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ALFRED GOUBRAN

SCHMERZ
UND
GEGENWART

RITZUNGEN

ESSAI

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Dieses Buch basiert in seinen Grundzügen auf dem gleichnamigen Vortrag, der am 25.10.2018 an der Ruhr-Universität Bochum auf Einladung der Literarischen Gesellschaft Bochum im Rahmen des Forschungsseminares „Leid und Schmerz in Wissenschaft und Kunst“ gehalten wurde. Für Anregung, Unterstützung und Gelegenheit möchte sich der Autor bei Prof. Ralph Köhnen (Fakultät für Philologie, Institut für Germanistik) und Dr. Markus Tillmann (Germanistik) herzlich bedanken.

Der Text folgt in weiten Teilen den Regeln der alten Rechtschreibung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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1. Auflage 2019

© 2019 by Braumüller GmbH Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverfoto: © Shutterstock/LaFifa

ISBN 978-3-99200-254-2

eISBN 978-3-99200-255-9

Massenheilungen werden in Kürze erfolgen.

Christian Loidl,
österreichischer Dichter,
1957–2001

INHALT

I

DA

IN

GRENZEN

DIE UNFÄHIGEN

DIE VERDRÄNGUNGSGESELLSCHAFT

DIE BESETZUNG

WIE

DER ERFOLG

WAS IST NUN HIER MIT VERDRÄNGUNG GEMEINT?

II

SCHMERZ

I

DA

Verdrängung nichts ist, das von selbst geschieht, sondern getan werden muß (und sei es nur, daß man sich dafür entscheidet), stellt sie auch eine Leistung dar.

Wann immer von der Leistungsgesellschaft die Rede ist, ist damit im Grunde die Verdrängungsgesellschaft angesprochen.

Kennzeichen einer Verdrängungsgesellschaft ist, daß Status und (öffentliche) Bedeutung an der Verdrängungsleistung bzw. dem Verdrängungswert gemessen werden.

Als Verdrängungsleistung wird honoriert, was der Ablenkung und Zerstreuung dient und unter dem Begriff Zerstreuungsindustrie zusammengefaßt werden kann.

Der einzige Maßstab, der hierbei zum Tragen kommt, ist der Erfolg – das ist die Verdrängungsleistung. Sie wird in den Bestsellerlisten, Hitparaden, den Trends, den In & Outs und den diversen Rankings abgebildet. Dort ist abzulesen „Was die Stunde geschlagen hat“ – es ist das Diktat der Zerstreuungsindustrie, die, im Öffentlichen – und über das Öffentliche –, für die Gegenwart bestimmend sein will.

Der Ort der Verdrängung ist die Gegenwart.

IN

einer Verdrängungsgesellschaft ist Sprache, als Kommunikationsmittel, auf ihre Funktion reduziert und dahingehend optimiert, daß der Austausch und die Übertragung von Information die Verdrängung auch leisten kann und sie nicht stört oder ihr entgegensteht.

Deshalb ist das Ausüben von Sprache – das Sprechen und Schreiben – in der Verdrängungsgesellschaft auch immer ein Verschweigen und Nicht-Sagen, das den Erhalt des Verdrängten garantiert.

Das Verdrängte darf nicht zur Sprache kommen.

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Keine Gesellschaft, kein Staat, kann für sich in Anspruch nehmen, nicht zu verdrängen.

Die Beziehungen und das Verhältnis zum Verdrängten (und oft: den Verdrängten) sind vielfältig, die Methoden des Verdrängens zahlreich. Sie werden verordnet, sind durch Gesetze geregelt, werden in Sprechverboten ausgeübt, durch Tabus oder stillschweigenden Konsens.

In der Verdrängungsgesellschaft jedoch wird das Verdrängen zur treibenden Kraft, deshalb darf, ja es muß, in einer Verdrängungsgesellschaft über alles gesprochen werden, auch über das Verdrängte. Nicht überall und nicht zu jeder Zeit, doch immer dann, wenn dadurch eine Verdrängungsleistung möglich wird. In der Regel handelt es sich bei solchen Wieder-Gutmachungen um Ablenkungen. Sie sind der Zerstreuungsindustrie zuzuordnen.

Wo in der Verdrängungsgesellschaft Tabus und Sprechverbote auftreten, sind sie stets „vorläufig“, als Schutzzonen, Reservoirs und stille Reserven, die, wenn ihre Zeit gekommen ist, aufgehoben werden, um das so Geschützte, im Sinne der Verdrängung, dem Verbrauch zuzuführen und neue Märkte zu öffnen. Diese Öffnung wird von der Zerstreuungsindustrie, im Dienste des Dogmas der Fortschrittlichkeit, dem sich die Verdrängungsgesellschaft verschrieben hat, als Befreiung propagiert.

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Die Aufhebung von Grenzen und Begrenzungen ist für die Verdrängungsgesellschaft so fundamental wie bezeichnend. Ihr Ziel ist „der optimale Verbrauch und die Vernutzung des Seienden in all seinen Erscheinungsformen“1 – und ihr Mittel dazu die Verdrängung.

Das betrifft den Einzelnen so gut wie die Welt, in der er lebt. Alles ist Ressource. Alles muß – uneingeschränkt – dem Verbrauch und der Vernutzung zugänglich sein. Alles muß verwertbar sein und, wo es das nicht ist, dazu gemacht werden. Das ist die Grenzenlosigkeit, die angestrebt, die Gleichheit, der zugearbeitet wird.

Doch ist in einer Verdrängungsgesellschaft alles nur vorläufig und jedes angestrebte Ziel ein Mittel, um ein anderes vorläufiges Ziel zu erreichen.

Der Verdrängungsgesellschaft ist die Welt, wie sie ist, nur ein Provisorium, das es zu verbessern gilt. Das rechtfertigt den Fortschritt und bedingt ein Fortschreiten ins Endlose – denn wo es nichts mehr zu verbessern gibt, ist auch die Verdrängungsgesellschaft an ihr Ende gelangt.

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Die Verdrängungsgesellschaft bringt nichts hervor. Sie parasitiert am Seienden und dadurch auch am Einzelnen, der ihr angehört. Wie der Staat, eine Bürokratie oder Verwaltung Eigenleben entwickeln können und dann nicht mehr für den Bürger da sind, sondern der Bürger für den Staat, um ihn zu erhalten, so ist auch die Verdrängungsgesellschaft ein Gebilde, das durch den Menschen entsteht, aber von ihm nicht kontrolliert wird.

Die Überzeugung, die den rückhaltlosen Verbrauch und die optimale Vernutzung des Seienden legitimiert – nämlich, daß diese Welt eine fehlerhafte sei und der Mensch dazu berufen, sie zu verbessern –, ist nicht neu. Keine der Zutaten, die eine Verdrängungsgesellschaft ausmachen, sind neu oder unbekannt. Nicht die Entwicklungen, die dazu führen, nicht die Glaubensinhalte, Vorstellungen, Philosophien und Sehnsüchte, die sich darin finden, nicht die Strategien, Methoden und Organisationsformen, die zur Anwendung kommen – nichts davon ist neu.

Und da die Verdrängungsgesellschaft selbst nichts Neues hervorbringen kann, ist ihre Welt tatsächlich ein Provisorium, an dem ständig herumgebessert werden muß, um diese Welt – als Provisorium – zu erhalten. Solche Zirkelschlüsse und Kreisgänge sind in der Beschreibung der Verdrängungsgesellschaft nicht zu vermeiden. Sie sind in ihr angelegt und die Verdopplung und Wiederholung sind nicht nur Motive, die in ihr anklingen, sondern Manifestationen der Ausweglosigkeit.

Die Verdrängungsgesellschaft ist ein Gebilde, das im Ausweglosen gedeiht und im Unheimlichen zu Hause ist.

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Die Verdrängungsgesellschaft, als autonomes Gebilde, zeigt selbst alle Merkmale des Verdrängten, wie es uns durch Mythen und Märchen überliefert ist und in der Dichtung, den darstellenden Künsten und psychologischen Studien – wenn auch dort gestaltlos – begegnet: Als das Untote, das nicht leben und nicht sterben kann und am Lebendigen zehrt, als die Schatten im Reich des Hades, die erst Auskunft geben, wenn sie Blut getrunken haben, die Wiedergänger, Gespenster, die Verfluchten … mit einem Wort: Das Unerlöste. Das aus der Zeit und dem Leben Verdrängte, das wieder Zeit werden muß, um sich in der Gegenwart durch ein Wort oder Geschehen zu lösen.

Ist also in der Verdrängungsgesellschaft das Verdrängte selbst zur Herrschaft gelangt, um am Leben zu parasitieren und sich zu erhalten?

Ist in der Verdrängungsgesellschaft das Seiende insgesamt in die Gewalt des Verdrängten geraten, wie es dem Einzelnen geschehen kann, wenn er, was ihm nicht paßt oder er nicht zu ertragen meint, leugnet und sich dadurch Zwängen und Automatismen ausliefert, die er durch seine Leugnung selbst verursacht hat?

Gut möglich auch, daß der Einzelne in der Verdrängungsgesellschaft wie Persephone lebt, die der Totengott raubt und zu seiner Frau macht: Ein Drittel des Jahres muß sie unter der Erde bleiben, die beiden anderen verbringt sie auf dem Olymp. – Das Verdrängte, das ist auch das ungelebte Leben. Die Abwesenheit. In welchem Verhältnis steht sie in der Verdrängungsgesellschaft zur Anwesenheit oder einem Leben, das die Bezeichnung Dasein2 auch verdient? Wie hoch ist die Summe der Abwesenheiten in einem Leben in der Verdrängungsgesellschaft, die tote Zeit, die unwiederbringlich verloren ist? Weil der Einzelne in Anspruch genommen ist, erschöpft, ausgebrannt, leer … Und: Woran hat er sich erschöpft, was hat ihn in Anspruch genommen? – Es ist nicht länger die Arbeit, die ihn auszehrt, es ist keine körperlich bedingte Erschöpfung, sondern eher ein Erschlaffen, ein Überdruß und Verlust an Lebenskraft und Lebensfreude, von dem die Zerstreuungsindustrie ablenkt und zugleich profitiert. Sie forciert die Erschöpfung – das ist unter optimaler Vernutzung zu verstehen –, bis der Einzelne selbst nur noch ein Provisorium ist, das Tag für Tag fit gemacht und verbessert werden muß, um zu funktionieren.

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Die Verdrängungskunst besteht darin, daß der Parasit seinen Wirt nicht zugrunde schädigt. Alles, was der Wirt in der Folge unternimmt, um die Schädigung auszugleichen, kommt auch dem Parasiten zugute, solange es nicht gegen ihn gerichtet ist. Es ist keine symbiotische Beziehung, da der Wirt den Schmarotzer nicht braucht und ursächlich keinen Nutzen von ihm hat – den smorotzer, wie es im Mittelhochdeutschen heißt, den Bettler.

Dauert der Befall an, wird der Parasit zum Verursacher der Mehrleistung des Wirtes. Die Mehrleistung wird ihm selbstverständlich. Auch die Schwächung.

Da der Befall in einer Verdrängungsgesellschaft den Einzelnen als Teil des Kollektivs betrifft, kann der Einzelne die parasitäre Bindung nicht lösen, sie wird ihm zur Umwelt, zu einer Natürlichkeit, in die er hineingeboren ist; er muß seinen Beitrag leisten, er muß verdrängen. Die Vernutzung ist obligatorisch. Nur die Grade des Befalls sind unterschiedlich.

Vielleicht ist diese Ausweglosigkeit der Nutzen, den wir als Wirt von dem Befall ziehen. Vielleicht ist diese Ausweglosigkeit gesucht, gewünscht, herbeigesehnt – unbewußt, so wie ein Volk den Krieg herbeiwünschen kann, während es unablässig vom Frieden spricht, und – entgegen seiner bewußten Absichten – genau jenen Personen zur Macht verhilft, die diesen Krieg ermöglichen. Dazu muß jedoch ein Verdrängtes wirken. Die Schmach eines verlorenen Krieges etwa, die Demütigung, die der Niederlage folgt …

Das kann nicht zum „Sieg“ führen, wenn ein Verdrängtes wirkt, sondern führt in die Wieder-Holung. In die erneute Niederlage. Erst dann ist der Weg frei, um sich anders zu entscheiden und eine erneute Wiederholung zu vermeiden.

Es kann durchaus sein, daß die Wiederholung ad infinitum