sie meist schwebend, die sanfte Thermik des Planeten nutzend, über die trostlose Landschaft geglitten. Die violette Sonne hatte die Geröllflächen und die wenigen Erhebungen in ein gespenstisches Licht getaucht. Ab und zu ließ sie den Blick ihrer geschützten Augen nach rechts und links wandern, obwohl diese Ödnis überall gleich aussah. Auch nach den Jahrzehnten, die sie auf diesem Planeten verbracht hatte, konnte sie dieser Landschaft nichts Faszinierendes, nichts Ästhetisches abgewinnen. Sie war und blieb überwiegend hässlich.

Dass sie während ihres Fluges ihren Blick von Zeit zu Zeit schweifen ließ, hatte nichts damit zu tun, dass sie rechtzeitig Gefahren ausmachen wollte. Auf diesem Planeten gab es kein außermenschliches Leben, und es gab nur ein menschliches Lebewesen – und das war sie: Ayra, freiwillige Wächterin auf X-915-B für dreißig Jahre. Dass sie also während ihres Fluges gelegentlich hin und her sah und nicht nur nach unten, war nichts anderes als ein angeborener Reflex.

Nachdem sie ihr Ziel erreicht hatte, war sie geschickt auf einer ebenen Fläche gelandet und hatte danach alles Mögliche des spärlichen Grünzeugs eingesammelt. Inzwischen hatte sie Fantasienamen für einzelne Pflanzen erfunden, da die Flora dieses Planeten völlig unerforscht war. Sie hatte sie auf Holobildern festgehalten, klassifiziert, benannt und dokumentiert und war stolz auf ihre Pionierleistung. Es war so ungefähr das Einzige, auf das sie hier in ihrer Funktion stolz sein konnte, denn die physikalische Zusammensetzung des Planeten war nicht überraschend gewesen, und wertvolle Rohstoffe oder Mineralien, die den Abbau lohnten, waren auch nicht entdeckt worden. Blieben also die wenigen Pflanzen. Die KÜCHE würde einiges davon gebrauchen können und eventuell Giftiges aussortieren oder umwandeln.

Sie hatte den Sammelbeutel verschlossen und sich auf den Heimflug gemacht. Es war Zeit geworden, weil die Sonne sich dem Horizont genähert hatte. Das SCHLOSS war zwar außen nachts erleuchtet, aber sie flog ungern im Dunkeln (unbewusste Ängste vor etwas Unbekanntem?). Die wenigen Erhebungen, die sie überflogen hatte, warfen schon lange Schatten in das flache Gelände wie schwarze Tuchstreifen über eine Landschaftsleiche. Es dämmerte bereits, als sie das SCHLOSS auf der Anhöhe erreicht hatte.

Sie richtete sich in ihrem Flug auf und schwebte – majestätisch, wie sie fand – auf die Start-und-Lande-Brüstung des SCHLOSSes zu und setzte sanft auf. Langsam faltete sie ihre Flügel zusammen, reckte sich und tippte den Zahlencode in das Nummernfeld neben dem Eingang. Ihr war das schon immer widersinnig vorgekommen, den Zugang zum SCHLOSS mit einem Code zu sichern, denn wer außer ihr konnte hier schon ein- und ausgehen?

Manchmal, um der Langeweile einen Streich zu spielen, stellte sie sich vor, sie würde bei ihrer Ankunft jemanden im SCHLOSS besuchen. Eine fürstlich gekleidete Gestalt in stolzer Haltung würde ihr öffnen, ein freundliches Gesicht würde bei ihrem Anblick aufleuchten, er würde die Arme weit auseinander strecken und sie glückstrahlend umfangen, nach innen geleiten zu einer üppig gedeckten Tafel mit Hunderten Kerzen, die den Raum erhellten. Der Galan würde sie sanft küssen, ihr einen der beiden herrschaftlichen Stühle anbieten und ihr gegenüber Platz nehmen, ihr tief in die Augen schauen und ihre Hand streicheln. Sie würde ein weites weißes, seidenes Spitzenkleid mit einem tiefen Ausschnitt und blanken Schultern tragen. Bedienstete huschten um sie herum und trugen erlesene Speisen auf …

 

Diesmal jedoch war etwas anders, und ihre Wunschvorstellungen und Gedankenspiele zerplatzten wie eine Seifenblase. Das Zugangstor entmaterialisierte sich nicht, alles blieb unverändert. Verblüfft sah sie erst auf ihre Hand, dann auf das Tastenfeld und tippte wieder die fünfstellige Zahl ein. Keine Reaktion. Sie versuchte es ein drittes Mal, wieder ohne Ergebnis.

Jetzt wurde sie nervös. Ihr Blick löste sich vom Ziffernfeld, und sie sah auf den milchig-weißen Eingang. Hinter ihm konnte sie schemenhaft mehrere der Putten ausmachen, die auf und ab hüpften, übereinander kraxelten, herunter purzelten, sich wieder stapelten. Einige stießen mit obszönen Bewegungen ihren Unterleib gegen die Scheibe. Sie sah, wie sich ihre Münder bewegten, als riefen sie stumme Schreie der Wut und der Häme aus. Einige drohten mit ihren kleinen Fäustchen nach ihr. All dies geschah in schneller Abfolge wie in einem überdrehten Film, der mit doppelter Geschwindigkeit ablief.

Sie erstarrte und blickte zunehmend ratlos auf das Geschehen. Die Nacht brach herein und mit ihr breitete sich beißende Kälte aus. Durch ihren Anzug war sie am Körper zwar gut geschützt, Gesicht und Hände aber waren diesen Temperaturen weitgehend schutzlos ausgeliefert. Sie wandte sich von dem aufkommenden heftigen Wind ab und beobachtete weiter das lebhafte Gewusel hinter der Milchglasscheibe.

Was sollte sie tun? Es war nicht vorgesehen, dass ein Wächter starb, es gab Notfallpläne. Es durfte nicht ihr passieren, dass die Kontrollen stoppten, dass die Aufzeichnungen nicht weitergeführt wurden, dass die zahlreichen Messergebnisse über Bewegungen, Vegetationsveränderungen, Temperaturschwankungen, Windrichtungen und -stärken, Luftfeuchtigkeit und so weiter nicht gespeichert und weitergeleitet wurden. Sicher würde ein Großteil der Daten auch ohne sie automatisch aufgezeichnet und festgehalten werden, sie würden aber nicht von ihr autorisiert werden. Über kurz oder lang würde es ein Datenchaos geben.

Sie gab erneut und zunehmend verzweifelt die Ziffernkombination ein, wieder ohne Resultat. Konnte sie sie in einem Anfall von Amnesie verwechselt haben? Das hämische Treiben hinter der Scheibe ließ sie aber vermuten, dass sie schon die richtigen Zahlen in der richtigen Reihenfolge eingegeben hatte, dass der Zugangscode aber manipuliert worden war. Das konnten diese halbintelligenten Wesen da drin, deren IQ bewusst niedrig gehalten worden war, eigentlich nicht bewerkstelligt haben.

Egal wie oder was, die Ursache für dieses Phänomen, das Blockieren der Türöffnung, war im Augenblick irrelevant. Sie musste die jetzige Notsituation bewältigen, denn sie würde die Nacht hier draußen nicht überleben. Sie kauerte sich unwillkürlich zusammen, um sich besser vor der zunehmenden Kälte zu schützen.

Denk nach!, befahl ihr Inner-Ich.

Tue ich doch, antwortete sie.

Versuche dich zu erinnern! Ich helfe dir.

Gemeinsam suchten sie ihr Unterbewusstsein nach dem vor Jahrzehnten erlernten Programm für Notfälle durch. Ayra lenkte ihren Blick auf den Tastenblock neben der Tür. Unterhalb des Feldes, das aus drei mal drei leicht erhabenen Tasten bestand, war mittig eine weitere Taste ohne Bezeichnung. Und da fiel es ihr ein: Es gab die Möglichkeit, mithilfe des Daumenabdrucks die bestehende Ziffernkombination zu löschen und eine neue einzuprogrammieren. Das war bisher natürlich nicht nötig gewesen, und daher war beiden diese Lösung nicht auf Anhieb eingefallen.

Zitternd vor Kälte stand Ayra auf und drückte ihren Daumen auf das Feld. Es leuchtete zwar schwach auf, begann dann aber rot zu pulsieren, und nichts weiter geschah.

Jetzt erfasste sie langsam Panik. Sie stieß einen Wutschrei aus und begann laut zu fluchen. Mit beiden Fäusten schlug sie auf das trüb leuchtende Eingangstor ein, mit dem einzigen Effekt, dass noch mehr Puttengesichter sich grinsend an die Scheibe pressten. Die Bewegungen hinter der Milchglasscheibe nahmen zu. Inzwischen schienen sich alle zwölf Putten hinter ihr versammelt zu haben, sie purzelten immer wilder übereinander und schnitten hämische Grimassen.

Bleib ruhig und denk erneut nach!, empfahl ihr Zweit-Ich.

Ihr fiel ein, dass sie vielleicht den falschen Daumen für ihren Versuch genommen hatte. Sie trat wieder seitlich vor das Ziffernfeld und hielt diesmal ihren linken Daumen auf die unbeschriftete Taste. Sie leuchtete grün auf und ein Banddisplay öffnete sich unterhalb des Feldes:

– Zum Löschen des bestehenden Codes Finger lösen und erneut auf die Taste legen.

Sie zog den Daumen zurück und presste ihn wieder auf die Taste.

– Alter Code gelöscht. Bitte neue Ziffernfolge mit fünf Ziffern eingeben.

Verfluchter Kasten, dachte sie, mach’ endlich voran! Ich erfriere hier! Sie gab ohne nachzudenken fünfmal die eins ein. Auf dem Display erschien:

– Ungültige Zeichenfolge. Es müssen fünf unterschiedliche Zahlen in nicht-direkter Reihenfolge eingegeben werden.

Sie schrie auf vor Wut und gab ihr Geburtsdatum ein: 70643.

– Zum Speichern Ziffern erneut eingeben, mahnte das Display.

Mit zitternden Fingern gab sie erneut die Zahlenfolge ein.

– Neuer Zugangscode gespeichert.

– Jetzt öffnen: 1 drücken. Andererseits …

Sie las nicht weiter, sondern drückte die 1.

Langsam begann die Tür, sich zu entmaterialisieren. Die Putten erstarrten und stoben dann in alle Richtungen davon. Mit vor Kälte steif gewordenen Gliedern stakste Ayra vorwärts und ließ sich von der im SCHLOSS gewohnten Wärme umschmeicheln. Lautlos verriegelte sich der Eingang hinter ihr.

Sie stand eine Zeit lang still und begann dann, sich langsam aus dem Schutzanzug zu pellen. Die Sensoren des SCHLOSSes hatten offensichtlich ihre Unterkühlung registriert und die Raumtemperatur bereits deutlich erhöht. Sie ging durch die zentrale Halle zunächst zur KÜCHE, um die Pflanzen in den dafür vorgesehenen Container zu geben. Dann stieg sie die Treppe hinauf zu ihrem Privatbereich, öffnete die Tür mit einem Augenscan, verschloss sie und aktivierte zusätzlich die Verriegelung. Sie ging ins Bad, entledigte sich ihrer Kleidung und befahl der WANNE, warmes Wasser einzulassen.

Von den Putten war nichts zu sehen gewesen.

 


2

 

 

 

Ich muss jetzt ernsthaft damit beginnen, meine Erinnerungen festzuhalten.

Welche Erinnerungen?, wollte mein Inner-Ich wissen.

Die von meinen Erlebnissen auf der Erde. Ich bin jetzt drei Jahre weg und harre hier in einer Art Selbstverbannung auf dem Planeten X-915-B aus. Als Wächterin. Auf einem kargen Wüstenplaneten, den ich Planet Scheiße getauft habe. Und aus den drei Jahren sollen insgesamt dreißig werden, denn das ist der Zeitraum, für den ich mich vertraglich gebunden habe. Und da ist nichts mit vorzeitiger Kündigung. Das würde nichts bringen, denn keiner kommt hier vorbei, um mich abzuholen. Ich muss es durchstehen, ich muss es aushalten. Besser denke ich nicht an die Zukunft.

Warum willst du Erinnerungen festhalten?

Weil ich hier nichts habe. Keine Menschen, keine Erlebnisse, keine Entdeckungen, keine schönen Landschaften, keine Tiere, keine Aufregungen. Und Erinnerungen drohen zu verblassen. Oder sich zu verändern. Und das will ich nicht. Solange meine Erinnerungen an die Erde noch abrufbar sind, will ich sie ab heute dokumentieren. Sie sind ein Stück von mir, sie sind meine Biografie, oder zumindest ein Teil davon. Sie sind mein Ich.

Für wen willst du deine Erinnerungen festhalten?

Für mich, Ayra! Allein für mich! Mit den zunehmenden Jahrzehnten verliere ich mich vielleicht. An meinen aufgezeichneten Erinnerungen kann ich mich festhalten, sie sind ein Stück Selbstidentität, ich kann mich durch sie meiner vergewissern. Und weil Erinnerungen flüchtig sind, geschmeidig und flexibel, will ich sie durch die Aufzeichnungen zu etwas Starrem machen, zu etwas Unveränderbarem, zu Fixpunkten in meinem fragilen Gedächtnis.

Ist das allein der Grund, warum du deine Erd-Erinnerungen niederschreiben willst?

Ich zögere bei der akustischen Aufzeichnung. Dieser innere Dialog enthüllt mehr, als ich will. Ich muss unterscheiden zwischen den schönen Erinnerungen und den Gründen, warum ich hier bin. Ich werde natürlich nicht drum herum kommen, auch über Miriana und meine schreckliche Firma schreiben zu müssen. Vor beiden bin ich geflohen. Das ist der Grund, warum ich meine Gedanken an die Vergangenheit auf der Erde festhalten will: die Bewältigung meines Traumas, die Heilung meiner verletzten Seele, die Hoffnung auf Erlösung. Naja, das letzte klingt jetzt etwas melodramatisch, aber manchmal neige ich halt zu Übertreibungen, zu Selbstmitleid und zu großen Gesten. Schließlich bin ich ja so etwas wie ein Engel. Da kann ich es mir gelegentlich leisten, sentimental und großspurig zu sein.

Willst du nur deine Erinnerungen auf der Erde festhalten?

Ja, ich will nur meine Erlebnisse in der Vergangenheit auf dem Planeten Erde dokumentieren. Ich werde nichts über mein Aufenthalt hier auf Planet Scheiße festhalten. Da gibt es nichts festzuhalten. Das heißt, es gibt Daten zu erfassen, zu registrieren, zu dokumentieren und zu kommentieren. Das ist alles. Und das machen die Geräte und ich, indem ich sie mit Daten füttere und sie auswerte. Da gibt es nichts zu erinnern, ich lebe in einer erinnerungsunwerten Zeit und einem ereignisschwachen Raum. Nein, allein die Erde soll meine Gedankenwelt sein, wenn ich meine Erinnerungen abspeichere. Hier speichern Maschinen, was geschieht. Für diese Funktion bin ich nicht vorgesehen, ich soll lediglich überwachen.

Schließlich bin ich die Wächterin. Die einzige auf diesem Planeten.

Warum fängst du erst jetzt an, deine Erinnerungen niederzulegen? Warum erst jetzt, nach drei Jahren?

Nun, es gibt hier viel zu tun. Alles in Gang halten, ständig Informationen überprüfen, Daten kontrollieren, Aufzeichnungen evaluieren, Protokolle diktieren, die Aktivitäten des SCHLOSSes im Auge behalten. Ich habe keine Langeweile. Und wenn sich welche einstellen sollte, habe ich haufenweise Möglichkeiten, mich zu zerstreuen: die Putten, Robert, Sport, Holofilme und -spiele, Ausflüge.

Nein, mir wird es nie langweilig.

Wenn du anfängst, etwas festzuhalten, brauchst du Zeit.

Okay, die hätte ich zur Genüge gehabt, und vielleicht waren meine ganze Geschäftigkeit und meine Zerstreuungen ein Füllen leerer Zeit, in der ich meine Erinnerungen hätte dokumentieren können. Zugegeben, ich wollte erst zeitlichen Abstand haben, bevor ich mit der Niederschrift beginne. Vielleicht habe ich auch Angst vor einigen Erinnerungen. Angst, den Dämonen der Vergangenheit erneut begegnen zu müssen.

Über das Hier und Jetzt auf diesem Planeten will ich nichts mitteilen. Was ich dokumentieren will, ist nur meine Vergangenheit, nur die Zeit, bis ich hier landete. Diese Vergangenheit will ich bewältigen, ihr will ich mich stellen. Vielleicht kann dieses Niederschreiben meine Wunden heilen, die Wunden, die mir Miriana und meine Firma zugefügt haben. Das Schreiben soll eine Art Katharsis für mich sein, meine Seele reinigen und mir einen Neubeginn ohne sie ermöglichen.

Naja, einen Anfang hast du ja schon mal gemacht! Gratuliere!

 


3

 

 

 

Ayra lag bewegungslos im angenehm temperierten Schaumbad der Wanne und überlegte. Wie war die elektronische Blockade des Zugangs zum SCHLOSS möglich gewesen? Sicher, das Gebäude war über zweihundert Jahre Erdzeit alt, aber es hatte bislang keine Störungen gegeben, alles hatte immer bestens funktioniert. Natürlich ging alles irgendwann mal kaputt, auch wenn es für die Ewigkeit gemacht schien. Aber in diesem Fall war ja nichts kaputt gegangen, sondern der Zugangscode hatte sich verändert oder war verändert worden. Es könnte sein, dass sich dieser Code alle Jahrzehnte oder nach einem Zufallsprinzip von selbst auf null setzt und neu einprogrammiert werden muss. Dagegen sprach allerdings das auffällige Verhalten der Putten. Sie hatten hämisch hinter der Milchglasscheibe gelauert, als ob sie wüssten, was geschehen würde, und sie hatten sich diebisch gefreut, als sie sahen, dass sie das SCHLOSS nicht betreten konnte.

Nachdenklich betrachtete sie den langsam zerfallenden Schaum über dem Wasser und zog Parallelen zur Entropie des Universums. Ja, so wie sich der Badeschaum auflöste, zersetzt sich das Weltall mit der Zeit, dachte sie.

Du wolltest über die Putten nachdenken, erinnerte sie ihr Innerchen. So nannte sie die Stimme aus ihrem Tiefenbewusstsein, mit dem sie auf diese Weise kommunizieren konnte. Was nicht immer leicht war, und manchmal auch nervig. Aber ihr sprachbegabtes Inner-Ich war ihr nicht feindselig gesonnen, sie konkurrierten nicht miteinander. Innerchen unterstützte sie, eher behutsam als aufdringlich, weil es wusste, dass Ayra dickköpfig und stur sein konnte, und so war es eher vorsichtig und zurückhaltend. Allzu häufige und drängende Einmischung in Ayras Gedankengänge im präfrontalen Kortex hätten diese abgelenkt und nervös gemacht.

Diese kleinen, pummeligen Geschöpfe waren eindeutig zu dumm, um in die elektronische Steuerung des SCHLOSSes einzugreifen und seine Programme zu verändern. Oder hatte eines von ihnen eine höhere Stufe der Intelligenz erklommen, ohne dass sie es bemerkt hatte? Das kam ihr allerdings unwahrscheinlich vor.

Es gab natürlich noch einen weiteren Bewohner im SCHLOSS: Robbie, ihren Androiden. Der war aber auch nicht besonders intelligent und völlig unfähig, so komplexe Arbeiten wie eine Umprogrammierung von schlossspezifischen Funktionen vorzunehmen.

Blieb noch das SCHLOSS selbst. Aber warum sollte es sie behindern, es zu betreten? Selbst wenn man es als ein einheitliches Gesamtsystem betrachtete, das sein Handeln integrativ abstimmte, blieben die Motive, ihr den Zugang zu verweigern, völlig unklar. Und wenn es sie wirklich draußen hätte sterben lassen wollen, hätte es auch die Neuprogrammierung des Türzugangs verhindert.

 

Ayra aktivierte die Zentrale Steuerungseinheit ZSE mit den Worten: »Glöckchen, komm her!«

Sofort kam das kleine niedliche Geschöpf angeflogen. Es sah aus wie ein Mädchen im Teenageralter, war aber kleiner als eine menschliche Hand. Es hatte die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und war mit einem hellgrünen einteiligen Badeanzug bekleidet. Auf seinem Rücken schwirrten Libellenflügel. Es war einer Figur aus einem uralten Zeichentrickfilm nachgebildet, der Peter Pan hieß. Die Inkarnation der ZSE hieß im Film Glöckchen oder so und hatte einen etwas drolligen Charakter. Die zentrale Software des SCHLOSSes so zu formen, war auch noch ein Gag des ersten Wächters gewesen; sie hatte darauf verzichtet, eine andere Form zu wählen und hatte Glöckchen übernommen.

»Hallo, Ayra. Was kann ich für dich tun?«, fragte das Geschöpf mit heller Stimme.

»Hast du den Zugang zum Schloss umprogrammiert?«

»Welchen Schlosszugang meinst du? Es gibt mehrere.«

»Ich verlasse und betrete das Schloss nur durch einen einzigen Zugang, das weißt du!«

Glöckchen verschränkte die kleinen Ärmchen trotzig vor ihrer Brust. »Ja, das weiß ich. Aber aus deiner Frage war nicht erkennbar, ob du diesen Zugang meintest oder einen anderen.«

Die semantischen Haarspaltereien der ZSE gingen ihr manchmal auf den Nerv. »Okay, dann präziser: Hast du heute während meiner Abwesenheit den Code für den Eingang, den ich üblicherweise für den Zutritt zu diesem Gebäude benutze, geändert?«

»Nein.«

»Wurde er durch andere verändert?«

»Ja, es gab zwei Änderungen. Um 16:47 Uhr wurde er auf Reset geschaltet, und um 19:36 Uhr wurde ein neuer Programmcode mit der Nummer 70643 generiert.«

»Wer hat den ersten Reset veranlasst?«, fragte Ayra erstaunt.

»Er wurde extern bewirkt. Ich kann nicht nachvollziehen, welche Kräfte ihn verursacht haben.«

»Du kannst was nicht? Da wird eine zentrale Funktion im Getriebe dieses Schlosses verändert, und du weißt nicht, wie?«

»So ist es«, bestätigte die ZSE und machte ein schuldbewusstes Gesicht.

Ayra schlug verärgert mit beiden Handflächen auf die Wasseroberfläche. Das merkwürdige Geschehen lenkte doch wieder den Verdacht auf die Putten als Urheber der Türblockade. »Glöckchen, verschwinde!«, befahl sie barsch, und die Software sauste davon.

 

Zugegeben, diese Putten wurden langsam zur Plage. Sie hatten sich mit den Jahren im Wesen verändert. Anfangs waren sie zutraulich und schmusig gewesen, so hatte sie sie ja auch haben wollen. Aber mit jeder Generation wurden sie distanzierter, abweisender und widerborstiger. Ihr Charakter hatte sich gewandelt. Sie kannte die Gründe nicht, sie konnte sie nicht ändern. Ihren Versuchen, sie zu erwischen und durch Schläge oder Tritte zu bestrafen, wichen sie geschickt und wendig aus. Vielleicht war sie selbst vor fast dreißig Jahren schneller gewesen und hätte einige erwischt, um ihnen eine Lektion zu erteilen, und sei es nur zur Abschreckung für die anderen.

Inzwischen benahmen sie sich völlig chaotisch. Sie urinierten und koteten, wo es ihnen gefiel. (Gut, das war nicht so schlimm, weil die Reinigungsminiroboter sofort wieder für Sauberkeit sorgten; es störte sie aber trotzdem, das gehörte sich einfach nicht.) Sie zu erziehen, war vergebliche Müh, wie sie hatte erfahren müssen. Nur gut, dass sie damals darauf bestanden hatte, sie fast stumm zu lassen, das dauernde Geschnatter hätte sie nicht ertragen. Es war ihr Wunsch gewesen, diese geklonten Geschöpfe zur Gesellschaft zu haben. Zwölf an der Zahl, geschlechtslos und fast stumm. Das war ihr wichtig gewesen.

Sie hatten schon vor geraumer Zeit angefangen, ihr Streiche zu spielen, Dinge zu verstecken, Vasen umzuwerfen, Gemälde zu beschmieren, Abflüsse zu verstopfen, gegen Scheiben zu pinkeln, ihre Unterlagen durcheinanderzubringen, Knöpfe an technischen Geräten nach Gutdünken zu drücken, oder an den Kronleuchter und den lang herunterhängenden Gardinen zu schaukeln. Mit der Zeit waren sie immer boshafter geworden. Sie hatte sich angewöhnt, zumindest ihren Privatbereich mit dem Schlafgemach und dem zugehörigen Bad abzuschließen, damit sie vom Schabernack der Putten verschont blieb.

In drei Monaten sollte ihre Ablösung mit neuen Vorräten und ihrem Nachfolger oder ihrer Nachfolgerin kommen. Mal sehen, ob sie die Putten übernehmen würde. Sie könnte ja versuchen, sie in höchsten Tönen zu loben und sie ihr aufzuschwatzen. Sollte sich doch jemand anderes mit diesem Gesindel herumärgern, dachte sie.

Ganz schön gemein, warf Innerchen ein.

Ja, sie hatte sie zu hassen begonnen, und sehr wahrscheinlich spürten sie ihren Hass und erwiderten ihn auf ihre Weise, obwohl Ayra das trotz ihrer teleempathischen Fähigkeiten nicht wahrnahm. Sie bevölkerten inzwischen alle Räume und Gänge des SCHLOSSes und drängelten sich überall herum. Sie wurden richtig lästig. Immer öfter zog sie sich zum Musikhören oder Holofilme-Sehen oder 3-D-Spiele-Spielen in ihren Wohnbereich zurück, wo sie unbehelligt von diesem Gesocks war.

Undenkbar, was geschehen würde, wenn es den Putten gelänge, dort einzudringen.

 

Sie verließ das Bad, ließ sich durch den lauwarmen Luftstrom trocknen und zog sich in einen lockeren Kimono über. Sie betrat ihr Wohnzimmer, wie sie es nannte. Der Privatbereich war zwar schon von ihren Vorgängerinnen und Vorgängern gestaltet und bewohnt worden, sie hatte ihn aber nach ihren persönlichen Vorstellungen ändern können. Dabei hatte sie sich aus nostalgischen Gründen an ihrem Wohnmodul auf der Erde orientiert und es ähnlich eingerichtet. Ein großer massiver Tisch in der Mitte, an dem sie arbeitete und ihre Mahlzeiten einnahm. Zwei bequeme Sessel, einer nahe der bodentiefen Glasscheibe, die ihr den Ausblick auf diesen Planeten bot, der andere mit Blick auf die Hololeinwand, um 3-D-Filme zu betrachten. Das Zimmer war mit einigen Erinnerungsstücken ausgestattet. Einige Bilderrahmen, die auf ihren Schirmen je nach ihrer Stimmung unterschiedliche Bildsequenzen boten, zierten die hellgrau getünchten Wände. Im hinteren Teil befand sich der Hobbyraum für ihre Actiontrainings und eine Nische, in der der Android Robbie auf Befehle wartete.

Sie ging zu ihrem Lieblingssessel und blickte versonnen auf die unter ihr liegende Wüstenlandschaft, die jetzt trotz der Dunkelheit in ein schwaches, schemenhaftes Licht getaucht war. Dieser Anblick war im Hellen einfach hässlich, jetzt aber strahlte die Landschaft eine bizarre Schönheit aus. Das war einer der wenigen faszinierenden Momente auf diesem Planeten, der sonst nur Langweiliges und Lebensfeindliches zu bieten hatte. Es wurde hier wegen des starken Neigungswinkels der Planetenachse nie richtig dunkel, es gab kein augenbetäubendes Schwarz, das völlig undurchdringlich war für menschliche Blicke, nein, die Sonne hinterließ, obwohl sie längst untergegangen waren, ein von der Atmosphäre verstreutes schwaches Leuchten, das sich aber bewegte, und durch diese sanfte Bewegung schienen die leichten Erhebungen der Planetenwüste zu wandern, als triebe ein Windhauch die Sandkörner in bizarren Mustern vor sich her.

Sie starrte weiter hinaus auf die leicht wellige, schimmernde Dünenlandschaft dieses Planeten und ließ ihre Gedanken ungehemmt schweifen. Dabei beobachteten sie beide, Ayra und ihr Inner-Ich, den unstrukturierten Gedankenstrom von einer neutralen Warte aus und analysierten ihn teils belustigt, teils mit bedrückenden Assoziationen. Warum konnte man nicht unangenehme und bedrückende Erinnerungen einfach durch den eigenen Willen löschen?

Würdest du das denn gerne tun?

Ja, allerdings.

Und welche?

Davon später.

 


4

 

 

 

Da mich mein Inner-Ich immer wieder ermahnt, endlich mit den Aufzeichnungen meiner Erinnerungen fortzufahren, mache ich das halt jetzt.

Womit soll ich beginnen?

Du solltest mit den Erinnerungen beginnen, die dich am meisten beschäftigen.

Und was ist mit den schönen Erinnerungen?

Über die kannst du später schreiben. Du musst etwas bewältigen.

Und was?

Das weißt du selber am besten.

Okay, es ist mein Beziehungsdrama mit Miriana. Das heißt, zu Beginn war es ja kein Drama, sondern eine sehr schöne und aufregende Zeit. Aber so beginnen Dramen ja häufig.

Mein Inner-Ich hat recht. Wie immer. Ich beginne also meine Aufzeichnung damit, wie ich Miriana kennenlernte.

 

Ich hatte einen anstrengenden Arbeitstag hinter mir, und Robert hatte mir den Kopf vollgequasselt, sodass ich einfach in einer Bar mit einem Cocktail abhängen wollte. Es gab in unserer Nähe die Spacebar, in die ich ab und zu ging, um mich abzulenken und auf andere Gedanken zu kommen. Also, ich musste da niemanden kennenlernen, musste da nicht rumquatschen, schrilles Lachen ausstoßen, von Bemerkungen anderer scheinbar begeistert sein, durch Fachsimpelei beeindrucken wollen, mich mit Alkohol zudröhnen oder illegale Mittelchen einwerfen, jemanden für eine Nacht abschleppen oder einen Partner oder eine Partnerin fürs Leben finden. Nein, ich kann es ganz gut aushalten, einfach an der Bar zu sitzen wie eine abgekapselte Monade, mit niemandem zu reden, aber dem Gerede um mich herum zu lauschen und die Menschen im Raum zu beobachten. Wer kommt wem wie nahe? Wer redet wie oft mit wem? Was sagt die Körpersprache der Einzelnen? Wer wird wohl mit wem davon ziehen?

Nein, ich bin keine Eigenbrötlerin. Mein Psychoprofil zeigt zwar in der Geselligkeitsdimension eher hohe Werte bei der Introversion, aber nicht weit vom statistischen Mittelwert entfernt. Diese Persönlichkeitseigenschaft war bei meiner Bewerbung um den Wächterposten auf diesem weit entfernten Planeten durchaus von Vorteil gewesen. Aber hier in der Bar redete ich auch ganz gerne mit Leuten, wenn mir danach war oder wenn ich Kollegen von der Firma traf. Was ich so gar nicht abkonnte, waren plumpe Versuche, mich anzumachen oder aufzureißen, also da konnte ich ziemlich pampig werden.

 

In dieser Bar traf ich Miriana zum ersten Mal. Ich stand an der Bar und blickte abwesend in meinen Cocktail oder gedankenverloren in den Spiegel hinter der Bar, als ich ziemlich heftig angerempelt wurde, sodass mein Getränk, das ich gerade in der Hand hielt, zum größten Teil verschüttet wurde. Die Verursacherin war eine junge Frau, Mitte zwanzig, die sich mit aufgerissenen Augen erschreckt entschuldigte. Also, das mit dem Alter war eine Schätzung nach dem Phänotypus, denn heute konnte jeder mithilfe der medizinisch-plastischen Kunst nach jedem Alter aussehen, das er wollte – an Kleinigkeiten war aber für Kenner doch das wahre Alter zu schätzen.

Diese junge Frau war wahrscheinlich tatsächlich Mitte zwanzig, blond mit langen Haaren, dreieckiger Gesichtsform mit hohen Wangenknochen, spitzbübischem Gesichtsausdruck, hellwachen, dunkelbraunen Augen, zierlichem Körperbau, etwa hundertsiebzig Zentimeter groß. Sie trug schwarze Jeans, ein helles Top unter einer engen schwarzen Lederjacke. Sie war attraktiv, verdammt hübsch.

»Oh, entschuldige vielmals. Ich bin gestoßen worden. Das tut mir leid. Oh, das muss ich wiedergutmachen. Was trinkst du denn da? Frankie«, wandte sie sich an den Typen hinter der Bar, ohne meine Antwort abzuwarten, »für die Lady hier noch mal dasselbe, und das Gleiche für mich auch. Mach voran!« Frank grinste und machte sich an die Mixtur.

 

Jahre später, nachdem wir den Drei-Jahres-Paarvertrag unterzeichnet hatten, gestand sie mir, dass sie gar nicht gestoßen worden war, sondern mich mit ihrer Digibrille gescannt hatte. Und als sie herausgefunden hatte, dass ich im Marketingbereich tätig war, hatte sie ihre Chance gesehen. Also, erst mal anrempeln und dann ins Gespräch kommen. Damals hatte ich das natürlich nicht durchschaut.

 

»Was ist da drin in dem Gesöff?«, fragte sie mich.

»Geheimnis des Barkeepers«, antwortete ich. »Heißt jedenfalls Spacerocket, und du sollst abgehen wie ‘ne Rakete.«

»Hä? In welcher Beziehung raketenmäßig abgehen?«

»Trink mal zehn davon, dann wirst du’s schon merken!«

»Nach zehn von den Dingern bin ich nur noch’n Rohrkrepierer.«

»Musst ja nicht gleich so viel trinken, ein paar weniger tun’s auch.«

»Tun was?«

»Probier’s halt mal aus!«

»Hey, willst du mich besoffen machen? Und was dann?«

»Nichts liegt mir ferner, junge Frau!«

»Die junge Frau heißt Miriana, und sie freut sich außerordentlich, deine Bekanntschaft zu machen.«

»Ganz meinerseits. Ich höre auf Ayra.«

»Schön, Ayra, dann lass uns jetzt auf das Du anstoßen.«

»Wieso? Wir duzen uns doch schon die ganze Zeit.«

»Jetzt wird’s aber offiziell.«

»Na, meinetwegen. Salute.«

»In die Augen schauen beim Trinken!« Und sie schaute mir über das Cocktailglas in die Augen, dass mir ganz anders wurde. Mit dem Sprechgeplänkel ging’s noch eine Weile hin und her, bis sie mich fragte: »Was machste denn so?«

»Was ich mache? Ich stehe hier in der Bar, trinke meinen Spacerocket-Cocktail und lass mir die Ohren zuquasseln.«

Sie war keineswegs beleidigt, sondern lächelte nur schief.

»Sei froh, dass überhaupt einer aus dem Laden hier mit dir redet. Stille macht auf Dauer taub. Also, ich meine, was machst du beruflich?« Dabei schaute sie mich neugierig von unten an. Natürlich hatte sie da schon längst gecheckt, was ich beruflich war und tat, aber sie schien so arglos und offen, dass ich nicht misstrauisch wurde.

»Ich arbeite hier in der Nähe in einem großen Unternehmen in der Marketingabteilung«, antwortete ich verdrossen, weil ich nach Feierabend nur ungern über meine Arbeit redete.

»Was? Das ist ja irre! Ich habe gerade mein Studium mit Fachrichtung Marketing beendet – und das mit Auszeichnung!«, betonte sie und hob dabei beide Augenbrauen. »Was machste denn da genau?«, wollte sie wissen.

»Ach, das ist langweiliges Zeug. Nicht geeignet für ein Gespräch an einer Bar.«

Sie ließ aber nicht locker, und nach dem dritten Rocket-Cocktail erzählte ich ihr einiges. Sie hörte sehr aufmerksam zu und sah mich unverwandt an, was mich langsam irritierte. Ich begann, sie nicht nur attraktiv, sondern auch sympathisch und nett zu finden. Zugegeben, sie begann mich zu faszinieren mit ihrer Neugierde, ihrer Wissbegierde, ihrer Offenheit, ihrer Unbeschwertheit und ihrer Lebhaftigkeit. Sie war näher an mich herangerückt, und wie zufällig berührten wir uns gelegentlich. Aber was mich am meisten beeindruckte, waren ihre großen dunklen Augen (biogenetisch manipuliert, wie ich später erfuhr).

Nach etwa zwei Stunden und dem fünften Cocktail kam sie dann eher beiläufig zum Kern ihres Anliegens. »Sucht deine Firma nicht zufällig eine unverbrauchte junge Fachkraft mit innovativem Ideenpotenzial?«

Das wusste ich im Augenblick nicht, also antwortete ich vage: »Weiß ich nicht, aber ich kann mich ja mal umhören.«

»Oh, mach das bitte! Bitte! Ich würde unheimlich gerne mit dir zusammenarbeiten. Du machst so einen kompetenten, professionellen und gelassenen Eindruck.«

Okay, aufs Schmeicheln verstand sie sich auch, und das sollte ich mit ihren manipulativen Absichten noch oft genug erfahren. »He, jetzt übertreib mal nicht! Ich hab Neuromarketing studiert, mich bei unserer Firma beworben, wurde eingearbeitet und bin jetzt dort seit fast zehn Jahren. Da wirst du automatisch kompetent, obwohl vom Studium nicht viel hängen geblieben ist, aber das war ja schon immer so. Ich meine, dass das Studium mit seinen Methoden und Anforderungen eine gute Vorbereitung für das spätere Berufsleben ist, weniger durch seine Inhalte. Aber das wirst du ja auch noch merken.« Das klang jetzt ziemlich von oben herab, mehr als ich es beabsichtigt hatte.

»Vielen Dank für diese aufmunternden Worte und die Welterklärung. Wird mir echt weiterhelfen. Aber jetzt komm mit! Wir genehmigen uns noch einen Absacker.«

Wir gingen Arm in Arm in eine andere Bar. Es war schon die Zeit des üblichen nächtlichen Nieselregens, der alles und jeden benetzte und der für Sauberkeit und frische Luft sorgen sollte.

In dieser Bar, in der mehr junge Besucher, überwiegend Studenten, verkehrten, kannte Miriana offensichtlich eine Menge Leute. Es gab viele Küsschen oder Nasenstubser oder andere Begrüßungsformen, die mir unbekannt waren. Wir stellten uns an die Theke, hatten aber wegen des Lärms und der dröhnenden Musik Probleme, uns zu verständigen. Weil jeder im Raum vom anderen gehört werden wollte, redete jeder sehr laut, manche schrien sogar, sodass man genauso wenig verstand, als wenn alle geflüstert hätten. Aber wahrscheinlich war es sowieso egal, was da gesprochen wurde, am nächsten Tag hatten alle alles vergessen, es war auch relativ unwichtig, wichtig war, in Kontakt zu bleiben. Wir tranken noch einen Cocktail, nein, zwei, und als wir draußen waren, verabschiedeten wir uns voneinander, indem wir uns heftig umarmten und uns festhielten. Oder klammerten wir uns aneinander? Küsschen auf die Wange, rechts, links, und beim Wechsel hatte ich den Eindruck, sie wolle mich auf den Mund küssen.

 


5

 

 

 

In einer der seitlichen Wände ihres Privatbereiches war ein großer Holobildschirm eingelassen, der, ihren Stimmungen entsprechend, die feine Sensoren auffingen und analysierten, Videosequenzen abspielte. Der Schirm zeigte heute eher monochrome Szenen von lieblichen Landschaften der Erde in vorwiegend Braun- und Gelbtönen.

 

Das SCHLOSS stand schon seit vielen Jahrhunderten. Es war dereinst von den Exospektoren als ständiger Außenposten errichtet worden. Warum dieser Posten als SCHLOSS erbaut worden war, wusste sie nicht, und es konnte ihr auch keiner erklären. Das Motiv war im Meer der historischen Narrative untergegangen. Vermutlich war es eine Marotte des ersten Wächters gewesen, der die Jahrzehnte seines Aufenthaltes entsprechend würdigen wollte – oder sich über die Tristesse dieses Jobs mit einem Schlossgebäude hinwegtrösten wollte. Immerhin hatte sie bei Vertragsabschluss einige Änderungen durchsetzen können. Auch ihre genetische Manipulation mit Flügeln und die Gesellschaft mit den Putten und mit dem Androiden Robbie waren Forderungen ihrerseits gewesen, die ihre Auftraggeber ohne Widerspruch akzeptiert hatten.

Sie besah sich eine der Videosequenzen. Sie zeigte einen blühenden Apfelbaum im Vordergrund und ein leuchtend gelbes, sanft wogendes Roggenfeld im Hintergrund. Zwei bunte Vögel hüpften zwischen den Ästen des Baumes hin und her und tirilierten leise. Sie bemerkten nicht die Katze, die sich, den Stamm langsam hinaufkletternd, heranschlich. Die beiden Vögel hatten nur Augen füreinander und achteten nicht auf die heranschleichende Katze. Die hatte jetzt eine Astgabel erreicht und legte sich auf die Lauer. Als einer der herumschwirrenden Vögel sich auf den Ast setzte, sprang sie los, der Vogel flog erschreckt auf, die Tatzen der Katze griffen ins Leere, und sie fiel jammernd vom Baum auf den Boden.

Ayra lachte leise vor sich hin, obwohl sie den Ausgang dieser Szene kannte. Alle diese Videostorys verliefen zwar per Zufallsgenerator immer anders, waren aber alle auf ein gutes Ende programmiert. Schmunzelnd sah sie, wie die Katze sich trollte und die Vögel weiter zwitschernd umeinander flogen.

 

Sie vernahm einen leichten Ton wie von einer tibetischen Klangschale als Zeichen, dass die KÜCHE ihr das Essen serviert hatte. Es wurde unter dem Fußboden zu dem großen Eichentisch transportiert und im mächtigen, innen hohlen Mittelfuß nach oben auf die Tischplatte gehievt.

Das Essen duftete köstlich. Es war ihr ein Rätsel, woher die KÜCHE über Jahrzehnte so viele Essenzen nahm, um sie immer aufs Neue zu überraschen. Die Zusammensetzung der Speisen war genau auf ihre physiologische Homöostase abgestimmt, ein Ergebnis ihrer Urin- und Stuhlproben sowie der Analyse durch die allgegenwärtigen Sensoren. Schließlich sollte sie ja die Vertragsdauer von dreißig Jahren heil und gesund überstehen, und bis jetzt, drei Monate vor ihrer Ablösung, hatte sie das ja auch.

Über eine eintönige Kost konnte sie sich nicht beklagen. Die KÜCHE hatte einen endlosen Vorrat an Rezepten, nach denen die verschiedenen Puttenteile geröstet, gebraten, gegrillt, gekocht und frittiert und immer mit unterschiedlichen Gewürzen verfeinert wurden. Über die Bestandteile der Beilagen machte sie sich besser keine Gedanken. Klar musste der Vorrat an Speiseergänzungsmitteln wenige Wochen vor ihrer Ablösung bald aufgebraucht sein. Es gab im SCHLOSS keine Abfälle, alles wurde recycelt, verwertet und ergänzt um die kargen Erträge der Grünkammer des SCHLOSSes und der wenigen Mitbringsel ihrer Ausflüge in die Täler dieses Planeten. Auch die Abfälle der Putten wurden recycelt, um aus ihnen, zusammen mit anderen Ingredienzien, neue Putten durch die GEBÄRMASCHINE zu klonen. So wurde deren Anzahl konstant gehalten: Jeden Monat wurde eine der Putten verwertet, jeweils die älteste, und eine neue wurde geboren, nicht als Baby, sondern als Klon, als erwachsene, geschlechtslose Gestalt. Wegen der schrumpfenden Ressourcen wurden die Klone allerdings von Jahr zu Jahr immer etwas kleiner.

 

Heute hatte die KÜCHE ein Fleischgericht zubereitet mit Beilagen, die eine Ähnlichkeit mit Kartoffelklößen und etwas Grünzeug hatten. Sie setzte sich an den Tisch und begann, genussvoll zu essen.

Beim Dessert wurde sie von ihrem Inner-Ich an ihr Problem erinnert: Was war nur in diese Putten gefahren? War es nur ein Streich gewesen, oder wollten sie sie außerhalb des SCHLOSSes sterben lassen? Wie sollte sie mit dieser Situation umgehen?

Gut, dachte Ayra, sie war nicht unschuldig an den wachsenden Spannungen zu der Putten-Clique. In den ersten Jahren war alles sehr harmonisch gewesen, sie hatten zu ihr aufgeblickt und waren kuschelig und amüsant. Irgendwann waren sie ihr allerdings zu zudringlich geworden, lästig geradezu. So hatten sie sie beim Sex mit Robbie abgelenkt und gestört, so zum Beispiel wenn sie sich beim Geschlechtsakt auf seinen Rücken gesetzt hatten und das wohl für ein lustiges Reiterspiel hielten. Anfangs hatte sie gelacht, und Robbie pflichtmäßig mit ihr, aber irgendwann hatten sie diese Geschöpfe genervt, und sie hatte sie bei ihren Sexspielchen aus dem Zimmer vertrieben. Und irgendwann hatte sie sie ganz aus diesem Bereich, ihrem Privatgemach, wie sie es nannte, verbannt.

Dennoch hatten die Putten einige ihrer Verhaltensweisen abgeguckt und imitierten sie. So ahmten sie, wenn sie ihren Einheitsbrei zu sich nahmen, ihre Essbewegungen nach. Oder sie machten zu zweit oder zu mehreren Kopulationsbewegungen – erst recht, wenn sie merkten, dass sie sich darüber aufregte. Und weil sie sich immer häufiger über sie geärgert hatte und sie als lästig empfand, hatte sie sie immer schlechter behandelt. Und sie waren immer frecher und aggressiver geworden. Sollte sie umschalten und anfangen, sie lieb zu haben? Das war ihr eigentlich zuwider, und sie fürchtete, dass es dafür auch zu spät war. Diese Beziehungskiste war schon zu sehr verfahren.

»Robbie, aufwachen!«, befahl sie ihrem Androiden.

Der künstliche Gefährte kam aus seiner Box, ein kräftiges Geschöpf, das körperlich nach dem Vorbild von Robert modelliert worden war, allerdings deutlich stattlicher: Größe hundertneunzig; schlanke, sportliche Figur. Die Gesichtszüge ähnelten allerdings denen Mirianas: große, dunkelbraune Augen in einem schmal geschnittenen Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen; schulterlanges blondes Haar. Er trug wie immer ein schwarzes T-Shirt und Shorts. Schließlich brauchte er diese Kleidung nicht zu wechseln, weil er weder schwitzte noch sie sonst verschmutzen konnte.

»Hi, Ayra, wie geht es dir?«, fragte er. Sie war sich bewusst, dass dies einer der Standards zur Gesprächseröffnung war, der von einem Zufallsgenerator ausgewählt wurde.

»Geht so. Hab’ Ärger mit den Putten«, antwortete sie.

»Was für einen Ärger?«

»Sie mögen mich nicht. Sie werden aggressiv gegen mich.«

»Ich mag dich, Ayra. Ich bin nicht aggressiv.«

»Das weiß ich, du kannst ja auch nicht anders.«

»Wie meinst du das, Ayra?«

»Wie meine ich was?« Sie versuchte manchmal absichtlich, seine einprogrammierte Semantik zu verwirren.

»Na, das, was du vorhin gesagt hast, Ayra.«

»Was hab ich denn gesagt?«

Er schwieg einen Moment, als ob er nachdächte. »Na, das mit dem aggressiv sein.«

»Du kannst nicht aggressiv sein, weil du so nicht programmiert wurdest.«

»Was heißt das: programmiert sein?«, fragte er, ging zu ihr und schmiegte sich an sie.

»Programmiert sein, das heißt so viel wie, dass deine Handlungen vorherbestimmt sind. Also, wenn eine Situation A eintritt, dann folgt zwangsläufig deine Handlung B.«

»Was ist eine Situation A?«

»Also, zum Beispiel, wenn ich dir befehle: Leg dich auf den Boden!«

»Was hat das mit dem Buchstaben A zu tun?«

Ayra blickte konsterniert vor sich hin. Ihr wurde klar, dass, wenn jemand unfähig zum abstrakten Denken war, er auch keinen Zugangscode umprogrammieren konnte.

»Ach, Robbie, vergiss es einfach!« Sie lehnte sich zurück.

Der Android hockte sich neben den Sessel und fragte: »Meinst du, wenn du sagst, ich soll mich hinlegen, und ich es dann auch tue, dass ich programmiert bin?«

»Ja, genau. Es ist eine zwangsläufige Abfolge von Anweisungen und daraus resultierenden Handlungen. Also ich sage dir: Leg dich hin, und dann legst du dich hin.«

»Soll ich mich jetzt hinlegen?«

»Nein! Das war ja nur ein Beispiel für vorgegebene Kausalbeziehungen.« Robbie sah sie ratlos an. Auch wenn er nur mit einem begrenzten IQ ausgestattet worden war, war er durchaus lernfähig, und er hatte in den vergangenen Jahrzehnten einiges gelernt, auch wenn er bislang nur das geistige Niveau eines Fünfjährigen erreicht hatte.

»Robbie, kannst du programmieren?«, fragte sie sicherheitshalber in der Gewissheit, dass ein Android nicht lügen konnte.

»Natürlich nicht, ich weiß ja noch nicht mal, was das ist.«

»Aber das hab ich dir doch gerade erklärt.« Wieder mal ein neckisches Verwirrspiel ihrerseits.

»Ich habe es aber nicht verstanden. Und selbst wenn ich es verstanden hätte, könnte ich eine solche Tätigkeit nicht ausführen.« Manchmal hatte Robbie überraschenderweise recht treffende Argumente. »Ich habe noch eine Frage zu deinem Beispiel«, fuhr er fort. »Was geschieht, wenn du sagst: Leg dich auf den Boden, ich mich aber nicht hinlege?«

»Das probieren wir aber jetzt mal aus: Robbie, leg dich auf dem Boden!«

»Im Ernst jetzt oder als Beispiel?«

»Robbie, leg dich auf den Boden! Jetzt!«

Sie bemerkte, dass der Android zögerte, etwas verkrampfte sich in ihm, dann legte er sich aber hin.

»Siehst du«, sagte Ayra. »Du kannst nicht anders. Wenn ich dir eine Anweisung gebe, musst du sie ausführen. Weil du so programmiert wurdest.«

»Warum kann ich mich deinen Anweisungen nicht widersetzen?«, murrte Robbie auf dem Boden liegend.

»Wie ich schon sagte: weil du so programmiert wurdest. Du hast keinen freien Willen. Nur, wer einen freien Willen hat, kann entscheiden, ob er etwas tut oder nicht.«

»Ich will auch einen freien Willen haben.«

»Red’ kein dummes Zeug, Robbie. Das geht nicht, weil du ein maschinenähnliches Wesen mit eingebauten Programmen bist und kein Mensch.«

Nach einer Pause behauptete Robbie plötzlich: »Du bist auch programmiert.«

Ayra sah erstaunt auf. »Wie kommst du denn darauf?«

»Du folgst den Anweisungen der Geräte. Wenn sie etwas bestätigt haben wollen, dann bestätigst du es. Wenn sie nach Informationsinput verlangen, dann gibst du ihnen Informationen. Du liest regelmäßig Daten ab und folgst festgesetzten Routinen. Und wenn du Hunger hast, isst du. Du bist auch programmiert!«

Ayra war sprachlos. So hatte sie ihre Situation als Wächterin noch nie gesehen.

»Das ist etwas anderes!«, meinte sie nach einer Weile. »Hier geht es um Aufgaben, die zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Reihenfolge erledigt werden müssen. Ich habe aber prinzipiell den freien Willen, das auch nicht zu tun.«

»Warum tust du es dann doch?«

Meine Güte, was war denn hier los? Jetzt musste sie auch noch grundlegende philosophische Fragen mit einem geistig beschränkten Androiden erörtern. »Ich mache das, weil es sonst zu Störungen im Datensystem käme, zu Abweichungen, die Fehler verursachen könnten.«

»Also bist du auch programmiert!«, behauptete Robbie erneut.

»In gewissem Sinne ja«, antwortete Ayra gedehnt. »Aber ich kann selbst bestimmen, was ich essen will …« Halt, das stimmte so nicht ganz, sie aß immer das, was ihr die KÜCHE kredenzte. »Äh, das mein ich jetzt nicht. Also, ich kann selbst bestimmen, wann und wohin ich meine Inspektionsflüge mache. Also in gewissem Rahmen. Ich kann bestimmen, welchen Holofilm ich mir ansehen möchte. Ich kann selbst bestimmen, wann ich in welchen Raum gehen möchte und so weiter.«

Miriana

 

Gute Nacht, Ayra. Schlaf gut!

Nacht, Innerchen.

Das war das allabendliche Abschlussritual vor dem Einschlafen. Fehlt noch, dass mir Innerchen eine Gutenachtgeschichte vorliest, dachte Ayra sarkastisch.