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© Parlez Verlag 2019,

ein Projekt der Bluecat Publishing GbR 

Gneisenaustraße 64

10961 Berlin 

www.parlez-verlag.de

Umschlag- und Covergestaltung: Norma Vohland

Korrektorat: Sabine Möring

Lektorat: Patricia Arnold

Satz: publish4you, Engelskirchen


ISBN: 9783863270599

Hinter blutroten Schatten_aktuell
Inhaltsverzeichnis
Prolog
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Epilog







Gereon Krantz

Hinter blutroten Schatten

Kriminalroman 

Epilog

 

Wenn man bedachte, wie schwer es heutzutage war, eine brauchbare Wohnung in zentraler Lage zu finden, die angesichts stark gestiegener Mieten auch nur halbwegs bezahlbar war, konnte man Sören beinahe beneiden. Gut, sein neues Domizil war nicht besonders geräumig und verfügte weder über einen Balkon noch über eine Fußbodenheizung oder sonstige Vorzüge. Dafür wartete es mit unüberwindlichen und mit Stacheldrahtrollen gekrönten Betonmauern, bruchsicheren Türen und vergitterten Fenstern auf, wurde von Wachtürmen aus rund um die Uhr beobachtet und von kompetenten Beamten kontrolliert, sodass man sich in seinen eigenen vier Wänden hundertprozentig sicher fühlen konnte. Natürlich musste man für solchen Luxus kleine Abstriche machen. Man durfte nicht raus und die Nachbarn waren Schwerverbrecher. Aber man konnte eben nicht alles haben.

Die JVA Tegel war nicht nur die größte geschlossene Justizvollzugsanstalt Deutschlands, sondern auch die älteste. Seit über hundert Jahren schon bot das festungsartige Backsteingebäude Kriminellen jedweder Art ein Zuhause, manchmal für ein paar Jahre, manchmal über Jahrzehnte. Kaum einer von ihnen wusste die Historie und Ehrwürdigkeit seiner Unterkunft zu schätzen. Harder hingegen kam gern hierher, was nicht nur daran lag, dass er jederzeit wieder gehen konnte. Seine Abstecher in die JVA erinnerten ihn immer daran, wie viel er selbst dazu beigetragen hatte, die Räumlichkeiten mit neuen Bewohnern zu füllen und manchmal kam er einfach an den Besuchstagen her, um zu schauen, wie es seinen alten Bekannten ging. Im Gegensatz zu ihnen bekam er hinter diesen Mauern immer gute Laune, und heute war er geradezu in Hochstimmung. Er hatte sogar angefangen, Jailhouse Rock zu pfeifen, während er hinter einem kräftigen Vollzugsbediensteten in blauer Uniform den schmucklosen Flur hinabschlenderte, auf dem sich zu beiden Seiten die nicht weniger schmucklosen Zellentüren aufreihten. Allerdings konnte er seit der nächtlichen Verfolgungsjagd keinen Elvis-Song mehr hören, singen, pfeifen oder summen, ohne an das Tattoo zu denken, das Schmalbachs wabbeligen Hintern zierte. Es hatte ihm die Hits des Kings gründlich verdorben, weshalb er schon nach wenigen Takten zu Johnny Cashs Folsom Prison Blues übergegangen war. In den Händen trug er ein Tablett, auf dem sich ein Teller unter einer Wärmehaube, ein Löffel, ein Glas aus Plastik und eine Tetrapackung befanden. Statt Brot und Salz, wie es üblich war, hatte Sören Harders Meinung nach ein etwas aufwändigeres Einzugsgeschenk verdient, vor allem, da er vermutlich nie wieder hier herauskommen und nach der lebenslangen Haftstrafe, die Kimmel beantragt hatte, nahtlos in die Sicherheitsverwahrung wechseln würde. Noch war kein rechtskräftiges Urteil gesprochen. Es war also nach wie vor möglich, dass das Gericht dem Antrag seines Anwalts stattgeben und Sören in die Psychiatrie einweisen würde. So oder so aber wäre er aller Voraussicht nach für den Rest seines Lebens aus dem Verkehr gezogen.

„Hat er eigentlich irgendwas gesagt?“, fragte Harder, als sie an einer massiven Stahltür hielten, von denen schon mehrere ihren Weg durch das Gefängnis unterbrochen hatten.

„Er hat ein paar Mal nach Ihnen gefragt“, sagte der Beamte und lehnte den Klappstuhl an die Wand, den er netterweise für Harder trug, der wegen des Tabletts keine Hand dafür frei hatte. Er zog seinen bestimmt mehr als ein Kilogramm schweren Schlüsselbund hervor und schloss die Tür auf. „Außerdem hat er um Papier und Stifte gebeten. Das war alles.“

Sie erreichten die Zelle, in der Sören untergebracht war. Der Beamte klappte den Stuhl auseinander und stellte ihn vor die Tür.

„Sie wissen, dass ich Sie nicht zu ihm reinlassen kann.“

„Ich weiß“, sagte Harder.

„Und strecken Sie nicht Ihren Arm in die Zelle, okay? Bei einem Irren wie dem weiß man nie.“

„Alles klar.“

Der Beamte steckte einen Schlüssel in das Schloss der Klappe, die in die Tür eingelassen war, damit durch sie dem Insassen Essen oder andere Bedarfsmittel angereicht werden oder ihm bei Verlassen der Zelle Handschellen angelegt werden konnten, ohne dass für seine Aufpasser die Gefahr eines Angriffs bestand. Der Beamte drehte den Schlüssel, zog ihn ab und zog die Klappe an ihrem Griff herunter.

„Falls Sie mich brauchen, rufen Sie einfach“, sagte er, wandte sich um und klimperte mit seinem Schlüssel, während er den Gang hinabging.

Harder stellte das Tablett auf die geöffnete Klappe.

„Guck mal, Sören“, sagte er. „Ich habe dir was zum Essen mitgebracht. Genau das, was ihr bekloppten Psychomörder gerne mampft: Leber mit Favabohnen. À la Hannibal Lecter. Eigentlich gehört dazu ein leckerer Chianti. Aber da du hier ja keinen Alkohol trinken darfst, gibts eine Packung weißen Traubensaft dazu. Ich kann dir auch gerne noch einen Nachtisch besorgen, wenn du willst, einen Pudding vielleicht, natürlich laktosefrei, damit du nicht wieder einen Blähbauch kriegst und dir dein neues Heim vollmüffelst.“

Er beugte sich hinab, um durch die Luke in die Zelle zu spähen.

„Wenn du aber lieber Eis willst, könnte ich…“

Aber die Worte blieben ihm im Halse stecken. Fassungslos starrte er durch die Luke in die Zelle, auf das verstörende Bild, das sich ihm darin bot. Beinahe hätte er das Tablett heruntergerissen und die für Sören vorgesehene Mahlzeit auf dem Flurboden verteilt, als er sich hastig aufrichtete und herumwirbelte.

„Hey“, brüllte er dem Beamten nach, der noch nicht allzu weit gekommen war. „Verdammt, was ist hier passiert?“

Der Justizbeamte wandte sich um und kam mit eiligen Schritten zurück.

„Was ist?“, fragte er. „Irgendwas nicht in Ordnung mit ihm?“

„Ob irgendwas nicht in Ordnung ist?“, fragte Harder. „Wollen Sie mir erzählen“, er wies auf die Zelle, „Sie hätten davon nichts mitgekriegt?“

Der Beamte bückte sich, schaute durch die Luke. Im Gegensatz zu Harder aber zeigte er keinerlei Anzeichen von Aufregung. Harder lugte an ihm vorbei. Jetzt, wo er sich von seiner ersten Verwirrung erholt hatte, musste er sich eingestehen, dass er vielleicht ein wenig überreagiert hatte. Was in der Zelle vor sich ging, war harmlos verglichen mit dem, was im Worst-Case-Szenario hätte passieren können. Sören baumelte immerhin nicht an einem aus dem Bettlaken gewickelten Strick von einem der Gitterstäbe vor dem Fenster. Er lag auch nicht mit aufgeschnittenen Pulsadern in seinem eigenen Blut.

Aber der Anblick, der sich ihnen bot, war auf seine ganz eigene Weise verstörend: Sören, nur mit einer Unterhose bekleidet, witschte wie ein Derwisch in dem schmalen Raum hin und her, schwang einen Putzlappen und schrubbte mit aller Kraft seiner sehnigen Arme den schmalen Tisch, die Kommode mit dem Fernseher, das Metallgestänge seines Bettes, die Fensterscheibe, die Gitterstäbe und den harten Boden. In einer Pfütze schaumigen Wassers stand ein kleiner Eimer, in den er seinen Lappen immer wieder hektisch tunkte, herausriss und auswrang, bevor er wieder damit zu Werke ging. Überall an den Wänden hingen Papierblätter, auf die er die drei ineinander verschlungenen Ringe gemalt hatte. Voll und ganz eingenommen von seinem Tun, schien er gar nicht zu bemerken, dass sich die Klappe seiner Zellentür geöffnet hatte und Harder und der Beamte zu ihm hineinsahen.

„Ach das“, sagte der Beamte, richtete sich auf und warf Harder einen tadelnden Blick zu, weil er wegen dieser offenkundigen Belanglosigkeit so einen Aufstand veranstaltete. „Klar habe ich das gemerkt. Das macht der schon seit Stunden.“

„Er schrubbt seit Stunden seine Zelle?“

„Ja“, antwortete der Beamte. „Er scheint einen echten Putzfimmel zu haben.“

„Putzzwang trifft es eher“, sagte Harder. Nun, da Sören seinen zahlreichen Neurosen, Phobien und sonstigen Störungen nicht mehr mit Hagedorns erprobten Methoden zur Selbstbehandlung begegnen konnte, waren sie offenbar in vollem Ausmaß wieder zum Ausbruch gekommen.

„Vorher“, sagte der Beamte, „hat er ungefähr hundertfünfzig Mal hintereinander seinen Fernseher ein- und wieder ausgeschaltet. Ich hab ihm gesagt, wenn der kaputtgeht, kriegt er keinen neuen.“

„Sie lassen ihn einfach weitermachen? Ist sowas nicht gegen irgendwelche Regeln?“

Der Beamte zuckte die Schultern.

„Saubermachen ist nicht verboten. Im Gegenteil gilt das als gute Führung, wenn unsere Insassen ihre Zellen so gewissenhaft in Ordnung halten.“

Erneut wandte er sich zum Gehen.

„Daran könnten sich andere ein Beispiel nehmen.“

Harder sah ihm nach, während er den Gang hinabschlenderte. Dann beugte er sich wieder vor und spähte durch die Luke in die Zelle, auf den Psychokiller, der sie wie ein Besessener auf Hochglanz polierte.

„Sören“, rief er und hämmerte mit der Faust gegen die Tür, um den ehemaligen Polizeipsychologen aus seinem Putzrausch zu erwecken. „Lass doch mal kurz das Geschubber sein.“

Sören, der gerade die Fenster scheuerte, drehte sich zu ihm um. Sein Gesicht war rot vor Anstrengung. Seifenwasser lief über seinen nackten Oberkörper. Tropfen fielen von dem Lappen in seiner Hand und platschten auf den feuchten Boden.

„Hallo, Harder! Schön, dich zu sehen.“ Er kam auf ihn zu und ging leicht in die Knie, um ihm durch die Luke in die Augen schauen zu können. „Das ist lieb, dass du mich besuchen kommst.“

„Immer gern“, sagte Harder. „Was macht dein Magen?“

Sören lächelte, ein kleines, beinahe verlegenes Lächeln.

„Das geht schon wieder. Ist mir allerdings ein bisschen peinlich, dass ihr meine ganzen Blähungen mitkriegen musstet. Das war echt ein guter Trick mit der Chili und der Milch. Damit hatte ich nicht gerechnet.“

Harder setzte sich auf den Klappstuhl. Er musste sich ermahnen, nicht zu vergessen, wen er vor sich hatte. Bei der freundlichen Art, in der Sören mit ihm redete, der Art, in der sie früher oft miteinander gesprochen hatten, konnte man beinahe vergessen, dass dieser nette junge Mann mit den chaotischen Locken für den Tod mehrerer Menschen verantwortlich war und um ein Haar auch ihn und Vogt umgebracht hatte.

„Freut mich“, sagte Harder, „dass wir dir eine Überraschung bereiten konnten.“

„Ist das für mich?“, fragte Sören und deutete auf das Tablett.

„Ja. Damit du was auf die Rippen kriegst.“

„Danke, Harder, nett von dir.“

Er nahm das Tablett und stellte es auf seinen Tisch.

„Hör mal“, sagte er und wedelte mit seinem Lappen, den er bereits dermaßen malträtiert hatte, dass er nur noch ein Fetzen war. „Du musst mir einen Gefallen tun. Ich brauche Spülschwämme und Stahlwolle. Sonst krieg ich die Bude hier nie richtig sauber. Ein Wischmop wäre auch super. Und Desinfektionsmittel. Hier ist alles voller hartnäckiger Bakterien. Ich habe mich schon bei der Anstaltsleitung beschwert. Aber die nehmen das nicht für voll.“

„Ich werde sehen, was sich machen lässt“, sagte Harder. „Allerdings müsstest du mir dafür auch ein wenig entgegenkommen.“

Sören warf den Lappen in den Wassereimer, zog den Stuhl heran, der vor seinem Tisch stand, und setzte sich Harder gegenüber.

„Du willst Hagedorn finden“, sagte er und schüttelte den Kopf über diesen offenbar einfältigen Gedanken. „Aber da kann ich dir nicht helfen. Er ist ein Schatten, Harder, der unerkennbar durch die Finsternis schwebt. Wenn er nicht will, dass du ihn findest, wirst du ihn nicht finden. Aber er wird dich finden. Du musst nur geduldig sein.“

„Verrat mir doch erstmal, was es mit den Ringen auf sich hat.“

Sören blickte durch die Zelle, über die zahllosen Papiere mit Hagedorns Symbol.

„Ach, das ist ganz einfach. Die helfen mir, meine innere Ruhe zu finden und meine Zwänge unter Kontrolle zu halten.“

„Klappt ja super“, sagte Harder. „Aber was bedeuten sie? Warum hat Hagedorn sich ausgerechnet die als sein Zeichen gewählt? Er hätte sich ja auch einen Totenschädel mit gekreuzten Knochen oder so etwas aussuchen können.“

Sören nahm eines der Blätter, die in seiner Reichweite hingen, von der Wand und legte es vor Harder hin.

„Alles ist ein Kreis“, erklärte er und fuhr mit dem Finger die Linien entlang, die er offenbar mit Wachsmalstiften gezogen hatte. „Jeder Kreis muss sich schließen. Auch du bewegst dich in einem Kreis. Irgendwann wird er dich zurück zu deinem Ausgangspunkt bringen. Das ist das eine. Das andere ist dies: Wie diese Kreise ineinander verschlungen sind, sind wir alle miteinander verbunden, du, ich, Hagedorn und noch viele andere unserer Brüder und Schwestern. Jene, die vor uns kamen, jene, die sind, jene, die kommen werden.“

„Du weißt aber schon, dass du vom Logo einer Milchmarke sprichst, oder? Wir sind der Sache nachgegangen. Wir waren beim Milchhäuschen in Weißensee. Die haben eine tolle Schokomilch. Übrigens soll ich dich herzlich von Schmalbach grüßen und dir ausrichten, dass du ihn an seinem tätowierten Arsch lecken sollst.“

„Wie nett von ihm, dass er an mich denkt“, sagte Sören, der den letzten Teil geflissentlich überhört zu haben schien. „Bitte sag ihm, er soll mir die Sache mit dem Umbringen nicht nachtragen. Es war der einzige Ausweg, den ich für mich gesehen habe.“

„Klar doch“, sagte Harder. „Wenn ich ihm das erkläre, wird er es dir sicher nicht länger krummnehmen. Er wird es dir bestimmt noch weniger nachtragen, wenn du mir hilfst. Unser Cafébesuch war leider eine Sackgasse. Ich wäre dir echt dankbar, wenn du mir einen Tipp geben würdest.“

Sören lächelte.

„Ihr müsst der Milch bis zu ihrer Quelle folgen. Dann werdet ihr es herausfinden.“

„Was soll das heißen?“, fragte Harder. „Sollen wir irgendwelche Kuheuter inspizieren?“

Sören schaute ihn an. Aber sein Blick war nicht mehr klar. Über seine Augen war ein Glanz gefallen, hinter dem alle Vernunft, die er eben noch an den Tag gelegt hatte, zu verschwinden schien.

„Im Kreis soll deine Seele laufen“, flüsterte er. „Mit roter Milch wird er dich taufen.“

Er ließ seine Finger über die Ringe auf dem Papier hüpfen. Seine Stimme hob sich in einen heiteren Singsang.

„Im Kreis soll deine Seele laufen, mit roter Milch wird er dich taufen.“

Ein schrilles Lachen brach aus ihm hervor. Er sprang von seinem Stuhl und begann, wild durch seine Zelle zu tanzen. Er stieß den Putzeimer um, der seinen Inhalt über den Boden ergoss. In seinem Hüpfen und Springen schien Sören es gar nicht zu bemerken. Wieder und wieder trug er seinen kleinen Reim vor, wieder und wieder unterbrach er sich dabei durch hysterisches Kichern, das sich manchmal zu heftigem Gelächter erhob. Von seinen Lachsalven geschüttelt lehnte er sich zurück, warf den Kopf in den Nacken oder krümmte sich zusammen, während er weiter und weiter tanzte und sang und seine nackten Füße durch das Seifenwasser platschten.

„Im Kreis soll deine Seele laufen, mit roter Milch wird er dich taufen.“

Harder sah ihm eine Weile zu, fasziniert von seiner absonderlichen Darbietung. Aber ihm war klar, dass Sören sich nicht allzu bald wieder beruhigen würde. Jeder Versuch, mit ihm zu reden, etwas über Hagedorn erfahren zu wollen, wäre vergeblich. Die Erwähnung dieses Namens und der Ringe schien seinen Verstand in einen Strudel des Wahnsinns getrieben zu haben.

Harder stand auf. Das Blatt, das Sören von der Wand genommen hatte, faltete er und schob es in seine Hosentasche.

„Mach’s gut, Sören“, sagte er, obgleich er wusste, dass Sören, falls er ihn überhaupt hörte, ihm keine Antwort geben würde. „Wir sehen uns.“

Er wandte sich ab vom Anblick des wüst umhertanzenden, halbnackten Verrückten in der Gefängniszelle. Tief in Gedanken ging er den Gang hinab.

Sörens Singsang und sein Lachen hallten ihm noch lange nach. 

Prolog

Der Tod war überall.

Man entdeckte ihn nicht gleich in dem regen Treiben, das schon frühmorgens auf dem Alexanderplatz herrschte. Auf den Straßen drängte sich das übliche Stop-and-go: Mittelklassewagen mit genervten Angestellten, die zu spät zur Arbeit kamen, Taxis, die es immer eilig hatten, Rollerfahrer, die sich durch die schmalsten Lücken schlängelten. An der Haltestelle warteten Studenten auf die Tram, rauchten und schrieben WhatsApp-Nachrichten. Bauarbeiter mit gelben Helmen und orangen Westen besserten die Fahrbahn aus. Geschäftsleute in Anzügen, das Handy am Ohr, hasteten mit Aktenkoffern zu ihren Terminen. Touristen mit Berlin-Kappen posierten vor der Weltzeituhr für Erinnerungsfotos.

Und mitten unter ihnen der Tod.

Man hörte ihn nicht gleich in dem Gehupe und Motorengebrumm, dem Geklingel der Radfahrer, dem Rattern des Presslufthammers, den Gesprächsfetzen und dem Gelächter. Man roch ihn nicht gleich in dem Gemisch aus Parfüm, Deo und Schweiß, Baustaub, Smog und Zigarettenrauch.

Aber er war da.

Er leuchtete in den Scheinwerfern der Autos, türmte sich auf in den Bussen, dröhnte und schnaufte in den Lastwagen. Er summte in den Oberleitungen der Tram, klirrte in den Scherben einer zerbrochenen Flasche, an die jemand mit dem Fuß stieß, schwebte in den Abgasen der Autos und den Dämpfen des heißen Straßenbelags an der Baustelle.

Sogar im Fernsehturm, der hinter der S-Bahn-Station in den Morgenhimmel ragte, war er erkennbar. Verheißungsvoll schimmerte er in der silberglänzenden Kugel.

So viele Arten, zu sterben. So viele Arten, zu töten.

Es fiel schwer, sich zu entscheiden.

1

 

Der Wichser hatte ihn in Stücke gesprengt.

Domi hätte kotzen können. Er war auf dem fettesten Kill Streak seiner Karriere gewesen. Die ersten Runden waren nicht besonders gelaufen. Mal hatte ihn ein Sniper aus dem Hinterhalt erwischt. Mal war seine Munition gerade in dem Moment alle gewesen, als er einem Gegner direkt vor die Mündung gerannt war. Aber dann, nach drei, vier Stunden, war er heiß gelaufen. Sturmgewehr, Schrotflinte, 9mm Automatik — mit jeder Wumme nichts als Volltreffer. Wie Rambo auf Speed war er über die Map gehetzt, hatte Feinde rechts und links niedergemäht. Run and gun, Baby! Im Nullkommanichts hatte sein Kill Count die 50 geknackt, war auf 60 gestiegen, auf 70, immer weiter.

Kill um Kill.

Wie im Rausch.

Er hatte nicht mehr bloß auf seinem Bett vor der Konsole gesessen, auf den Flachbildschirm gestarrt und Knöpfe auf dem Controller gedrückt. Er war in dem Spiel drin gewesen. Micha hatte ihm über das Headset Positionen durchgegeben, ihn gewarnt, wenn einer ihm auflauerte, ihm den Rücken freigehalten. Der perfekte Support.

100 Kills. 120. 130.

BAM! BAM! BAM!

Um ihn herum waren Köpfe wie Knallerbsen zerplatzt.

Drei Kills noch und er wäre die Nummer Eins der Bestenliste geworden. Drei Kills bis zur Multiplayer-Legende.

Plötzlich war Micha weg gewesen, seine Anweisungen und Warnungen im Kopfhörer verstummt. Das hatte Domi durcheinandergebracht. Für einen Moment hatte er nicht aufgepasst. Und genau in dem Moment war dieser Noob gekommen, so ein verdammter Freizeitzocker, der das Spiel nicht mal ernst nahm, sondern einfach nur wild um sich schoss. Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht und hatte ihn — und sich gleich dazu — mit einer Frag Grenade zur Hölle geschickt.

KAWUMM!

Das war es gewesen mit seiner Legende.

Drei verdammte Kills.

Fucker!

Seit er aus seiner Bude raus war, lief in seinem Kopf das Replay der Kill Cam, spulte zurück, startete von neuem. Den ganzen Weg über den Alex, zwischen den Touris, Pennern und Business-Spacken hindurch, hatte es ihm gezeigt, wie die Granate ihn zerfetzte, ihn und den Rekord, an dem er so knapp vorbeigeschrammt war. Mit jeder Stufe auf der Treppe zur S-Bahn hatte es ihm sein Scheitern vor Augen geführt, und auch jetzt, auf dem zugigen Bahnsteig, ließ es ihm keine Ruhe. Wieder und wieder sah er sich selber verrecken. Sein Tod in der Endlosschleife.

Über ihm wölbte sich das Bogendach. Werbeplakate priesen das neueste Smartphone an. Blaue Anzeigetafeln verkündeten die baldige Ankunft oder Verspätung der Züge. Gelbrote S-Bahnen rauschten in die Station, hielten und rauschten wieder hinaus.

Domi bekam davon kaum etwas mit.

Er sah sich in der Hausruine, in der er draufgegangen war. Steinhaufen. Zerbrochene Balken. Eingeschlagene Fenster.

Ein alter Sack mit grauem Vollbart blätterte auf einer der Metallbänke in seiner Zeitung. Eine schlanke Blondine in rotem Kostüm tippte neben dem Ticketautomaten auf ihrem Handy herum. Ein junges Pärchen studierte die Fahrpläne in den Aushangkästen.

Domi sah nur eins: Seinen Körper, von der Detonation auseinandergerissen. Fliegende Gliedmaßen. Spritzendes Blut.

Alles in Zeitlupe.

Ein Rollkoffer ratterte irgendwo hinter ihm entlang. Lautsprecherdurchsagen schepperten durch die Halle. Stimmen verwirrten sich ineinander. Gelächter wallte auf.

Aber all das ging unter in dem gewaltigen Knall der Explosion.

KAWUMM!

Ein Schwindel durchfuhr ihn und für einen Moment schwankte er.

Das war alles viel zu echt.

Er rieb sich seine brennenden Augen. Vielleicht hätte er sich doch ein paar Stunden hinhauen sollen. Aber er hätte eh nicht pennen können. Nicht nach geschätzten drei Litern Energydrink. Er trank einen Schluck aus der schwarzen Dose. Der künstlich süße Geschmack erinnerte ihn immer an Hustensirup. Die Kohlensäure prickelte auf seiner Zunge. Wenn man eine Weile nur auf diesem chemischen Treibstoff lief, kam man sich irgendwann vor wie ein Zombie, dem man einen Elektroschocker in den Arsch gesteckt hatte, um ihn auf den Beinen zu halten. Zwischendurch bekam man Herzrasen und Schweißausbrüche. Aber ohne das Zeug ging jetzt gar nichts mehr. Sein Hirn lief auf Standby. Er brauchte irgendwas, das ihn durch den Tag brachte: Sechs Stunden Berufsschule. Sechs Stunden auf einem harten Holzstuhl. Ihm tat sowieso schon alles weh: Rücken verspannt, Nacken steif, weil er vorgebeugt gesessen hatte, dicht am Bildschirm, hochkonzentriert; Finger verkrampft, weil er sie so fest um den Controller geklammert hatte. Und als wären die unbequemen Stühle nicht schlimm genug: Sechs Stunden Lehrergelaber. Mathe. Statistik. Das hatte nicht mal richtig was mit Informatik zu tun, war nur unnötiger Shit, mit dem sie ihm auf den Sack gingen und der ihm nie was nützen würde. Er würde mehr als die eine Dose brauchen, um sich wachzuhalten…

Zum Glück würde sich all das bald erledigt haben. Wenn er erst Profi-Gamer war, würde er als Allererstes seine Ausbildung schmeißen. Er würde die Nächte durchzocken und die Tage gemütlich verratzen. Außerdem würde er sich einen von diesen Gaming-Stühlen besorgen, in denen man stundenlang sitzen konnte, ohne sich die Wirbelsäule zu verbiegen. Nein: Er würde sich einen schenken lassen. Von seinem Sponsor. Jeder Profi-Gamer hatte einen Sponsor. Mit all seinen Kills würde er problemlos einen finden. Die würden sich um ihn reißen. Sobald er heute Abend wieder zuhause war, würde er weiterzocken, weiter an seiner Karriere arbeiten.

Aber erstmal musste er durch diesen beschissenen Tag.

„Yo, Domi!“

Er drehte sich um.

Da hinten kam er. Micha, der Verräter. Keiner hatte ihn abgeknallt. Seine Internet-Verbindung hatte nicht schlappgemacht. Der Arsch hatte sich ausgeloggt, mitten im Spiel. Er hatte ihn seinen Rekord gekostet. Vor allem aber: Er hatte ihn auf dem Schlachtfeld im Stich gelassen.

Jetzt watschelte er auf ihn zu, klein und pummelig und mit einem verlegenen Grinsen. Er wusste genau, was für ne Scheiße er gebaut hatte. 

„Was geht, Bro?“, fragte Micha und hob die Hand.

Domi schlug ein. Sie stießen Brust an Brust zusammen und klopften einander auf den Rücken. Aber nur kurz. Domi löste sich sofort wieder von ihm.

„Was ging mit dir gestern?“, fragte er. „Du warst auf einmal offline.“

Micha schob sich seine roten Haare aus der Stirn. Wie immer, wenn er sich wegen irgendwas mies fühlte. Die Haare fielen direkt wieder zurück.

„War nichts. Ich war halt müde.“

Müde am Arsch, dachte Domi.

Vor ein paar Monaten hätte Micha ihn nicht hängenlassen. Da wäre er rübergekommen, sie hätten in Domis Bude den zweiten Bildschirm angeschlossen und Seite an Seite bis in die Morgenstunden ein Deathmatch ans nächste gereiht. Aber das hatten sie ewig nicht gemacht. Seit Micha mit dieser Bitch Elisa zusammen war. Er schaute kaum noch bei ihm vorbei, und wenn er sich blicken ließ, haute er vor Mitternacht wieder ab. Er kiffte auch nicht mehr. Er war richtig lahmgeworden. Demnächst würde er wahrscheinlich abends vor dem Fernseher Kamillentee trinken und gleich nach der Tagesschau ins Bett gehen.

Die Bitch war richtig schlechter Einfluss.

„Ich hatte so einen krassen Lauf, und da wäre noch was gegangen. Aber kurz nachdem du raus warst, hat mich einer erwischt.“

Der feindliche Soldat in seiner schwarzgrauen Tarnuniform. Die Granate, die auf ihn zukullerte. Ein greller Blitz. Eine Erschütterung, die alles zum Wackeln brachte. Sein Kopf, der sich in einer Blutfontäne vom Rumpf löste.

KAWUMM!

„Ich hätte dich echt gebraucht, Mann.“

Micha stopfte die Hände in die Taschen seines blauen Hoodies mit dem Minecraft-Logo.

 „Sorry, Alter. War kacke, ich weiß. Ich war halt…“

Was?, dachte Domi. Notgeil? Wolltest lieber einen wegstecken, als für deinen Kumpel da zu sein.

Er begriff sowieso nicht, wie der Mops mit seinen blassen Speckbacken an eine Freundin gekommen war. Vor allem an so eine. Elisa war ne Bitch, keine Frage. Aber geil. Hammertitten. Mega-Arsch. Er checkte nicht, warum die sich von einem wie Micha vögeln ließ. Er, Domi, sah viel besser aus. Er war größer als Micha und außerdem nicht fett. Zum Stich war er allerdings lang nicht gekommen. Er hatte an ein paar von den Tussis in der Berufsschule rumgebaggert. Aber die Fotzen waren sich zu gut für ihn. Ansonsten war grad Flaute, was fickbare Weiber anging.

Die Blondine da hinten beim Ticketschalter war einigermaßen heiß. Vielleicht ein bisschen zu alt für ihn. Aber geil in dem knatschengen Kostüm. So eine richtige MILF. Die hätte er sofort geknallt. Sie sah allerdings nicht aus, als wollte sie unbedingt mit zu ihm. Der Blick, mit dem sie von ihrem Handy auf und zu ihm rübersah, war eher kühl. Wahrscheinlich fühlte sie sich belästigt, bloß weil er sie anguckte. Scheiß drauf. Er hatte eh keinen Bock, so eine verschrumpelte Alte in den Wechseljahren zu bumsen.

Aber es war halt auch nicht fair, dass ihn so lange keine rangelassen hatte und er sich selber einen runterholen musste, während Micha jeden Abend an Elisas Titten durfte.

Geschah ihm recht, dass er sich deswegen jetzt mies fühlte.

„Das ging einfach nicht anders“, sagte Micha. „Wir haben diese Woche doch Prüfung und ich musste noch lernen. Ich darf die auf keinen Fall verhauen.“

Wie er sich wand, der kleine Dicksack. Er konnte ihm nicht mal in die Augen schauen. Glotzte nur auf seine Sneaker, mit denen er einen Kronkorken auf dem Boden rumkickte. Früher, auf der Realschule, hatte er nur davon träumen können, ne Freundin zu haben. Überhaupt Freunde. Er hatte froh sein können, mit Domi abhängen zu dürfen. Domi hatte ihn mitgezogen, dafür gesorgt, dass er nicht mehr der totale Außenseiter war. So dankte er es ihm.

Die blecherne Stimme aus dem Lautsprecher verkündete eine Zugdurchfahrt auf ihrem Gleis. Kurz darauf bretterte die Bahn in die Station und Full Speed an ihnen vorbei, ein zischendes, rumpelndes gelbrotes Geschlirre. Zig Tonnen Stahl mit einhundert Sachen in der Stunde, wie ein gigantischer Rammbock, der alles platt machte, was ihm in den Weg kam. Der Fahrtwind, der nach heißem Metall und Schmieröl roch, klatschte Domi ins Gesicht, schlug ihm die hellbraunen Haare nach hinten. Er stand so nah an der vorbeirasenden Bahn, dass er die Hand ausstrecken, sie hätte berühren können. Unwillkürlich trat er hinter die Linie zurück, die den Sicherheitsabstand vor der Bahnsteigkante markierte. Ein leichtes Zittern, wie Schüttelfrost, fuhr durch seinen Körper.

‚Scheiß drauf‘, dachte er. ‚Bringt ja nichts, wenn wir uns gegenseitig abfucken.‘

„Okay“, sagte er. „Ist halt passiert. War echt lahm. Aber kein Ding.“

Er hielt Micha seine Faust zum Fistbump hin. Micha schlug seine erleichtert dagegen.

„Lass uns blau machen“, sagte Domi und nahm einen weiteren Zug aus seiner Dose. „Berufsschule pack ich heut eh nicht, so durch wie ich bin. Wir fahren rüber zum Ostkreuz, essen was auf dem Kiez und gehen dann zu mir und zocken ne Runde. Was meinste?“

Micha presste seine Lippen zusammen. Es wurde kein Strich daraus. Dazu waren seine Lippen zu schwulstig. Er sah aus wie ein Ochsenfrosch, der seine Prinzessin knutschen wollte. Prinzessin Elisa.

„Ich kann nicht.“

Domi verdrehte die Augen. Das war auch so eine Sache. Micha war immer schon ein Streber gewesen. Aber wie er sich in die Ausbildung reinhängte, war echt übertrieben. Elisa pushte ihn bestimmt noch extra. Dabei lief es bei ihm. Programmieren hatte er drauf. Der Chef hatte sogar schon zugesagt, ihn nach dem Abschluss als Informatiker und Web-Designer in den Betrieb aufzunehmen. Alles safe. Wenn sich einer von ihnen hätte Sorgen machen müssen, dann Domi. Wegen seiner ganzen Fehltage und Krankmeldungen hatte er schon zwei Abmahnungen kassiert. Noch eine und er war raus. Aber er vergaß trotzdem seine Kumpels nicht. Wenn er das locker nahm, konnte Micha das ja wohl erst recht.

In drei Minuten kam die Bahn. Bis dahin musste er ihn überzeugt haben.

„Komm schon, Bro. Einmal schwänzen wird dir schon nicht deinen kostbaren Notenschnitt versauen. Nächste Woche ist das Turnier. Da müssen wir’s voll draufhaben, wenn wir gegen die Spitzen-Teams was reißen wollen. Vor allem, weil da bestimmt auch Scouts von den Sponsoren aufkreuzen.“

Micha kickte wieder den Kronkorken.

„Ich kann auch nicht mit zu dem Turnier.“

Wieder wallte dieser Schwindel in Domi auf, traf ihn wuchtig wie der Fahrtwind des Zuges. Es war, als würde seine Müdigkeit gegen die Wirkung des Energydrinks kämpfen, gegen die Chemikalien, die Hormone aus Stierhoden oder was auch immer die dareinmischten. Er fühlte sich weggetreten und gleichzeitig hellwach, aufgeputscht und benommen. Er war voll da, aber nicht so richtig. Oder alles andere war nicht richtig da.

„Was?“, rief er, ohne sich um die Spackos zu kümmern, die mit ihnen auf die Bahn warteten. Sie schauten von ihren Handys oder Zeitungen auf, um ihn verwundert oder missbilligend anzugaffen, die Blondine, der alte Sack, das Pärchen bei den Aushangkästen und all die anderen Idioten ringsum. Als wäre er ein randalierender Ghetto-Assi. Okay, vielleicht war er etwas zu laut gewesen. Aber bei dem, was hier gerade ablief, musste man ja wohl austicken.

„Was meinst du, nicht zu dem Turnier? Das ist seit Wochen abgemacht. Das ist unsere Chance, in die Szene reinzukommen, auf uns aufmerksam zu machen. Wenn wir die verpassen, müssen wir ewig auf die nächste warten.“

Er hob die Hand zum High-Five.

„Wir sind doch ein Team.“

Aber Micha schlug nicht ein.

„Ich muss mich langsam darauf konzentrieren, was aus meinem Leben zu machen, mir was aufzubauen. Prioritäten setzen. Solltest du auch.“

Domi nahm die Hand runter. Wo kam dieser Scheiß denn jetzt her?

Aber es war ja klar, wo er herkam. Verfickte Bitch!

„Komm schon, Alter“, sagte Micha. „Denk mal nach. Wenn du die Prüfung versaust, wird’s eng für dich. Du hängst jetzt schon hinterher. Du kannst nicht so weitermachen. Lass uns zur Schule fahren. Die paar Stunden schaffst du. Die nächsten Tage helf ich dir beim Lernen. Du schreibst die Prüfung, schleimst dich beim Chef ein bisschen ein und machst die Ausbildung fertig. Ist doch nicht mehr lange.“

Er ließ den Blick fallen. 

„Das mit dem Gamen wird doch eh nichts.“

Explodierende Granaten. Ein Kopf, der vom Rumpf platzte. Spritzendes Blut.

KAWUMM!

Domi kniff die Augen zu, drängte die Bilder aus seinem Kopf.

Für einen Moment zuckte in ihm der Gedanke auf, dass Micha recht hatte. Jeder Vollpfosten, der sich im Multiplayer einloggte, hielt sich für den Chuck Norris der Ego-Shooter. Aber kaum einer schaffte es, in ein Profi-Team zu kommen und bei den großen E-Sport-Turnieren gegen Spitzenspieler aus aller Welt zu bestehen. Er war gut. Das hatte er letzte Nacht bewiesen. Aber was, wenn er nicht gut genug war? Vor allem ohne Micha. Wenn er in der Berufsschule verkackte oder aus der Ausbildung flog, hätte er nichts. Er sah sich in seiner winzigen Bude hocken, ohne Freundin, ohne Freunde, ohne Job, ohne Zukunft. Hartz IV. Fraß von der Tafel und Schlangestehen beim Arbeitsamt zum 1-Euro-Schuften auf dem Bau oder Müllaufsammeln im Park. Der totale Loser.

Aber er konnte Micha nicht zeigen, welche Angst ihm das machte, konnte vor ihm nicht das Weichei raushängen lassen. Er hatte immer den Ton angegeben, hatte Micha auf seine erste Party mitgenommen, ihm sein erstes Bier gegeben, die erste Kippe. Mit ihm hatte Micha, der immer Schiss gehabt hatte, was die Lehrer oder seine Eltern sagen würden, zum ersten Mal einen durchgezogen und danach ordentlich gekotzt. Durch ihn war er cool geworden. Und auf einmal sollte es Micha sein, der blasse pummelige Micha, der sagte, was Sache war? Nur weil er Elisa mit den geilen Titten fickte?

Das ging gar nicht.

„Wie, das wird nichts?“, rief er. „Weißt du, wie viele Kills ich gestern hatte? Das wären noch viel mehr gewesen, wenn du nicht so eine Pussy wärst.“

Herzrasen. Kalter Schweiß wie im Fieber. Dröhnen im Schädel. Wie Explosionen, eine nach der anderen. KAWUMM! KAWUMM! KAWUMM! Alles von dem Scheiß-Energydrink. Er knüllte die Dose zusammen und pfefferte sie auf die Schienen. Am liebsten hätte er Micha eine reingehauen, dem Deserteur, dem Streber, dem verdammten Verräter. Die Spackos auf dem Bahnsteig glotzten ihn an wie einen Psycho. Sollten sie doch. Fucker.

„Alles nur, weil so ne Bitch dich an den Eiern hat.“

Der alte Sack faltete seine Zeitung und stand auf. Die Blondine mit dem kühlen Blick kam näher. Das Pärchen rückte vor. Als wollten sie ihn umzingeln. Auch alle anderen schienen plötzlich auf ihn einzudringen. Kurz bekam er Panik. Er wollte sie wegschieben, ihnen ins Gesicht brüllen, dass sie sich verpissen und ihn in Ruhe lassen sollten. Aber dann merkte er, dass es gar nicht wegen ihm war.

Der Zug raste heran, donnernd und scheppernd.

„Komm schon, Alter“, sagte Micha. „Elisa hat nichts damit zu tun. Ich…“

Domi hielt ihm den Mittelfinger hin, machte ein paar Schritte rückwärts, drängte sich durch die Menge der Wartenden.

„Fick dich, Bro!“

Er rempelte einen der Spackos an. Es war ihm scheißegal. Die Arschlöcher hier konnten ihn alle mal. Micha konnte ihn mal. Kein Wort würde er mehr mit dem Verräter wechseln. Er war durch mit ihm. Er wollte einfach nur abhauen, nach Hause, einen buffen, pennen. Die ganze Scheiße vergessen.

Aber bevor er sich umdrehen konnte, versetzte ihm jemand einen Stoß. Erst dachte er, es wäre Micha gewesen. Aber der stand zwei, drei Meter entfernt. Bevor er feststellen konnte, wer es gewesen war und dem Drecksack eine langen konnte, wurde er von neuem geschubst, dieses Mal fester.

„Hey, pass auf, Mann“, rief er und stolperte zur Seite, über die Abstandslinie. Es gelang ihm gerade noch, sich auf der Kante zu halten. Der Zug war schon ganz nah. Domi ruderte mit den Armen, versuchte, irgendetwas, irgendjemanden zu fassen zu kriegen. Aber er griff ins Nichts, verlor das Gleichgewicht, stürzte. Im Fallen sah er die schockierten Gesichter der Leute auf dem Bahnsteig, zwischen ihnen Micha. Er sah ihren Schrecken, ihre Angst. Spürte sie. Echte, nackte Angst um sein Leben.

Der Aufprall, mit dem er ins Gleisbett krachte, erschütterte seine Glieder, trieb ihm die Luft aus den Lungen. Er stöhnte und ein schwarzer Blitz zuckte durch seinen Kopf. Aber er wusste, er konnte nicht liegenbleiben, konnte nicht warten, bis der Schmerz nachgelassen hatte und er wieder zu Atem gekommen war. Er musste hier weg, und zwar sofort. Verzweifelt versuchte er, sich auf die Beine zu stemmen, die Hände zu greifen, die sich nach ihm ausstreckten. Sie mussten ihn wieder nach oben ziehen, zurück auf den Bahnsteig, in Sicherheit.

Aber es war zu spät. Der Zug türmte sich vor ihm auf, größer und größer. Hämmernd und schnaufend. Unaufhaltsam donnerte er auf ihn zu. Wie in Zeitlupe und doch rasend schnell. Unwirklich wirklich. Schreie mischten sich in das Kreischen der Bremsen. Domi wusste nicht, ob einer der Schreie aus seinem Mund kam. Er wusste gar nichts mehr, dachte nichts mehr, konnte nichts mehr denken. In ihm war nur noch Panik. Aus dem unsinnigen Drang heraus, irgendwo Halt zu finden, packte er die Schienen, als könnte es ihm etwas nützen, als könnte er sich an ihnen festklammern, um nicht von dem Zug davongerissen zu werden. Er spürte sie unter seinen Fingern zittern und beben, und sein Körper bebte und zitterte mit. Das gelbrote, gigantische Ungetüm wuchs über ihm empor, kam näher und näher, bis er nichts anderes mehr sah, es nichts anderes mehr zu geben schien als diese gelbrote, ihm unerbittlich entgegenrückende Wand aus Stahl. Das durchdringende Tröten des Signalhorns löste einen letzten Gedanken in ihm aus.

Game Over.

Dann rammte ihn die S-Bahn ins Nichts.

 

2

 

Harder schwebte.

Die Schwerkraft streckte sich nach ihm aus, wollte ihn zur Erde zu ziehen. Er machte sich noch leichter, löste sich aus ihrem Griff und stieg mühelos empor, in kosmische Sphären, wo sie ihn nicht zu fassen bekam.

„Thomas? Thomas, hörst du mich?“

Unter ihm erwachte die Stadt. Wie ein junges Mädchen, das sanft von den ersten Sonnenstrahlen liebkost wird, stieß sie ein wohliges Seufzen aus. Sie blinzelte in den Himmel, über den goldschimmernde Wölkchen trieben, streckte ihre geschmeidigen Glieder und begrüßte die Welt mit einem Lächeln.

Bullshit, dachte Harder.

Berlin kam zu sich wie ein Alki nach dem Komasaufen. Die Wolkenschlieren hatten die gleiche Farbe wie der ausgerotzte Schleim einer Kettenraucherkehle. Autos spritzten ihre Abgase aus den Auspuffen wie Donnerfürze. So war Berlin am frühen Morgen. Eine verkaterte Großstadt.

Thomas, könntest du vielleicht… Ich meine, wäre es eventuell okay für dich, wenn wir…“

Aber hier oben, fand Harder, weit weg von allem, ließ es sich aushalten.

Das Hoteldach war sein Lieblingsplatz, um die Nacht ausklingen zu lassen und den Tag einzuläuten. Wann immer es ihm möglich war, schlich er sich in den frühen Morgenstunden durch die Hintertür rein, die einer der Portiers, ein alter Freund, für ihn offen ließ. Er konnte schlecht unter dem roten Baldachin durch den Haupteingang reinspazieren. Mit seiner abgewetzten Lederjacke, seinem Drei-bis-Fünf-Tage-Bart und seinem schwarzen Wirrschopf fügte er sich nicht gerade stilecht in das Interieur der prunkvollen Eingangshalle mit ihren filigranen Polsterstühlchen, güldenen Leuchtern und dem ganzen Marmor- und Mahagonigedöns — wobei man ihn im Zweifelsfall für einen abgehalfterten Rockmusiker hätte halten können, der wie Schauspieler, Sänger und sonstige Mitglieder der internationalen High-Society in einer der Edelsuiten für horrende Summen Quartier bezogen hatte. Harder allerdings genügte die Gratis-Loge unter freiem Himmel. Wie so oft hatte er auch dieses Mal über die Servicetreppe den obersten Stock erreicht und war durch eine Luke nach draußen gelangt. Er hatte die Dachterrasse überquert und war neben den mannshohen Buchstaben, die den Hotelnamen bildeten, über die Brüstung geklettert. Von hier aus war er nach einer kurzen Rutschpartie auf einem der Erker gelandet, die kurz vor der Kante den Abschluss des Daches bildeten. Es brauchte ein wenig Feingefühl im Hintern, um nicht zwischen ihnen hindurch oder mit zu viel Schwung über sie hinweg zu schlittern. Ein solcher Patzer hätte mit dreißig Metern freiem Fall und einem Bauchplatscher auf dem Pariser Platz geendet. Vor allem im Dunkeln war es kein ganz leichtes Unterfangen. Aber so geübt, wie Harder inzwischen war, hätte er es sogar mit ein bis zwei Promille hingekriegt.

Allerdings kam er immer nüchtern hierher. Oder jedenfalls nur noch mit Restalkohol. Das Brandenburger Tor, das in seiner nächtlichen Beleuchtung wirkte wie aus Gold gegossen. Der Reichstag mit seinem wuchtigen Schweigen, wie eine Trutzburg, auf die man den Deckel eines riesigen Eierkochers gesetzt hatte. Der Tiergarten, der sich nach Sonnenuntergang in einen Urwald verwandelte, in dem, wenn nicht Bären und Wölfe, so doch Wildschweine, Füchse und Waschbären herumstreunten. Die Stille über der Stadt. Das Gefühl, ganz für sich, der Welt entzogen zu sein. All das war zu erhebend, um es dumpf bedröhnt nur am Rande wahrzunehmen.

Thomas!

Außerdem fand er hier oben einen Rausch, der besser war als alles, was ihm Alkohol, Gras oder sonstige Drogen bescheren konnten. Es war der Rausch, der ihn beim Blick in eine Pistolenmündung überkam, bei voller Fahrt in seinem Auto, wenn ein einziges Verreißen des Lenkrads zu einer Kollision oder einem Überschlag führen würde — oder eben in einer Höhe, von der aus er bei einem Sturz nicht mit einem gebrochenen Bein davonkäme. Der Rausch der Todesnähe. Er machte alles wirklicher. Jede Farbe wirkte kräftiger, jedes Geräusch deutlicher, und alles war verlangsamt, sodass Harder Zeit hatte, etwa eine Taube, die an ihm vorüberflatterte, ganz in Ruhe und in allen Einzelheiten zu betrachten.

Im Hintergrund spielten Faith No More Easy, den Song, der diesen Zustand jedes Mal begleitete. Heute war es eine entspannte Unplugged-Version, lässiges Gitarrengeschrammel, bei dem man sich zurücklehnen und den Kopf locker im Takt wiegen konnte. Harder summte mit. Ein sanftes Wummern pulsierte unter dem Bass, umschloss ihn, hob ihn empor in diese Schwerelosigkeit, die ihn über allen Dingen schweben ließ. Das Wummern, rhythmisch wie ein Herzschlag, wollte ihn ganz an sich, in sich, mit sich ziehen. Es verlockte ihn, sich nach vorn zu beugen, nur ein kleines Stückchen weiter, die Augen zu schließen und sich fallenzulassen, voller Vertrauen hinein in die ewige Geborgenheit, die Erlösung, die es ihm versprach, die mütterlich liebevolle Umarmung des Todes.

Aber er gab sich ihr nicht hin. Er war nicht hergekommen, um sich dem Tod in die Arme zu werfen.

Jedenfalls nicht heute.

Harder nahm noch eine Chili aus der Plastiktüte, fuhr mit den Fingern über die glatte Oberfläche der länglichen, leicht gebogenen Frucht und biss krachend hinein. Schärfe prickelte auf seiner Zunge. Tränen stiegen ihm in die Augen. Das Wummern wich zurück, ohne sich jedoch gänzlich von ihm zu lösen. Der Drang, sich in die Tiefe zu stürzen, ließ nach. Zurück blieb die Leichtigkeit, ein zärtlicher Rausch, in dem er selig trieb, während er die Beine baumeln ließ, die Aussicht genoss, Freiheit spürte.

Glück.

„Komm schon, Thomas. Du kannst mich nicht die ganze Zeit ignorieren.“

Harder seufzte und legte den Chilistrunk in die Tüte.

Mit seinen Glücksgefühlen war es vorbei.

In den letzten paar Minuten war auf dem Pariser Platz ein Tumult ausgebrochen. Polizeiwagen waren mit heulenden Sirenen herangerast und mit quietschenden Bremsen zum Stehen gekommen. Ein Feuerwehrtruck war herangebrettert, kurz darauf ein Notarztwagen. Inzwischen wuselten dort unten mindestens zwei Dutzend Uniformierte durcheinander und veranstalteten einen Krawall, bei dem man sogar die sanfte Nähe des eigenen Todes vergessen konnte.

Erst hatte Harder gehofft, es handele sich um einen Alarm in der amerikanischen Botschaft, eine Bombendrohung oder einen Amoklauf.

Aber natürlich ging es um ihn. 

Er war selber schuld. Er war zu lange geblieben. Normalerweise verschwand er im Schutz der Dunkelheit so unauffällig, wie er gekommen war. Aber dieses Mal war er so berauscht gewesen, dass er nicht daran gedacht hatte, wie ausgestellt er hier oben war und dass ihn jemand, der ihn entdeckte, kaum für einen Dachdecker oder einen sonderbaren Wasserspeier halten würde. Und jemand hatte ihn entdeckt. Einer der Touristen vielleicht, der sein Kamerastativ vor dem Brandenburger Tor aufgebaut hatte, um es im Licht der aufgehenden Sonne zu fotografieren. Oder jemand, der in einem der umliegenden Palais arbeitete, sich für eine Zigarette aus dem Fenster gelehnt, ihn erspäht und es als seine bürgerliche Pflicht erachtet hatte, die Behörden über den mutmaßlichen lebensmüden Springer auf dem Hotel in Kenntnis zu setzen.

Harder fand es dreist.

Natürlich lag es nah, eine abgerissene Gestalt, die auf einem Dach hockte, für einen Selbstmörder zu halten.

Aber man konnte ja wenigstens mal fragen.

Thomas“, wieder diese quäkende Stimme, von schräg hinten und oben.

Harder gab seine Hoffnung auf, zumindest noch ein paar Minuten Ruhe zu haben, bis die Feuerwehrleute ihre Leiter ausgefahren hätten und ihn zwingen würden, nach unten zu klettern. Er konnte vielleicht vorübergehend der Schwerkraft entkommen. Aber offenbar galt das nicht für penetrante Polizeipsychologen.

„Mein Gott, Sören, was ist denn?“

Harder machte sich nicht die Mühe, den Kopf zu drehen. Er sah nicht ein, für diesen Quälgeist einen Nackenkrampf zu riskieren.

Thomas, könntest du nicht vielleicht bitte raufkommen?“

„Nö.“

Er trank einen Schluck Milch aus der Packung, die neben ihm auf dem Erker stand, und spülte die Chilischärfe aus seinem Mund. Das Wummern wallte zwar nochmal auf, und auch Faith No More legten sich nochmal ins Zeug. Aber Harder wusste, seinen schönen Rausch konnte er vergessen. Wie sollte er sich bitteschön seiner Todessehnsucht hingeben, wenn unter ihm Bullen, Sanitäter und Feuerwehrmänner herumsprangen und ihm zu allem Überfluss auch noch ein quengelnder Seelenklempner in den Ohren lag?

„Wenn du dich unterhalten willst, musst du dich schon hier herunterbemühen.“

„Aber Thomas, ich bin doch nicht schwindelfrei.“

„Dein Pech, Sören. Daran hättest du denken sollen, bevor du angefangen hast, mich zu nerven.“

Ein selbstmitleidiges Stöhnen erklang, gefolgt von einem metallischen Scheppern, als Sören über die Brüstung stieg. Das Ende eines Kletterseils fiel auf den Erker neben Harder, zuckte und wand sich, während Sören schlitternd und schlurrend Stück für Stück über die Schräge nach unten rutschte. Er kommentierte seinen Abstieg mit einem ununterbrochenen „OhGottOhGottOhGott!“. Es hielt gefühlte zehn Minuten an, bis seine Birkenstocks mit dem orthopädischen Fußbett neben Harder erschienen und, bevor sie aufsetzten, erst einmal mit der Spitze prüften, ob der Erker auch halten würde. Sören trug seine Sandalen stilecht mit weißen Socken. Abgesehen von einem Senkfuß und einer Zehen-Fehlstellung hatte er den Hang, sich beim kleinsten Windzug zu erkälten. Unter der braunen Cordhose schlotterten seine Knie, wobei das wohl eher auf seine Höhenangst als auf die frische Morgenluft zurückzuführen war. Harder schaute zu ihm auf. Sörens Oberkörper, in braunem Tweedjackett mit aufgenähten Lederflicken, war in ein Gurtsystem mit diversen Karabinerhaken geschnallt. Seine Hände, in schwarzen Kletterhandschuhen, krampften sich um das Seil. Seine mit Sommersprossen gesprenkelten Wangen waren vor lauter Anstrengung — oder Anspannung — gerötet. Seine braunen, chaotischen Locken schlängelten sich unter einem roten Helm hervor.

„Schick, Sören“, sagte Harder. „Willst du nach der kleinen Aufwärmübung gleich noch den nächsten Achttausender besteigen? Oder wenigstens den Teufelsberg? Wir könnten für ein bisschen Frühsport auch zusammen den Fernsehturm erklimmen.“ Er wies auf den Turm, dessen silberne Kugel in der Morgensonne glänzte. „Auf dem war ich schon lang nicht mehr.“

„Lass mal, Thomas“, sagte Sören. „Den Teufelsberg schaffe ich gerade noch. Aber beim Fernsehturm muss ich passen. Da würde ich schon auf halber Höhe eine Panikattacke kriegen.“

„Echt? Warst du noch nie da oben? Ist ne super Aussicht.“

„Vielleicht schaffe ich das irgendwann mal“, sagte Sören. „Wenn ich meine Höhenangst überwunden habe. Bis dahin finde ich es hier schon schlimm genug.“

Er bemühte sich angestrengt, nicht nach unten zu sehen, wo die Polizisten Absperrbänder spannten, um die Gaffer zurückzuhalten, die alle übrigen Sehenswürdigkeiten vergessen und sich vor dem Hotel versammelt hatten. Nicht wenige hatten ihre Smartphones gezückt in der Hoffnung, Freunden und Familien neben ihren Urlaubsfotos auch das unterhaltsame Filmchen eines Selbstmörders präsentieren zu können.

 „Also“, sagte Sören. „Ich bin hier. Und jetzt?“

ö