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Die Herausgeberinnen und Herausgeber

Dr. med. Claudia Henke ist Oberärztin an der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen.

Prof. Dr. med. Dr. phil. Dorothea Huber ist Chefärztin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Harlaching in München und Professorin an der International Psychoanalytic University Berlin.

PD Dr. med. Dipl.-Psych. Gerhard Dammann ist Chefarzt an der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen.

PD Dr. phil. Bernhard Grimmer ist Leitender Psychologe an der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen.

Claudia Henke Dorothea Huber Gerhard Dammann Bernhard Grimmer (Hrsg.)

Depression

Psychoanalytische Theorie – Forschung – Behandlung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034861-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-034862-2

epub:    ISBN 978-3-17-034863-9

mobi:    ISBN 978-3-17-034864-6

Die Reihe »Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik«

 

 

Der psychotherapeutische Ansatz gewinnt gegenwärtig in der Psychiatrie und Psychosomatik neben dem dominierenden neurobiologischen und psychopharmakologischen Modell (»Biologische Psychiatrie«) wieder zunehmend an Bedeutung. Trotz dieser Renaissance gibt es noch vergleichsweise wenig aktuelle Literatur, die psychiatrische und psychosomatische Störungsbilder unter vorwiegend psychotherapeutischem Fokus beleuchtet.

Die Bände dieser neuen Reihe sollen dabei aktuelle Entwicklungen dokumentieren:

•  die starke Beachtung der Evidenzbasierung in der Psychotherapie

•  die Entwicklung integrativer Therapieansätze, die Aspekte von kognitiv-behavioralen und von psychodynamischen Verfahren umfassen

•  neue theoretische Paradigmata (etwa die Epigenetik oder die Bindungstheorie und die Theorie komplexer Systeme in der Psychotherapie)

•  aktuelle Möglichkeiten, mit biologischen Verfahren psychotherapeutische Veränderungen messbar zu machen

•  die Entwicklung einer stärker individuellen, subgruppen- und altersorientierten Perspektive (»personalisierte Psychiatrie«)

•  neu entstehende Brücken zwischen den bisher stärker getrennten Fachdisziplinen »Psychiatrie und Psychotherapie« sowie »Psychosomatische Medizin« und »Klinische Psychologie«

•  eine Wiederentdeckung wichtiger psychoanalytischer Perspektiven (Beziehung, Übertragung, Beachtung der konflikthaften Biografie etc.) auch in anderen Psychotherapie-Schulen.

Die Bücher sind eng verbunden mit einer Tagungsreihe, die wir in Münsterlingen am Bodensee durchführen. Die 1839 gegründete Psychiatrische Klinik Münsterlingen, die heute akademisches Lehrkrankenhaus ist, hat, in der schweizerischen psychiatrischen Tradition stehend, eine starke psychotherapeutische Ausrichtung und in den letzten Jahren auch eine störungsspezifische Akzentuierung erfahren. Hier entwickelten und entdeckten der Psychoanalytiker Hermann Rorschach um 1913 den Formdeutversuch und der phänomenologische Psychiater Roland Kuhn im Jahr 1956 das erste Antidepressivum Imipramin.

Die Bände der Reihe »Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik« sollen jedoch mehr als reine Tagungsbände sein. Aktuelle Felder aus dem Gebiet der gesamten Psychiatrie und Psychosomatik sollen praxisnah dargestellt werden. Es wird keine theoretische Vollständigkeit wie bei Lehrbüchern angestrebt, der Schwerpunkt liegt weniger auf Ätiologie oder Diagnostik als klar auf den psychotherapeutischen Zugängen in schulenübergreifender und störungsspezifischer Sicht.

Gerhard Dammann, Bernhard Grimmer und Isa Sammet

Inhalt

 

 

  1. Die Reihe »Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik«
  2. Geleitwort der Herausgeberin
  3. Dorothea Huber
  4. Vorwort der Herausgeber
  5. Bernhard Grimmer und Claudia Henke
  6. 1   Die depressive Gesellschaft?
  7. Bernhard Grimmer
  8. Einleitung
  9. 1.1   Zur Psychopathologie der Gesellschaft
  10. 1.2   Häufigkeit von Depressionen in Deutschland und der Schweiz
  11. 1.3   Depression auslösende Lebensereignisse
  12. 1.4   Formenwandel der Depression und ein veränderter Sozialcharakter?
  13. 1.5   Schluss
  14. 2   Depression und Suizidalität
  15. Manfred Wolfersdorf
  16. Einleitung
  17. 2.1   Suizidalität – eine kurze Begriffsbestimmung
  18. 2.2   Depression und Suizid
  19. 2.3   Anmerkungen zur Suizidprävention
  20. 2.4   Abschlussbemerkung
  21. 3   Psychodynamik der Depression – Depression als Beziehungsproblem
  22. Frank Matakas
  23. 3.1   Freuds Modell der Depression und die Rolle der Aggression
  24. 3.2   Beobachtungen zur Depression
  25. 3.3   Regression in der Depression
  26. 3.4   Was ist Abhängigkeit in der Depression? – Der Andere
  27. 3.5   Die negative Symptomatik der Depression
  28. 3.6   Das Unbewusste in der Depression
  29. 3.7   Freiheit und Bindung
  30. 3.8   Narzissmus
  31. 3.9   Depression als Beziehungsproblem
  32. 3.10   Was ist Depression, was ist Trauer?
  33. 3.11   Die gesellschaftliche Dimension
  34. 3.12   Konsequenzen für die Therapie
  35. 4   Emotion, Kognition und Handlung bei depressiv Erkrankten – Auf dem Weg zu einem neuropsychodynamischen Modell der Depression
  36. Heinz Böker
  37. Einleitung und Überblick
  38. 4.1   Depressionen: Herausforderungen in Klinik und Forschung
  39. 4.2   Heterogenität depressiver Syndrome und Grenzen der aktuellen Depressionsforschung
  40. 4.3   Emotion, Kognition und Handlung bei depressiv Erkrankten: die Zürcher Depressionsstudien
  41. 4.4   Neurochemie des emotionalen Prozessing in der Depression
  42. 4.5   Die Bedeutung des selbstreferentiellen Prozessing
  43. 4.6   Reziproke Modulation und Introjektion
  44. 4.7   Modulation durch funktionelle Einheit und sensori- motorische Regression
  45. 4.8   Selbstreferentielles Prozessing und Ich-Hemmung
  46. 4.9   Die emotionale Hemmung schlägt um in eine Ich-Leere bzw. Ich-Hemmung
  47. 4.10   Neuropsychodynamische Psychiatrie: Was ist das?
  48. 4.11   Neuropsychodynamische Sichtweise: Konsequenzen für Therapie und Psychotherapie
  49. Zusammenfassung und Ausblick
  50. 5   Depression und Mutterschaft
  51. Claudia Henke
  52. Einleitung
  53. 5.1   Begriff und Aspekte der Mutterschaft
  54. 5.2   Depression und Mutterschaft
  55. 6   Toxische Verstimmungen – Depressionen und Persönlichkeitsstörungen
  56. Gerhard Dammann
  57. Einleitung
  58. 6.1   Formen der Depression
  59. 6.2   Komorbiditäten
  60. 6.3   Vom Typus melancholicus zur depressiven Persönlichkeit
  61. 6.4   Dysthymie, neurotische Depression und Persönlichkeitsstörungen
  62. 6.5   Modellvorstellungen
  63. 6.6   Anaklitische versus introjektive Depression
  64. 6.7   Chronische Depression
  65. 6.8   Zur Ätiologie und Psychodynamik
  66. 6.9   Charakterologische Depression
  67. 6.10   Depression und Borderline-Störung
  68. 6.11   Die Borderline-Persönlichkeitsstörung – eine bipolare Störung?
  69. 6.12   Atypische Depression
  70. 6.13   Narzisstische, antisoziale Persönlichkeitsstörung und Depression
  71. 6.14   Burnout
  72. 6.15   Differenzierung von majorer Depression und Depression bei Persönlichkeitsstörungen
  73. 6.16   Therapie
  74. 6.17   Zusammenfassung
  75. 7   Stationäre Psychotherapie der Depression
  76. Isa Sammet
  77. Einleitung
  78. 7.1   Indikation
  79. 7.2   Das Setting
  80. 7.3   Tiefenpsychologisch orientierte stationäre Psychotherapie
  81. 8   Manualisierte Depressionstherapie
  82. Marko Hurst
  83. Einleitung
  84. 8.1   Die Entwicklung manualisierter Therapien
  85. 8.2   Manualisierte Depressionstherapien
  86. 9   Psychotherapieforschung zur Depression – Wirksamkeit und Wirkungsweise ambulanter und stationärer Psychotherapie bei Depressiven
  87. Dorothea Huber und Günther Klug
  88. 9.1   Rückschau auf die dargestellten Studien
  89. 9.2   Stationäre psychoanalytisch orientierte Therapie der Depression
  90. 10   Zur psychoanalytischen Behandlung chronisch depressiver Patienten – Erfahrungen aus der LAC-Studie
  91. Ulrich Bahrke
  92. Einleitung
  93. 10.1   Psychodynamische Erklärungsansätze
  94. 10.2   Rekrutierungserfahrungen bei chronisch depressiven Patienten
  95. 10.3   Gegenübertragungserfahrungen zu Behandlungsbeginn
  96. 10.4   Häufigkeit und Bedeutung kindlicher Traumatisierungen
  97. 10.5   Multiperspektivische Annäherungen an zu erwartende Therapieeffekte
  98. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
  99. Stichwortverzeichnis

Geleitwort der Herausgeberin

Dorothea Huber

 

Noch ein Buch zur Depression? Die Vielzahl von neuen Büchern zum Thema Depression für Ärzte, Psychologen und Laien belegt die fortbestehende Aktualität des Themas. Dieser Band will sehr konkret, fallbezogen und praxisorientiert dem Arzt/Therapeuten Hilfen an die Hand geben, die er vor dem Hintergrund seiner Erfahrung und therapeutischen Kompetenz zur Behandlung seiner depressiven Patienten nutzen kann.

Dieses Buch stellt Psychotherapie für die Praxis dar, mit theoretischen Einordnungen, viel Empirie und konkreten Falldarstellungen aus interdisziplinärer Sicht und wünscht man sich in die Hand von Leserinnen und Lesern, die sich über die Praxis der Psychotherapie ein Bild machen wollen, die beginnen wollen mit den schwierigen Behandlungen akut oder chronisch depressiver Patienten oder die genauer verstehen wollen, warum auch für erfahrene Therapeuten diese Patienten eine Herausforderung darstellen.

Während lange Zeit Antidepressiva als Mittel der ersten Wahl bei einer Depression galten, hat sich in den letzten 10 bis 20 Jahren erhebliches verändert: die Therapie mit Antidepressiva wird inzwischen kritischer gesehen und die Psychotherapie ist, so auch nachzulesen in der Nationalen VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression1 Erwachsener, in ihrer Bedeutung für die Behandlung der Depression sehr gewachsen. Sie wird nicht mehr allenfalls als begleitend angesehen, sondern durchaus für leichte und mittelschwere Depression als Therapie der ersten Wahl und für schwere Depressionen als Kombinationstherapie mit Antidepressiva empfohlen.

Zu diesem Bedeutungszuwachs der Psychotherapie hat auch erheblich die veränderte Forschungssituation beigetragen: Die Versorgungsforschung ist ein wachsender Zweig, auch in der Psychotherapieforschung. Im Rahmen der evidenzbasierten Medizin – eine Entwicklungsrichtung in der Medizin, die ausdrücklich fordert, dass Entscheidungen in der Patientenbehandlung auf der Grundlage von empirisch nachgewiesener Wirksamkeit getroffen werden müssen – wurde ein Katalog von wissenschaftlichen Kriterien für die Bewertung der Effektivität auch von Psychotherapien aufgestellt. Die Bewertung von Psychotherapien erfolgt danach auf einer strengen empirischen Grundlage und ihre Wirksamkeit muss nachgewiesen werden, wobei die Verwendung von Manualen für die Durchführung der Behandlung gefordert wird. Aufgrund dieser Situation wurde in mehreren empirischen Studien der Wirksamkeitsnachweis psychodynamischer Therapien erbracht. Es interessiert aber auch zunehmend die Frage, womit der Therapieerfolg zusammenhängt, also seine Prädiktion, und wodurch der Erfolg moderiert wird. Auch das wird im vorliegenden Buch dargestellt.

Man wünscht diesem Buch, das auf belehrende Erörterungen verzichtet, Leser, die es ernst meinen mit ihren depressiven Patienten, die nicht glauben, schon alles verstanden zu haben, und die neugierig genug sind, über den Tellerrand schulischer Festlegung hinauszuschauen, denn genau das brauchen depressive Patienten.

1     DGPPN, BÄK, KBV, AWMF (2017) Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression. 2. Auflage. Berlin: Springer.

Vorwort der Herausgeber

Bernhard Grimmer und Claudia Henke

 

Depressive Störungen stellen inzwischen mit die häufigsten Erkrankungen in den westlichen Industrieländern dar. Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage, die im Zusammenhang mit Depressionen stehen, nehmen seit Jahren kontinuierlich zu. Die Inzidenzrate ist laut WHO weiter steigend. Depressionen sind oft mit schwerem persönlichem Leid der Betroffenen, Belastungen für die Angehörigen und großen volkswirtschaftlichen Kosten verbunden. Depressive Erkrankungen der Eltern sind ein Risikofaktor für eine gesunde psychische Entwicklung ihrer Kinder und wirken sich auch transgenerational aus. In soziologischen und psychologischen Gegenwartsanalysen wird Depressivität als Ausdruck und Folge anhaltender Überforderung in einer beschleunigten, verdichteten und vernetzten, aber gleichzeitig einsam machenden Lebens- und Arbeitswelt spätmoderner Gesellschaften diskutiert.

Die Ursachen wie die Verläufe depressiver Erkrankungen sind vielfältig. Trotz guter psychotherapeutischer und psychopharmakologischer ambulanter wie stationärer Behandlungsmöglichkeiten sowie abnehmender Stigmatisierung werden depressive Erkrankungen immer noch zu oft nicht richtig diagnostiziert, zu spät behandelt oder die Betroffenen profitieren nicht nachhaltig von einer Therapie. Das Suizidrisiko ist hoch, es kann zu therapieresistenten Chronifizierungen kommen. Diese Patienten treffen wir besonders im stationären Rahmen an, wenn es zu zahlreichen Klinikaufenthalten kommt.

Dieser siebte Band der Reihe »Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik« widmet sich den skizzierten Aspekten und aktuellen Entwicklungen in Forschung und Praxis zur Entstehung und Behandlung depressiver Erkrankungen.

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive wird untersucht, wie sich depressive Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, ob es für eine Zunahme überzeugende Daten gibt und inwieweit Zusammenhänge zu sozioökonomischen und soziokulturellen Entwicklungen bestehen. Ein psychodynamisches Modell zum Verständnis der Depression, aber auch ein aktuelles integratives Modell, das neurowissenschaftliche und psychoanalytische Ansätze auf dem neuesten Stand integriert, werden vorgestellt. Die wichtigen Zusammenhänge zwischen Depression und Suizidalität, zwischen Depression und Persönlichkeitsstörungen sowie zwischen postpartalen Depressionen und transgenerationalen Prozessen im Kontext der Psychodynamik der Mutterschaft werden differenziert dargestellt. Verschiedene aktuelle ambulante, auch manualisierte und stationäre Behandlungsansätze werden erläutert und diskutiert. Dabei wird gesondert auf die schwierig zu behandelnde Gruppe der chronisch depressiven Patienten eingegangen. Schließlich enthält das Buch einen aktuellen und fundierten Überblick zur Wirksamkeitsforschung zu ambulanter und stationärer Psychotherapie bei Depressionen.

Unser herzlicher Dank gilt Claudia Dürr, die es auch diesmal, wie schon in den vorherigen Bänden der Reihe, übernommen hat, alle Beiträge sorgfältig im Manuskript zu integrieren und redaktionell zu bearbeiten.

1          Die depressive Gesellschaft?

Bernhard Grimmer

 

Einleitung

Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) waren 2015 weltweit rund 322 Millionen Menschen von Depressionen betroffen, was einen Anteil von 4,4 % der Weltbevölkerung ausmacht. Vor zehn Jahren sind es noch 18 % weniger gewesen. Für den rasanten Anstieg werden vor allem das Bevölkerungswachstum und die höhere Lebenserwartung verantwortlich gemacht. Weltweit gelten Depressionen heute als die Hauptursache für Lebensbeeinträchtigungen (Spiegel Online 2017).

In Deutschland und in der Schweiz haben sich die Krankschreibungen und die Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund von Diagnosen psychischer Störungen in den letzten 15 Jahren in historisch einzigartiger Weise verdoppelt, auch die Frühberentungen haben sich deutlich erhöht. Dieser Anstieg geht fast ausschließlich auf depressive Erkrankungen, neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen zurück. Diese Entwicklung ist mit großem individuellem Leid und hohen gesellschaftlichen Kosten verbunden.

Schon seit mehr als 10 Jahren ist deshalb immer wieder die Rede von einer depressiven Gesellschaft (Haubl 2007), wozu Ehrenbergs (2004) Buch »Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart« einen maßgeblichen Beitrag geliefert hat. Depression wird auch als Leitkrankheit und »Pathologie des Globalisierungszeitalters« bezeichnet (Rosa 2011, S. 1056). Der Psychoanalytiker Bollas (2015, S. 154) spricht davon, dass sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine »ganze Generation nicht nur in Trauer, sondern in einer Art behindernder Melancholie« befinde.

 

1.1       Zur Psychopathologie der Gesellschaft

 

Auch wenn die Zahlen eindrucksvoll und besorgniserregend wirken, stellt sich die Frage, was genau gemeint ist, wenn von einer depressiven Gesellschaft gesprochen wird. Lässt sich aufgrund einer psychischen Erkrankung einer Vielzahl von Individuen auf eine entsprechende Pathologie der Gesellschaft schließen? Mehr oder weniger pathologische soziologische Zeitdiagnosen, die die Gesellschaft mit einem Leitbegriff charakterisieren, gab es schon verschiedene: Risikogesellschaft (Beck 1986), Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992), narzisstische Gesellschaft (Lasch 1979), Müdigkeitsgesellschaft (Han 2010) oder gar »Zeitalter der Verwirrung« (Bollas 2015).

Zunächst ist zu klären, wer eigentlich erkrankt sein soll, wenn man von einer depressiven oder einer narzisstischen Gesellschaft spricht: eine Vielzahl von Individuen, die Großgruppe der Gesellschaftsmitglieder als Kollektiv oder die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft selbst, deren soziale Einrichtungen und Organisationsprinzipien beeinträchtigt sind (Honneth 2014, S. 45)? Bei Freud (1930) beispielsweise ist die Rede von einer kollektiven oder sozialen Neurose, Ehrenberg (2004) bezieht sich auf die Häufung von Erschöpfungsdepressionen in der gegenwärtigen Gesellschaft als Folge einer chronischen Überforderung des Selbst.

Aus psychoanalytischer Sicht hat bereits Freud (1908) einen Zusammenhang hergestellt zwischen einer gesellschaftlichen Verschärfung der repressiven Sexualmoral im Bürgertum der Moderne und der Zunahme von Nervosität (Neurasthenie) und Psychoneurosen als Folge der Verinnerlichung der Moralvorstellung und der Triebunterdrückung. Aus seiner Sicht sind es kulturelle Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft, denen sich die Individuen unterworfen sehen und die in der Folge zu einer Häufung neurotischer Störungen führen. Die Krankheit der Gesellschaft (zu repressive Sexualmoral) und die Erkrankungen der Individuen (Hysterie, Neurasthenie, Zwangsstörung) sind hier im Gegensatz zur Rede von der depressiven Gesellschaft nicht identisch. Eine ähnliche Unterscheidung nimmt Alexander Mitscherlich (1983) in seinem Aufsatz »Die Krankheiten der Gesellschaft und psychosomatische Medizin« vor. Er beschreibt in seiner Praxis gehäuft auftretende Fälle von unspezifischem Leistungsversagen, das er als Erlebnisstörung und Folge einer entweder über- oder unterregulierenden Wirkung gesellschaftlicher Normen und Prinzipien, einem Zu-viel oder Zu-wenig sozialer Integration versteht. Sowohl ein repressives als auch ein beliebiges Werte- oder Normensystem, das zu wenig Orientierung vermittelt, kann entsprechende kollektive Phänomene psychischen Leidens auslösen.

Ehrenberg (2004, S. 300) sieht in den gesellschaftlichen Prozessen der Zunahme von Freiheit, Individualisierung und Selbstverantwortung die Voraussetzung für steigenden individuellen Leistungsdruck, Verausgabung, Erschöpfung und Versagensgefühle. Die Multioptionsgesellschaft erfordert ständige Identitätsarbeit und erzeugt permanenten Optimierungsdruck, einhergehend mit der Gefahr zu scheitern und zu versagen: »Die Emanzipation hat uns vielleicht von den Dramen der Schuld und des Gehorsams befreit, sie hat uns aber ganz sicher diejenigen der Verantwortung und des Handelns gebracht. So hat die depressive Erschöpfung die neurotische Angst überflügelt.«

Die Gegenüberstellung der Theorie von Freud und Ehrenberg zeigt, wie beide davon ausgehen, dass sich unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse in je besonderer Weise auf die psychische Organisation, die Psychodynamik und die Symptombildung der in ihr lebenden Individuen auswirken. Ehrenberg (2004) versteht die Erschöpfungsdepression nicht mehr als eine konfliktbedingte Neurose, bei deren Entstehung triebhafte Impulse, Angst und Schuldgefühle eine Rolle spielen. Vielmehr geht es bei ihm um Unzulänglichkeitsgefühle, Versagensängste und Scham. Rosa (2011), der sich weitgehend auf Ehrenberg bezieht, sieht in der Depression die Pathologie der gegenwärtigen Globalisierungsgesellschaft aus drei Gründen: Ersten, weil sie massiv zugenommen habe. Zweitens trete sie gegenwärtig vor allem in Form der Erschöpfung als Folge eines Lebens in einer überfordernden Beschleunigungsgesellschaft mit zunehmenden Kontingenzen und fehlenden Sicherheiten auf. Und drittens verkörpere sie eine Zeiterfahrung »des rasenden Stillstands« (Rosa 2011, S. 1056): In der depressiven Erstarrung mit dem Verlust von Antrieb und Vitalgefühlen kommt es oft zu einem Erleben des zeitlichen Stillstands, Veränderungs- und Entwicklungsperspektiven gehen verloren. Rosa (2011) sieht in der Depression wie Ehrenberg (2004) die Rückseite der gegenwärtigen gesellschaftlichen Beschleunigungsdynamik sowie kollektiver und zugleich individualisierter überfordernder Ich-Ideal-Ansprüche. Dabei symbolisiert der depressive Erkrankte auch ein weit verbreitetes Leiden an den gesellschaftlichen Zuständen: Bei aller Beschleunigung und Erhöhung des Tempos gibt es keine wirkliche Weiterentwicklung und kein Ziel, sondern eben einen rasenden Stillstand. In dem Sinne sei auch ein Burnout die Folge eines »Dauerdrucks ohne Zielhorizont« (Rosa 2011, S. 1058).

Kritisch zu den pathologisierenden Zeitdiagnosen äußert sich Reiche (2011). Er sieht in ihnen simplifizierende, eindimensionale, nur vermeintlich Klarheit schaffende Beschreibungen, die die Komplexität und Widersprüchlichkeit von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen und Zuständen zugunsten von Eindeutigkeit und Sicherheit auflösen. Sie entspringen aus seiner Sicht einer kulturpessimistischen Untergangssichtweise, nach der früher alles besser gewesen sei. Ähnlich kritisch zu den pathologischen Zeitdiagnosen aus psychoanalytischer und soziologischer Sicht äußern sich Dornes (2016), der vor allem mit empirischen Zahlen zu stagnierenden Prävalenzen argumentiert, und Altmeyer (2016).

Zur Präzisierung hat Haubl (2007) drei alternative Bedingungen vorgeschlagen, unter denen man sinnvoll von einer depressiven Gesellschaft sprechen kann:

1.  eine zunehmende Erkrankung großer Bevölkerungsanteile an klinisch relevanten Depressionen.

2.  wenn eine Gesellschaft großen Bevölkerungsanteilen eine große und noch zunehmende Anzahl von kritischen Lebensereignissen zumute, die zu den typischen Erkrankungsanlässen für Depressionen zählen, auch wenn nicht zwangsläufig mehr klinisch relevant erkranken, weil nicht alle Gesellschaftsmitglieder die Ereignisse gleich verarbeiten.

3.  die Entstehung eines Sozialcharakters als Folge gesellschaftlicher Prozesse, der depressiv disponiert ist – wenn also große Bevölkerungsanteile eine depressive Persönlichkeitsstruktur aufweisen.

Im Folgenden werden die gegenwärtige gesellschaftliche Situation und die psychische Gesundheit in der Schweiz und in Deutschland unter diesen drei Aspekten genauer betrachtet. Dies kann in diesem Rahmen jedoch nicht abschließend, sondern nur in Ausschnitten geschehen.

 

1.2       Häufigkeit von Depressionen in Deutschland und der Schweiz

 

Gemäß den Zahlen der Krankenversicherer hat sich in den vergangenen 15 Jahren die Zahl der Krankheitstage und der Krankheitsfälle aufgrund psychischer Störungen ungefähr verdoppelt. Der in der Geschichte der Krankenkassendaten einzigartige Anstieg geht fast ausschließlich auf affektive Störungen, Anpassungsstörungen und Angststörungen zurück (INGES-Institut 2013). Im Jahr 2013 wurde bei mehr als 30 % der Versicherten irgendeine psychische Störung diagnostiziert, die Hälfte davon waren depressive Störungen (Jacobi et al. 2015, S. 63). Ebenso sind die Frühberentungen aufgrund psychischer Störungen in Deutschland rasant angestiegen, wobei auch dieser Anstieg besonders auf depressive Erkrankungen zurückzuführen ist. Auch in der Schweiz haben IV-Berentungen aufgrund psychischer Störungen deutlich zugenommen, wobei der Anstieg hier ebenfalls auf affektive Störungen und neurotische Störungen zurückzuführen ist. Betroffen sind vor allem alleinerziehende Frauen, ältere Erwerbstätige mit schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt und Migranten (Baer et al. 2013, S. 31). Diese Entwicklung ist mit großem Leid für die Betroffenen verbunden und generiert erhebliche gesellschaftliche Kosten durch die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems, durch die mit den Arbeitsausfällen verbundenen Produktivitätsminderungen und den Berentungskosten (Jacobi et al. 2015).

Unklar ist aufgrund dieser Zahlen aber, ob es sich um eine Zunahme klinisch relevanter Depressionen in der Gesamtbevölkerung handelt oder ob sich nur die Diagnosestellung verändert hat, mehr Erkrankungen erkannt und diagnostiziert werden. Die Reliabilität und Validität klinischer Diagnosen ist zudem umstritten (Jacobi et al. 2015). Ebenso könnten Entstigmatisierungsprozesse eine Rolle spielen, die dazu führen, dass sich das Inanspruchnahmeverhalten verändert hat und eine größere Bereitschaft besteht, über depressive Symptome zu sprechen und sich deshalb krankschreiben zu lassen. Schließlich kann auch eine Zunahme der ärztlichen und psychotherapeutischen Versorgungsdichte eine Rolle spielen.

Um Klarheit darüber zu gewinnen, ob in den letzten 25 Jahren ein deutlicher Anstieg depressiver Erkrankungen in der Bevölkerung zu verzeichnen ist, sind methodisch anspruchsvolle und breit angelegte epidemiologische Untersuchungen notwendig, die bestimmte Kriterien erfüllen müssen: Die Stichprobe muss zu verschiedenen Zeitpunkten aus der gleichen Population stammen; der Abstand zwischen den Erhebungszeitpunkten muss groß genug sein, um Veränderungen abbilden zu können; es sollten die gleichen validen Erhebungsverfahren angewendet werden und die gleichen Diagnosen nach gleichen Kriterien erhoben werden (Jacobi et al. 2015). Für Deutschland liegen zwei Erhebungen des Robert-Koch-Instituts vor, die die 12-Monatsprävalenz psychischer Störungen in einer repräsentativen Stichprobe der Gesamtbevölkerung erhoben haben und diesen methodischen Ansprüchen genügen, eine von 1998 und eine von 2012. In der neueren Studie wurden drei verschiedene Erhebungen vorgenommen: Erstens ein strukturiertes Interview zur Diagnostik einer Major Depression nach DSM-IV, zweitens eine Selbstauskunft, ob die Interviewten innerhalb der letzten 12 Monate eine Diagnose einer depressiven Störung erhalten haben, und drittens ein Fragebogen (PHQ-9) zum Vorliegen depressiver Symptome in den letzten zwei Wochen (Maske et al. 2016). Für 2012 ergibt sich folgendes Bild: Bei 4,2 % der Männer und 9,9 % der Frauen waren die Kriterien einer Major Depression erfüllt. 3,8 % der Männer und 8,1 % der Frauen gaben an, in den letzten 12 Monaten die Diagnose einer depressiven Störung erhalten zu haben, und bei 6,1 % der Männer und bei 10,2 % der Frauen lagen depressive Symptome vor. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede finden sich regelmäßig in epidemiologischen Studien zu Depressionen. Wobei in Frage gestellt wird, inwieweit die Kriterien des DSM-IV ausreichen, um die depressive Symptomatik von Männern abzubilden, und ob man nicht von einer spezifischen Form der Male Depression sprechen müsste, die stärker Feindseligkeit, Irritabilität, Reizbarkeit, Alkoholmissbrauch oder suchartiges Arbeitsverhalten abbildet (Haubl 2007).

Bezüglich des Zusammenhangs von Alter und Depressionen ergab sich kein eindeutiges Muster. Bei beiden Geschlechtern berichtete die Gruppe der 18- bis 34-Jährigen am häufigsten depressive Symptome, während eine Major Depression am häufigsten bei Frauen ebenfalls bei den 18- bis 34-Jährigen und bei Männern bei den 45- bis 54-Jährigen vorliegt. Bei beiden Geschlechtern besteht ein Zusammenhang zwischen fehlender sozialer Unterstützung und Depression. Unverheiratete oder alleinlebende Frauen und Männer haben ein höheres Depressionsrisiko, wobei der Zusammenhang bei Frauen stärker ist und für alle Bedingungen gilt, während er bei Männern nur bei den laut Selbstauskunft bestehenden Depressionsdiagnosen vorliegt (Maske et al. 2016, S. 171). Es besteht kein Zusammenhang zwischen soziökonomischem Status und Major Depression, ein niedriger sozioökonomischer Status war jedoch mit mehr Depressionsdiagnosen bei Frauen und mehr berichteten gegenwärtigen Depressionssymptomen bei Männern und Frauen verbunden. Männer, die in mittelgroßen oder großen Städten leben, haben ihrer Auskunft nach häufiger eine Depressionsdiagnose als Männer in kleineren Gemeinden. Frauen und Männer in mittelgroßen oder großen Städten berichten über mehr depressive Symptome als in Kleinstädten. Es gibt zudem einen deutlichen Zusammenhang zwischen körperlichen Erkrankungen und dem Ausmaß an Depressionsdiagnosen und berichteten depressiven Symptomen (Maske et al. 2016).

Die Daten aus den beiden repräsentativen Erhebungen in der erwachsenen deutschen Gesamtbevölkerung deuten darauf hin, dass es in den 15 Jahren zwischen 1998 und 2012 keine deutliche Zunahme von psychischen Störungen allgemein und von affektiven Störungen im Besonderen gegeben hat (Maske et al. 2016). Die Zahlen zur Major Depression entsprechen Erhebungen in anderen westlichen Ländern. Dies gilt auch für die Schweiz, zumindest bezogen auf eine Major Depression mit ausgeprägter Symptomatik, wobei der Geschlechterunterschied zwischen Männern und Frauen bei einer Major Depression deutlich geringer ausfällt als in den deutschen Daten und vor allem bei leichteren Symptomen vorhanden ist. Allerdings ist in der Schweiz insgesamt ein Anstieg berichteter leichter depressiver Symptome zwischen 1999 und 2009 und ein Rückgang derjenigen zu verzeichnen, die angeben, nie unter depressiven Symptomen zu leiden (Baer et al. 2015, S. 28). Die Autoren vermuten jedoch vor allem ein verändertes Antwortverhalten als Grund für den Anstieg. Eindeutig ist der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Depression in der Schweiz. Nichterwerbstätige haben ein doppelt so hohes Risiko, an Depressionen zu leiden, 45- bis 54-Jährige sogar ein zehnfaches Risiko (Baer et al. 2015).

Wie lassen sich diese epidemiologischen Daten im Zusammenhang mit den Daten der Krankenversicherer und in Bezug auf die Frage, ob in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft besonders viele und zunehmend Menschen an Depressionen leiden, verstehen? Die Angaben zur Prävalenz affektiver Störungen in der Bevölkerung deuten darauf hin, dass der Anstieg der gestellten Diagnosen und der von den Krankenversicherungen erfassten Arbeitsunfähigkeitstage nicht bedeutet, dass die Menschen in den letzten 15 Jahren depressiver geworden sind (Dornes 2016). Vielmehr bilden sie das Ausmaß depressiver Erkrankungen realistischer ab als vor 15 Jahren und nähern sich der Realprävalenz an mit der Tendenz, diese zu übersteigen (Jacobi et al. 2015, S. 64). Das bedeutet aber weiterhin, dass sich die gegenwärtige digitalisierte und globalisierte Gesellschaft nicht deshalb sinnvoll als depressiv bezeichnen lässt, weil in den letzten 20 Jahren eine massive Zunahme der an Depressionen erkrankten Individuen zu verzeichnen sei. Wenn man die schon Ende der 1990er Jahre ähnlich hohen Prävalenzen als Maßstab anlegt, dann müsste man auch damals die Zeitdiagnose einer depressiven Gesellschaft stellen. Dies war aber nicht der Fall war. Gebräuchlicher war das Schlagwort der Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992) oder der narzisstischen Gesellschaft. Man könnte sich auch fragen, warum heute nicht die »ängstliche Gesellschaft« passender wäre, da die Prävalenz von Angststörungen noch höher war und ist als die der depressiven Erkrankungen. Das Argument, dass die gegenwärtige Gesellschaft eine depressive Gesellschaft ist, weil in ihr große und größer werdende Bevölkerungsanteile an klinisch relevanten Depressionen erkranken, lässt sich also so nicht aufrechterhalten.

 

1.3       Depression auslösende Lebensereignisse

 

Gibt es gehäuft auftretende Lebensereignisse, die die Gesellschaft den in ihr lebenden Menschen zumutet, die potentiell depressiogen wirken? Auch wenn vielleicht nicht mehr Menschen an schweren Depressionen erkranken als früher, weil diese Belastungen ganz unterschiedlich bewältigt werden? In der Diskussion um die Frage, ob die gegenwärtige Gesellschaft depressiv macht, werden drei übergeordnete Aspekte der globalisierten und digitalisierten Gesellschaft besonders hervorgehoben, die unsere Lebens- und Arbeitswelt verändert haben. Zum einen die vor allem von Rosa (2005, 2009) ausgearbeitete These von der Beschleunigung, die sich auf Arbeitsprozesse, Veränderungszyklen, die Zeiterfahrung und das Lebenstempo allgemein auswirkt. Zum zweiten der Formenwandel sozialer Integration, deren Widersprüchlichkeit Habermas (1998, S. 126) beschreibt:

»Die Desintegration haltgebender, im Rückblick autoritärer Abhängigkeiten, die Freisetzung aus gleichermaßen orientierenden und schützenden wie präjudizierenden und gefangennehmenden Verhältnissen. Kurzum, die Entbindung aus einer stärker integrierten Lebenswelt entlässt die Einzelnen in die Ambivalenz wachsender Optionsspielräume. Sie öffnet ihnen die Augen und erhöht zugleich das Risiko, Fehler zu machen.«

Und drittens die aus diesem Formenwandel sozialer Integration hervorgehende Individualisierung und mit ihr verknüpft eine permanente Identitätsarbeit, die die aus traditionellen Normen-, Wertesystemen und Rollenvorgaben freigesetzten Subjekte zu leisten haben und an denen sie scheitern können (Keupp 2010).

1.3.1     Arbeit und Depression

Inwieweit haben diese gesellschaftlichen Prozesse die Arbeitsverhältnisse verändert? Aufgrund des beschriebenen Zusammenhangs zwischen Arbeitslosigkeit und Depression ist davon auszugehen, dass eine Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen, die mit großer Arbeitsplatzunsicherheit und periodischer Beschäftigungslosigkeit verbunden ist, als Unsicherheit und Kontrollverlust erlebt werden kann (Haubl 2007). Voss und Weiss (2013) fassen die neuen Formen von Arbeit folgendermaßen zusammen: Die Arbeitsintensität und das Arbeitstempo hat sich erhöht. Insgesamt wird mehr Selbstkontrolle als früher verlangt, da häufiger Formen der indirekten Steuerung der Beschäftigten zum Einsatz kommen und mehr selbstverantwortete Aktivität gefragt ist. Dies führt zu einer Selbstökonomisierung der Arbeitnehmenden, die bei der Arbeit wie im Privatleben ihre Leistungsfähigkeit und ihre Zeit strategisch einsetzen. Außerdem geht damit eine Selbstrationalisierung einher mit einer weniger klaren Trennung von Arbeit und Freizeit. Schließlich führt die Zunahme von Dienstleistungstätigkeiten dazu, dass immer mehr Beschäftigte von nicht authentischen Gefühlsausdrücken und selbstentfremdender Emotionsarbeit betroffen sind (Voss und Weiss 2013).

Die folgende Äußerung eines Sachbearbeiters für Energietechnik zeigt, wie die neuen Formen indirekter Steuerung erlebt werden können:

»Und da habe ich das gemacht, was früher die Vorgesetzten gemacht haben: Ich habe mich dazu gebracht, immer effektiver zu arbeiten. Ich habe mich selber unter Druck gesetzt. Das ist natürlich die optimale Form, ist doch klar. Kein Vorgesetzter kann mich so unter Druck setzen wie ich mich selber, das ist doch klar. Weiß ich doch auch. Aber Sie kommen ja nicht raus aus diesem Prozess. Das ist eben so. Sie sind gezwungen, effektiver zu arbeiten, oder Sie schaffen es nicht, Sie schaffen das Volumen an Arbeit früher nicht als andere. Und keiner will doch der erste sein, der sagt: Ich schaffe es nicht.« (Kratzer und Dunkel 2013, S. 46).

Diese subjektiven Erlebnisschilderungen sind nachvollziehbar, aber welche Zusammenhänge zwischen Arbeitsverhältnissen und Depression lassen sich empirisch belegen? Betrachtet man zunächst den mit der beschriebenen Entgrenzung von Arbeit verbundenen Zustand der permanenten beruflichen Erreichbarkeit und des Verschwindens von Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben, so ergibt in einer Studie der DAK, dass zwar nur ein geringer Teil der Mitglieder auch in der Freizeit und in den Ferien immer per Handy oder E-Mail erreichbar ist. Die Wahrscheinlichkeit, depressive Symptome zu entwickeln, war aber im Jahr vor der Befragung in dieser Gruppe mehr als doppelt so hoch als in der Gruppe derjenigen, die nicht oder kaum erreichbar waren, und betrug 24 % (IGES-Institut 2013, S. 36).

Mit einem erhöhten Risiko für depressive Erkrankungen verbunden sind nach einer Metaanalyse von Rau und Henkel (2013, S. 795) generell:

1.  eine hohe Arbeitsintensität bei gleichzeitig fehlender Handlungskontrolle

2.  große Arbeitsanforderungen bei unzureichend erlebter Belohnung (beispielsweise Anerkennung, Gehalt, Freizeit, Weiterbildungsmöglichkeiten)

3.  fehlende soziale Unterstützung im Arbeitsteam

4.  Rollenstress (divergierende Anforderungen an verschiedene Rollen in einer Organisation)

5.  Arbeitsplatzunsicherheit

Als besondere Risikofaktoren im Sinne von Arbeitsstress als krankmachende psychosoziale Belastungen moderner Erwerbsarbeit gelten die ersten beiden Punkte (Siegrist 2016), die theoretisch mit dem Anforderungs-/Kontrollmodell und dem Modell beruflicher Gratifikationskrisen erklärt werden. Bezogen auf diese beiden Modelle kommt Siegrist (2016, S. 19) zu folgender Bewertung:

»Fasst man die Ergebnisse der bisher mehr als 20 publizierten prospektiven Studien zum Einfluss von hohen Anforderungen und niedriger Kontrolle sowie von beruflichen Anerkennungskrisen zusammen, dann lässt sich eine Verdoppelung des relativen Risikos, stressbedingt an einer Depression neu zu erkranken, ableiten.«

Zudem steigt auch die Frühberentung aufgrund von Depressionen beim Vorliegen von Gratifikationskrisen linear an (Siegrist 2016). Dabei besteht bei beiden Stressoren ein eindeutiger Zusammenhang in der Art, dass die Belastungen umso höher sind, je niedriger die berufliche Stellung ist.

Die angenommene depressive Wirkung des Arbeitsstresses ist in beiden Modellen unterschiedlich. Der Zusammenhang von hoher Anforderung und geringer Kontrolle entspricht dem Depressions-Modell der gelernten Hilflosigkeit, während die Wirkung anhaltender Gratifikationskrisen dem Mechanismus einer narzisstischen Depression gleicht, bei der die Leistungsbereitschaft mit dem Wunsch nach Anerkennung verbunden ist und wiederholte Kränkungen und Enttäuschungen über mangelnde Anerkennung schließlich depressive Reaktionen auslösen.

Ob die veränderte gegenwärtige Arbeitswelt den Berufstätigen generell mehr Arbeitsstress zumutet oder nur in anderer Form, ist unklar (Dornes 2016). Wie der Zusammenhang zwischen beruflicher Stellung und Arbeitsstress zeigt, gilt aus Sicht der empirischen Arbeitsbelastungsforschung vor allem die soziale Ungleichheit der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen und die Unterteilung in bevorzugte und benachteiligte Berufs- und Beschäftigungsgruppen mit höheren physischen und psychischen Stressoren als Problem (Siegrist 2016).

Grundsätzlich stellt sich ja die Frage, wie die Menschen den veränderten Arbeits- und Arbeitsmarktanforderungen begegnen, wie sie den Optimierungsdruck erleben und mit der geforderten Flexibilisierung umgehen. Interviewstudien zeigen, dass sich sehr unterschiedliche psychosoziale Bewältigungsformen herausbilden, die ihrerseits wieder verknüpft sind mit den jeweiligen biografischen Erfahrungen und psychischen Strukturen. Insofern verwundert es nicht, dass manche sich Optimierungsansprüche lustvoll zu eigen machen und sich in einer permanent flexiblen Selbstentwicklung wohlfühlen und sie erfolgreich gestalten, während andere sich erschöpft und überfordert fühlen oder sich verausgaben, ohne an ein befriedigend erlebtes Ziel zu gelangen (Schreiber et al. 2015, S. 39).

1.3.2     Beschleunigung und Rastlosigkeit: Schlafstörungen

Als ein Risikofaktor für die Entwicklung depressiver Erkrankungen gelten chronische Schlafstörungen. Laut einer Studie der DAK sind Schlafstörungen seit 2010 bei Berufstätigen zwischen 35 und 65 Jahren um 66 % angestiegen. 80 % aller Arbeitnehmer (ca. 34 Millionen Menschen) seien davon betroffen, unter schwerer Insomnie mit Ein- und Durchschlafstörungen, schlechter Schlafqualität, Tagesmüdigkeit und Erschöpfung leide jeder zehnte Berufstätige, wobei Frauen etwas mehr als Männer betroffen sind (Marschall et al. 2017). Im Vergleich zu 2010 nehmen nahezu doppelt so viele Betroffene Schlafmittel. Auch wenn die Krankschreibungen aufgrund von Schlafstörungen um 70 % angestiegen sind, bleiben die meisten unbehandelt (Marschall et al. 2017). Als mögliche Risikofaktoren für Schlafstörungen geben die Autoren hohen Termindruck, Erreichbarkeit für dienstliche Belange außerhalb der Arbeitszeit und im Urlaub per E-Mail, Handy oder Festnetz, Schichtarbeit oder Nachtschichten sowie ein eher niedriges Tätigkeitsniveau an. Arbeitende mit weniger qualifizierten Berufen und niedrigerer beruflicher Stellung sind stärker betroffen.

Die beschleunigte und rastlose Gesellschaft drängt im Zuge der Selbstausbeutung den Schlaf in eine Nebenrolle, so eine Schlussfolgerung der Studie. Zum Teil wird diese Entwicklung idealisiert und glorifiziert, wie in einer aktuellen Werbekampagne einer amerikanischen Zeitarbeiterwebseite. Auf den Plakaten ist eine übernächtige junge Frau abgebildet und darunter steht: »Wenn Dein Mittagessen aus einem Kaffee besteht. Wenn Du zu Ende bringst, was Du angefangen hast. Wenn Schlafentzug die Droge Deiner Wahl ist. Dann bist Du vielleicht ein Macher« (Süddeutsche Zeitung, 21. April 2017, S. 9). Auf der anderen Seite entwickelt sich Schlaf zu einem neuen Statussymbol und die Entwicklung von entsprechenden Psychopharmaka, Licht- und Geräusch-Produkten boomt.

1.3.3     Lebenstempo und Familienbeziehungen

King (2013, S. 143) fasst die Folgen der Beschleunigung und Flexibilisierung so zusammen:

»In Arbeitsabläufen, im Bildungssystem und im Alltag von Familien finden sich Tendenzen zur Verdichtung und gleichzeitig Entgrenzung (…). Der Alltag muss stärker situativ und ereignisabhängig und zugleich fortlaufend optimiert werden.«

Über die Verknappung von Zeit und die Intensivierung von Zeitkonflikten beeinflusst diese Entwicklung auch Beziehungen innerhalb der Familien, die immer mehr unter Zeitstress stehen. Wobei ein Teil des Zeitstresses auch dadurch zustande kommt, dass sich Eltern heute viel intensiver um die Förderung ihrer Kinder kümmern als früher. Wenn dies auf Kosten der Qualität der Beziehung und des emotionalen Austauschs innerhalb der Familie geht, kann dies die psychische Entwicklung negativ beeinflussen, und die Anfälligkeit für Erschöpfung und Depressivität steigen. Allerdings sind diese negativen Auswirkungen bisher nicht in den Familien der großen Mehrheit der Heranwachsenden anzutreffen, wie die aktuelle Shell-Jugendstudie zeigt (Shell Deutschland Holding 2015, S. 381):

»Deutlich wird, dass sich Jugendliche noch nie so gut mit ihren Eltern verstanden haben wie heute. Die große Mehrheit hat liberale, liebevolle und unterstützende Eltern, von denen sie Anerkennung bekommt und an die sie sich vertrauensvoll wendet. Zumindest aus Sicht der Jugendlichen scheinen diese Eltern den Balance-Akt zu schaffen, ein freundschaftliches und vertrauensvolles Verhältnis zu ihren Kindern zu haben, in dem sich die Jugendlichen ernst genommen fühlen und zugleich im Eltern-Kind-Verhältnis Geborgenheit erfahren.«

Insgesamt zeichnet die aktuelle Jugendstudie kein Bild einer depressiven Generation. Vielmehr zeigen die Jugendlichen überwiegend einen »experimentierfreudigen Pragmatismus« (Shell Deutschland Holding 2015, S. 376) mit Zuversicht und der Bereitschaft, sich nicht nur im sozialen Nahraum und für die eigene berufliche Entwicklung zu interessieren, sondern sich auch für gesellschaftliche und politische Themen zu engagieren. Dabei haben sie aber einen starken Wunsch nach Sicherheit und Beziehung. Insgesamt wird eine Generation im Aufbruch beschrieben.

 

1.4       Formenwandel der Depression und ein veränderter Sozialcharakter?

 

Von manchen Autoren wird ein Formenwandel der Depression angenommen (Ehrenberg 2004; Haubl 2007; Keupp 2010). Heute geht es zumindest in der westlichen Welt viel seltener um Konflikte zwischen Über-Ich und Es, bei denen Schuldgefühle dominieren aufgrund von aggressiven Impulsen und Autonomiebestrebungen oder sexuellen Triebwüschen. Vielmehr findet der zentrale Konflikt zwischen Ich-Ideal und erlebten Real-Ich statt. Aus einem anhaltenden Gefühl nicht zu genügen entstehen Insuffizienzgefühle, Kränkungserlebnisse und häufig eine hypochondrische Sorge um die eigene Leistungs- und Funktionsfähigkeit. An die Stelle der Schuld sind Scham und Versagensgefühle getreten. Aufgrund der Zunahme an Selbstverantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten sowie dem hohen Selbstoptimierungsdruck nimmt die Gefahr zu, nicht nur zu scheitern, sondern sich dafür auch selbst verantwortlich zu fühlen und anzuklagen. Ein möglicher Bewältigungsversuch kann darin bestehen, das eigene Selbstbild und Selbstwertgefühl durch immer mehr Leistung und Verausgabung zu stabilisieren, was dann zu Erschöpfung und Burnout führen kann.

Die Frage, ob es eine solche Verschiebung der Psychodynamik der Depressionen wirklich gibt und inwiefern sie mit den beschriebenen gesellschaftlichen Entwicklungen zusammenhängt, ist ähnlich schwer zu beantworten wie die bereits zu Beginn des Kapitels angedeutete Frage, ob sogenannte frühe oder Ich-strukturelle psychische Störungen zu- und klassische Neurosen abgenommen haben. Wenn auf die klinische Erfahrung rekurriert wird, auf zehn Jahre zurückblickend Patienten mit depressiver Symptomatik neu beurteilt werden und sich zeigt, dass die »Verinnerlichung gesellschaftlicher Leistungs- und Selbstverwirklichungsideologien eine destruktive Dynamik auslösen können« (Keupp 2010, S. 12), dann bleibt aber doch die Frage, ob nicht im Lichte der gegenwärtigen Diskussion genau diese psychische Dynamik, die gesucht wird, auch besonders wahrgenommen und gefunden wird.

Dornes (2016, S. 122) beschreibt neben dieser Veränderung noch einen etwas anderen Formenwandel der Depression. Aus seiner Sicht ist es weniger oder nicht nur eine gesamtgesellschaftliche Veränderung von Über-Ich- zu Ich-Ideal-Konflikten, sondern ein Defizit der Gesamtpersönlichkeit, das den von René Spitz beschriebenen »Ich-Verarmungsdepressionen« entspreche und vor allem Menschen betrifft, die in einem bestimmten Milieu mit wenig sprachlicher und emotionaler Interaktion, viel Fast- und Junkfood-Ernährung und stundenlangem Ruhigstellen vor dem Fernseher oder Computer aufwachsen.