Günther Krüger

Wenn Werte Worte suchen

Von den Werten und dem Werten

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Das Reich der Werte

Freiheit und Wert

Freiheit

Werte

Die Klage vom Werteverfall in einem Land der Grund(ge)sä(e)tze

Die Grundlagen des Grundgesetzes

Die Philosophie des Grundgesetzes

Objektive Wertordnung

Die Kultur der Werte

Der Wert als ideologischer Begriff

Die Tyrannei der Werte?

Vom „Nährwert“ und „Mehrwert“ der Werte

Von der Wertordnung der Grundrechte zu den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten

Christliche Werte

Die Werte im Alltag

Von den Ballons, die bei Festlichkeiten aufgeblasen werden

Werte, die wir (nicht) meinen

Werteverfall oder Wertewandel?

Wie (un)moralisch sind Werte?

An die Medien- und Meinungsmacher und ihre Gehilfen

Irrwege

Freiheit und Wert

Wert und Wahrheit

Die Freiheit als Rechtsgut

Be Wertung

Was sind Werte und wozu werden sie benötigt?

Werte und Moderne

Das Lob der Vielfalt gegen die Sorge um Beständigkeit

Umkehr

Das Reich der Wertfreiheit

wertfrei

Das Dialogische Prinzip

Ich und Du

Das Dilemma

Das Dialogische Prinzip und seine Auswirkungen

Das Dialogische Prinzip in der Psychologie und Psychotherapie

Das Dialogische Prinzip und die personenzentrierte Psychotherapie

Parallelen und Unterschiede

Das Dialogische Prinzip in der Gestalttherapie

Das Dialogische Prinzip in den Disziplinen der Pädagogik

Erwachsenenbildung

Sonderpädagogik

Erlebnispädagogik

Das Dialogische Prinzip und die Pädagogik in den Kindertageseinrichtungen

Das Dialogische Prinzip im Unterrichtsgeschehen

Das Dialogische Prinzip in der Organisationstheorie

Die Kultur des Dialogs

Umkehr und Heilung

Dialogkultur statt Wertekultur

würdigen statt werten

Menschen begleiten statt abholen

Schatzsuche statt Fehlerfahndung

Dialogische Utopie

Nachwort

Literaturverzeichnis

Vorwort

Noch ein Buch zu den Werten und dem Werten?

Werte, Werte, Werte! Unfassbar, was alles für wert befunden wird, ein Wert zu sein. Was ein Wert ist, weiß vermutlich niemand. Doch alle reden hiervon.

Werte begleiten uns seit unserer Geburt. Der Umgang mit ihnen ist uns vertraut, so dass wir ihn kaum noch hinterfragen. Selbst wenn wir ein Opfer der Werte und des Wertens werden, führt dies zwar zu einer Empörung über das unmoralische Verhalten der Täter, jedoch nicht dazu, den Umgang mit Werten zu überdenken. Der „Looser“ oder das „Opfer“ sind nicht nur Begriffe, die beschreiben, was hierunter zu verstehen ist. Sie sind Werte am untersten Ende der Wertehierarchie, mit denen fleißig gewertet – und das heißt hier: gemobbt – wird.

Geschrieben wurde zu dem Thema „Werte“ etliches. Allerdings waren die Veröffentlichungen hierzu meistens fachgebunden. Sie erreichten selten ein öffentliches Interesse. Selbst Presseartikel vermochten kein so großes Interesse zu erzielen, dass den Umgang mit Werten nachhaltig reflektiert hätte. Die Folge: Es lässt sich ein vielgestaltiger Gebrauch von Werten beobachten und mit ihm eine große Unklarheit. Was sind Werte? Wo haben sie ihren Ursprung? Welcher Geist ist in ihnen beheimatet? Wofür sind sie gut?

Die Welt der Werte gehörte zu meinem beruflichen Alltag. Als Pfarrer begegnete sie mir zumeist in ihrer wertenden Form. Gerade in moralisch aufgeladenen Milieus sind moralisierende Bewertungen eine gängige Praxis, um den Unterschied von Anspruch und Wirklichkeit zu bewältigen. Leider führt diese Form der Verarbeitung eher zu Verwerfungen und Kränkungen als zu Lösungen. Zu mir kamen Menschen, die als Opfer der offiziell gültigen und inoffiziell verschleierten Wertesysteme krank wurden. Unfassbar, welche Folgen Werte haben, wenn sie dauerhaft und in aggressiver Weise auf Menschen einwirken! Demgegenüber verkörpert die Seelsorge mit ihrer Kultur des Dialogs eine Welt der Wertfreiheit: eine Freiheit ohne Werte. Diese Welt bietet einen Raum, in der auf Wertungen bewusst verzichtet wird.

Der Ruhestand gab mir die Zeit, mich intensiver mit den Fragen zu befassen, die sich im alltäglichen Umgang mit Werten stellen. Heraus gekommen ist eine Suche nach dem, was der Wert sein und wozu er gut sein könnte. Sie nimmt die Leserin und den Leser mit auf eine Reise durch die Welt der Werte. Sie führt durch unterschiedliche Landschaften, die von verschiedenen Definitionen und Zuschreibungen geprägt sind und somit den Eindruck einer bunten Vielfalt hinterlassen – oder aber verwirren. Im Anschluss lädt das Buch ein, die Welt des Dialogs als ein alternatives Modell zur Wertewelt aufzusuchen. Der Blick ist auf die Praxis unserer Umgangskulturen gerichtet. Wo es notwendig ist, kommt auch die Theorie zu Wort.

Das Buch ist trotz meines Zugangs zum Thema kein philosophisches oder gar theologisches Fachbuch. Es übernimmt zwar in seinem zweiten Teil die theologischen Voraussetzungen des „Dialogischen Prinzips“ von Martin Buber, will aber als Sachbuch zu einer Diskussion und Reflexion beitragen. Das Ziel wäre erreicht, wenn es mit diesem Beitrag gelänge, eine größere Nachdenklichkeit im Umgang mit den Werten zu erzeugen.

Wetter (Ruhr), 01.09.2019

Günther Krüger

Das Reich der Werte

Zunächst soll in dem I. Kapitel das Reich der Werte erkundet werden, um heraus zu finden, worüber wir reden, wenn von Werten gesprochen wird. Die Erkundung beginnt mit der Aussage, dass die als Grundrechte verfassten Güter Werte seien. Exemplarisch soll sie an dem Grundrecht der Freiheit überprüft werden. Dieser Weg führt zwangsläufig in die Welt der Staats- und Rechtsphilosophie, um die Frage zu beantworten, ob das Grundgesetz eine Werteordnung sei. Zwangsläufig ist auch der Weg durch die Geschichte des Wertbegriffs. Die Reise in das Reich der Werte setzt sich fort mit der Analyse seiner Kultur. In welcher Weise beeinflusst der Wert die Kultur des Miteinanders? Von welcher Logik wird diese Kultur bestimmt? Wie funktioniert eine von Werten bestimmte Kultur? Die Ergebnisse werden – wie die Eindrücke in einem Reisebericht – am Ende dieses Kapitels beschrieben.

Freiheit und Wert

Glaubt man den politischen Verlautbarungen1, so sei das Grundgesetz eine Werteordnung, die der Bewahrung und Verteidigung der in ihr verfassten Grundwerte diene. Die Freiheit sei als Grundwert in dieser Werteordnung festgeschrieben. Demnach befänden sich Freiheit und Wert in einer sich gegenseitig bedingenden Beziehung zueinander. Als Grundwert definiert garantiert das Grundgesetz als Werteordnung das unverbrüchliche Recht auf Freiheit. Diese Argumentation dient Christian Lindner dazu, von den in der Bundesrepublik lebenden Flüchtlingen im Rahmen ihrer Integration „Respekt und Achtung vor unseren Verfassungswerten“ zu fordern und vom Staat deren Durchsetzung.2 Der Rat der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) ruft die europäische Bevölkerung auf, mutig für die gemeinsamen Werte einzutreten, wie sie in der Präambel des Vertrags über die Europäische Union als verpflichtende Grundsätze formuliert wurden.3 Diesen Äußerungen gegenüber steht eine vehemente Kritik. Sie bezieht sich auf die Struktur und die Logik von Werten. Werte seien mit ihren Eigenschaften eben keine Garanten für Freiheit und für die anderen Grundrechte, sondern deren Gefährdung.

Aufgrund dieses widersprüchlichen Sachverhalts wird in dem Abschnitt „Freiheit und Wert“ die Beziehung zueinander näher betrachtet.

1 Z.B. Christian Lindner, MDB, Cicero, 19.11.2015: Das Grundgesetz ist keine Regelsammlung, sondern eine Werteordnung.“

2 Vgl. a.a.O.

3 Erklärung des Rates der Evangelischen Kirchen in Deutschland zur Lage in Europa, 23. April 2016

Freiheit

Die Freiheit begegnet uns in unserem Staat als Rechtsgut sowie als Prinzip einer gesellschaftlichen Ordnung. Sie begegnet mir persönlich als Erfahrung, das tun zu können, was ich will, sofern es erlaubt ist, ferner als innerster (Frei)Raum meines Gewissens, in den ich mich zurückziehen kann, falls äußere Einflüsse mich gegen meinen Willen zu einem bestimmten Verhalten verpflichten wollen.

Die Freiheit wird unterschieden in eine Freiheit von oder gegen etwas (negative Freiheit) und in eine zu oder für etwas (positive Freiheit).

Die Freiheit begegnet als Ideal unterschiedlicher Ideologien, die je nach ihrer Herkunft und Absicht entweder die individuelle Freiheit oder die der Gemeinschaft in den Vordergrund rücken. Sie ist schließlich ein zentraler Inhalt in religiösen Deutungssystemen.

Von der Freiheit existieren unterschiedliche Vorstellungen. In der Geschichte der Menschheit gehört sie jedoch stets zu den Gütern oder Idealen mit einer zentralen Bedeutung.

Aufgrund der Vielfalt ihrer inhaltlichen Aspekte wird die Freiheit differenziert

• als Freiheit des Willens mit der hierzu gehörenden Verantwortung;

• als innere Freiheit, die sich auf die eigenen Möglich- und Fähigkeiten konzentriert,

• gegenüber der äußeren Freiheit als soziale Größe mit seinen rechtlichen und politischen Gegebenheiten;

• als persönliche Freiheit mit ihren Schutzrechten sowie

• als bürgerliche Freiheit mit ihren Teilhaberechten.

Die zuletzt genannten Freiheitsaspekte bilden das Prinzip unserer Verfassung. In ihr sind unsere Schutz- und Teilhaberechte auf Freiheit grundgesetzlich garantiert.

Werte

Was Werte sind, könne man laut der jüngsten Untersuchung zu denselben durch Andreas Urs Sommer, Professor für Philosophie an der Universität Freiburg i.B., nicht genau sagen.4 Sie könnten Fiktionen sein, etwas Erdachtes und von Menschen für Menschen Geschaffenes.5 „Werte sind bedingt und gemacht.“6 Sie werden „erdacht, um ein Sollen zu formulieren“.7 „Werte sind wesentlich geschichtlich – geschichtlich geworden und geschichtlich wirksam.“8 Werte sind möglicherweise auch Präferenzen. Oder sie transportieren Interessen.9 Jedenfalls sind sie höchst unterschiedlich und – positiv betrachtet – eine Ausdrucksform von Pluralismus.10 Wie immer auch die Existenzweisen von Werten beschrieben werden mögen, suche ich mir für mein Anliegen eine verallgemeinernde Definition.

Mein Anliegen ist es, die Wirkweisen und Auswirkungen von Werten sowohl im alltäglichen Erleben wie auch im gesellschaftlichen Zusammenleben zu ergründen und zu beschreiben. Hierfür werde ich auf ausgewählte Studien zurückgreifen und mit meinen Beobachtungen und Erfahrungen verknüpfen.

Der Wert bezeichnet „im allg. die zwischen einem Gegenstand und einem Maßstab durch den wertenden Menschen hergestellte Beziehung“.11 Den Begriff der „Beziehung“ möchte ich durch den des „Verhältnisses“ ersetzen. Die Beziehung definiert sich für mich ausschließlich durch die Zuwendung der an ihr beteiligten Partner. Im Verhältnis verhält sich ein menschliches Subjekt zu einem Gegenstand als sein Objekt. Das Verhalten besteht laut der obigen Definition im Werten. Das Subjekt bewertet „sein“ Objekt, und dieses Objekt kann auch ein Mensch sein. Die Beziehung ist in meinem Verständnis ihrem Wesen nach nicht monologisch, also kein Subjekt-Objekt-Verhältnis. Sie zeichnet sich darin aus, dass in ihr nicht gewertet wird. Ihr ist das II. Kapitel dieses Buches gewidmet.

Mit der Definition, dass der Wert das Verhältnis bezeichnet, das der wertende Mensch zwischen einem Gegenstand und einem Maßstab herstellt, stellt sich sogleich die Frage nach der „Henne und dem Ei“: Wer von den Beiden ist der Ursprung? Die Henne in der Gestalt des Menschen, der mit seiner Bewertung das Ei in der Form eines Wertes schuf? Oder ist das Ei bzw. der Wert der Ursprung, aus dem die Henne geschlüpft ist bzw. der wertende Mensch seinen Maßstab für seine Bewertung erlangt? Beide Wirkweisen sind für sich betrachtet plausibel. Mit meiner Bewertung lege ich fest, was mir wertvoll und was mir wertlos erscheint. Ich erschaffe mit dieser Festlegung einen Wert und zugleich einen Unwert. Umgekehrt benötige ich aber für mein Werten entsprechende Kriterien. Ich kann sie aus mir selbst heraus entwickeln. Zumeist sind sie jedoch gesellschaftlich vorgegeben.

In den nachfolgenden Abschnitten wird uns dieses „Henne-Ei-Problem“ immer wieder begegnen, wenn wir nach dem Woher der Werte fragen. Ursprünglich ist der Wert eine ökonomische Kategorie. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts befasste sich eine in die Krise geratene Philosophie mit dem Wert als ethische Kategorie. Sie versuchte, eine objektive Grundlage für die Beantwortung ethischer Fragen zu erlangen.

In der Kultur- und Religionskritik Friedrich Nietzsches (1848-1900) wurde der Wert erstmals zu einem zentralen philosophischen Begriff. Nietzsche forderte eine „Umwerthung aller antiken Werthe“12, da diese im Verlauf ihrer Geschichte wertlos (gemacht) wurden. Hauptverantwortlich seien hierfür die Religionen gewesen, insbesondere das Judentum mit seiner Fürsorge für die Schwachen, die sich im Christentum fortsetzte. In seiner Theorie des Willens zur Macht, der in allen Dingen wirke, stellte Nietzsche diesen Willen der bis dahin gültigen Moral gegenüber. Der „Wille zur Macht“ sei die treibende Kraft, welche alle bestehenden Werte zerstöre und sich selbst zum obersten Wert erhebe. Analog zum „Willen zur Macht“ bedürfe es eines geeigneten Führers, der mit eben diesem Willen ausgestattet sei. Die Rede ist von einem „Übermenschen“, der sich vom Einfluss der Religionen und dem Glauben an eine allgemeingültige Wahrheit befreit hat.13

Max Scheler (1874-1928) und Nicolai Hartmann (1882-1950) entwickelten unabhängig voneinander eine Wertphilosophie mit dem Ziel, eine objektive Wertethik zu begründen.

Im alltäglichen Sprachgebrauch werden die ideellen Werte von den materiellen unterschieden. Worin das Ideelle bestehen mag, hängt nicht allein von den unterschiedlichen Definitionen hierzu ab, sondern zuerst von den unterschiedlichen Vorstellungen. Vorstellungen und Definitionen bedingen einander. „Als Werte bzw. Wertvorstellungen bezeichnet man unter anderem Eigenschaften bzw. Qualitäten, die als erstrebenswert, in sich wertvoll oder moralisch gut betrachtet werden, und die Objekten, Ideen, Sachverhalten, Handlungen aber auch Menschen zugeschrieben werden. Werte sind in der Psychologie also bewertende Gedanken zu wichtigen Dingen im Leben wie etwa zur eigenen Person , zu Freunden oder zur Gesellschaft, und stellen darüber hinaus allgemeine Präferenzen dar, die eine Aussage darüber machen, was gut oder schlecht ist, und letztlich geben sie den Maßstab vor, wie die bewerteten Objekte sein sollten.“14 Die inhaltliche Bestimmung von Werten als „Präferenzen“ oder „Wünschenswerten“ erscheint in weiteren Definitionen. Nach dem amerikanischen Ethnologen und Anthropologen Clyde Kluckhohn (1905-1960) ist der Wert eine Auffassung von Wünschenswertem.15 Sie beeinflusse den Einzelnen oder die Gruppe in seinem bzw. ihrem Handeln bei der Auswahl der zugänglichen Mittel und Ziele, das Gewünschte zu realisieren. Für den finnischen Philosophen Georg Henrik von Wright (1916-2003) sind Werte „unbedingte Präferenzen“.16 All diese Definitionen stützen die Hypothese von der Henne. Ganz anders die Ausführungen des Soziologen und Wertforschers Peter Kmieciak: Der Wert sei ein kulturell und sozial determiniertes und selbstkonstitutives Ordnungskonzept.17 Die Definitionen von Kluckhohn und Wright heben die Funktionsweise in sozialen Systemen hervor. Im Gegensatz hierzu hat Kmieciak die Funktionsweise der menschlichen Psyche im Blick. Der Wert prägt und reguliert das psychische System. Mit dieser Auffassung wird eher die Hypothese des Eis unterstützt.

Im politisch-rechtlichen Sprachgebrauch ist von übergeordneten Grundwerten die Rede. Grundrechte werden zu Werten in einer hierarchisierten Wertewelt! Mit Ausnahme einiger Staats- und Verfassungsrechtler sowie Rechtsphilosophen blieb diese Umwertung unwidersprochen. Heute regt sich – wie es scheint - niemand mehr darüber auf, dass die unantastbare Würde des Menschen, die Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität als Werte bezeichnet werden. Zusätzlich zu der bereits angedeuteten Problematik von „Henne und Ei“ stellen sich mir in diesem Zusammenhang weitere Fragen: Ist diese Umdeutung der Grundrechte sachgemäß? Ferner: Lassen sich die Existenzweisen von Würde, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität in monologischen Systemen angemessen erfassen? Oder anders gefragt: Begegnen uns die Wirklichkeitsgestalten von Würde, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität nur als Objekte einer Idee oder eines Wollens, also in der Gestalt von kulturellen und geschichtlichen Vorstellungen? Enthalten sie nicht auch eine Existenz „quer zur Zeit“, die als Subjekt auch eine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit unserer Erkenntnisfähigkeit gegenüber besitzt? Es könnte doch z. B. sein, dass die Würde mehr ist als die „Wertschätzung“ in der Sprache der Werte. Diese meint zwar Würdigung. Doch wenn wir den eigentlichen Wortsinn der „Wertschätzung“ zu Grunde legen, besagt dieser, dass der Wert einer Person, eines Gegenstandes oder eines Sachverhalts geschätzt werden könne. Doch welchen Wert soll ich in der Begegnung mit meinem Gegenüber schätzen? Welcher Wert an ihm ist für mich wertvoll? Ist der Wert ein messbarer Nutzen oder eine wertvolle Eigenschaft? Der Begriff der Wertschätzung verrät sich selbst: Er offenbart das Dilemma unseres Denkens in Werten. Wenn ich einen Wert schätzen soll, brauche ich hierfür einen Wertmaßstab. Wie aber soll ich einen Maßstab objektiv erfassen, wenn er von mir in der persönlichen Begegnung subjektiv erlebt und wahrgenommen wird? In einer ganzheitlichen Begegnung von Mensch zu Mensch, von Subjekt zu Subjekt, ist kein Raum für ein gegenständliches Betrachten. Der Mensch, der mir begegnet, möchte von mir nicht als Objekt bewertet, sondern als Mensch gewürdigt werden. Würdigen heißt, mein Gegenüber vollständig, mit all seinen Stärken und Schwächen, wahr- und anzunehmen. Es geht nicht darum, ob dieser Mensch für mich einen Nutzen hat oder ich ihn interessant oder gar sympathisch finde. Es geht darum, dass er eine Liebenswürdigkeit besitzt – auch dann, wenn ich sie nicht sogleich entdecke. Er ist der Liebe würdig! Diese Würde ist eine Wahrheit, die unabhängig ist von meiner Wahrnehmung. Die ganzheitliche Begegnung ist eine von der Liebenswürdigkeit geprägte Begegnung. Die Liebe würdigt und wertet nicht. Sie hat keine objektivierenden Wertmaßstäbe. Diese gehören zu unserem Denken und Wollen, unserem Erfahren und Betrachten, unserem Verarbeiten und Sortieren, unserem Werten und Urteilen. Ich möchte niemanden wertschätzen. Ich möchte ihn würdigen.

4 Andreas Urs Sommer, Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt, Stuttgart 2016

5 Vgl. ebd., S. 12, 29 oder 94

6 A.a.O., S. 66

7 Ebd.

8 A.a.O., S. 67

9 Vgl. ebd., S. 80f

10 Vgl. ebd., S. 55

11 Johannes Hoffmeister (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 2. Aufl. 1955, S 667

12 Jenseits von Gut und Böse, 3. Hauptstück, S. 46

13 Vgl. a.a.O., 5. Hauptstück, S. 203

14 Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik

15 Vgl. C. Kluckhohn (1951) Values and value-orientation in the theory of action: An exploration in definition and classification. In: T. Parsons and E. Shils (eds): Toward a General Theory of Action, Cambridge, Harvard University Press, S. 388-433

16 Vgl. bei Andreas Urs Sommer, a.a.O., S. 79

17 Vgl. P. Kmieciak, Wertstrukturen und Wertwandel in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 1976, S. 150

Die Klage vom Werteverfall in einem Land der Grund(ge)sä(e)tze

Die Überschrift enthält zwei Themenkreise. Das erste Thema kreist um die Klage vom Werteverfall. Der zweite Kreis befasst sich mit der Frage, warum wir von (Grund)Werten in einem Land reden, das in seiner Verfassung Grundsätze in Form eines Grundgesetzes formuliert. Der erste Themenkreis erhält einen eigenen Abschnitt, der sich mit der Problematik eines Werteverfalls oder eines Wertewandels befasst. In dem jetzigen Abschnitt geht es um die Grundlagen des Grundgesetzes und um die Erfahrungen, welche die Mütter und Väter unserer Verfassung bewogen haben, sie so zu verfassen, wie sie 1949 präsentiert wurde. Von Interesse ist ferner die Geschichte des Grundgesetzes: Wie hat sich das Selbstverständnis des Grundgesetzes verändert? Wie haben sich die Veränderungen des Selbstverständnisses in der Rechtsprechung ausgewirkt? Und schließlich: Welche Begriffe definieren das Grundgesetz heute?