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Deutsche Erstausgabe (ePub) Oktober 2019

 

© 2019 by Raik Thorstad

 

Verlagsrechte © 2019 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

 

ISBN-13: 978-3-95823-782-7

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


 

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Liebe Leserin, lieber Leser,

 

vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem den Autor des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber seiner Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane des Autors und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

 

Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

Eine traurige Nachricht vom anderen Ende der Welt führt Vince nach langer Zeit auf die heimatliche Kirschplantage in Tasmanien zurück. Dort erwartet ihn nicht nur die eine oder andere Katastrophe, sondern mit seinem Ziehbruder Jamie auch seine Vergangenheit, die ihn nie wirklich losgelassen hat. Trotz der Kluft, die nicht nur durch die Jahre der Trennung zwischen ihnen entstanden ist, müssen sich die beiden Männer zusammenraufen, um das zu retten, was sie lieben. Schon bald muss Vince sich fragen, ob das auch Jamie mit einschließt und ob es für sie eine zweite Chance geben kann. Doch wie soll Vince ihm noch einmal vertrauen, nachdem Jamie ihn damals im Stich gelassen hat? Aber vielleicht trägt Vince nicht nur Tasmanien im Herzen, sondern nach wie vor auch Jamie...


 

 

Danksagung

 

 

Mit von einem Herzen kommenden Dank an all die lieben Helferlein da draußen, die auf kleine oder große Weise dafür gesorgt haben, dass dieses Buch das Licht der Welt erblickt.

 

Besonders hervorgehoben sei Freddy, die uns aus unserer Titelmisere erlöst hat und nicht nur diesem Buch, sondern auch mindestens einem folgenden mit ihrer Idee einen Namen gegeben hat. Vielen Dank für deinen Einsatz!

 

Und – weil ich's kann – danke an die australische Fauna, weil sie einfach die schönste der Welt ist und ich sonst nie Gelegenheit haben werde, mich persönlich bei einem Schnabeltier zu bedanken.

 

Du bist mein Blutsbruder, liebes Schnabeltier. Du legst Eier und säugst deine Jungen, du hast einen Schnabel und trotzdem ein Fell, einen Biberschwanz und trotzdem einen Giftdorn. Du beweist jeden Tag, dass man aus zwei Welten stammen und dennoch eine grandiose Einheit sein kann.

 

#schnabeltieresindbestimmtbigender


 

Prolog

 

 

Es waren sieben Jahre vergangen. Sieben Jahre, in denen er nicht die Kirschblüte miterlebt hatte. Sieben Jahre, in denen er nicht durch den Regenwald gestromert war. Sieben Jahre ohne Heimkehr. Und nun dies.

Vince legte das Smartphone so behutsam auf den Tisch, als könnte es explodieren, wenn es zu starker Erschütterung ausgesetzt wurde. Ganz falsch war das nicht, auch wenn keine Feuerlohe daraus hervorsteigen würde, sondern allenfalls ein Regenschauer aus Glassplittern. Er hätte wirklich eine Schutzfolie aufziehen sollen. Im Nachhinein war man immer klüger – und vorher geizig.

Ein zittriger Atemzug entfuhr ihm, als er die Ellbogen auf den Tisch stützte, die Fingerspitzen an die Schläfen legte und auf das gesprungene, dunkle Display starrte.

Sieben Jahre.

Inzwischen war er fast dreißig, hatte weit mehr von der Welt gesehen, als er sich je hätte vorstellen können, und war um etliche Erfahrungen reicher. Auf manche hätte er gern verzichtet, aber hieß es nicht immer, dass man an jeder Erfahrung wuchs, egal, ob gut oder schlecht? Oder verwechselte er das mit Werbung, die sich angeblich immer lohnte, solange sie nur Aufmerksamkeit erzeugte?

Eine Erschütterung ging durch die Tischplatte. Anfangs glaubte Vince, dass sich sein inneres Beben auf das Holz übertragen hatte. Dann fiel ihm auf, dass auch der Rest des Gebäudes wackelte und das Fenster vibrierte. Der alltägliche Verkehrslärm von draußen war verflucht laut, aber er hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass er es manchmal nicht einmal bemerkte, wenn ein schwerer Lastwagen das alte Mehrfamilienhaus in Schwingung versetzte.

In den ersten Wochen war er nachts aus dem Schlaf hochgefahren, wenn sich frühmorgens die ersten Schwerlasttransporter durch die viel zu enge Straße quetschten. Monmouth war eine alte Stadt, die ihre enge Baustruktur über die Jahrhunderte beibehalten hatte. Das machte das walisische Städtchen neben vielen anderen Vorzügen ausgesprochen charmant, aber nicht eben verkehrsfreundlich.

Er würde Monmouth vermissen. Nicht so sehr wie Wayatinah, aber immer noch genug.

Vince kniff die Fingernägel in die Schläfen, um zu sich zu kommen. Der scharfe Schmerz machte ihm das hohle Gefühl in seiner Brust nur umso bewusster.

Sieben Jahre waren viel Zeit. Vielleicht nicht genug. Aber gleichzeitig viel zu viel, wenn man jemanden, der einem wichtig war, so lange nicht gesehen hatte.

Er musste Vorbereitungen treffen, packen, sich kümmern. Es gab keine Alternative, auch wenn ein Teil von ihm sich wie ein kleiner Junge unter dem Tisch verstecken wollte, am besten mit einer Decke als Vorhang, wie er es als Kind so gerngehabt hatte. Eine warme Dunkelheit konnte ungeheuer gut trösten, wenn draußen der Sturm heulte, man allein war und sich fürchtete.

Mit einem Seufzen schob Vince das Smartphone in die Seitentasche seiner Anzugjacke und stand auf, um in die Küche zu gehen.

Gordon saß wie so oft auf der Arbeitsplatte und spielte auf seinem uralten Game Boy erster Generation. Seine Beine baumelten vor dem Loch hin und her, wo sich einmal die Tür zum Mülleimer befunden hatte. Sie war vor einer Weile rausgebrochen, bei irgendeiner Party.

Die Mikrowelle lief und es stank nach einem asiatischen Fertiggericht, das den Namen nicht verdiente. Weder asiatisch noch Gericht, denn dann hätte man glauben können, dass die widerliche Pampe tatsächlich essbar war.

Vince klopfte an den Türrahmen. »He.«

Gordon nickte, um ihn wissen zu lassen, dass er ihn gehört hatte, sah aber nicht auf. Aus dem Game Boy erklang das monotone Pling-Pling eines Marios, der graue Münzen sammelte.

»Ich muss nach Hause«, sagte Vince und wunderte sich, dass seine Stimme glatt und sicher wie eh und je klang.

»Da hast du dir ja ganz schön was vorgenommen. Gibt's einen besonderen Grund?« Gordon verzog den Mund – wahrscheinlich hatte er ein 1-up verpasst.

Vince trommelte mit den Fingern gegen den Türrahmen. »Meine Mutter ist gestorben.«

Nun sah Gordon doch auf, den breiten Mund unvorteilhaft aufgerissen und die Augen weit. »Schon wieder?«

Es wäre zum Lachen gewesen, wenn das hohle Gefühl nicht im Begriff gewesen wäre, Vince von innen aufzufressen. »Nicht meine leibliche Mutter. Die andere.«

Der Game Boy gab ein Geräusch von sich, das verriet, dass Super Mario ebenfalls seinen letzten Gang angetreten hatte. Normalerweise hätte Gordon geflucht oder Vince angepfiffen, weil er ihn gestört hatte. Doch dieses Mal ignorierte er das Gerät und sagte: »Tut mir leid, Mann.«

Gordon war ein guter Freund. Meistens. Manchmal. Fein, er war vermutlich Vince' einziger Freund und damit naturgemäß auch der beste. Und in diesem Moment war er vor allem anderen seine einzige Hoffnung.

»Ich brauche Geld«, gestand er tonlos. »Eine Menge Geld.«

Gordon rieb sich mit der Hand über das Gesicht. »Wie viel ist eine Menge?«

Vince hatte nachgesehen. Wenn er es eilends nach Cardiff schaffte, konnte er in zwei Tagen zu Hause sein. Falls alle Flüge pünktlich abhoben, hieß das. Falls es keine Schwierigkeiten gab, wenn er das Land verlassen wollte. Es gab eine Menge Unwägbarkeiten, aber auf die konnte er sich nicht versteifen. Sonst würde er nicht aus dem Haus gehen.

Er schluckte und senkte den Blick zum verkratzten Küchenfußboden. »Tausend. Besser tausendzweihundert.«

»Und wie viel hast du?«

»Fünfzig?« Wenn es hochkam.

Gordon stieß ein merkwürdiges Geräusch zwischen Lachen und Ächzen aus. »Was mit deinen Kreditkarten ist, brauch ich dich gar nicht erst zu fragen, oder?«

Vince schloss die Augen. »Nein, und zwar so gar nicht.«

»Tja. Scheiße, Mann.«

Das Schweigen war lang und bitter. Und vielleicht hoffte der Dreckskerl in Vince sogar, dass Gordon ihm den Mittelfinger zeigen und ihn wegschicken würde. Dann hätte er einen Grund, sich doch noch unter den Tisch zu setzen und vor sich hin zu heulen, statt Reisevorbereitungen zu treffen.

Aber natürlich kam er nicht so leicht vom Haken.

»Okay. Ich kann die Kohle besorgen, denke ich. Und ich fahre dich nach Cardiff, wenn du willst. Aber dafür bekomme ich deinen Laptop. Und deine Lederjacke, die du mir nie leihen willst.«

Vince versuchte zu ergründen, ob er erleichtert oder enttäuscht war. Er gab rasch wieder auf. »Danke. Du kriegst es wieder.«

»Nein, tu ich nicht. Deshalb will ich ja deinen Kram, du Penner.« Man konnte Gordon alles Mögliche vorwerfen, aber eines war er nicht: ein Träumer.

 

 


 

Kapitel 1

 

 

Vince liebte das Fliegen. Nein, er liebte es überhaupt, unterwegs zu sein. Es musste nicht unbedingt ein Flugzeug sein, auf dessen Abheben er wartete. Das Losruckeln eines Zugs oder das sanfte Abdrehen einer Fähre vom Pier war genauso gut. Oder das Gefühl, mit einem gemieteten Cabrio oder Jeep eine Landstraße entlangzubrausen, die Musik laut aufgedreht und ohne zu wissen, was ihn hinter dem nächsten Hügel erwartete.

Das Reisen hielt ihn in der Spur, erdete ihn, gab ihm Kraft.

Doch dieses Mal war es anders. Der Fluggesellschaft konnte er keinen Vorwurf machen. Sämtliche Flüge hatten pünktlich abgehoben. Aber selbst für Vince' Reiselust und Freude am Dröhnen der Triebwerke waren vier Umstiege in knapp vierzig Stunden zu viel des Guten. Von Cardiff war er abgeflogen und Hobart kannte er zur Genüge. Dasselbe galt für Melbourne und London, aber dass ihm in Abu Dhabi nicht genug Zeit geblieben war, um kurz die Nase aus dem Flughafengebäude zu strecken und das Flair des Persischen Golfs zu genießen, deprimierte ihn.

Wann würde er schon noch einmal die Gelegenheit erhalten, sich die beeindruckende Skyline anzusehen und durch die orientalisch geprägte und trotzdem fast futuristisch wirkende Innenstadt zu schlendern?

Doch für Bedauern oder Wehmut war es zu spät. Der Landeanflug stand kurz bevor. Sie zogen eine letzte Schleife vor der Küste. Nur noch wenige Augenblicke, dann würde sich das Flugzeug zur Seite neigen und… da war sie. Seine Heimat. Ein grüner Fleck inmitten des Ozeans. Das grüne Paradies Australiens, das über das rot verbrannte Outback nur spotten konnte.

Vince stockte der Atem und zum ersten Mal, seitdem er die knapp formulierte E-Mail auf seinem Smartphone entdeckt hatte, fühlte sich etwas richtig an. Und das wiederum war ganz und gar falsch.

Der Sinkflug schüttelte die kleine Maschine kräftig durch. Vince' Sitznachbarin – eine ältere Frau, die ihn an eines der Golden Girls erinnerte – wurde bleich und murmelte, dass man offensichtlich mal wieder einen Flugschüler ins Cockpit gelassen hatte.

Vince konnte sein Grinsen nicht rasch genug verbergen und fing sich einen finsteren Blick ein. Aber woher sollte die Lady auch ahnen, dass sie ihn unwissentlich an Gordons Abschiedsworte erinnert hatte?

»Tja, dann mach's mal gut, was? Und denk dran, den Finger schon mal am Sauerstoff zu haben, wenn du in den Bumsbomber nach Tasmanien steigst. Weiß ja jeder, dass sie nur die abgewrackten oder ganz jungen Piloten Kurzstrecke fliegen lassen.«

Obwohl es ein warmer Sommertag Ende August gewesen war, hatte er stolz Vince' ehemalige Lederjacke zur Schau getragen und zum Abschied grinsend den Kragen aufgestellt.

Vince würde Gordon, den struppigen Paradiesvogel, den er vor knapp zwei Jahren während einer Kneipentour durch Stockholm kennengelernt hatte, wirklich vermissen. Ihn und seine Lederjacke. Den Laptop nicht. Der hatte sowieso schon auf dem letzten Loch gepfiffen. Aber das hatte er Gordon nicht verraten.

Auf der Südhalbkugel war immer noch Winter, aber es sollte nicht mehr lange dauern, bis sich der Frühling ankündigte, den Schnee im Inland schmolz und das Grün im ganzen Land dazu ansetzte, jeden Meter Boden zu erobern, der sich bisher gegen es zur Wehr gesetzt hatte.

Nur Susan würde nicht mehr da sein.

Nicht zum ersten Mal, seitdem er Monmouth hinter sich gelassen hatte, brannten Vince' Augen. Es fielen keine Tränen – dafür war er zu müde –, aber seine Wangen spannten trotzdem unter ihrem Gewicht.

Ich komme nach Hause, Susan, sagte er sich zum wiederholten Mal. Und Es tut mir leid, dass ich zu spät bin.

Letztendlich war es das, was ihm zu schaffen machte. Nicht die Umstiege oder die vielen Stunden in der Holzklasse. Susan war fort und er hatte nicht von ihr Abschied nehmen können. Genauso wenig wie von seiner leiblichen Mutter. Und bei beiden blieb nichts als Schmerz und ein vages Gefühl von Ungerechtigkeit zurück.

Gut, Vince' Mutter war bei ihrem Tod deutlich jünger gewesen als Susan. Nicht einmal zweiunddreißig Jahre hatte sie gezählt, als ein betrunkener Tourist die Kontrolle über seinen Caravan verloren und sie in ihrem Kleinwagen frontal gerammt hatte. Vince hatte sich später oft vorgebetet, dass es einfach ein Unglück gewesen war. Überflüssig, grausam für einen Elfjährigen, der allein zurückblieb, und zum Schreien ungerecht, aber ein Unglück, und vor denen war niemand und zu keiner Zeit seines Lebens sicher.

Aber Susan… Das war eine ganz andere Angelegenheit. Auch sie war eindeutig zu jung gewesen, um zu gehen – fünfundfünfzig war ein genauso mieses Alter wie einunddreißig –, aber in ihrem Fall war es ihr Körper gewesen, der abgeschaltet hatte. Von einem Tag auf den anderen.

Oder doch nicht?

Vince wusste es nicht und es wäre gottverdammt noch mal seine Aufgabe gewesen, Bescheid zu wissen. Susan hatte alles für ihn getan. Sie hatte ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Zuhause gegeben, als er eines gebraucht hatte, hatte seine Eskapaden mit ihm ausgestanden und am Ende sogar hingenommen, dass er sie im Stich ließ.

War sie krank gewesen? Hatte es Anzeichen gegeben? Hatte er sie bei einem ihrer letzten Telefonate gefragt, wie es ihr ging?

Die Mail hatte keine seiner Fragen beantwortet. Mom hatte einen Schlaganfall. Trauerfeier und Beisetzung in drei Tagen. Komm her oder lass es bleiben. Dazu die Uhrzeit und die Adresse des Bestattungsinstituts.

Natürlich hätte er nach Einzelheiten fragen können, aber er hatte die E-Mail nicht beantwortet. Was hätte er schreiben sollen? Dass es ihm leidtat? Dass er da sein wollte, obwohl er nicht versprechen konnte, dass er es schaffte? Oder hätte er bei jeder Zwischenlandung eine Rückmeldung geben sollen? Hab jetzt Übergang in Melbourne. Stehe gerade auf dem Flughafen von Abu Dhabi und trinke Kaffee. Jamie hätte ihn wahrscheinlich blockiert.

Eine Windböe erfasste das Flugzeug und schüttelte es durch. Dann neigte sich seine Nase.

Vince' Herz tat einen aufgeregten Hüpfer. So ging es ihm jedes Mal, wenn er einen Flughafen ansteuerte. Er machte den Hals lang, suchte nach dem Delta des Derwent River, nach der türkisfarbenen Bucht vor dem Flughafengelände, nach dem Grün des Golfplatzes. Wieder ein Schlenker, ein Rucken und die Landebahn lag unter ihnen.

Ein paar flatterige Atemzüge später setzten sie auf und er war wieder dort, wo seine Reise begonnen hatte.

 

Sobald Vince sein Gepäck abgeholt hatte, suchte er eine der Toiletten des Flughafens auf, wusch sich hastig und wechselte die Kleidung. Sein Anzug war nicht schwarz, sondern dunkelgrau, aber er hatte die Reise besser überstanden, als Vince zu hoffen gewagt hatte. War es wirklich keine drei Tage her, dass er den Anzug von der Reinigung geholt und sich äußerlich wie innerlich auf ein Bewerbungsgespräch vorbereitet hatte, nur damit im letzten Moment sein Smartphone piepsen musste?

Die Trauerfeier und die Beisetzung fanden in Hobart statt. Hier war Susan geboren worden, hier lag Barega begraben. Es war nur richtig, dass sie an seiner Seite ruhen würde. Abgesehen davon waren die Möglichkeiten begrenzt, wenn man in einem winzigen Dorf lebte, dessen Campingplatzbesucher im Sommer die Anzahl der Einwohner um ein Vielfaches überstiegen. Wayatinah hatte keinen eigenen Friedhof, erst recht kein Krematorium, und dasselbe galt für die meisten Städte im Umkreis. Da war es leichter, die Trauerfeier in der knapp eineinhalb Stunden entfernten Hauptstadt abzuhalten.

Apropos Dorf: Hobart mochte als Großstadt gelten, aber ihr öffentliches Verkehrssystem war genauso schlecht ausgebaut wie auf der restlichen Insel. Früher hatte Vince sich nicht daran gestört, aber nachdem er London und Berlin mit ihren omnipräsenten, niemals schlafenden U-Bahnen, Straßenbahnen und Bussen kennengelernt hatte, fühlte er sich irgendwie gestrandet, als er das Flughafengebäude verließ.

Er seufzte und schob fröstelnd die Hände in die Hosentaschen. Die Reisetasche hing ihm wie ein unförmiger Sack über der Schulter und sein altersschwacher Rollkoffer geriet bei jeder Unebenheit ins Schlingern.

Vince steuerte auf das erste Taxi in der sehr kurzen Reihe zu. Die Fahrt in die Stadt würde ihn eines großen Teils seiner restlichen Barschaft berauben. Darüber, was nach der Bestattung kommen würde, dachte er lieber gar nicht erst nach.

Nachdem er sein Gepäck in den Kofferraum geladen hatte, stieg er ein und wurde von einem breiten Lächeln begrüßt. Seine Fahrerin war eine sportliche Frau in ihren Vierzigern oder Fünfzigern, die ihr dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden trug.

»Willkommen auf Tassie«, sagte sie quirlig. »Einen guten Flug gehabt? Wo darf es denn hingehen?«

Vince nannte ihr die Adresse im alten Teil Hobarts. Daraufhin zog sie eine betroffene Miene und ihr Tonfall verlor etwas von seiner Lebhaftigkeit. »Oh, verstehe. Eine Bestattung, ja? Hast du noch etwas Zeit? Es wird sich unterwegs ein bisschen stauen, fürchte ich.«

Vince sah auf die Uhr seines Handys – der Akku war so gut wie leer – und nickte. »Noch eine ganze Weile sogar. Der Flieger war überpünktlich.« Ihm blieben noch über zwei Stunden bis zur Trauerfeier in der Kapelle. Und er hatte sich immer noch nicht entschieden, ob er daran teilnehmen oder doch lieber erst auf dem Friedhof zur Trauergemeinde stoßen wollte.

»Dann ist es ja gut.« Mit einem Seitenblick auf ihn fuhr sie an, die Hände fest um das Lenkrad geschlossen. Nachdem sie sich in den Verkehr auf der Hauptstraße eingefädelt hatte, meinte sie: »Dein erster Besuch auf unserer schönen Insel? Wenn ja, täte es mir leid, wenn er von einem so traurigen Anlass überschattet wird.«

Vince stutzte, war im ersten Moment sogar auf schwer fassbare Weise beleidigt. Aber woher sollte die Taxifahrerin es besser wissen?

»Nein, ganz im Gegenteil. In Tassie geboren und aufgewachsen. Aber im Zentrum, nicht hier an der Küste.«

»Oh! Huh. Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet.«

»Wieso?«

Sie hob eine Hand vom Steuer und bewegte sie unstet in der Luft. »Ich weiß auch nicht. Du klingst gar nicht, als wärst du von hier. Ich hätte auf einen Briten getippt.« Wieder betrachtete sie ihn von der Seite, dann schien sie sich selbst zuzunicken. »Ja, ein waschechter Brite.«

Vince rang sich ein halbherziges Lächeln ab. »Tja, dann war ich wohl wirklich zu lange dort. Ich komme gerade aus Wales.« Und war es nicht kurios? Jahrelang hatte man ihn auf der halben Welt für seinen breiten australischen Akzent aufgezogen und nun hatte er ihn abgestreift, ohne es auch nur zu bemerken.

»Mach dir nichts draus, Kumpel. Ich geb dir zwei Tage, dann hörst du dich wieder wie einer von uns an.«

Vince grinste pflichtschuldig, erwiderte jedoch nichts. Fragte auch nicht, wie sie darauf kam, dass er bleiben würde. Wahrscheinlich gehörte sie denjenigen an, die sich nicht vorstellen konnten, die Insel auf Dauer zu verlassen. Aber sie arbeitete – und lebte vermutlich auch – in Hobart. Er hingegen war an einem Ort aufgewachsen, den selbst die berühmten sieben Zwerge hinter den sieben Bergen ohne Google Maps nicht finden würden. Und außerdem war sie bestimmt normal. Er nicht.

Klar, jeder Mensch unterschied sich in irgendeinem Punkt von seinem Nachbarn. Kollegen. Was auch immer. Aber je kleiner eine Bevölkerung war, desto problematischer wurde es, wenn die eigene Andersartigkeit ein Kuriosum darstellte. Dann konnte man sich nur damit abfinden – oder einen Ort suchen, an den man besser passte.

Vince konnte nicht von sich behaupten, diesen Ort bereits gefunden zu haben, aber er war auf einem guten Weg gewesen. Ja, das war er ganz sicher. Und wenn nicht, dann hatte er doch jede Menge Erfahrungen gesammelt und dabei herausgefunden, was er alles nicht wollte.

Auf der Brücke über den Derwent hatte es einen Unfall gegeben, sodass sich der Verkehr wie angekündigt staute. Dadurch fiel die Fahrt länger und damit teurer aus, als Vince sich erhofft hatte. Doch schließlich fuhren sie durch das Friedhofstor und hielten vor dem angeschlossenen Institut. Er zahlte, die Fahrerin wünschte ihm alles Gute und einen Augenblick später fand er sich allein mit seinem Gepäck auf dem Parkplatz wieder.

Ein eisiger Wind kam von der Bucht her. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er in einiger Entfernung die ersten Grabreihen erkennen. Das letzte Mal, dass Vince hier gewesen war, war Jahre her, zur Bestattung seines Adoptivvaters Barega; jenem stillen Koloss von einem Mann, der ihm vielleicht nie direkt ein Vater, aber doch ein enger Freund und ein wertvolles Vorbild gewesen war.

Barega war nicht so schnell und überraschend gegangen wie Susan und Vince' leibliche Mutter Judy. Stattdessen hatte er gekämpft wie ein Löwe, aber die Ärzte hatten es einfach nicht rechtzeitig geschafft, ein Antibiotikum zu finden, auf das die Bakterien in seiner Lunge ansprachen.

Erneut fröstelte Vince. Manchmal fragte er sich, ob es an ihm lag. Ob ihn jemand verflucht hatte, dass ihn seine Bezugspersonen alle nach und nach und viel zu früh verließen. Nun war kaum noch jemand übrig, und der eine, der ihm geblieben war… Das war eine ganz eigene Geschichte.

Vince betrachtete die immergrünen Hecken, die sich um und über den gesamten Friedhof zogen, und spielte mit dem Gedanken, sein Gepäck dahinter verschwinden zu lassen. Wer erschien schon mit Koffer und Reisetasche zu einer Beerdigung? Aber dann fiel ihm ein, dass sie einen Großteil seines Besitzes enthielten und er sich kaum erlauben konnte, sie zu verlieren.

Denk nicht darüber nach. Denk überhaupt nicht in diese Richtung!

Er rückte seine Krawatte zurecht, nahm seine Habseligkeiten und näherte sich dem Eingang. Noch bevor er die Stufen betreten konnte, schwang die Tür auf. Ein älterer Mann in schwarzem Anzug trat ins Freie, unter dem Arm eine Vase mit einem Gesteck bunter Blumen.

Als er Vince bemerkte, lächelte er verbindlich. »Guten Tag. Kann ich behilflich sein?«

»Ich hoffe es«, erwiderte Vince. »Ich bin ein wenig früh dran, fürchte ich. Die Trauerfeier für Susan Headland?«

»Oh!« Der Mann neigte leicht den Kopf. »Gehören Sie zur Familie?«

»Ja.«

»Mein herzliches Beileid.« Es klang mechanisch und abgeschliffen vom häufigen Gebrauch, aber nicht unfreundlich. »Ich bin gerade auf dem Weg zur Kapelle, um letzte Hand an die Blumenarrangements zu legen. Sie befindet sich im hinteren Teil des Friedhofs. Wenn Sie möchten, können Sie mich gern begleiten.«

So viel zu der Frage, ob er an der Trauerfeier selbst teilnehmen würde. Doch er konnte schlecht erst in der Kapelle Zuflucht vor dem Wind suchen und dann kurz vor Beginn der Zeremonie wieder ins Freie schleichen.

Vince schluckte. »Das wäre mir recht, aber ich komme direkt vom Flughafen und…« Er deutete vielsagend auf sein Gepäck.

Der Bestattungsunternehmer zeigte erneut sein verbindlich-professionelles Lächeln. »Überhaupt kein Problem. Das bringen wir einfach in meinem Büro unter und Sie können es nach den Feierlichkeiten wieder abholen, Mr…«

»Lawson, Vince Lawson.« Und weil er zuvor gesagt hatte, dass er ein Angehöriger war, fügte er erklärend hinzu: »Susan Headland war meine Adoptivmutter.«

»Ich verstehe. Wie gesagt: Herzliches Beileid zu Ihrem Verlust.« Dieses Mal fiel die Beileidsbekundung etwas wärmer aus.

Stufe Zwo, für engere Verwandte, dachte Vince bissiger, als der Situation angemessen war.

Sie verstauten das Gepäck, bevor sie sich auf den leicht ansteigenden Weg zur Kapelle machten. Je weiter sie kamen, desto frischer wurde der Wind. Daher war Vince froh, als sie endlich ankamen und er sich in dem schlicht gehaltenen Innenraum wiederfand.

Der Anblick des Sargs inmitten eines Meers aus Blumen und mit Susans Foto auf dem Deckel traf ihn wie ein Schlag gegen den Kopf. Natürlich wusste er, warum er hier war, was geschehen war, aber… Nur ganz am Rande nahm Vince das geschnitzte Holzkreuz an der Wand oder die kleine Orgel wahr, die sich vorne links hinter einem Rednerpult versteckte. Es war alles so schrecklich unwichtig neben dem Wissen, wer dort in diesem wuchtigen Stück Holz lag und darauf wartete, zur letzten Ruhe gebettet zu werden.

Wieder brannten seine Augen, wieder wurde seine Kehle eng und wieder fragte etwas in ihm: Warum bist du nicht eher nach Hause gekommen? Du wusstest doch sowieso, dass es unabwendbar ist.

Er konnte das Aufschluchzen nicht länger im Zaum halten. Es brach sich mit Gewalt aus seiner Kehle frei und er bedeckte instinktiv die Augen mit der Hand, damit niemand seine Tränen sah.

Der Bestattungsunternehmer war auf einmal neben ihm, murmelte: »Kommen Sie.« Dann legte er Vince leicht die Hand unter den Ellbogen und führte ihn zu einem Stuhl. Es war der, der am weitesten außen in der letzten Reihe stand, halb verdeckt von der offenen Doppeltür.

Trotz der so plötzlich aufwallenden und überwältigenden Trauer empfand Vince Dankbarkeit für die Professionalität des namenlosen Bestatters. Bestimmt hatte er in seinem Berufsleben schon hundertmal erlebt, dass jemand angesichts des aufgebahrten Sargs die Fassung verlor. Oder jede andere vorstellbare und unvorstellbare Reaktion, die mit dem Verlust eines geliebten Menschen einherging.

»Hier.« Vince wurde etwas Weiches in die Hand geschoben. »Nehmen Sie sich Zeit. Kommen Sie zur Ruhe. Dafür sind wir letztendlich hier. Um uns zu verabschieden.«

Der Bestattungsunternehmer entfernte sich und sobald Vince allein war, putzte er sich mit dem Stofftaschentuch die Nase. Seine Augen trocknete er nicht. Es war fruchtlos, solange er sich nicht wieder im Griff hatte.

Für einen Moment dachte er darüber nach, sein Smartphone rauszuholen und Gordon anzurufen. Er sollte ihm ohnehin Bescheid geben, dass er gut angekommen war. Aber zum einen wäre ihm das pietätlos vorgekommen und zum anderen hatte er sowieso kein Netz, wie ihm mit Schrecken aufging. Sein Vertrag war auf Europa begrenzt.

Vince atmete durch den weit geöffneten Mund aus und hob den verschwommenen Blick zur milchig getünchten Decke der Kapelle.

Er wollte nicht behaupten, dass er sich der Endgültigkeit seiner Entscheidung bisher nicht klar gewesen wäre. Das konnte er nicht guten Gewissens, ohne sich zum Idioten zu machen. Aber erst jetzt dämmerte ihm tatsächlich, was er getan hatte.

Er war an jenen Ort zurückgekehrt, den er einmal als Gefängnis empfunden hatte. Aus dem er unbedingt hatte ausbrechen wollen. Und nun saß er hier und hatte nichts vorzuweisen. Keinen Job, keine Perspektive, keine Idee, wie es weitergehen sollte, kein Rückflugticket nach Europa oder auch nur nach Sydney oder Melbourne, aber dafür immerhin zwei ganze Taschen voller Klamotten, drei hoffnungslos überzogene Kreditkarten und ein schlechtes Gewissen von der Höhe des Mount Wellington.

Sauber, Vince, hast du prima hinbekommen. Du hast Susan nicht halb so stolz gemacht, wie du wolltest, und nicht ein Viertel so sehr, wie sie es verdient hat.

Falls der Tränenstrom zuvor eingetrocknet war, passierte er nun einen frischen Zufluss. Erneut verbarg Vince die Augen vor einem etwaigen Beobachter, wieder dauerte es nicht lange, bis seine Nase verstopft war.

Es ist in Ordnung, sagte er sich. Du kannst weinen. Das hier ist eine Trauerfeier, verflucht noch mal.

Aber es war nicht der Ort und auch nicht die Tatsache, ob man ihn sah oder nicht. Es war die Scham, die ihm das Gefühl gab, kein Recht auf seinen Schmerz zu haben. Er war gegangen und das konnte er nicht wiedergutmachen.

Dabei hatte er gewusst, wie schwierig die Situation zu Hause war. Sie hatten ihn gebraucht. Susan hatte ihn gebraucht. Gleichzeitig war aber auch sie es gewesen, die ihm den Arm um die Schulter gelegt und gesagt hatte: »Wenn du nicht glücklich bist, dann musst du einen Weg finden, es zu werden. Ich wäre eine schlechte Mutter, wenn ich dir so lange ein schlechtes Gewissen einreden würde, bis du wegen mir bleibst. Aber denk dran: Nur weil du jetzt gehst, heißt das nicht, dass du nicht zurückkommen kannst.«

Und genau das hätte er wahrscheinlich schon vor Jahren getan, wenn die Lage ein klein wenig anders gewesen wäre.

Vince wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber schließlich kamen die ersten Gäste. Er blieb in seiner Ecke und blickte zu Boden, begrüßte niemanden, sprach mit niemandem. Aber natürlich dauerte es nicht lange, bis ihn jemand bemerkte.

»Vince! Mein Gott, bist du das?« Vor ihm tauchte ein Paar schwarzer Samtstiefeletten auf. Nun konnte er wohl nicht mehr anders. »Wie lange ist das jetzt her? Vier, fünf Jahre?«

Er sah auf und in das Gesicht von Karen Quartermaine. Sie hatte mehr feine Falten im Gesicht als bei ihrer letzten Begegnung und ihr Haar war inzwischen auch eher grau als blond, darüber hinaus hatte sie sich kaum verändert. Dasselbe breite, einladende Lächeln, die gleichen ausdrucksstarken, lebenslustigen Augen, dieselbe Haltung, die sagte: »Komm nur her, Junge, ich nehm dich schon auf die Hörner.« Und dabei war es nicht wichtig, ob es sich bei diesem Jungen um eine Tigerotter handelte, die sich in ihren Garten verirrt hatte, um einen gottverdammten Holzwurm – einen der Großindustriellen, die ihr immer wieder ein Stück Land zum Roden abschwatzen wollten – oder um die Monatsabrechnung ihres kleinen Betriebs. Wenn irgendwann der Tag des Jüngsten Gerichts kam und die Erde in Lava versank, würde Karen die Erste sein, die mit dem Wischmopp um die Ecke kam, um den Schlamassel beiseitezuputzen.

In der Hoffnung, dass seine Augen nicht halb so rot waren, wie sie sich anfühlten, stand Vince auf. »Hallo, Karen. Gut, dich zu sehen. Und es waren sieben.«

»Sieben? Nein! Im Ernst?« Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass die ersten Strähnen aus ihrer eleganten Hochsteckfrisur flogen. Bis zum Abend würde sie sich garantiert vollends aufgelöst haben. Dann seufzte sie schwermütig. »So oder so, ich hätte mir wirklich gewünscht, dich unter anderen Umständen wiederzusehen. Es ist alles so furchtbar. Und es tut schrecklich weh.«

Vince nickte, froh, dass Karen aussprach, was er so schlecht in Worte fassen konnte. Und auch, dass sie nicht von Beileid redete. Karen und Susan waren enge Freundinnen gewesen. Sie war an diesem Tag nicht als Unterstützung für die Angehörigen hier – erst recht nicht aus Pflichtgefühl –, sondern sie war selbst eine Trauernde.

Sie reckte sich und zog ihn in eine halbe Umarmung. »Wir zwei machen schon was mit, hm? Erst Judy, jetzt Susan. Allmählich wird es einsam. Was waren wir drei nur für ein wunderbares Trio.«

Wieder beließ Vince es bei einem Nicken, aber er nahm Karens Hand und legte sie in seine Armbeuge. Von außen sah es vermutlich aus, als würde ein junger Mann seine Mutter oder Tante ritterlich unterstützen. Tatsächlich fühlte es sich an, als wäre es andersherum.

Mehr Trauergäste trafen ein. Mit Karen an seiner Seite fiel es Vince leichter, ihnen entgegenzutreten. Immer wieder fragte man ihn in verhuschtem Halbflüstern, wie lange er fortgewesen war – die Schätzungen schwankten zwischen drei und zehn Jahren –, wo er nun lebte, manchmal auch, was er beruflich machte. Einmal bemerkte jemand, dass er es weit gebracht haben musste, wenn er einen so schicken Anzug mit Weste und allem Schnickschnack trug.

Vince hätte beinahe aufgelacht. Sicher, mit dem Anzug war alles bestens und für die Menschen, die tief im Hinterland lebten, war er wirklich ein auffälliges Kleidungsstück. Nicht, weil sie es sich nicht leisten konnten, sich einen ähnlichen Anzug zu kaufen, sondern weil sie ihn zwischen Landwirtschaft, Camping-und-Rucksack-Tourismus und den wunderbar lockeren Gepflogenheiten der Insel einfach nicht brauchten. Und natürlich hatten sie keine Ahnung, dass es sich um eines der wenigen nicht abgetragenen Kleidungsstücke in seinem Besitz handelte oder dass er ihn in einem Outlet-Store gekauft hatte.

Dann, nach erstaunlich langer Zeit, fiel zum ersten Mal die Frage, vor der Vince sich gefürchtet hatte.

»Und jetzt, Kumpel?« Der alte Macintosh von der Forstverwaltung musterte ihn aus trüben Augen, die stets einen Punkt links hinter der Schulter des jeweiligen Gesprächspartners zu betrachten schienen. »Kommste jetzt zurück oder was? Wird kaum anders gehen, ne?«

Obwohl es in der Kapelle nicht übermäßig warm war, spürte Vince, wie ihm heiß wurde; fast wie bei einem Fieberschub. Was meinte Macintosh, wenn er sagte, dass es nicht anders ginge? Hatte er im Gegensatz zu den anderen Gästen begriffen, in welcher Lage Vince war? Der alte Haudegen war schon immer ein guter Beobachter gewesen, besonders, wenn es um ungezogene Jungen ging, die ständig Bäche stauten, sodass immer wieder der eine oder andere Garten unter Wasser stand. Einmal hatten sie sogar den Campingplatz geflutet.

»Mann, Mac.« Karen hängte sich mit ihrem ganzen Gewicht an Vince' Arm, als würde nur er sie daran hindern, zusammenzubrechen. »Lass ihn doch erst mal in Ruhe Susan unter die Erde bringen, bevor du ihn ausquetschst.«

Macintosh erwiderte etwas, aber Vince hörte ihn nicht. Eine andere Stimme zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie war tief und sonor, ging unter die Haut und blieb dort. Vince hätte sie selbst in einem vollen Stadion herausgehört.

Langsam drehte er sich um, ließ den Blick an den inzwischen gut gefüllten Stuhlreihen entlanggleiten. Die erste hatte man frei gelassen. Für die Familie. Himmel, was sollten sie mit vierzehn Plätzen anfangen?

Und da stand er. Am Nebeneingang. Sprach mit dem Bestattungsunternehmer und einer Frau in einem schlichten, irgendwie offiziell wirkenden Kostüm. Sicher bemühte er sich, leise zu reden, aber seine Stimme trug, machte sich die Akustik eines jeden Raums zu eigen, ob er wollte oder nicht.

Vince wollte verschwinden. Auf der Stelle. Er war nicht bereit für diese Begegnung und die Vorwürfe, die sie unweigerlich nach sich ziehen musste.

Aber da hatte Jamie ihn schon entdeckt. Seine Augenbrauen rutschten erst Richtung Haaransatz, bevor sie sich zusammenzogen und eine ärgerliche Linie bildeten. Vince kannte diesen Blick. Er machte ihn nervös. Dass Jamie sich in den letzten Jahren körperlich verändert hatte, war keine Hilfe. Sicher, er war schon immer ein Schrank von einem Mann gewesen, selbst als Teenager, als die meisten von ihnen noch mit kieksender Stimme und Wachstumsschmerzen zu kämpfen gehabt hatten. Aber jetzt war er eine ganze Schrankwand.

Red dir doch keinen Scheiß ein, grummelte Vince' gesunder Menschenverstand. Er ist garantiert nicht mehr gewachsen, seitdem ihr euch zuletzt gesehen habt, und die paar Muskeln, die dazu gekommen sind, sind ja wohl kaum der Rede wert. Wovor hast du Angst? Dass er dich zu Schaschlik verarbeitet?

Wenn es nur so einfach gewesen wäre.

Vince widmete seine Aufmerksamkeit seinem Ärmel und dem Knopf, der unmöglich richtig sitzen konnte. Nein, er musste ihn dringend richten. Und zwar so lange, bis er im Boden versunken war. Vince. Nicht der Knopf. Oder bis Jamie herüberkam, um ihn zu begrüßen.

Doch die Uhr tickte unhörbar, die letzten Gäste trafen ein, Vince pickte Staubkörnchen von seinem Revers und Jamie blieb bis zur letzten Minute, wo er war. Erst als die Frau im schwarzen Kostüm die Anwesenden bat, Platz zu nehmen, begriff Vince, dass er nicht auf eine Begrüßung zu hoffen brauchte.

Am liebsten hätte er sich auf den Stuhl in der Ecke zurückgezogen, den der Bestattungsunternehmer ihm vorhin zugewiesen hatte, aber Karen zog ihn mit milder Hartnäckigkeit nach vorn. Und natürlich ließ sie es sich nicht nehmen, ihn neben Jamie zu bugsieren, statt sich selbst als Puffer zwischen sie zu setzen.

Er kam sich unendlich linkisch und ungeschickt vor, als er sich niederließ. Es war ein Wunder, dass er sich nicht neben statt auf die Sitzfläche setzte; so groß war das Bedürfnis, sich auf dem begrenzten Raum von Jamie fernzuhalten. Wahrscheinlich war es eine unsinnige Regung.

Was sollte Jamie schon tun? Ihn vor aller Augen zur Sau machen? Ihm einen Fausthieb versetzen? Ihn übers Knie legen?

Vince schauderte. Verdient hätte er alles davon. Das wusste er seit Jahren, aber noch nie war es ihm so klar gewesen wie heute.

Auf einmal erwachte die Orgel zum Leben. Wer sie spielte, war nicht zu erkennen. Das Stück erkannte Vince jedoch sofort. Dasselbe galt für viele Gäste, denn er hörte es in seinem Rücken von mehreren Stellen leise auflachen oder verhalten kichern. Jemand murmelte: »Mein Gott, wie gut, dass es keine Einäscherung ist.« Daraufhin wurde das Gelächter lauter.

Wirklich, Susan? Light my Fire? The Doors? Hast du dir das gewünscht oder ist das auf Jamies Mist gewachsen?

Schließlich schwieg die Orgel, dafür knisterte das Mikrofon. Die Frau, mit der Jamie zuvor gesprochen hatte, war ans Rednerpult getreten.

»Liebe Freunde, liebe Gäste, lieber Jamie, lieber Vince.« Sie nickte ihnen zu und lächelte matt. Vince wünschte sich ein Loch, um darin zu verschwinden. Einen Kaninchentunnel, der ihn ans andere Ende der Welt brachte. »Wir sind heute hier zusammengekommen, um Abschied von einer lieben Freundin zu nehmen. Für die unter euch, die mich nicht kennen: Ich bin Diana Molier. Ich bin mit Susan zur Schule gegangen und sehr froh darüber, sie nie aus den Augen verloren zu haben. Daher stehe ich heute auch nicht als formelle Sprecherin vor euch, sondern als jemand, der euren Verlust teilt und – wie ich glaube – von Herzen versteht. Und so weiß ich auch, dass Susan sich über jedes Lachen und jedes Lächeln, das ihr gilt, gefreut hätte. Haltet euch daher nicht zurück, wenn ich euch jetzt auf einen Streifzug durch ihr Leben mitnehme. Denn ja, wir werden sie vermissen. Aber ihr Leben war nichts, was man beweinen sollte.«

Vince' Finger verkrampften sich. Er suchte nach Halt und einem Weg, nicht als Erster nach dem Taschentuch zu greifen.

Oh ja, Susan hätte es geliebt, wenn man auf ihrer Beerdigung lachte. Und grundsätzlich gab Vince Diana vollkommen recht: Susan hatte ein tolles Leben geführt, hatte ein einziges Mal geheiratet und ihren Mann über alles geliebt, war von wenig Familie, aber vielen wunderbaren Freunden umgeben gewesen, hatte hart gearbeitet, sich jedoch für das, was sie tat, stets begeistert. Selbst wenn sie abends fast zu müde gewesen war, um sich ins Bett zu schleppen.

Nur änderte all das nichts daran, dass sie viel zu jung gewesen war, um zu gehen. Sie hatte noch so viel vorgehabt. Erst bei ihrem letzten Telefonat hatte sie träumerisch gemeint, sie würde am liebsten in den Flieger nach England steigen und ihn besuchen.

Vince' Herz hämmerte. Jeder Schlag war ein giftig in sein Ohr gezischtes Wort: Idiot. Warum? Hornochse! Mom! Warum? Ungerecht.

Er war nicht bereit, ging ihm auf. Er war nicht bereit, im wahrsten Sinne des Wortes mutterseelenallein zu sein. Welcher Neunundzwanzigjährige hatte bitte sehr schon alle Elternteile verloren? Zumal er drei statt zwei gehabt hatte.

Er wandte kaum merklich den Kopf und studierte von der Seite Jamies reglose Züge. Natürlich. Seine Augen waren trocken. Seine Unterlippe zitterte nicht. Der Schweinehund war nicht einmal blass und wirkte ausgeschlafen. Er hatte sich schon immer besser im Griff gehabt als Vince, wenn es um das Verbergen seiner Gefühle ging. In ihm schien es einen Schalter zu geben, der bei Betätigung sämtliche Türen versperren und alle Fenster verriegeln und abdunkeln ließ.

Vince beneidete ihn darum.

Dann sah er auf einmal das ruckartige Heben und Senken von Jamies Adamsapfel. Und die Stelle an seinem Hals, an der er sich nicht sauber rasiert hatte. Und dass er viel zu steif dasaß.

Anscheinend schloss die eine oder andere Jalousie doch nicht so ordentlich, wie Jamie es sich sicher wünschte.

»Zu diesem Zeitpunkt trat Judy in ihr Leben. Und sie brachte Vince mit, in dem Susan schon lange, bevor sie ihn mit Barega adoptierte, einen zweiten Sohn sah.«

Sei still, dachte Vince müde. Sei still und lass mich gehen.