BRYAN EDGAR WALLACE

 

Der Mann, der nicht

schwimmen wollte

 

 

 

 

Roman

 

Apex Crime, Band 47

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

DER MANN, DER NICHT SCHWIMMEN WOLLTE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

Siebenundzwanzigstes Kapitel 

Achtundzwanzigstes Kapitel 

Neunundzwanzigstes Kapitel 

Dreißigstes Kapitel 

Einunddreißigstes Kapitel 

Zweiunddreißigstes Kapitel 

Dreiunddreißigstes Kapitel 

Vierunddreißigstes Kapitel 

 

Das Buch

 

Mit einem unangenehm höhnischen Lächeln auf den Lippen kam ein Mann auf den Tisch zu, der Mann vom Flughafen, Sidney Ballow, der Erpresser.

Wie versteinert saß Anne da, während der Mann immer näher kam, sich gemächlich zwischen den Tischen hindurchwindend. Er freute sich sichtlich über die Wirkung, die sein Erscheinen auf das junge Mädchen ausübte.

Als er am Tisch angelangt war, sagte Anne steif: »Jan - das ist Sidney Ballow.« Der Mann warf Jan einen kurzen, argwöhnischen Blick zu. Er hatte lauernde schwarze Augen und gab sich keine Mühe, ihren Ausdruck dem einschmeichelnden Lächeln auf seinen Lippen anzupassen.

Wortlos zog er einen Stuhl heran und setzte sich...

 

Bryan Edgar Wallace (* 28. April 1904 in London; † 1971), der Sohn des legendären Schriftstellers Edgar Wallace, wurde in Deutschland insbesondere durch die Verfilmung seiner Romane in den 1960er Jahren bekannt. Der Apex-Verlag veröffentlicht die Werke des Autors als durchgesehene Neuausgaben in seiner Reihe APEX CRIME und macht diese Krimi-Klassiker erstmals seit nahezu fünfzig Jahren wieder verfügbar.

 

Der Autor

 

Bryan Edgar Wallace.

(* 28. April 1904 in London; † 1971).

 

Bryan Edgar Wallace - auch Edgar Wallace jr. - war ein englischer Kriminalschriftsteller und Drehbuchautor. Er war zudem der Sohn des erfolgreichen Schriftstellers Edgar Wallace.

Bryan Edgar Wallace wurde im April 1904 als Sohn des britischen Schriftstellers Edgar Wallace und dessen erster Frau Ivy Wallace, geborene Caldecott, geboren. Wallace benannte ihn nach dem amerikanischen Senator William Jennings Bryan, mit dem er befreundet war. Bryan Edgar ging auf die Oundle School und später auf das Emanuelle College in Cambridge, anschließend war er Offizier der britischen Armee. Nach seiner Militärzeit arbeitete er als Drehbuchautor bei British Lion, der Gaumont British Picture Corporation, Twentieth Century Fox und anderen Filmgesellschaften, bevor er für zwölf Jahre als Sekretär in der britischen Botschaft in Madrid arbeitete.

Bryan Edgar heiratete 1934 die Biographin seines Vaters, Margaret Lane, die Ehe wurde jedoch bereits 1939 wieder geschieden. 1940 heiratete er Wylodine van Dyke Jones aus Columbus in Ohio. Gemeinsam mit seiner Frau verbrachte er seinen Lebensabend auf dem Schloss Champigny in Champigny-sur-Veude bei Tours an der Loire in Frankreich.

Die Kriminalromane von Bryan Edgar Wallace wurden stark von denen seines Vaters beeinflusst, handelten jedoch vor allem von Agenten und Weltbeherrschungsplänen. Die Berühmtheit seines Vaters konnte er nicht erreichen.

Neben diesen eigenen Romanen schrieb Wallace Drehbücher nach verschiedenen Romanen seines Vaters, darunter The Flying Squad (1932), The Frightened Lady (1932), Whiteface (1932), Strangers on a Honeymoon (1936), The Squeaker (1937) und The Mind of Mr. Reeder (1939).

Nach einem Treffen mit den Filmproduzenten Artur Brauner wurden einige der Romane von Bryan Edgar Wallace im Rahmen des durch Constantin Film und Rialto Film ausgelösten Edgar-Wallace-Booms durch Filme in den 1960er- und 1970er-Jahren verfilmt. Dabei wurde teilweise nur sein Name genutzt und nur ein geringer Teil der Verfilmungen wurde nach seinen Romanen verfilmt; daneben wurden völlig neue, Edgar-Wallace-ähnliche Stoffe erdacht.

Zu den bekanntesten Bryan-Edgar-Wallace-Filmen gehören Der Würger von Schloss Blackmoor (1963), Scotland Yard jagt Dr. Mabuse (1963), Der Henker von London (1963) und Das siebente Opfer (1964). 

DER MANN,

DER NICHT SCHWIMMEN WOLLTE

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Sir Emlyn Drewl, Außenhandelsminister Ihrer Königlichen Britischen Majestät, war eine auffallende Erscheinung, ein rücksichtsloser. Erfolgsmensch, den viele Männer hassen und nicht wenige Frauen lieben gelernt hatten. Bin treuer Freund und gefährlicher Feind, hatte er sich rasch nach oben gearbeitet, zuerst in der Industrie, dann in der Politik. Wer sich ihm entgegenstellte, wurde überlistet oder durch die bloße Kraft seines Verstandes und seiner Persönlichkeit zu Boden geschlagen. Er gehörte zu den Männern, denen keine Aufgabe groß genug zu sein scheint. Als Drewl seinen ersten Regierungsposten erhielt und zum Parlamentssekretär ernannt wurde, sagte ein Kabinettsmitglied, das komme ihm so vor, als wollte man eine Diesellokomotive in einen Verschiebebahnhof legen. Er hatte Recht. Zwei Jahre später übernahm Drewl das Portefeuille dieses Ministers und begann sich nach besserer Beute umzuschauen. Sir Emlyn Drewl, Außenhandelsminister Ihrer Majestät, war in jeder Beziehung ein Mann, den man nicht außer Acht lassen durfte.

Auch wenn er allein in seinem Arbeitsraum langsam zwischen Fenster und Tür auf und ab ging, wirkte er imposant. Er erweckte den Eindruck, jeder Schritt sei sorgfältig überlegt und ausgewogen, Fuß um Fuß auf den berechneten Platz gesetzt, nichts dem Zufall preisgegeben...

Er war nicht sehr hochgewachsen, hatte aber breite Schultern und einen muskulösen Körper. In jungen Jahren, als er ein recht angesehener Amateurboxer und ein berüchtigter Lebemann gewesen war, hatte er aussichtslose Zwistigkeiten gerne durch seine Fäuste zu seinen Gunsten entschieden, und auch heute noch, dreißig Jahre später, lag diese Gefahr stets auf der Lauer. Unter dem Firnis der Erfahrung war er nach wie vor der Tatmensch, und so mancher, der an der falschen Seite seines Schreibtisches gelandet war, hatte sich buchstäblich unter seinem Zorn geduckt.

Er hatte ein breites, kraftvolles, hässliches Gesicht mit einem vierkantigen, streitlustigen Kinn und tief eingeätzten Falten an den Mundwinkeln. Ein sorgfältig gepflegter Schnurrbart bildete durch seine verblüffende Schwärze einen verdächtigen Kontrast zu dem angegrauten, borstigen Haar. Wie gesägt, seine Züge waren alles eher als schön, aber in ihnen lag eine kaum verhohlene primitive Kraft, die auf manche Frauen geradezu verheerend wirkte.

Das Zimmer, in dem er auf und ab ging, lag im ersten Stock seiner Wohnung am Eaton Place, ein recht hübscher Raum, halb Arbeitszimmer, halb Wohnzimmer, das Werk einer überragend männlichen Persönlichkeit, die aber durch den Einfluss einer Frau moduliert worden war. Die Wände zu beiden Seiten des Kamins waren mit Bücherregalen bedeckt. Links, in der Nähe der Fenster, stand ein großer Schreibtisch, dessen makellose Symmetrie nur durch ein zerknülltes Stück Papier beeinträchtigt wurde, das er ärgerlich weggeworfen hatte.

Unvermittelt hielt er in ne, hob das Papier auf, strich es mit hastigen, gereizten Handbewegungen glatt. Er lächelte vor sich hin, ein wunderlich schiefes Lächeln: Er bereute, dass er sich eine Sekunde lang von aufwallendem Zorn und jäher Enttäuschung dazu hatte hinreißen lassen, das Blatt zu zerknüllen und wegzuwerfen. Wie noch nie zuvor musste er gerade jetzt ein rücksichtslos kaltes Urteil bewahren. Entweder würde er reich werden - oder als ruinierter Mann enden. Er spielte ein riskantes Spiel, dessen Einsatz das Leben war, und er wusste, dass die Bilanz seines eigenen Lebens in der Waagschale lag.  

Die nicht Unterzeichnete maschinengeschriebene Mitteilung war kurz und sachlich. Die Drohung, die sie enthielt, ging weit über den Sinn der Worte hinaus. Zu spät - es lässt sich nicht mehr ändern.

Trotz seiner eisernen Willensstärke fühlte er, wie abermals eine brennende Wut in ihm aufwallte - der Zorn eines Kraftmenschen, der in eine Falle geraten ist. Er kniff den Mund zu einem scharfen, bitteren Strich zusammen. Er wusste, dass er selbst schuld dran war, und gerade deshalb war es ihm so unerträglich. Ein erster, viele Jahre zurückliegender Schritt über die Grenzen der strengen Moral hinaus hatte sich als verhängnisvoll erwiesen. 

Zu Anfang waren die Aufregung und der Siegesrausch ihre eigene Belohnung gewesen. Er war ehrlich genug, sich selbst einzugestehen, dass die Lockung noch nicht erloschen sei, aber aus jenem einen Fehltritt hatte alles andere sich zwangsläufig ergeben, und nun, wohin er sich auch wandte, drohte ihm der Untergang. Eines aber hatte er sich geschworen: Mit Donner und Blitz würde er abtreten, nicht winselnd davonschleichen.

Er trat hinter den Schreibtisch und betrachtete lange die Fotos seiner Tochter und seiner verstorbenen Frau. Sir Emlyn Drewl tat etwas, was selten geschah - er dachte nicht nur an sich selbst, sondern auch an die Folgen, unter denen andere würden zu leiden haben. Wenn seine Frau noch gelebt hätte? Er zuckte die Achseln. Er musste zugeben, dass das wahrscheinlich keine Rolle gespielt hätte. Auch als sie noch lebte, war er stets am Rande des Abgrunds entlangbalanciert, vielleicht damals noch gewagter. Und nun war er so ziemlich am Ende angelangt.

Er zerknüllte den Zettel zu einer festen, kleinen Kugel und schob sie tief in die Hosentasche, als wollte er sie verstecken. Dann schlug er mit der Faust so fest auf den Schreibtisch, dass die beiden silbernen Fotorahmen wackelten. Er musste es schaffen. Er durfte sich nicht geschlagen geben.

An jeder Lebenswende, mag sie noch so entscheidend oder noch so geringfügig sein, kommt ein Augenblick der Entscheidung, der keine Rückkehr mehr gestattet, und dieser Augenblick war nun in der Stille des Arbeitszimmers auch für Emlyn Drewl gekommen. Er fasste einen Entschluss, der einen gebührenden Platz in der endlosen Geschichte menschlicher Torheiten finden sollte.

Mit festen, unbekümmerten Schritten - denn so liefert das Schicksal ihre Opfer aus, mögen sie noch so hohen Rang bekleiden - begab er sich zu einem kleinen Sekretär, öffnete eine Schublade und wollte soeben den kleinen Revolver herausnehmen, der drin lag... Da ging die Tür auf.

Das junge Mädchen, das ins Zimmer kam, hatte alles, was an englischen Frauen in Ordnung ist und vieles, das an ihnen nicht stimmt. Sie besaß die fleckenlose Schönheit eines vollendeten Diamanten, glanzvoll, einwandfrei. Sie war ein Juwel, das jeder Fürstenkrone zur Ehre gereicht hätte. Leider aber hatten nur wenige der jungen Herren, die sie kennenlernte, das Gefühl, eine solche Fassung liefern zu können.

Wie bei einem Brillanten wirkte sie anfangs blendend und kalt. Das Feuer lag tief und unnahbar verborgen, von eiskalten Hemmungen umgeben. Die Glücklichen, die Anne Drewl näher kannten, wussten, dass sie ein sehr sensibler und sehr verständnisvoller Mensch war, lebenshungrig, amüsant, intelligent und geistreich. Wer sie flüchtig kannte, sah jedoch nur die Barriere, die ihre Menschenscheu zwischen ihr und der Umwelt aufgerichtet hatte, und die starre Ruhe einer Erziehung, die ihr beigebracht hatte, nie ein Gefühl zu verraten.

Anne Drewl war mittelgroß, hatte die schlanke, geschmeidige Figur der geborenen Reiterin, und es war für sie ein bitterer Tag gewesen, als ihr klarwurde, dass sie sich unter Pferden heimischer fühle als unter Menschen. Sie hatte jenes sehr nordische, hellblonde Haar, so dicht und fein, dass es sich kaum bewältigen ließ. Ja, eigentlich war es nur ihr Haar, das auch dem oberflächlichen Blick zu verraten schien, dass hinter der kühlen Fassade ein kleiner Rebell steckte, eine mühsam beherrschte Lausbubennatur.

Wenn man sie sehr genau unter die Lupe nahm, war auch der Mund ein Symbol jenes Zwiespalts zwischen Schein und Sein. Schön geformt, vielleicht um ein weniges zu groß, aber von einem unwiderstehlichen Schwung, der ihm einen eigenartig lebendigen und sehr persönlichen Charakter verlieh. Hier traten zuweilen ihre innersten, heimlichsten Gedanken, ihre Empfindungen und ihre Lebensfreude hervor. Hier, in den weichen Rundungen ihrer Lippen, waren die Träume zu ahnen, die die eingedrillte Gefühlskälte ihrer Züge nicht wahrhaben wollte.

Sie hatte wunderschöne, dunkelblaue Augen mit unglaublich langen Wimpern, die von ihren Freundinnen sehr oft mit durchaus unberechtigtem Argwohn betrachtet wurden, und es war ihre Gewohnheit, langsam den Blick zu senken, bis die Wimpern die Wangen berührten, eine Gewohnheit, von der man wusste, dass sie so manchen jungen Mann zum Wahnsinn getrieben hatte und nachher für ihn ein Stein des Anstoßes war, nachdem er vergebens versucht hatte, einer Spur nachzugehen, deren er sicher zu sein glaubte. Wie sollte denn der Arme wissen, dass es nur Schüchternheit gewesen war?

Sie trug ein langes, weißes Abendkleid, weit genug ausgeschnitten, um die weiche Rundung ihrer Brüste hervorzuheben. Mit leicht griechischem Wurf berührten die Falten den Boden. Es war ein strenges, schönes, aber auf irgendeine heimliche Art durchaus nicht zu ihr passendes Kleid. Es betonte alle die Eigenschaften, die es nicht hätte betonen sollen, und verhüllte den menschlichen Kern.    

Als sie eintrat, blickte ihr Vater schnell auf. Seine Hand schwebte noch über der offenen Schublade. Der verkrampfte Ausdruck wich aus seinen Zügen. Er lächelte. Seine Tochter war der einzige Mensch auf Erden, den er wirklich liebte, der einzige Mensch vielleicht, den er je geliebt hatte, und er fragte sich zuweilen mit einem gewissen Bangen, ob sie auch der einzige Mensch sei, der ihn ehrlich liebe.

»Hallo, Anne! Warum so fein herausgeputzt?«

»Ich habe Sybil versprochen, zu ihrem Ball zu gehen.«

»Sybil?«

»Du weißt doch. Sybil Carruthers.«

Mit unverhohlener Bewunderung musterte er seine Tochter. Schöne, gutgekleidete Frauen machten ihm Freude, und er war stolz darauf, dass Anne es mit den stolzesten aufnehmen konnte. »In dieser Aufmachung wirst du sie alle aus dem Feld schlagen.«

Sie seufzte. »Du weißt, Em...« Lange hatte es gedauert, bevor sie sich zu diesem Namen entschlossen hatte. So einen Mann konnte man nicht mit Daddy anreden. Papa kam ihr ein wenig zu banal vor, Emlyn zu unpersönlich. So war sie denn schließlich bei dem kurzen Em gelandet. Dieser Name, halb intim, halb respektvoll, hob sie zu seinem Niveau empor, statt ihn herabzuzerren.

»Du weißt, Em«, sagte sie und beehrte ihr Kleid mit einem missbilligenden Blick, »manchmal denke ich mir, es wäre viel gescheiter, ich würde mich wie ein Backfisch kleiden.« Er sah sie verständnislos an. Sie fuhr fort: »Ich meine, so ein Kleid, das den Männern das Gefühl gibt, sie sind ja, ach so groß und stark. Der Mann muss sich, überlegen fühlen, dann erst erwacht sein Interesse.«

»Sei doch nicht dumm, mein Kind. Der junge Mann, der sich durch ein pompöses Kleid abschrecken lässt, ist ohnedies nichts wert.«

Ihr ausdrucksvoller Mund verzog sich zu einer leichten Grimasse, als ob ihr etwas Unangenehmes eingefallen wäre. »Manchmal wäre es recht, die kühnen Herren würden weniger kühn sein. Sie werden allzu leicht zudringlich.«

Er lächelte. »Du bist knapp einundzwanzig, und es gibt eine Menge Typen, die du noch nicht kennengelernt hast. Und die besten muss man bestimmt nicht mit bauschigen Unterröcken locken.«

»Vielleicht, aber eines kann ich dir sagen: Sie gehen auch nicht zu Hausbällen.«

Er lachte in sich hinein. »Da hast du wahrscheinlich recht.«

»Ich dachte, du wolltest heute Abend im Club Karten spielen?« Stirnrunzelnd schüttelte er den Kopf. Eine Sekunde lang irrte sein Blick zu dem kurzläufigen kleinen Revolver, der in der geöffneten Schublade lag. Nein, ich will lieber ein bisschen arbeiten.«

»Hast du Sorgen, Em?«

Bevor er antwortete, stieß er mit einem Knall die Schublade zu. »Nein, nichts macht mir Sorgen, nicht das geringste.«

Sie musterte ihn aufmerksam. »Das glaube ich dir nicht.« Ausdruckslos erwiderte er ihren Blick. »Warum nicht?«

»Seit gestern früh bist du nervös. Hat dieser Mann dich wieder belästigt?«          

Er schüttelte den Kopf. »Nein, seit einiger Zeit habe ich nichts mehr von ihm gehört«, erwiderte er, obwohl es gelogen war. »Dann muss es sich um etwas anderes handeln.«

»Die neue Arbeit, die der Premierminister mir anvertraut hat, ist recht beschwerlich.«

»Streng geheim?«

»So geheim, dass ich schon angefangen habe, mir selbst nichts mehr zu erzählen«, sagte er in leichtfertigem Ton.

Sie warf ihm einen hastigen Blick zu, zögerte dann. »Du hast schon oft harte Nüsse knacken müssen - aber so nervös wie diesmal habe ich dich noch nie gesehen. Weißt du, ich habe das Gefühl, du versuchst, einen wichtigen Entschluss zu fassen.«

»Liebes Kind, ich habe immer wichtige Entschlüsse zu fassen.«

»Nein, ich meine etwas ganz Persönliches, als müsstest du jetzt nach links oder nach rechts gehen und könntest dich nicht entschließen.«

Unbewusst spielte er mit dem Griff der geschlossenen Schublade. »Anne, du wirst mit der Zeit merken, dass das Leben voller Entschlüsse ist. Unbedingt falsch ist nur, ihnen aus dem Weg zu gehen. Manchmal kann man mit einem falschen Entschluss dennoch die Partie gewinnen. Der Unentschlossene aber ist dazu verurteilt, in der Versenkung zu verschwinden.«

Sie wollte noch etwas sagen, zuckte dann die Achseln. Plötzlich, das Thema wechselnd, sagte sie: »Rory holt mich ab.«

»Fein«, erwiderte der Minister schnell. Auch ihm lag daran, einem heiklen Thema auszuweichen. Zum ersten Mal in seinem Leben war er gezwungen, seine leibliche Tochter in einer wirklich bedeutsamen Sache anzulügen. Wenn es schief gehen sollte - würde sie es ihm je verzeihen?

Er gab sich Mühe, einen recht unbekümmerten Ton anzuschlagen. »Ein netter Junge. Begleitet er dich zu Sybils Ball?«

Anne schüttelte den Kopf. »Nein - er, sagt, er kann solche Veranstaltungen nicht ertragen. Er bringt mich nach dem Essen hin.« Plötzlich blickte sie zu ihrem Vater auf, sah ihn forschend an. »Was hältst du wirklich von Rory?«

Die Frage schien ihn leicht zu erstaunen. »Warum fragst du? Interessierst du dich für ihn?«

Sie lächelte ein sehr liebes, ein sehr scheues Lächeln. »Ich weiß es nicht.«

»Heißt das, ich weiß nicht, ob ja, oder heißt es, ich weiß nicht, ob nein?« 

»Ich glaube fast, es heißt, ich weiß nicht, ob nein.«

»Aber...?«

»Ja, das ist der Haken - das Aber! Er ist attraktiv, sehr intelligent, und ich glaube, er hat mich gern, aber...«

»Weißt du denn nicht, ob er dich gern hat?«

»Schön, ich weiß, dass er mich gern hat - auf jeden Fall tut er so - aber...« Sie zögerte. »Em - hast du schon einmal einen Menschen gekannt, der eigentlich aus zwei Menschen besteht - und der, mit dem du sprichst, ist der falsche?«

»Hast du dieses Gefühl bei Rory Temlet?«

»Manchmal. Ich bin nie ganz sicher, dass die Person, die ich kenne, der wirkliche Rory ist.«

»Ich glaube, das liegt daran, dass er früher Schauspieler war.

Wenn man sich erst einmal angewöhnt hat, sich selbst von außen her zu betrachten, wie das die Schauspieler tun, dann kann man es sich wahrscheinlich nie mehr abgewöhnen.«

»Ja, daran wird es wohl liegen.« Aber es klang ein wenig unschlüssig.    

»Ach, weißt du, in der Tiefe seines Herzens sehnt er sich wahrscheinlich noch immer nach der Bühne zurück. In der City geht es oft recht langweilig zu. Schau nur, wie gern er mit seiner Schmalfilmkamera paradiert.«

»Ich weiß, es muss ihn ein Vermögen kosten. Aber die Vorführung, die er vorige Woche für uns veranstaltet hat, war erstklassig. Ich finde, er hat von dir ein paar prächtige Aufnahmen gemacht. Er hat dich in deinen typischsten Posen erwischt.«

Er lachte. »Ich wusste gar nicht, dass ich welche habe.«

»Dutzende«, erwiderte sie spöttisch. »Du weißt schon: Berühmter Politiker am Rednerpult - Die Situation ist ernst, aber nicht hoffnungslos - Ich glaube, zuversichtlich sagen zu dürfen...«

Betrübt schüttelte er den Kopf. »Also ein richtiger Clown, ja?«

»Nein, nur sehr effektiv. Aber du hast mir noch nicht gesagt, was du eigentlich von Rory hältst.«

»Er gefällt mir. Er ist ein Draufgänger und einer der klügsten Finanzleute, denen ich je begegnet bin, obgleich seine Lösungen manchmal für meinen Geschmack ein bisschen zu kühn sind. Was mich besonders interessiert, ist sein guter Einblick in die internationalen Finanzen.«

»Würdest du ihn gern zum Schwiegersohn haben?«

Er zuckte zusammen. »Ist es schon so weit gediehen?«

»Von ihm aus ja.«     

»Und von dir aus?«

»Nei... nein.« Langsam ließ sie das Wort von den Lippen gleiten. »Aber etwas an ihm finde ich anziehend. Eine verborgene Energie, vor der ich mir hilflos vorkomme. Aber sei ehrlich. Wenn ich nicht nein, sondern ja gesagt hätte, was würdest du geantwortet haben?«

Ihr Vater schwieg eine Weile. Dann sagte er recht unvermittelt: »Nein. Ich glaube nämlich, in aller Stille einige Vorbehalte machen zu müssen.«

Es wurde an die Tür geklopft. Ein Mädchen meldete: »Mr. Temlet, Sir.«

»Bitten Sie ihn, einzutreten«, sagte Anne, wandte sich zu ihrem Vater, fügte mit gedämpfter Stimme hinzu: »Genauso wie ich.«

Der Mann, der zur Tür hereinkam, war siebenundzwanzig Jahre alt, obwohl er zu seinem Ärger oft jünger aussah. Er war nicht groß, etwa so groß wie Anne in ihren Stöckelschuhen, und auch das war oft für ihn ein Quell des Ärgers. Sehr häufig ärgerte sich Rory Temlet über Kleinigkeiten - nur die großen Fragen ließen ihn unberührt. Er sah gut aus, fast wie der ideale Held eines Wildwestfilms: In diesem Genre hatte er sich denn auch einen Namen gemacht, bevor er seinen Hang zur Hochfinanz entdeckte. Er hatte schlanke Hüften und breite Schultern, und man brauchte die Phantasie nicht sehr anzustrengen, um ihn vor sich zu sehen, wie er durch eine staubige, besonnte Straße schleicht, den sechsschüssigen Revolver im baumelnden Halfter, und den Schurken auffordert, sich hervorzuwagen und sich umbringen zu lassen. Er hatte widerspenstiges blondes Haar. Nur er und sein Friseur wussten, dass er jede Woche eine Stunde damit verbrachte, gerade diese saloppe Nuance zu erzielen.

Seit er sich nicht mehr der Aufgabe widmete, in achtstündiger Tagesarbeit unschuldige und hochbezahlte Jungfrauen zu retten, hatte er sich einen kleinen, blonden Schnurrbart zugelegt, der die Aufmerksamkeit von seinen etwas schmalen Lippen ablenkte, einem Gesichtszug, der beim Kino- und Fernsehpublikum manchmal Zweifel daran geweckt hatte, wer denn nun eigentlich der Held sein sollte.

»Hallo, Anne, hoffentlich habe ich mich nicht verspätet.« Seine Stimme klang erstaunlich weich und melodiös.

»Nein, Rory, ich bin eben erst heruntergekommen.«

Er betrachtete sie mit unverhohlener Bewunderung, und sie wurde verlegen. Das war ihr lästig. Er gehörte zu den ganz wenigen Menschen, die es fertigbrachten, sie in Verlegenheit zu versetzen.

Er schüttelte den Kopf, als wollte er seinen Augen nicht trauen. »Ein tolles Kleid.«

»Vom vorigen Jahr«, erwiderte sie in der Hoffnung, ihm eine kalte Dusche verabreichen zu können.

Wieder schüttelte er den Kopf. »Nein, meine Liebe, es ist ewig.« Kurz blickte sie an sich herab. »Hoffentlich nicht.«

Der Minister fragte den Besucher: »Wie waren denn heute die Börsen, Rory?«

»Sie wissen natürlich, dass das Pfund heute Nachmittag ein bisschen nachgegeben hat, um ein Sechzehntel gegenüber New York, aber in Zürich war die Nachfrage lebhaft. Ich glaube, irgendjemand wirft Gold auf den Markt, wahrscheinlich die Russen.«

»Was halten Sie von den französischen Handelsziffern?«

»Ich finde sie erfreulich, aber unregelmäßig.«

Der Minister nickte zustimmend. »Das finde ich auch, aber es bleibt ein strittiger Punkt: Lassen sich eine Reihe günstiger Zufallsposten zu einer soliden Endsumme addieren?«

»Ich glaube schon, wenn der allgemeine Trend fest bleibt. Übrigens war heute nur interessant, dass die Peseta ordentlich abgerutscht ist. Sie mussten ihre Valutareserven angreifen.«

»Hat es einen besonderen Grund?«

Rory Temlet schüttelte sein schönes Haupt, und Anne hatte den unwiderstehlichen Eindruck, ein kleiner Junge spiele hier den Erwachsenen. »Nicht, dass ich wüsste, Sir. Es schwirren sehr viel Gerüchte umher, aber nichts Greifbares.«

»Was für Gerüchte?«

»Ach, dass die Lage in Spanien nicht besonders günstig sei.« Anne mischte sich ein. »Wann bekomme ich endlich etwas zu essen?«

»Verzeihung! Sofort.« Rory wandte sich abermals dem älteren Manne zu. »Sobald ich Näheres erfahre, Sir, werde ich Sie verständigen. Sagen Sie mal, Sir, werden Sie und Anne sich zum nächsten Wochenende frei machen können, um mich in meinem Landhaus in Pongbourne zu besuchen?«

»Wenn es geht, sehr gern.«        

»Ich habe soeben meinen Swimmingpool fertiggebaut.«

Anne lachte. »Du wirst dich sehr anstrengen müssen, wenn du Em zum Schwimmen bewegen willst. Soweit ich mich erinnern kann, ist das noch nie jemandem geglückt.«

Der junge Mann sah etwas erstaunt drein.

»Als neunjähriger Junge wäre ich beinahe ertrunken«, brummte Drewl, »und da habe ich mich entschlossen, egal, was die Leute sagen, nie zu schwimmen.«       

»Der Mann, der nicht schwimmen wollte«, sagte Anne mit zärtlichem Spott.

»Also schön, Sir, es wird nicht geschwommen, aber ich werde mich trotzdem freuen, wenn Sie beide zu mir kommen.«

Anne nahm ihre Sachen und ging zur Tür. Ihr Vater rief ihr nach: »Hast du dem Mädchen wegen meiner Würste Bescheid gesagt?«

»Ja, Darling, deine kostbaren Würste werden so gebraten werden, wie du sie gerne magst.«

»Ein Frühstück ohne Wurst ist kein Frühstück.«

»Gute Nacht, Em.« Anne winkte ihm zu und ging zur Tür hinaus.

»Gute Nacht, Sir.«

»Gute Nacht, Rory.«

Lauschend blieb Sir Emlyn Drewl mitten im Zimmer stehen. Er hörte Anne lachen. Dann fiel leise die Haustür zu.

Er ging zu dem Sekretär, zog langsam die Schublade heraus. Diesmal aber zögerte er nicht. Mit festem Griff nahm er den kleinen Revolver zur Hand.

Lange Zeit stand er da, die Waffe in den verkrampften Fingern, und träumte die Träume der Verdammten.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Die Botschaft Ihrer Majestät in Madrid ist ein Wahrzeichen der von allen Briten stillschweigend akzeptierten Theorie, staatliche Gebäude müssten möglichst langweilig und möglichst pompös sein. So manche ausländische Botschaft erweckt gern den Eindruck geschäftiger, dynamischer Tüchtigkeit - nicht aber die britische. Hier wird die Illusion genährt, jeder Bewohner des Gebäudes sei in tiefe - und vor allem stumme - Gedanken über das Wohl des Königreichs versunken. Bei diesem Bestreben hatte die Gesandtschaft Ihrer Majestät in Madrid nur wenige Konkurrenten.

Eine Atmosphäre der Ruhe herrscht in der Mittelhalle mit den überlebensgroßen Bildnissen britischer Monarchen, und es passt zu dem Gebäude, dass sie vollzählig sind, bis auf drei. Ab und zu wandert ein uniformierter Bote auf leisen und andächtigen Sohlen vorbei. Unter dem Arm trägt er eine versperrte Depeschentasche, die angeblich die wichtigsten Geheimnisse der ganzen Welt enthält. Bei noch selteneren Anlässen öffnen versonnene Herren eine der großen Doppeltüren und schreiten gemessen durch die Halle - natürlich immer noch versonnen vor sich hinblickend. Sie verschwinden durch eine andere Tür, und der solchermaßen frech gestörte Friede kehrt zurück.

Manchmal geht eine Sekretärin so weit, der Atmosphäre zu trotzen und mit einem Papierbündel in der Hand zu erscheinen. Höchst anachronistisch klappern ihre hohen Absätze durch das antiquarische Milieu. Gewiss war das der braven Olive Rawlingson recht egal, der neuen Bürokraft, als sie sich nun in den ersten Stock begab, in dem das illustre Kanzleipersonal untergebracht war, ja, eigentlich machte es ihr Spaß. Ihrer Mutter, die in einem Reihenhaus in Surbiton wohnte, hatte sie geschrieben: Hier fühlt man sich wie in einem Karnickelstall. Du wirst so lieb sein und mir noch einige Paar Nylonstrümpfe schicken (IOVs), weil man nämlich hier jeden Tag seine besten Sachen anziehen muss. Wohlgemerkt, dieser Passus war nicht ganz wahrheitsgemäß. Momentan befand sie sich mit den sorgfältig getippten Briefen in der Hand auf dem Weg zu dem eigentlichen Grund dafür, dass sie sich gezwungen sah, jeden Tag die besten Sachen anzuziehen. Sie wusste, Jan MacNan war nicht der Mann, der ein Paar hübscher Beine unbeachtet an sich vorübergehen ließ, und Olive hatte gar nichts dagegen einzuwenden, dass ihre Beine Beachtung fanden, vorausgesetzt, dass sie die besten Strümpfe trug.

Jan MacNan, sagte sie sich mit echt weiblicher Enttäuschung, war ein Mensch, aus dem sie ganz einfach nicht schlau werden konnte. Die meisten der Herren im Botschaftsgebäude betrachteten sie als eine Art Büromöbel. Sie war überzeugt, sie könnte splitternackt zu ihnen ins Büro kommen, und wenn nur die Briefe schön getippt waren, würden sie gar nichts merken. Lass aber nur ein einziges Komma aus, und sie sehen schon die Russen in London einmarschieren. Jan MacNan dagegen erweckte in ihr das Gefühl, sie sei ein Mensch; sie wusste, dass sie ihm auf gefallen war und dass er sie im Notfall von ihrer Schreibmaschine würde unterscheiden können. Aber das Schlimme war, dass sie sich in seiner Nähe zwar als ein Mensch, aber nicht als eine Frau fühlte.

Während sie die Treppe hinauf ging, brütete sie über dem Problem Jan MacNan. Mr. Headly, der Buchhalter, das Orakel des jüngeren Personals, hatte einmal gesagt: Wenn der brave MacNan nicht vorher auf die Nase fällt, wird er es bis an die Spitze schaffen. Es liefen viele Gerüchte um über Jans verwegene Abenteuer, aber niemand schien etwas Näheres zu wissen. Ihrer Meinung nach schichte es sich nicht für Diplomaten - und schon gar nicht für britische Diplomaten -, Abenteuer zu haben. Gewiss, sagte sie sich, ihr Idol verteidigend, wenn wirklich etwas Seltsames passierte, dann würde er gezwungen sein, einzugreifen. Immerhin, in Surbiton hatte man andere Vorstellungen von britischer Diplomatie.

Der Gegenstand dieser schmeichelhaften Grübeleien saß an einem großen Schreibtisch in einem Zimmer, das für den Schreibtisch zu klein war. Jeder, der hereinkam, fragte sich sogleich, wie man ihn denn durch die Tür befördert habe. Die Antwort auf diese neugierige Frage lautete: stückweise.

Er hockte hinter seinem Schreibtisch und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf ein Blatt Papier, das er in der Hand hielt. Sein verdrückter grauer Anzug protestierte aus jedem Knopfloch. Er gehörte zu jenen Leuten, die nie wissen, was sie anhaben. Außerdem war er ein Mensch, den viele Leute in der ersten Minute der Bekanntschaft für recht alltäglich, nach fünf Minuten für gutaussehend und nach einer halben Stunde entweder für faszinierend oder für äußerst intelligent hielten. Er war mittelgroß, hatte ein längliches humorvolles Gesicht und ein ewiges Blinzeln in den klaren, blauen Augen. Nach den Fotos auf dem Klavier seiner Mutter zu schließen, war er ein sehr blondes Baby gewesen, und auch heute noch, in seinem siebenundzwanzigsten Jahr, lag ein goldener Schimmer auf seinem braunen Haar. Er war gut gewachsen, und das war recht erstaunlich, da er sich doch stets damit brüstete, körperliche Betätigung zu verabscheuen. Seine Züge wirkten offen und ehrlich, aber in Wirklichkeit wusste er seine Miene viel besser zu beherrschen, als man ihm zugetraut hätte. Was die Leute dort herauslasen, war oft nur das, was sie herauslesen sollten: Kurz gesagt, er war ein Diplomat.

Der größte Teil seiner Erfolge und ein großer Teil seiner Schwierigkeiten ließen sich auf eine Eigenschaft zurückführen: Er war ein hervorragender Zuhörer. Er legte den Kopf auf die Seite und betrachtete seinen Gesprächspartner gleichsam hingerissen, lauschte ihm mit seinem ganzen Wesen, und es gab fast keinen Menschen, den er nicht gern angehört hätte. Jedes Wort, das gesagt wurde, nahm er in sich auf, prüfte es und ordnete es in ein Fach ein, und so mancher hat späterhin entdeckt, dass er ihm mehr verraten habe, als seine Absicht gewesen sei. Diese Gewohnheit bildet zusammen mit einem enormen Gedächtnis eine gefährliche Kombination.

Lächelnd blickte Jan von den Papieren auf, die er studiert hatte. Das zögernde Klopfen konnte nur von der neuen Stenotypistin herrühren. Nette, junge Person, schüchtern, bis sie in Fahrt kam, und dann, wie er vermutete, eher das Gegenteil. Er rief: »Herein!«, und sie kam etwas atemlos durch die Tür, als hätte sie den ganzen Weg im Laufschritt zurückgelegt. »Alles ist fertig, Mr. MacNan«, sagte sie eifrig, als ob nur Liebe und Hingabe eine solche Leistung hätten hervorbringen können.

Jan streckte die Hand aus. »Brav.«

Sie riss die Augen auf, so weit es nur ging, und fragte begierig: »Haben Sie sonst noch etwas für mich zu tun?«

Er schüttelte den Kopf. Die Hoffnung in ihren Mienen wich kindlicher Enttäuschung. Zögernd wandte sie sich der Tür zu, verstand es aber gleichzeitig, ihrem Rock einen kleinen Schwung zu versetzen, so dass der Spitzenbesatz des neuen Petticoats sichtbar wurde, den sie sich übers Wochenende gekauft hatte. In der halbgeöffneten Tür drehte sie sich um und lächelte, und es lag etwas in diesem Lächeln, das seine Aufmerksamkeit erregte. Und ihn sogar ein wenig beunruhigte. Die seltsame Verwirrung, die in diesem Lächeln lag. Er sah sie nicht zum ersten Mal, er hatte sie schon in den Augen anderer Frauen gesehen. Vielleicht, dachte er, war das nur das Spiegelbild seiner eigenen Konfusion. Frauen gegenüber zerfiel er innerlich gleichsam in zwei bewaffnete Heerlager, die einander argwöhnisch musterten. Einerseits fühlte sich seine natürliche Hälfte (wie er sich ausdrückte) stets zu irgendeiner Frau heftig hingezogen. Er wusste über allen Zweifel hinaus, wenn er dieser Seite ihren Lauf ließe, würde sie ihm eine Reihe köstlicher Stunden bescheren. Die andere Seite aber, die er in Ermangelung eines besseren Namens als seine intellektuelle Seite bezeichnete, betrachtete alle diese Ansätze mit scheelem Blick. Sie machte ihn darauf aufmerksam, wenn er erst einmal Botschafter sei - und irgendwie war er davon überzeugt, es eines Tages zu werden -, müsse er eine Frau haben, die seinem Tisch zur Zierde gereichen würde. Mit Recht würde diese Stimme ferner darauf hinweisen, dass es ihm, als er sich das letzte Mal hatte gehenlassen, äußerst schwergefallen war, sich herauszuwinden.

Das unglückselige Ergebnis dieses Zwiespalts war eine Reihe munterer Vorstöße gewesen, auf die ein schmerzliches Bremsen und sodann jener verwirrte Blick in Frauenaugen folgte: Er konnte es den armen Geschöpfen nicht ganz verübeln. Er schüttelte den Kopf. Höchste Zeit, zu heiraten, und damit - hoffentlich - all diesem dummen Zeug ein Ende zu machen.