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Jo Zybell

Lennox und der Weg nach Westen: Das Zeitalter des Kometen #12

Lennox und der Weg nach Westen: Das Zeitalter des Kometen #12


von Jo Zybell


Der Umfang dieses Buchs entspricht 129 Taschenbuchseiten.


Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen und das dunkle Zeitalter hat begonnen.

In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …


Es scheint ein Wunder zu sein, doch der Wissenschaftler und Astronaut David Mulroney, kommt nach langer Gefangenschaft zu sich. Er hat den Einschlag von Alexander-Jonathan überstanden und trifft auf Jenny Petersen, die ihn behutsam aufklärt, dass sie einen Zeitsprung gemacht haben. Nach dem ersten Schock entdeckt Dave, dass sich im ehemaligen Berlin alle notwendigen Einzelteile finden, um ein Flugzeug zu bauen und Tim Lennox zu suchen. Doch dann kommt ihnen der wahnsinnig gewordene Jacob Blythe dazwischen.


Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2019 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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1

»Ich schwör’s dir, Mickey, ich komm hier wieder raus.« Graues Licht sickerte vom höchsten Punkt des Gewölbes in den ansonsten dunklen Raum.

Graues Licht fiel auch durch die winzigen Lücken in den rosettenartigen Fenstern und die Ritzen der schweren hölzernen Tür. Der Mann stemmte sich von seinem Schlaflager hoch; Stroh und trockenes Laub raschelten. Er streckte sich und gähnte,während er auf diese Weise den neuen Tag begrüßte. »Du weißt, dass ich Recht hab, Mickey, irgendwann komm ich hier wieder raus.« So lauteten seit Monaten seine ersten Worte nach dem Aufwachen. Ein Ritual, das sich schon fast ohne sein Zutun abspielte, eine Liturgie, ein Gebet sozusagen.

Er stand auf und wickelte sich aus dem Fell, das sie ihm zum Schlafen gegeben hatten. Es fiel auf den Stroh- und Laubhaufen zu seinen Füßen. Prüfend ließ er seine linke Schulter kreisen, kein Schmerz heute Morgen. Dann beugte und streckte er den linken Arm ebenfalls schmerzfrei. Schon einundzwanzig Tage ohne Beschwerden! Oder waren es zweiundzwanzig? Ein wenig nur ging der Mann in die Knie; fast aus dem Stand ließ er sich auf die Hände fallen. Wieder hielt er einen Augenblick inne. Jetzt spürte er den Schmerz in Ellenbogen und Schulter. Er begann mit den Liegestützen. Auch das ein morgendliches Ritual seit so vielen Tagen.

Der Schmerz verstärkte sich natürlich. Der Mann kümmerte sich nicht darum. Er stemmte sich hoch, ließ sich sinken, stemmte sich hoch.

Sein langes fettiges Haar berührte den feuchten Boden. Er atmete prustend aus, sog die Luft ein, atmete aus, ignorierte den Schmerz.

Einunddreißig Liegestützen schaffte er. Er sprang auf, schüttelte sich aus. »Einunddreißig, Mickey, nicht schlecht was?« Als er damit angefangen hatte, war er über drei Liegestützen nicht hinausgekommen. »Ich meine, wenn man bedenkt, dass Schulter und Ellenbogen wahrscheinlich gebrochen waren? Hey, Mickey das ist doch nicht übel, sag selbst …«

Das graue Licht in seinem Gewölbekerker breitete sich aus. Wie zäher schmutziger Brei tropfte es aus dem Zenit des Gewölbes über die morschen Sparren des Runddachs, über Spinnennetze, blinde Fenster und Gemäuer schließlich.

Die moosfreien Stellen des östlichen Rosettenfensters ließen die ersten Strahlenbalken der Morgensonne in seinen Kerker. Selten, ganz selten hatte er solche Lichtbalken zu sehen bekommen. Meistens schickte selbst ein neuer Morgen nur dämmriges Licht in seinen Kerker.

Aber heute Strahlenbalken. »Ein gutes Omen, Mickey, was meinst du?«

Die Lichtstrahlen fielen auf die Wand über seinem Schlafplatz. Die drei Fenster hatten sie mit einem Holzlattenverschlag verbarrikadiert.

Ziemlich unsinnig, wie er fand, denn die breiten Fenster waren von Metallsprossen durchzogen. Selbst wenn er einzelne Scheibchen eingeschlagen hätte – nicht einmal den Fuß hätte er durch die Öffnungen stecken können. Vielleicht sollte der Verschlag aber auch nur den Blick durch die Fenster nach draußen verhindern.

Er ging zu dem Lattenverschlag, bückte sich und griff hindurch. Seine Finger ertasteten einen Holzbalken am Boden und darauf schließlich seine Brille. Er hatte sich angewöhnt, sie dort abzulegen, an einem immer gleichen Ort, damit er nicht versehentlich auf das unersetzliche Stück trat. Oder seine Kerkermeister, wenn sie ihm Wasser und Essen oder frisches Laub und Stroh brachten.

Staubpartikel tanzten im Lichtbalken.

»Wenigstens keine Dunkelhaft, Mickey, was?« Der Mann setzte die Brille auf und ging zu seinem Schlafplatz. An der Wand darüber enthüllte der wachsende Lichtstrahl jetzt Zeichen über Zeichen. Striche zum Beispiel; viele Striche in Fünferblocks zusammengefasst.

»Einzelhaft, aber keine Dunkelhaft …« Der Mann betrachtete die Zeichen.

Über dem ersten Fünferblock war mit römischen Ziffern ein Datum eingeritzt IX/II. Der Mann ging einfach davon aus, dass sein erster Tag in diesem Kerker der 9. Februar gewesen war. Weiter nichts als eine Theorie. Er hatte keine Ahnung, wie viele Tage er bewusstlos hier gelegen hatte. Aber irgendeinen Anhaltspunkt brauchte er schließlich. Einen Anhaltspunkt, um sich wenigstens ansatzweise in der sogenannten Wirklichkeit zu orientieren.

Über der Lücke zwischen dem ersten und dem zweiten Fünferblock hatte er das Symbol eines Blitzes ins Gemäuer geritzt. Der fünfte Tag.

Standen die meisten dieser Striche für Tage voller Schmerzen und Verzweiflung, der fünfte tat es in ganz besonderem Maße: An diesem Tag hatte der Mann sich seinen gebrochenen Unterarmknochen reponiert, den linken Radius. Mit dem Schnürsenkel seines Stiefels hatte er das Handgelenk des verletzten Armes am Lattenverschlag vor einem der Fenster festgebunden. Und dann gezogen, geschrien und gezogen und den Knochen in die normale anatomische Position gedrückt. Bruchstelle auf Bruchstelle.

Ihn fröstelte, wenn er an diesen Augenblick zurückdachte. So laut und so lang hatte er geschrien, dass sie herbei gerannt kamen. Sie hatten die Kerkertür aufgerissen, diese hässlichen verwachsenen Burschen, und ihn blöde angeglotzt.

Einer, ein knorriger Kerl mit einem Buckel, hatte ihm ein ekelhaftes Gesöff gebracht, das nach Galle schmeckte. Er hatte es trotzdem getrunken, und es hatte ihm damals ein Gefühl wie von Watte in den Gliedern geschenkt. Und stundenlangen Schlaf, tief und traumlos.

Was auch immer das für eine Welt sein mochte, in der er gelandet war – wenn sie noch Rauschmittel kannte, konnte sie so ganz fremd nicht sein.

Über dem sechsten Fünferblock war ein verwackelter Halbkreis eingeritzt, am vierunddreißigsten Tag hatte der Mann mit Bewegungsübungen begonnen und zum ersten Mal wieder seinen verletzten Arm belastet. Über dem dreizehnten Fünferblock war ein L in die Wand geritzt. Nie würde er den fünfundsechzigsten Tag vergessen: der Tag seiner ersten drei Liegestützen mit beiden Armen.

Dann eine aufsteigende Zahlenkolonne über den Strichblöcken: 4, 6, 9, 11, und so weiter, die wachsende Anzahl von Liegestützen, die er im Laufe der Gefangenschaft seinem schmerzenden Arm abgetrotzt hatte.

Und über der zweiundzwanzigsten Fünferkolonne auffällig groß die Ziffer 36; sein Geburtstag. Am hundertneunten Tag seiner Gefangenschaft war er sechsunddreißig Jahre alt geworden. Vorausgesetzt, er war nicht tagelang bewusstlos gewesen, musste der 29. Mai der hundertneunte Tag gewesen sein.

Der Mann kramte einen Metallknopf aus der Hosentasche. Er hatte ihn von der Brusttasche seines Pilotenanzugs abgerissen, um ihn als »Schreibwerkzeug« zu benutzen. Murmelnd zählte er die Striche. »Hundertfünfundvierzig, Mickey«, sagte er schließlich. Er ritzte einen weiteren Strich in die Wand.

»Also ist heute der hundertsechsundvierzigste Tag. Ziemlich genau einundzwanzig Wochen, Mickey. Dann müsste heute der vierte Juli sein.« Er ritzte das Datum in römischen Ziffern über den neuen Strich. »Noch kein halbes Jahr, Mickey – verdammte Hacke, wir schaffen das!« Niemand antwortete ihm. Nur das vertraute, geliebte Gesicht vor seinem inneren Auge lächelte und nickte zustimmend.

Dafür erklangen Stimmen außerhalb seines Kerkergewölbes. Er lief ans Fenster und lauschte: Schritte und Stimmen, tatsächlich.

»Das Frühstück, endlich«, murmelte der Mann. Er ging zurück zur Wand. Das Licht des neuen Tages enthüllte jetzt jedes einzelne Zeichen auf ihr: Strichkolonnen, Buchstaben, Zahlen, Worte, mathematische Gleichungen, Namen. Einer vollgeschriebenen Tafel glich die Kerkerwand.

Wie jeden Morgen ging er zuerst die Namen durch. Er sprach sie laut aus, während er sie las:

»Mickey Mulroney. John Mulroney. Mary Mulroney. Judith Mulroney …«

Namen von alten Freunden seiner Kindheitsjahre folgten, von Schulkameraden, Kommilitonen, Lehrern, Professoren, und so weiter. Auch Namen von Städten und Universitäten waren darunter: Baltimore, Los Angeles, Berlin, California State University, Harvard University.

Zuletzt las er die Namen der Menschen, die er erst in den letzten Monaten kennengelernt hatte: Major Bellmann, Hank Daniels, Irvin Righter, Jennifer Petersen, Timothy Lennox und den Namen seines Chefs, Jacob Blythe.

All diese Namen waren um einen in Großbuchstaben in die Wand geritzten Namen gruppiert, um seinen eigenen Namen. Den las er zuletzt und lauter als die anderen. »Professor Doktor David Mulroney!« Jede einzelne Silbe betonte er. Als würde er den Ehrengast eines festlichen Symposiums ankündigen, rief er seinen Namen in das Halbdunkel seines Kerkers.

Auch das ein seit über hundert Tagen geübtes Ritual. Zuerst hatte nur sein eigener Name an der Wand gestanden. Danach die Namen seiner engsten Verwandten. Und Tag für Tag hatten sich neue Namen dazu gesellt. Namen von Menschen, Städten und Orten Punkte eines Koordinatensystems, zwischen denen sich das zerbrechliche Netz seines Lebens ausspannte.

Er tat das, um sich seiner selbst zu vergewissern. Um nicht zu vergessen, wer er war. Um nicht durchzudrehen in dieser Einsamkeit.

Um nicht den Verstand zu verlieren vor Schmerzen und quälenden Fragen, die Stunde für Stunde sein Hirn überschwemmen wollten.

»Hey, Mickey, ich bin’s!«, rief er laut. »Ich bin immer noch David Mulroney, und ich schwör’s dir …« Er stutzte. Die Stimmen und Schritte tönten jetzt nicht mehr vor den Fenstern, sondern innerhalb des Gebäudes, in dem sich sein Kerker befand. Irgendwo unterhalb des düsteren Gewölbes.

Sein Magen knurrte. »Ich habe Hunger, also bin ich«, knurrte er. Er setzte sich im Schneidersitz auf den zerdrückten Stroh- und Laubhaufen. Erfahrungsgemäß dauerte es von Sonnenaufgang an immer ein paar Stunden, bis sie ihm Wasser und irgendwelche undefinierbaren Früchte oder miefendes Fleisch brachten. Er lehnte mit dem Rücken gegen die Wand und schloss die Augen.

Das letzte Ritual, bevor er die Stunden bis zur nächsten Nacht mit mathematischen Gleichungen und physikalischen Berechnungen verbringen würde; Hirntraining. Nicht körperlich, sondern auch geistig wollte Mulroney fit sein, wenn er diesen Kerker einst verließ. Daran, dass er ihn verlassen würde, hatte er noch keine Sekunde gezweifelt.

Er stellte sich drei runde Plattformen vor. Aus jeder ragte ein Metallstab. Auf der ersten Plattform – Mulroney nannte sie A – ruhte eine Pyramide aus sieben Scheiben. Durch ein Loch in ihrem Zentrum waren sie über den Metallstab gesteckt. Ganz zuunterst lag die größte Scheibe.

Die Spitze der Pyramide bildete die kleinste Scheibe. Die Aufgabe bestand darin, die sieben Scheiben der Pyramide auf die leere Plattform B umzuschichten. Und zwar nach zwei strengen Regeln: Erstens durfte immer nur eine Scheibe bewegt werden, und zweitens durfte niemals eine größere über einer kleineren Scheibe liegen. Die dritte Plattform C konnte dabei als Ablagefläche benutzt werden.

»Turm von Hanoi« nannte sich dieses alte mathematische Problem. Ursprünglich war es mit vierundsechzig Scheiben beschrieben worden und nicht lösbar: Selbst bei einer Handbewegung pro Sekunde würde ein Mensch über vierhundert Milliarden Jahre brauchen, um die Aufgabe zu erfüllen. Und ein Computer, der rechnerisch eine Milliarde Scheiben pro Sekunden umsetzte, wäre vierhundert Jahre lang für keine andere Rechenoperation zu gebrauchen.

Mulroney vollzog die Übung in Gedanken, wie gesagt, um seine logischen Fähigkeiten und seine Imaginationskraft zu trainieren. Und um nicht verrückt zu werden.

Mit drei Scheiben hatte er angefangen. Gleich, als die Kopfschmerzen nachgelassen hatten. Über hundert Tage war das her. An seinem Geburtstag hatte er es zum ersten Mal fertig gebracht, sechs Scheiben regelkonform umzuschichten. In ungezählten Gedankenschritten. Seit fünf Tagen versuchte er sich an sieben Scheiben.

Deutlich wie wirkliche Gegenstände sah er die Plattformen, Scheiben und Stäbe vor sich. Nach etwa zehn Minuten – vierundzwanzig Mal hatte er seine Scheiben hin und her bewegt – näherten sich Schritte vor seiner Kerkertür.

Er ließ sich nicht stören. Auch nicht, als die schwere Tür sich knarrend öffnete. Erst als er weder weitere Schritte noch das typische Geräusch hörte, mit dem normalerweise Krug und Tonschüssel auf den Steinboden gesetzt wurden, brach er die Übung ab und öffnete die Augen.

Zwei von ihnen standen reglos im Halbdunkel vor der offenen Tür. Den Kleineren erkannte Mulroney sofort; der schräge Hals, die hochgezogene rechte Schulter, die unnatürlich langen Arme und das aufgedunsene Gesicht: der Bucklige, der ihm vor Monaten das betäubende Gesöff gebracht hatte.

Der Mann stützte sich auf einen Holzprügel und lugte zu Mulroney herüber. Die krummen Beine und sein kurzer Oberkörper waren in dunkle Lumpen gewickelt, die teilweise in langen Fetzen an ihm herunterhingen. Etwas wie eine geflochtene Kappe bedeckte seinen haarlosen Schädel.

Den Mann neben ihm hatte Mulroney noch nie gesehen. Jedenfalls erinnerte er sich nicht an ihn. Er war größer und dürrer als der Bucklige. Sein Körper steckte in einem sackartigen Gewand. Ausgemergelt war das lange Gesicht mit den großen, tief in den Höhlen liegenden Augen. Das Haar stand ihm in filzigen Quasten vom Schädel ab. Trotz des Dämmerlichts meinte Mulroney, das Stechende seines Blicks zu sehen. Vielleicht spürte er es auch nur.

Einige Atemzüge lang starrten die Exoten an der Tür ihn nur an. Und Mulroney starrte zurück. »Und?«, fragte er schließlich. »Irgendwelche Probleme?«

Seine Stimme hallte aus dem Gewölbe zurück, denn er sprach laut, um die aufsteigende Angst zu verscheuchen.

»Du gehst, du bist frei«, sagte der Bucklige. Er sprach ein verballhorntes Deutsch und rollte das R.

Mulroney konnte auf Deutsch einen Hamburger bestellen, eine Fahrkarte in einem Reisezentrum kaufen oder Passanten nach dem Weg fragen. Mit einem guten Wörterbuch konnte er wissenschaftliche Arbeiten in deutscher Sprache lesen. Kurz: Sein Deutsch war äußerst entwicklungsfähig. Von dem verwaschenen Satz des Buckligen verstand er nur ein Wort.

»Frei?« Sein Herz stolperte; etwas Heißes löste sich hinter seinem Brustbein und plumpste in seine Gedärme. »Was sagst du? Frei?«

»Bist frei.« Der Bucklige bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung aufzustehen und den Kerker zu verlassen. »Hast fertig, komm schon.«

Dave sprang auf. Seine Knie drohten nachzugeben. Er stützte sich an der Wand ab. Glucksende Geräusche schwappten aus seinem Hals über seine Lippen. »Hey, Mickey hast du das auch gehört?« Er kicherte wie ein Irrsinniger. »Glaub nicht, dass die uns verarschen, oder?«

Die Mienen der Männer verfinsterten sich. David Mulroney sprach Englisch, und sie verstanden kein Wort. Wieder winkte der Bucklige mit einer Kopfbewegung. Ungeduldiger diesmal. Beide traten sie zur Seite, um den Eingang freizugeben.

»Hab ich’s dir nicht gesagt, Mickey?« Dave feixte und kicherte. Die Scheiben vor seinem inneren Auge purzelten durcheinander. Alles in seinem Kopf purzelte durcheinander. Er stakste von seinem Lager aus Stroh und Laub in Richtung Tür. »Ich komm hier wieder raus, hab ich’s nicht heut erst wieder gesagt?«

Während er kicherte, liefen ihm Tränen aus den Augen. Er konnte nichts dafür, sein Nervenkostüm war einigermaßen stabil für einen Mann, der hundertsiebenundvierzig Tage Einzelhaft im Halbdunkeln hinter sich hatte. Und dazu eine selbstbehandelte Schulter- und Unterarmfraktur. Erstaunlich stabil sogar, wirklich wahr. Aber die Plötzlichkeit der Wende hebelte ihn aus.

In der Mitte des Raumes, fünf Schritte von der Tür und den beiden Exoten entfernt blieb er stehen und drehte sich um. Seine Augen flatterten über die Wand, die ihm einundzwanzig Wochen lang als Notizblock gedient hatte. Noch einmal las er die Namen, betrachtete die Zeichen und Striche, überflog die Algorithmen und Gleichungen. Zum letzten Mal.

»Zum letzten Mal«, sagte er laut. »Zum letzten Mal, Professor Doktor David Mulroney.«

Das Durcheinander in seinem Schädel legte sich. Sein Hirn begann das neue Faktum zu akzeptieren. Von einem Moment auf den anderen arbeitete es wieder in gewohnter Kühle.

Dave nahm die Brille ab und wischte sich die Augen aus. Dann drehte er sich zu den beiden Eigenartigkeiten an der Tür um. Ein scheußlicher Gedanke beschlich ihn. Was, wenn sie ihn zur Hinrichtung abführten?

»Äh – wohin?« Er kratzte seine Deutschkenntnisse zusammen. »Ich meine, was ihr habt vor mit mir?« Misstrauen verengte seine Augen.

»Nix.« Der Bucklige schüttelte energisch den Kopf. »Nix ham wa vor. Frei biste. Fertig haste.«

Dave nickte zufrieden. Er holte tief Luft. Mit geschwellter Brust und großen Schritten stapfte er zur Tür.

Die ausgestreckten Arme des Mannes mit den Filzquasten versperrten ihm den Weg. Abrupt blieb Dave stehen. Er blickte auf die Hände des Mannes. Lauter vertraute Gegenstände hielt er ihm unter die Nase. »Gehört dir«, schnarrte er.

»O ja«, tönte Dave. Nacheinander nahm er dem Mann die Dinge aus der Hand und versenkte sie in den vielen Taschen seiner Piloten-Kombi: Notizbuch, Kompass, Stift, Brillenetui, Taschenmesser. Zuletzt nahm er seine Uhr. Genau wie die anderen Sachen schien sie unbeschädigt zu sein. Er hielt sie dicht vor seine Augen, um das Zifferblatt erkennen zu können. Halb acht zeigten die Zeiger. Und der Kalender verriet ihm das Datum: Mittwoch, 4. Juli.

»Hey, Mickey, ich kann höchstens ein paar Stunden bewusstlos gewesen sein!« Feixend schnallte er sich die Uhr ums Handgelenk. »Ich hab richtig gezählt. Es ist Mittwoch, der 4. Juli 2012.«

Das stimmte nicht ganz!