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Deutsche Erstausgabe (ePub) Oktober 2019

 

Für die Originalausgabe:

© 2014 by Nicole Dennis

Originally published in the English language as

»By the numbers«

by Totally Entwined Group Limited, UK

 

The moral rights of the author have been asserted.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2019 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

Lektorat: Anne Sommerfeld

 

ISBN-13: 978-3-95823-784-1

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


 

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Aus dem Englischen von Susanne Scholze


 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem die Autorin des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber ihrer Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der Autorin und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

 

Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

Die Renovierungsarbeiten am „Southern Charm“ sind in vollem Gange und Bauleiter Sully arbeitet mit Feuereifer daran, dem Hotel seinen alten Glanz zurückzugeben. Als dann eines Tages der etwas neurotische Buchhalter Chandler zu Hilfe gerufen wird, um Ordnung ins Chaos der Finanzen zu bringen, muss Sully feststellen, dass man auch für mehrere Dinge gleichzeitig großes Interesse hegen kann. Doch Chandler ist jemand, der sein Leben gerne sauber und geordnet verbringt – und allein. Wird Sully es schaffen, die Mauer zu überwinden, die Chandler um sich und sein Herz errichtet hat?


 

 

Widmung

 

 

 

Für meine fantastische Lektorin, die mir hilft, die Dinge geradezurücken. Danke, Sarah!

 

 

 

 

 


 

Kapitel 1

 

 

»Was hab ich dir über die Ablage all dieser Bestellungen gesagt? Sie sollen nicht überall im Büro rumliegen. Sie müssen in den entsprechenden Ordner einsortiert werden, den ich neben der Tür an die Wand gehängt hab. Das ist das Metallding, das du an der Wand nicht übersehen kannst. Kapiert? Da sind mehrere, in leuchtenden Farben. Schau. Siehst du? Der Beleg kommt in den Ordner. Wenn er da mal drin ist, dann wird bezahlt«, sagte ein Mann zu einem anderen auf langsame, neckende Art.

Sullivan Sully Tarleton hatte das Hotel betreten, um mit den beiden Eigentümern über seine Pläne bezüglich der Abrissarbeiten zu sprechen, aber er entschied, dass es besser war, im Flur und außer Sichtweite der beiden Streithähne zu bleiben. Er lehnte sich mit einer Schulter gegen die nächstgelegene Wand und erstickte sein Lachen mit einer Faust, während er zuhörte, wie Samuel Ashford seinen Partner Dakota Mitchell drangsalierte und veralberte. Die beiden Männer waren erst seit Kurzem Liebhaber und Partner, aber sie waren auch gemeinsam Eigentümer des heruntergekommenen, aber doch anmutigen Charm, einem B&B in einer kleinen Stadt an der Küste des Florida Panhandle unterhalb von Pensacola.

»Jawohl, Mr. Prüder New Yorker, der alles weiß und alles sieht. Ich stecke das kleine Stück Papier in den Ordner«, sagte Dakota.

Sully würde alles darauf wetten, dass Dakota bei seiner Antwort die Augen verdreht hatte.

»Es wird noch schlimmer, wenn Chandler ankommt. Du hältst mich für schlimm, aber verglichen mit ihm ist das gar nichts. Er ist um ein Vielfaches strenger auf Kontrolle bedacht. Er ist schon beinahe überorganisiert, wenn es um Papierkram und Details geht.«

»Davor warnst du mich regelmäßig. Das wird nicht funktionieren, mein Yankee Boy. Ich bin in meinen Gewohnheiten festgefahren.«

»Deine alten Angewohnheiten haben uns dieses Papierchaos beschert. Also ändere sie oder schlaf auf der Couch.«

»Du würdest es nicht wagen, mich rauszuschmeißen.«

»Wetten, dass?«

Sullys Schwanz regte sich, als er die übliche Reaktion der sich gegenseitig neckenden Männer bemerkte. Er hörte, wie sie sich leidenschaftlich küssten, und bevor es ausufern konnte, beugte er sich vor und schlug mit einer Faust gegen die offene Tür, um sich anzukündigen.

»Ihr habt Gesellschaft«, verkündete er und trat in ihr Sichtfeld unter den Türstock.

Statt dass die beiden auseinanderfuhren hob Dakota träge den Kopf, als er sich von seinem Liebhaber löste, und zog eine Augenbraue hoch. »Was willst du?«

»Ich bin hier, um mit dem Abriss der vorderen Veranda anzufangen.«

»Warum fängst du da an?«

»Ich hab sie mit einem Bauinspektor überprüft, und sie wird demnächst zusammenbrechen, wenn wir nichts unternehmen. Wenn ein anständiger Sturm hier durchzieht war's das.«

»Sieht es so schlecht aus?«

»Ja, wenn es jemand anderer als mein Freund gewesen wäre, wärt ihr auf die schwarze Liste gekommen und das Hotel geschlossen worden, bis die Veranda repariert ist. Da mich der Bauinspektor kennt, sind wir mit einer Verwarnung davongekommen, aber er will die reparierte Veranda inspizieren und alles, was wir danach machen. Ich hab seiner Entscheidung zugestimmt.«

»Schwarze Liste?«

»Niemand kann hier wohnen, auch wenn es einen anderen, sicheren Eingang gibt, könnten trotzdem versehentlich Gäste hier entlanggehen. Wie ich vorhin sagte, wenn ein böser Sturm vom Golf mit heftigen Winden aus der falschen Richtung hier durchzieht, wäre eure Veranda nicht mehr da.«

»Warum wussten wir nichts davon?«

»Die Unterkonstruktion hat sich gesetzt. Die Bretter waren verzogen und nicht wie vorgeschrieben mit speziellen Schrauben am Unterbau befestigt. Ich will eine derartige Katastrophe vermeiden und das Ding abreißen. Wir stellen Schilder auf, um den Gästen den Weg zu weisen. Der hintere Teil ist in Ordnung und ich werde den vorderen anpassen, indem ich die Veranda um die Front herumführe.«

»Wirst du die gleichen Bretter für den Belag verwenden?«, fragte Dakota.

»Ja, und druckimprägnierte Kiefer für die Unterkonstruktion.«

»Hört sich stabil und haltbar an«, sagte Dakota.

»Freut mich, dass du einverstanden bist, auch wenn du keine Ahnung hast, wovon du sprichst«, meinte Sully mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen.

»Hey!«

Samuel stieß Dakota einen Ellbogen in die Rippen, um ihn von Sully wegzuschubsen. »Wie geht es dir heute Morgen, Sully?«

»Ich hab mir in der Küche einen Kaffee geholt, also geht es mir gut«, erwiderte Sully und hob mit einem Nicken seinen silbernen Isolierbecher.

»Hast du auch gefrühstückt?«, fragte der Küchenchef.

»Ja, zusammen mit dem Rest der Crew. Ich hab dafür etwas Geld auf mein Konto eingezahlt.« Sully wedelte mit seiner Hand, um einen möglichen Protest Dakotas abzuwehren. »Sei still, keine Diskussion.« Er trat weiter in den Raum hinein. »Ich wollte euch beiden sagen, wie der Plan aussieht. Wenn ihr euch weiter küssen wollt, kann ich mit meiner Crew auch später wiederkommen.«

»Nein, nein, du musst hierbleiben und arbeiten«, sagte Samuel.

»Ja, bleib hier. Du bist schon da und bereit zu arbeiten«, meinte Dakota spöttisch.

»Dann bleibe ich wohl.« Sully fiel in ihr Gelächter ein. »Kann ich euch die Einzelheiten erklären?«

»Schieß los«, sagte Dakota.

»Vielen Dank, oh Küchenchef.« Sully beehrte ihn mit einer schnippischen Verbeugung. »Meine Crew wird die vordere Veranda abreißen, neue Punktfundamente ausheben und sie mit Beton ausgießen. Ich muss ein paar Materialien und Genehmigungen abholen, die ich in Pensacola angefordert hab.« Er stellte den Becher auf den Schreibtisch und öffnete seine Dokumentenmappe. Er nahm einen Schnellhefter heraus und reichte ihn Samuel. »Hier ist die Kopie unseres unterschriebenen Vertrags und des Angebots. Du bekommst Kopien der Genehmigungen, wenn ich sie abgeholt hab. Ich bekomme Genehmigungen und Inspektionsberichte für jeden Abschnitt, für den sie nötig sind, um nachzuweisen, dass alle Arbeiten ordnungsgemäß fertiggestellt wurden. Ich hab vorn eine Tafel angebracht, wo während der Arbeiten zu unserer Sicherheit und für die Inspektoren alle ausgehängt werden.«

»Etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet.« Samuel nahm den Hefter und blätterte die Verträge durch. »Brauchst du eine Abschlagszahlung?«

»Noch nicht. Gib mir eine Woche, um alles durchzugehen, und dann kümmern wir uns um die erste Rate. Ich habe genug, um die Abrissarbeiten und den ersten Teil des Neubaus abzudecken.«

Ehe sie die Unterhaltung fortsetzen konnten, meldete sich Samuels Handy mit einem nervigen, lauten Klingelton. Samuel starrte Dakota wütend an. »Hast du den eingestellt?«

»Was? Wer? Ich? Ich hab Gumbo auf dem Herd«, sagte Dakota mit einem Grinsen, dann verließ er das Büro.

»Idiot.« Samuels Stichelei fehlte jegliche Schärfe. Er nahm das Handy in die Hand und wischte mit dem Finger über den Bildschirm. »Hier ist Samuel. Oh. Hey, Chandler. Wann geht dein Flug?«

Sully wollte gerade seinen Kaffee nehmen und gehen, als Samuel in seine Richtung gestikulierte.

»Wie bitte? Du landest in zwei Stunden. Okay. Hm. Du hast ein Auto gemietet, richtig? Es ist eine kurze Fahrt über die Brücke. Okay. Okay. Beruhige dich, Chandler.« Samuel massierte sich die Schläfen. »Nein. Nein. Ich weiß, dass du es überhaupt nicht magst zu fahren. Nein, es gibt keinen Fahrdienst. Ich kann hier nicht weg. Ich bin restlos damit ausgelastet, die Dinge hier in Ordnung zu bringen. Ich hab's dir gesagt.«

Sully hörte zu und wackelte mit den Fingern.

»Warte einen Moment, Chan. Gib mir eine Minute.« Samuel senkte das Handy.

»Wo kommt er an?«

»Pensacola International mit…« Samuel hob das Handy wieder. »Mit welcher Airline fliegst du?« Als er die Antwort bekam, nannte er Sully die Fluggesellschaft.

»Schick mir eine Nachricht mit der Info, seinem Namen und wie er aussieht. Ich hole ihn bei der Gepäckausgabe ab.«

»Bist du sicher? Er ist sehr eigen.«

»Wir kommen schon klar. Sag ihm, es wird jemand mit einem Schild, auf dem sein Name steht, da sein und ihn abholen. Ich muss sowieso nach Pensacola, also fahre ich jetzt los, um meinen Kram zu erledigen und schaue dann beim Flughafen vorbei.«

»Danke, Sully«, sagte Samuel. »Dakota schuldet dir eine Woche lang ein Abendessen.«

Sully lachte leise. »Schreib mir, wenn du fertig bist. Ich mach mich auf den Weg.«

Während Sully das Büro verließ, wandte Samuel sich wieder seinem Handy zu. »Hey, Chan. Ich hab eine Mitfahrgelegenheit für dich. Ja, ja, sein Name ist Sully. Er wird an der Gepäckausgabe stehen, ein Schild mit deinem Namen drauf in der Hand. Er hilft dir mit deinem Gepäck und bringt dich zum Charm. Gib mir die Infos.«

Als er die letzten Worte hörte, ging Sully in die Küche und klopfte mit seinem Becher gegen die Wand. »Hey. Ich hole neben meinen anderen Aufgaben diesen Chandler vom Flughafen ab. Ich brauch Nachschub.« Er streckte Dakota seinen Becher entgegen, als der zu ihm herüberkam.

»Warum holst du Chandler ab? Ich dachte, er fährt selbst.«

»Nein, er kann nicht fahren und landet in zwei Stunden. Ich hab Samuel meine Hilfe angeboten. Ich muss ja sowieso nach Pensacola. Ich kann ihn meiner To-Do-Liste hinzufügen. Macht mir nichts aus.«

»Danke, Kumpel.« Dakota füllte den Becher, packte ein paar frische Scones ein und reichte alles an Sully weiter. »Hier, ein Snack für die Fahrt.«

»Mhm. Prima, ich mag Scones. Ich mag die Mischung aus Aprikosen und Honig.«

»Ich experimentiere mit der Mischung. Das hier ist Kirsche und Vanille.«

»Ich seh dich später und bringe deinen neuesten Yankee mit. Wir werden hier von Nordstaatlern überrannt.«

»Samuel erwähnte, dass er einen Knacks hat«, warnte ihn Dakota.

»Das höre ich immer wieder, aber ich kann das Theater nicht verstehen«, rief Sully ihm zu, als er nach draußen verschwand.

Er nahm sich noch ein paar Minuten, um seinem Stellvertreter Viktor Anweisungen zu geben, damit die Crew mit den Arbeiten anfangen konnte. Bis zum Abend wollte er die vordere Veranda abgerissen, die Pfostenlöcher bis hinunter zum Grundgestein unter dem Sand gegraben und die Fundamente um die neuen Pfosten herum mit Beton ausgegossen haben. »Stell sicher, dass die alten Querbalken entfernt werden. Überprüf alle Kehlbleche, ob irgendwo Wasser eingedrungen und etwas verrottet ist. Wenn dir nicht gefällt, was du siehst, bring zusätzliche Dichtungsbleche, Teerpappe und Schutzfolie an. Ich will, dass alles wasserdicht ist. Reparier alles andere, bevor du die neuen Querbalken mit den passenden Halterungen befestigst. Alles klar?«

»Kein Problem«, sagte Victor, während er sich alles auf seinem Smartphone notierte.

»Ich bin in ein paar Stunden wieder da, eventuell früher, um dabei zu helfen, den Rest zu beaufsichtigen«, sagte Sully, als er sich auf den Rückweg zu dem großen, schwarzen Truck machte.

»Augenblick, Sully, warte kurz bevor du gehst…«, rief Samuel ihm zu, als er über die Veranda rannte.

Sully warf seinen Kram in das Führerhaus des Trucks und drehte sich um, um den kleineren Mann anzusehen, der auf ihn zukam. »Was gibt's, kleiner Yankee?«

Samuel atmete ein paarmal tief ein. »Verdammt, ich bin völlig außer Form. Ich frage mich, ob ich Dakota auf seinen Morgenläufen begleiten sollte. Igitt. Wie auch immer, ich bin nicht der Kleine. Chandler ist noch ein paar Zentimeter kleiner als ich.«

»Ooh. Er ist ein Nerd und ein Winzling. Klingt ganz nach meinem Typ Mann. Bitte sag mir, dass er schwul ist.«

»Ist er, aber ich kann dir grad nicht folgen.«

»Er ist ein Nerd, klein und schwul, mein perfektes Idealbild eines appetitlichen Mannes. Verdammt, ich bin im Himmel«, sagte Sully, eine Hand gegen seine Brust gepresst.

»Du könntest deine Meinung ändern, wenn du ihn kennenlernst.«

»Was? Warum?«

Samuel hielt ihm ein weißes, eingeschweißtes Plastiklaken hin. »Das wirst du brauchen.«

Sully sah die Verpackung an. »Das ist ein Laken.«

»Breite es über dem Sitz aus, bevor du ihn in deinen Truck einsteigen lässt. Es wird ihm helfen. Er ist überorganisiert und leidet unter einer Zwangsstörung. Er hat Probleme mit zu viel Farbe, Lärm, Schmutz, generell mit Unordnung und anderen Dingen, die er nicht kontrollieren kann.«

»Was ist dem armen Kerl zugestoßen?«

»Er ist bei einem extremen Messie aufgewachsen. Statt ihrem Beispiel zu folgen, hat er sich in das genaue Gegenteil verwandelt. Bitte, geh achtsam mit ihm um, er hasst das Reisen. Es triggert alle seine wunden Punkte, aber er wusste, dass ich hier unten seine Hilfe brauchte.«

Sully dachte darüber nach, was Samuel über seinen Freund gesagt hatte, während er die Plane entgegennahm und sie in den Händen hin und her drehte. »Ich werde vorsichtig mit ihm umgehen. Versprochen.«

»Danke. Viele Menschen werden wütend auf ihn. Dann schreien sie ihn an und er wird noch aufgeregter und verliert sich noch tiefer in seinen präzisen Strukturen. Ich will den Trip für ihn nicht noch schlimmer machen. Er ist mein bester Freund.«

»Wir werden schon miteinander klarkommen. Ich mach mich besser auf den Weg.«

»Okay. Danke, dass du ihn abholst.«

»Kein Problem. Schick mir die Infos. Bis später dann«, sagte Sully, als er in den Truck stieg.

»Ich schick sie dir, wenn ich wieder im Büro bin«, erwiderte Samuel.

Nach Samuels letzten Worten fuhr Sully los und drückte zur Antwort auf die Hupe.

 

 


 

Kapitel 2

 

 

Nachdem er sich während einiger seiner Besorgungen verspätet hatte, lehnte Sully an einer Säule und hielt sein Tablet in der Hand, auf dessen Bildschirm in großen Buchstaben Chandlers Name stand. In seiner abgetragenen Jeans und den dunkelbraunen Arbeitsstiefeln stach er zwischen all den gutangezogenen Chauffeuren heraus. Immerhin trug er ein ordentliches, dunkelblaues Arbeitshemd mit dem Tarleton Carpentry-Logo. Er sah auf die Anzeigentafel hinter sich, entdeckte die Flugnummer und auf welchem Band das Gepäck auftauchen würde. Jetzt musste nur noch der Nerd erscheinen. Er musterte seine Jeans, grummelte und wischte ein Paar Dreckkrümel weg, die bei seinem letzten Stopp dort hängengeblieben waren.

Mehrere Personen durchquerten seinen Bereich. Manche von ihnen trafen sich mit einem der Chauffeure. Die meisten anderen nahmen Kurs auf die verschiedenen Gepäckbänder. Allein, in einem Abstand von ungefähr einem Meter zu allen anderen Menschen, ging ein Mann, der eine hüftlange Jacke trug, eine dunkle Hose, ein weißes Hemd und eine schicke weinrote Weste, dazu perfekt polierte Slipper. Kurzgeschnittenes, schokoladenbraunes Haar umrahmte sein Gesicht. Eine Nickelbrille hob sich von seiner blassen Haut ab und er starrte auf das iPhone in seiner Hand. Mit der anderen Hand umklammerte er den Gurt der ledernen Umhängetasche, der sich quer über seine Brust zog. Er war klein geraten und ziemlich schlank, Sullys Ansicht nach ein bisschen zu dünn.

Sully räusperte sich, als der Mann näher kam. Der Mann hörte ihn, blieb abrupt stehen und sah sich um. Seine Finger tippten dreimal auf den Gurt.

Jepp, er ist ein Winzling.

»Hallo«, sagte er, und neigte in einer höflichen Antwort auf Sullys unverblümtes Starren den Kopf.

Der Blick der graublauen Augen senkte sich auf das Schild, dann sah er wieder auf, um Sully von Kopf bis Fuß zu mustern. Er rückte die Brille auf seiner Nase zurecht. Die Finger der anderen Hand klopften erneut dreimal auf den Gurt. »Sind Sie meine Mitfahrgelegenheit?«, fragte er mit sanfter, leiser Stimme, der nicht der Hauch eines New Yorker Akzents anzuhören war.

»Sind Sie Chandler, einen Moment…« Sully warf einen Blick auf das Schild. »Braddock? Sind Sie Chandler Braddock, der Rechnungsprüfer aus dem New Yorker Büro von Ashford Hotels

Der junge Mann nickte und rückte erneut seine Brille zurecht. »Bin ich, aber ich muss Sie zuerst etwas fragen, um sicherzugehen, dass Sie wegen mir hier sind.«

»Nur zu.«

»Ich brauche eine Rückversicherung. Wer hat Sie geschickt, um mich zu treffen?«

»Samuel Ashford.«

»Okay. Waren Sie derjenige, mit dem er während meines Anrufs gesprochen hat?«

»Ja, ich habe das Gespräch unterbrochen. Er und Dakota haben im Charm zu tun und keiner der beiden konnte weg.«

»Vielen Dank für die Bestätigung. Ich bin Chandler Braddock.«

»Ich bin Ihr Fahrer und würde diesbezüglich nicht lügen. Allerdings sind Sie niedlich genug, dass ich Sie auch mitnehmen würde, wenn Sie nicht Chandler wären.«

»Ja, na ja, ich schätze, es ist gut, dass ich bin wer ich bin.« Chandler rückte seine Brille zurecht und tippte dreimal gegen das Gestell. »Wer sind Sie und woher kennen Sie Samuel?«

»Ich bin Sullivan Tarleton, Bauunternehmer, Zimmermann und Eigentümer von Tarleton Carpentry & Construction, aber Sie können Sully zu mir sagen. Das tun alle. Meine Firma wurde von Samuel und Dakota beauftragt, die nötigen Bauarbeiten und Renovierungsmaßnahmen am Charm zu beaufsichtigen und durchzuführen, damit es den Bauvorschriften und dem Standard der Ashfords entspricht und noch ein paar andere Kleinigkeiten.« Sully deaktivierte den Bildschirm, klappte das Tablet zu, schob es in den Rucksack und streckte dann die Hand aus. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Nennt man Sie Chan oder Chandler?«

»Chandler.« Er schluckte schwer und legte seine Hand in Sullys breitere, schwielige Handfläche. Er schüttelte sie ein einziges Mal und zog seine Finger zurück. »Bitte entschuldigen Sie, aber das ist nicht Ihre Schuld. Ich komme nicht gut mit fremden Menschen oder unbekannten Orten zurecht.« Er schob die Hand in eine Tasche, brachte eine Flasche Desinfektionsmittel zum Vorschein, pumpte dreimal und rieb sich die Hände ein.

Das war eine der Marotten, auf die Samuel ihn aufmerksam gemacht hatte. Sully wusste, dass er entweder eine große Sache daraus machen oder dafür sorgen konnte, dass sich Chandler in seiner Gegenwart wohlfühlte, daher entschied er sich dafür, ihn nicht wegen seiner Probleme aufzuziehen.

»Das macht mir nichts aus. Tun Sie, was immer nötig ist, damit Sie sich wohlfühlen. Ich bin ein bisschen staubig und schmutzig von meinem letzten Halt, bevor ich hierher kam. Haben Sie noch weiteres Gepäck?«

Chandler nickte und nahm den Umschlag mit seinem Flugticket aus der Seitentasche der Umhängetasche. Er öffnete ihn und entnahm ihm vier Anhänger. »Es sind vier Taschen. Ich hab versucht, es auf drei zu beschränken, aber es hat nicht alles reingepasst.«

»Ach du Schande. Die müssen Sie ein Vermögen gekostet haben.«

»Sie wurden an Bord gebracht, nachdem ich hundert Dollar zusätzlich bezahlt hatte. Es ist lächerlich, dass die Fluggesellschaften heutzutage für alles extra Gebühren berechnen.«

»Ja, ich weiß, dass die Preise angezogen haben und dann all diese unerwarteten Zusatzausgaben. Okay, laut der Anzeigetafel sollte Ihr Gepäck auf Band drei auftauchen«, sagte Sully, als er sich mit den Anhängern gegen den Oberschenkel tippte und nochmals die Anzeige kontrollierte. »Jepp, es wird immer noch Band drei angezeigt.«

»Band drei ist gut.«

»Okay, jedes Gepäck-Karussell wird seinen Zweck erfüllen. Sehen Ihre Koffer alle gleich aus?«

»Es ist ein Set aus braunem Leder mit meinen Initialen drauf. Ich habe an allen weiße Gepäckanhänger angebracht.«

»Sie sollten zwischen den üblichen roten oder schwarzen, die ich ständig sehe, einfach zu finden sein.«

»Ich hab sie online entdeckt und direkt mit den eingeprägten Initialen liefern lassen. Ich bin kein Fan davon, in überfüllten Einkaufszentren und Geschäften einzukaufen.«

»Gute Idee. Ich sollte mir auch ein neues Set zulegen. Meine sind abgenutzt.« Sully ging zum Gepäck-Karussell voraus, das ein nerviges Kreischen von sich gab, ehe sich das Band langsam und quietschend in Bewegung setzte, dann aber schneller wurde. »Hey. Genau zur rechten Zeit. Wir sollten nicht allzu lange warten müssen. Mussten Sie irgendwo umsteigen?«

»Nein. Ich hatte einen Direktflug, um Probleme und Umstiege zu minimieren. Ich wollte nicht irgendwo festsitzen.« Chandler sah sich um und räusperte sich. Er tippte mit den Fingern dreimal gegen den Gurt.

Sully fiel auf, dass es immer dreifach war. Alles was Chandler tat, tat er dreimal. Sogar seine Flugnummer und die Ankunftszeit beinhalteten mehrfach die Zahl Drei. Er fragte sich, warum der Mann von dieser Zahl so fasziniert war.

Er bemerkte, wie unbehaglich sich Chandler fühlte, als sich andere Passagiere um das Gepäckband sammelten und wechselte auf die weiter entfernte Seite der Schleife. Auch, wenn sie länger auf das Gepäck würden warten müssen, sah Sully, wie sich die angespannte Haltung von Chandlers Schulterpartie ein wenig löste. »Wir müssen ein paar Minuten Geduld haben«, sagte Sully, als er sich dem kleineren Mann zuwandte. »Wie war der Flug?«

»Ich war in einer dünnen Aluminiumröhre gefangen, umgeben von Hunderten von Menschen, in einem Sitz, der schon wer weiß wie oft benutzt und nie gereinigt wurde. Ich habe einen zusätzlichen Sitzplatz gebucht, damit niemand neben mir sitzen würde.«

»Das klingt nicht so, als hätten Sie eine angenehme Reise gehabt.«

»Das habe ich nie. Ich hasse es zu fliegen. Ich hasse es zu reisen.«

»Warum sind Sie hergekommen?«

»Samuel brauchte meine Unterstützung bei den Finanzen. Er bittet nicht sehr oft um Hilfe, also habe ich zugestimmt.« Chandler sah auf sein Handy, wischte über das Display, tippte dreimal darauf, um zu prüfen, was er wissen wollte und steckte es wieder in eine der Taschen der Umhängetasche. Aus einer anderen Tasche zog er die Flasche mit dem Desinfektionsmittel heraus. Nachdem er die Flasche dreimal gepumpt hatte, bis sich eine großzügige Menge davon auf einer Handfläche befand, steckte er sie wieder weg und rieb sich erneut die Hände ein.

Sully schaute gerade rechtzeitig hinüber, um zu beobachten, wie Chandler mechanisch seiner Routine folgte. »Fühlen Sie sich hier immer noch nicht wohl?«

»Nein, die Dinge sind nicht so sauber, wie ich es gerne hätte. Im Flugzeug war es fürchterlich. Ich konnte fühlen, wie sich die Keime in meiner Lunge ausbreiteten, als ich die aufbereitete Luft eingeatmet habe. Ich denke, wenn ich im Hotel ankomme, brauche ich eine ausgiebige Dusche, um mich abzuschrubben.«

Sully sah zu ihm hinüber und fragte sich, ob er mit Chandler unter die Dusche gehen und ihm dabei helfen konnte, sich gründlich zu waschen. Er bewegte sich, um den Druck auf seinen Schwanz zu verringern. Als das nicht funktionierte, rückte er ihn mit einem schnellen Griff zurecht. Er bemerkte, dass Chandlers Blick nach unten wanderte und er hinter der Brille eine Augenbraue hob.

»Gibt es ein Problem?«

»Nein, kein Problem«, erwiderte Sully ein bisschen zu schnell, weil ihm aufgefallen war, dass seine Bewegung Chandlers Aufmerksamkeit erregt hatte.

»Möchten Sie?«

Sully schaute vom Desinfektionsmittel zu Chandlers Gesicht und wieder zurück zur Flasche. Er streckte die Hand aus, und bekam das erste aufrichtige Lächeln geschenkt. Er ließ sich die kalte Flüssigkeit auf die Hand drücken, erneut dreimal, dann rieb er sich die Hände. »Geruchlos?«

»Ja, diese Flasche schon. Das war die kleinste Flasche, die ich hatte, um sie ins Flugzeug mitnehmen zu dürfen. Meine größere ist in einer der Taschen.«

»Verwenden Sie es oft?«

»Oft genug, um zu wissen, dass ich einen Vorrat mitnehmen sollte, wohin ich auch gehe.«

Dankbar, dass die Taschen am anderen Ende des Gepäckbandes erschienen, ließ Sully den Rucksack von der Schulter gleiten. »Können Sie den halten, während ich Ihre Taschen hole? Sind sie schwer?«

»Sie sollten vielleicht einen Kofferkuli nehmen. Ich reise mit mehr persönlichen Gegenständen als die meisten Menschen mitnehmen würden, aber für mich sind sie lebensnotwendig.«

»Richtig. Ein Kofferkuli.« Sully sah sich um und entdeckte die Ecke mit den Gepäckwagen. »Warten Sie hier.«

»Ich gehe nirgendwo hin.«

Sully ließ seinen Rucksack neben Chandler fallen. Während er hinüberging, suchte er in der Hosentasche nach Kleingeld. Er murrte über den Preis, steckte Geld in die Maschine und entnahm einen der Wagen. Er schob ihn durch die Menschenmenge zurück zu Chandler, der bereits in seine Tasche griff.

Chandler brachte eine Packung Feuchttücher zum Vorschein, öffnete sie und nahm drei Tücher heraus. Mit jedem der Tücher wischte er den kompletten Wagen ab, anschließend warf er die Feuchttücher weg. Nachdem alles zu seiner Zufriedenheit gesäubert war, steckte er die Packung wieder in seine Tasche und gönnte seinen Händen eine weitere Runde Desinfektionsmittel.

Nachdem Sully den Vorgang beobachtet hatte, war er etwas verblüfft von dem offensichtlichen Ritual. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Förderband zu. »Zeigen Sie mir Ihre Taschen.«

»Hat Sie nicht gestört, was ich getan habe?«

»Das Reinigungsritual? Nein, das macht mir nichts aus. Wie ich schon sagte, tun Sie, was immer nötig ist, damit Sie sich wohlfühlen. Sie sind nicht in Ihrer Komfortzone«, sagte Sully.

»Ich bin außerhalb meiner geordneten Umgebung.« Chandler legte eine Hand um den Gurt. Seine Finger tippten dreimal gegen den Rand, während sein Blick zwischen Sully und dem Förderband hin und her wanderte. »Danke.«

»Wofür?«

»Dass Sie sich nicht über mich lustig machen oder mich anstarren, wie alle anderen es tun.«

Sully bemerkte, dass einige Leute in ihrer Nähe sie beobachteten und flüsterten. »Ich kann nicht versprechen, dass ich immer alles verstehen werde, aber ich hänsle niemanden wegen seiner Rituale. Wir haben alle unsere Marotten.«

»Ich habe mehr als nur einfache Marotten.« Chandler starrte Sully an, bevor er den Kopf drehte. »Da. Die braune Tasche, die fünfte hinter der mit den Blumen ist meine.«

Sully wappnete sich für das Gewicht. Das verdammte Ding zerrte an seinem Rücken, als er es vom Band hob. »Heilige Scheiße.« Er ergriff beide Henkel und watschelte zum Kofferkuli. Mit einem hörbaren dumpfen Aufprall ließ er die Tasche fallen, dann drückte er sich beide Hände gegen den Rücken.

Chandler nestelte am Gurt der Tasche herum. »Ich entschuldige mich für das Gewicht.«

»Wie haben Sie das Ding ins Flugzeug bekommen?«

»Mein Fahrer hat alles auf einen Gepäckwagen gepackt und ihn zum Schnell-Check-In am Flughafen geschoben. Ich hab meine Reiseunterlagen abgegeben, um die Taschen einzuchecken und sie haben meine Kreditkarte mit den zusätzlichen Gebühren belastet.«

»Okay. War das die größte?«

Chandler nickte. »Die zweite kommt um die Kurve. Da. Die dritte nach der hellrosa Kindertasche.«

»Leichter?«

»Ein bisschen.«

Sully wappnete sich und schob den Kofferkuli näher zum Band, dann packte er den Henkel und schleuderte die Tasche auf den Wagen. Er wandte diese Methode auch bei den letzten beiden Taschen an, bevor er sie sorgfältig auf dem Kofferkuli stapelte. Er bemerkte, dass Chandler den Wagen mit dem Fuß an Ort und Stelle hielt.

»Haben wir alles?«, fragte Sully. Er platzierte seinen Rucksack unter dem Handgriff, weit weg von Chandlers Taschen.

»Ja«, antwortete Chandler.

»Gut. Ich stehe auf dem Kurzzeitparkplatz.« Sully stieß den Kofferkuli an, um ihn in Bewegung zu setzen. »Kommen Sie.«

Schweigend blieb Chandler dicht hinter ihm.