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Deutsche Erstausgabe (ePub) Oktober 2019

 

Für die Originalausgabe:

© 2016 by N.R. Walker

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Switched«

 

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2019 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

Lektorat: Susanne Scholze

 

ISBN-13: 978-3-95823-785-8

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

 


 

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Aus dem Englischen von Susanne Ahrens


 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem die Autorin des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber ihrer Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der Autorin und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

 

Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

Bei der Geburt vertauscht – so kann eigentlich nur ein schlechter Witz beginnen. Doch für Israel Ingham wird genau das Realität, als ihn die Nachricht des Krankenhauses erreicht, die sein Leben für immer auf den Kopf stellen wird. Bedingungslose Liebe und Trost war Israels ganzes Leben lang etwas, das er nur von seinem besten Freund Sam bekommen hat, und auch nun ist Sam derjenige, der an Israels Seite steht. Doch was, wenn die Gefühle für den besten Freund nicht so platonisch sind, wie bislang gedacht? Kann Israel den ersten Schritt in eine neue Zukunft wagen und Sam vertrauen oder riskiert er damit das, was längst seinem Freund gehört: sein Herz...


 

 

Kapitel Eins

 

 

Ich hatte keine Zeit für so was. Ich musste Zahlen wälzen, mich um E-Mails kümmern, Deadlines einhalten und wusste genau, dass ich pro zehn Minuten verpasster Arbeitszeit vier Rückrufe tätigen müsste. Als Junior Executive Manager von iCon Inc., dem eigens von meinem Vater aus dem Boden gestampften Beratungs-Imperium, spürte ich den Druck von allen Seiten.

Ich war sechsundzwanzig und dazu aufgebaut worden meine Rolle im Geschäft meines Vaters zu übernehmen in seine Fußstapfen zu treten, ob ich wollte oder nicht. Es wurde von mir erwartet, vorausgesetzt. In meiner Jugend war ich eine einzige Enttäuschung für meine Eltern gewesen. Daher hatte ich als einziges Kind und Erbe meinen Stolz hinuntergeschluckt, meine Pflicht und Verantwortung akzeptiert und meine Arbeit gemacht.

Dieses Meeting allerdings bewegte sich außerhalb meines Kompetenzbereichs. Warum zum Teufel man mich aufgefordert hatte, an dieser Wohltätigkeitsveranstaltung teilzunehmen, ging mir nicht auf. Wie schon gesagt, hatte ich weder Zeit dafür noch die Befugnis, um auf solche Anfragen Zusagen zu machen, daher war mir schleierhaft, warum ich überhaupt hier war.

Meine Mutter hatte einen Brief vom Sydney Eastport-Kinderkrankenhaus erhalten, genau jenem Krankenhaus, in dem ich geboren worden war, in dem um unsere Anwesenheit gebeten wurde. Darüber hinaus hatte sie mir nichts verraten, nur dass sie, mein Vater und ich teilnehmen sollten. Ich war davon ausgegangen, dass mein Vater sich entschuldigen lassen würde, indem er andere Geschäftstermine vorschob. Daher war ich überrascht, ihn neben meiner Mutter im Wartezimmer anzutreffen.

Ich eilte auf sie zu. Ich war nicht zu spät für das Meeting, aber wieder einmal später dran als er. Eine weitere Enttäuschung, die er der Liste hinzufügen konnte.

Meine Mutter lächelte mir knapp zu. Die einzige Reaktion meines Vaters bestand aus einem leichten Zucken einer Augenbraue, aber darüber hinaus sah er mich nicht an.

Ein ganz normaler Tag im Leben des Israel Ingham. Ich verkniff mir ein Seufzen und nahm mein Handy heraus, scrollte durch meine Nachrichten, während ich so tat, als wäre mir die Ablehnung meiner Eltern scheißegal.

»Merrick und Julia Ingham?«, fragte ein grauhaariger Mann in einem grauen Anzug aus einer Bürotür heraus. Meine Eltern wandten sich ihm zu, und er sah mich an. »Israel Ingham?«

»Ja«, antwortete ich. Scheinbar war ich der einzige in der Familie, der Manieren besaß.

»Mein Name ist Philip Dovich, Rechtsberater der New South Wales Behörde für Familie und Gemeinschaft.« Er schluckte schwerfällig. »Kommen Sie herein.«

Als wir sein Büro betraten, stellten wir fest, dass zwei weitere Personen an einer Seite des langen Konferenztischs saßen. Sie waren scheinbar in offizieller Funktion hier, waren Zeugen oder Rechtsanwälte. Es war schwer zu sagen. Ich brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um zu begreifen, dass dieser Termin nichts mit einer Benefizveranstaltung zu tun hatte.

Dovich kaute an seiner Unterlippe. Er schien nicht sicher zu sein, wie er anfangen sollte. Sein Gesicht war so blass geworden, dass es zum Grau seines Haars passte, und ich hatte an genug Meetings der Geschäftsführung teilgenommen, um zu wissen, dass dieser Mann im Begriff war Neuigkeiten zu überbringen, auf die er gern verzichtet hätte.

»Es gibt keinen leichten Weg, Ihnen dies mitzuteilen«, begann er. Dann – als wäre ihm plötzlich eine Rede eingefallen, die er zuvor im Geiste vorbereitet hatte – ließ er die Bombe platzen, die uns drei für immer verändern sollte. »Wir wurden darauf aufmerksam gemacht, dass es am Tag von Israels Geburt aufgrund eines menschlichen Fehlers zu einer Verwechslung gekommen ist.« Er stählte sich und sah meine Eltern an. »Mr. und Mrs. Ingham, wir glauben, dass das Kind, das Ihnen übergeben wurde, nicht Ihr leibliches Kind war.«

Wir saßen schweigend da, während der Mann uns gegenüber erklärte, dass es erst vor Kurzem ans Licht gekommen war, unter bedauerlichen Umständen, weil eine andere Frau eine Blutuntersuchung eingefordert hatte. Ihr Sohn war von seinem Arbeitgeber einem routinemäßigen Bluttest unterzogen worden, wobei der Mutter eine Unregelmäßigkeit aufgefallen war. Seine Blutgruppe war eine andere als in seinen Geburtsunterlagen angegeben.

Wie sich herausstellte, war dieses Kind am gleichen Morgen des gleichen Tages auf der selben Entbindungsstation geboren worden wie ich. Und tatsächlich waren wir die einzigen beiden Jungen, die an diesem Tag zur Welt gekommen waren.

Weitere Nachforschungen in den medizinischen Unterlagen meiner Blinddarmoperation, der mir als kleiner Junge in eben diesem Krankenhaus entnommen worden war, bewiesen, dass meine Blutgruppe zu den Geburtsunterlagen des anderen Jungen passte, nicht zu meinen.

Natürlich wären weitere DNS-Tests erforderlich.

Meine Mutter starrte ihn an, ohne zu blinzeln. Mein Vater andererseits brauchte etwa zwanzig Sekunden, um die Worte des Mannes zu verarbeiten, dann brach er in Anschuldigungen zum Thema Verantwortung und Haftungspflicht aus. Die Rechtsvertreter des Krankenhauses hatten zweifelsohne bereits vor unserem Eintreffen gewusst, mit wem sie es zu tun bekommen würden, was vermutlich ihre Nervosität erklärte.

Während mein Vater lamentierte und tobte und Mr. Dovich so gut wie möglich darauf einging, rasten meine Gedanken. Zusammenhanglos, vernebelt und ungläubig kämpfte mein Verstand darum zu begreifen, was ich gerade erfahren hatte. Es war so absurd, aber gleichzeitig fühlte es sich so real an.

Konnte es wahr sein? Ich meine, ich sah meinen Eltern überhaupt nicht ähnlich. Sicher, ich hatte wie meine Mutter eine blasse Haut und war groß wie mein Vater, aber da endeten die Gemeinsamkeiten auch schon. Meine Augen waren von einem sehr dunklen Braun, die meiner Mutter hellbraun und die meines Vaters blau. Mein Haar war dunkler. Mein Gesicht war anders geformt. Mein Körperbau unterschied sich von ihrem. Darüber hinaus zeigte ich allgemein keine Ähnlichkeit zu meinen Eltern. Weder in meinem Benehmen, Temperament, Verhalten noch in meiner Persönlichkeit.

Mein Herz schlug rasend in meiner Brust und meine Mutter wischte sich schweigend eine Träne aus dem Augenwinkel. Ich hatte meine Mutter noch nie weinen sehen. Normalerweise drückte ihre Miene völlige Gleichgültigkeit aus. Und selbst jetzt, beim allerersten Mal, war ich mir nicht sicher, ob die Tränen der Traurigkeit oder Herzschmerz, Verlust oder Betrug geschuldet waren oder was immer man unter Umständen wie diesen empfinden sollte.

Ich bin recht überzeugt, dass sie weinte, weil nun alles Sinn ergab. Ich war letztendlich doch nicht ihr Fehler.

»Mr. Ingham«, sprach Philip Dovich mich an. Mir war nicht einmal aufgefallen, dass mein Vater aufgehört hatte zu reden. Als ich mich zu ihm umdrehte, bemerkte ich, dass er mit dem Handy am Ohr am Fenster stand. Bestimmt sprach er bereits mit Nigel, seinem Anwalt. »Israel?«

Benommen wandte ich mich dem Mann zu, der mit mir redete. »Ja?«

Mr. Dovich schenkte mir ein sanftes, geduldiges Lächeln. »Würden Sie einem DNS-Test zustimmen?«

Wollte ich wissen, ob mein ganzes Leben eine Lüge gewesen war? Wollte ich wissen, ob meine Eltern nach all den Jahren, in denen ich sie enttäuscht hatte, endlich vom Haken waren? Dass sie keinen Versager zum Sohn hatten, keinen Sohn, der nicht klug und nicht diszipliniert genug war? Dass sie nach all diesen Jahren erfahren würden, dass sie in Wirklichkeit gar keinen schwulen Sohn hatten? Wollte ich herausfinden, ob diese Menschen, die mir gesagt hatten, dass meine Homosexualität den Familiennamen beschmutzte, letztendlich gar nicht meine Eltern waren? Wollte ich es wirklich wissen? Ohne eine Vorstellung zu haben, welche Folgen das nach sich ziehen konnte, ohne eine Ahnung, wohin das persönlich, finanziell für mich führen würde, wollte ich es wissen?

Auf jeden Fall, ich nickte. »Ja.«

 

***

 

Eine Stunde später, nachdem bei uns allen ein Abstrich der Wange gemacht und Blut abgenommen worden war, saß ich wieder in Mr. Dovichs Wartezimmer, nicht sicher, was ich tun oder wohin ich gehen sollte. Ich meine, was tat man, nachdem einem gesagt wurde, dass man möglicherweise bei der Geburt vertauscht worden war?

Nach kaum einmal zehn Minuten verkündete mein Vater, dass er zu beschäftigt war, um länger zu warten, und ging. Das Handy war nach wie vor ans Ohr gepresst, sein Mund wütend zusammengepresst und seine Augen konzentriert und kalt. Meine Mutter folgte ihm pflichtbewusst und sagte mir leise Auf Wiedersehen. Nicht sicher, was ich sonst sagen sollte, versprach ich, sie später anzurufen, aber es gab nur einen Menschen, mit dem ich wirklich reden wollte.

Ich zog mein Handy hervor, suchte Sams Nummer heraus und drückte auf Anrufen.

»Hey«, meldete er sich in seinem stets gut gelaunten Tonfall. »Warum rufst du mich an, statt in Arbeit zu versinken? Weiß dein alter Herr, dass du während der Arbeitszeit privat telefonierst?« Er prustete auf.

Sobald ich seine Stimme hörte, lächelte ich und Tränen sammelten sich in meinen Augen. Ich schluchzte seinen Namen hervor. »Sam.«

Sein Tonfall nahm etwas Wachsames und Besorgtes an. »Was ist passiert?«

Just in diesem Moment öffnete sich Mr. Dovichs Tür und er trat hinaus in das Wartezimmer, in dem ich saß, gefolgt von einer Frau und einem Mann in meinem Alter. Mr. Dovich blieb abrupt stehen. Er hatte eindeutig nicht erwartet, mich zu sehen. Aber es war die Reaktion der Frau hinter ihm, die mich auf die Beine brachte. Sobald sie mich sah, legte sie die Hand über den Mund, ein leiser Schrei entfuhr ihr und Tränen stiegen ihr in die Augen. Ich hatte keine Ahnung, wer sie war. Ich hatte sie nie zuvor gesehen, sie jedoch kannte mich ganz sicher.

Wir standen da, sahen einander an, und sie nickte, bevor sie in Tränen ausbrach. Der jüngere Mann an ihrer Seite versuchte sie zu trösten, aber er schien ebenfalls nicht den Blick von mir abwenden zu können, und Philip Dovich wusste nicht, wo er hinsehen oder was er sagen sollte. Die Frau stieß Klagelaute aus und stumme Tränen rannen mir über die Wangen.

»Iz? Israel?« Sam schrie mir ins Ohr, seine Stimme war vor Sorge belegt. »Was ist los? Geht es dir gut?«

Ich schüttelte den Kopf, auch wenn er mich nicht sehen konnte. »Nein. Ja. Ich denke schon, ich weiß es nicht.« Ich unterbrach nie den Blickkontakt mit der weinenden Frau mir gegenüber. Abgekoppelt, als würde ich irgendeine Form von außerkörperlicher Erfahrung durchleben, sagte ich tränenerstickt ins Handy: »Sam, ich muss auflegen.«

»Iz, du jagst mir allmählich Angst ein. Wo bist du?«

»Eastport-Kinderkrankenhaus«, murmelte ich. »Sam, ich glaube, ich habe gerade meine Mutter getroffen.«


 

Kapitel Zwei

 

 

Irgendwie schaffte ich es, nach Hause zu fahren. Und kaum, dass ich meine Wohnung betreten, meine Schlüssel und mein Handy auf den Küchentresen geworfen hatte und mir mit den Händen durch die Haare gefahren war, hörte ich das Klimpern von Schlüsseln an meiner Haustür. Es konnte nur eine einzige Person sein – der einzige andere Mensch, der Schlüssel zu meiner Wohnung hatte – und ich lächelte. Der Schmerz in meiner Brust ließ nach.

»Iz?«

»Küche«, murmelte ich. Meine Stimme klang abwesend und erschöpft. So verdammt erschöpft.

Sam schoss um die Ecke, als wäre er den ganzen Weg gerannt, und hielt inne. Er schien in sich zusammenzusacken, als er mich erblickte – ich musste grauenvoll ausgesehen haben –, und kam langsam auf mich zu, bevor er mich fett umarmte.

Eine Weile sagte keiner von uns etwas. Das mussten wir nicht. Er war seit Jahren mein bester Freund und wir waren wie Brüder. Mein Bruder von einer anderen Mutter, hatten wir immer gewitzelt, und nun ließ mich der Gedanke auflachen, was mich wiederum zum Weinen brachte.

Sam legte die Hände an meine Wangen und schob mich zurück, sodass er mir ins Gesicht sehen konnte. Meine Tränen schockierten ihn unübersehbar, aber seine Sorge gewann die Überhand. »Iz, red mit mir.«

»Ich bin fertig mit der Welt«, krächzte ich hervor.

»Was zum Teufel ist passiert?«

»Bin heute zum Eastport-Krankenhaus«, begann ich.

»Diese Spendensache?«

»Es ging nicht um Spenden, sondern um die Abteilung für Familienrecht.«

»Recht? Familie… Warum?« Er war verwirrt und meine Aussagen ergaben nicht viel Sinn. »Du hast gesagt, du hättest deine Mutter getroffen, aber sie war doch mit dir dort, oder?«

»Meine Eltern sind nicht meine Eltern«, brachte ich unter neuen Tränen hervor. »Bei der Geburt vertauscht. Eine Verwechslung, verdammtes menschliches Versagen, wie immer du es nennen willst.«

Sam blinzelte, während er verarbeitete, was ich gesagt hatte. »Bei der Geburt vertauscht? Was? Wie

Ich zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht.« Trotz meiner Tränen entfuhr mir ein Auflachen und ich war mir ziemlich sicher, dass ich vollkommen verrückt klang. »Ich bin bei der Geburt vertauscht worden. Ist irgendwie lustig, oder? Es scheint so unglaublich, aber es ergibt so verdammt viel Sinn.« Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Sobald die Schleusen einmal offenstanden, konnte ich sie nicht mehr schließen. »Ich weiß nicht einmal, warum ich weine«, schluchzte ich und Sam zog mich erneut in seine Arme.

Er verstärkte seinen Griff um mich. »Himmel, Iz. Du darfst weinen. Deine Welt ist gerade auf den Kopf gestellt worden.«

Er trug seinen blauen Anzug, vermutlich Armani, und ich verteilte Schnodder auf seinem Kragen. Dennoch schien ich nicht in der Lage, ihn loszulassen. Ich murmelte an seinem Hals: »Danke, dass du hergekommen bist.«

Seine Antwort war gefasst und beruhigend. »Ich würde nirgendwo anders sein wollen.«

Ich erlaubte es mir, mich von ihm festhalten zu lassen. Das Heben und Senken seiner Brust, seine Kraft und Gelassenheit beruhigten mich, bis meine Tränen versiegten. Als er sich schließlich zurückzog, tippte er mir liebevoll gegen die Wange, bevor er eine Flasche Chivas aus dem Schrank nahm, in dem ich Alkohol aufbewahrte. Er holte zwei Tumbler, als bewege er sich in seiner eigenen Küche, und stellte sie vor mich hin. »Trink mit mir.«

Es war halb zwölf am Vormittag. »Musst du nicht zurück zur Arbeit?«

Er blinzelte nicht einmal. Er zog einfach sein Handy heraus, schickte irgendjemandem eine schnelle Nachricht und legte es anschließend auf die Arbeitsplatte. »Nein.« Er goss zwei ordentliche Schlucke Scotch ein, behielt einen für sich und reichte mir den anderen.

Ich kippte ihn sofort hinunter. Er brannte sich seinen Weg nach unten und ich keuchte, atmete durch seine Hitze hindurch. Ohne ein Wort zu verlieren schenkte Sam mir einen zweiten ein und gab ihn mir. Aber dieses Mal nickte er in Richtung Wohnzimmer. »Setzen wir uns hin.«

Er führte mich zum Sofa. In einen Raum, in dem er unzählige Male gewesen war, um Fußball oder Filme zu schauen, einen Kater wegzufaulenzen oder schlicht seinen Hintern auf meinem Dreisitzer zu parken, um irgendetwas zu tun. Er setzte sich in die Mitte des Sofas und klopfte auf das Polster neben sich. Ich nahm Platz und er legte seine Hand auf mein Knie, während er an seinem Scotch nippte. Er bohrte nie nach oder drängte mich zum Reden. Wie immer würde er warten, dass ich bereit war.

Ich kannte ihn, seitdem wir dreizehn waren. Wir hatten beide die Knox besucht, Sydneys angesehenste Schule für Jungen. Wir waren nicht von Anfang an beste Freunde. Aber im Verlauf der nächsten paar Jahre, als wir beide feststellten, dass wir uns zu Jungen hingezogen fühlten – die einzigen schwulen Kerle in unserem Jahrgang an der Schule – kamen wir uns näher und als wir fünfzehn waren, waren wir unzertrennlich.

Wir verstanden einander. Seine Familie besaß mehr Geld, als mein Vater sich je erträumen konnte. Wenn man Samuel Finch kennenlernte oder mit seinen Eltern zu Abend aß, hatte man abgesehen von ihrer Adresse und ihrem auserlesenen Heim keine Ahnung, dass ihr Familienbetrieb es jedes Jahr auf die Forbes-Liste Australiens schaffte. Sie waren bodenständig und die bescheidensten Menschen, die ich je getroffen hatte. Wenn Sam nicht bei der Arbeit war, trug er alte Jeans und Vintage-T-Shirts. Sein blond-braunes Haar war immer ein stylisches, kunstvolles Durcheinander und erinnerte mich – sehr zu seinem Missfallen – an Brad Pitt. Sein Kiefer war stark ausgeprägt, seine Augen von einem stechenden Blau und wo immer wir auftauchten, warfen sich ihm die Kerle zu Füßen. Seine Familie war großartig; seine Eltern liebten ihn, egal zu wem er sich hingezogen fühlte.

Er schien einfach alles zu haben. Doch er war auch der netteste, aufrichtigste Mensch, den ich kannte. Und genau wie im Augenblick würde er jederzeit alles fallenlassen und zu mir eilen, sobald ich ihn brauchte.

Den größten Teil meiner späteren Teenagerjahre hatte ich bei ihm zu Hause verbracht. Während das Haus, in dem ich aufgewachsen war, steril und kalt war, war seines warm und fröhlich. Seine Eltern hießen mich in ihrem Leben und Heim willkommen wie einen zweiten Sohn, während seine Schwestern mir halfen, Kleidung auszusuchen und mir die Haare stylten.

Sie wussten, dass meine Familie das genaue Gegenteil ihrer eigenen war: Wo sie warmherzig waren, war meine es nicht. Wo sie sich einladend zeigten, war meine schroff und distanziert. Sam war im Haus meiner Eltern nie willkommen, denn das Einzige, was schlimmer war, als einen schwulen Jungen unter dem eigenen Dach zu haben, waren zwei von der Sorte. Die Finchs adoptierten mich praktisch und zeigten mir, wie eine Familie sein sollte. Wann immer mein Vater über mich herfiel und seine Enttäuschung zum Ausdruck brachte, dass ich mich entschieden hatte, schwul zu sein und seinen Ruf ruinierte, waren es Sam und seine Familie gewesen, die mich aufgefangen hatten.

Sie hatten mich so oft gerettet, dass ich es nicht mehr zählen konnte. Aber ich hatte nie den Eindruck gehabt, bemitleidet zu werden. Ich fühlte mich geliebt und willkommen.

Sam und ich waren nie etwas anderes als Freunde gewesen. Ich weiß nicht, ob es Schicksal oder schlechtes Timing war oder ob das Universum uns irgendetwas sagen wollte, aber zwischen uns hatte es nie gefunkt. Wir waren mit anderen Typen ausgegangen und hatten in Schwulenbars wahllos One-Night-Stands aufgerissen, aber keiner von uns war je in einer ernsthaften Beziehung gewesen. Ich weiß, dass einige Männer, mit denen ich mich getroffen hatte, ihre Zweifel über Sams und meine Beziehung hatten. Ob sie nun eifersüchtig gewesen waren oder sich bedroht gefühlt hatten, ich war nie lange genug mit ihnen zusammen, um es herauszufinden. Sam war der Mann Nummer Eins in meinem Leben. Er war der Will für meine Grace.

»Danke, dass du da bist«, murmelte ich und schwenkte den Scotch in meinem Glas.

»Ist schon gut, Iz. So was tut man für die Familie.« Er bereute seine Wortwahl sofort.

Ich schnaubte und schien damit die Schleusen zu öffnen. »Du hättest sie sehen sollen.«

Ich musste nicht erklären, wer sie waren. »Die erste Reaktion meines Vaters war, irgendetwas von wegen Haftbarkeit und rechtlichen Konsequenzen zu brüllen, statt erstmal zu schauen, ob es seiner Frau gut geht – oder seinem Sohn. Meine Mutter hat leise geweint, aber warum, weiß der Teufel. Mit Sicherheit nicht aus Trauer. Der einzige Mensch, der mir Mitgefühl oder Freundlichkeit entgegengebracht hat, war der Anwalt, der uns eingeweiht hat. Ehrlich gesagt bin ich mir verdammt sicher, dass meine Mutter um den Sohn geweint hat, den sie hätte haben sollen. Und weiß du was? Vielleicht hätte sie das auch. Weil es ihr gegenüber nicht fair war. Ich verstehe das. Aber Sam, sie hat nicht geweint, weil sie um den Sohn getrauert hat, den sie verloren hat oder hätte haben sollen. Sie hat geweint, weil ihr die Möglichkeit geraubt worden war, einen besseren Sohn zu haben. Einen Sohn, der nicht ich war.«

Sam legte die Hand in meinen Nacken und kraulte sanft meinen Hinterkopf. Er widersprach nie, denn er hatte mit eigenen Ohren die verletzenden Dinge gehört, die meine Eltern zu mir gesagt hatten. Er wusste, dass ich die Wahrheit sagte.

»Ich hasse deine Eltern, verdammt noch mal«, sagte er. Er hatte schon vor Jahren aufgehört, sich dafür zu entschuldigen, es auszusprechen.

Ich nickte. Lautlos rannen mir Tränen über die Wangen. »Sie hat geweint, weil jetzt alles Sinn ergibt. Ich meine, sie hatten gerade die Bestätigung bekommen, dass der Grund, warum ich so eine verfluchte Enttäuschung bin, der ist, dass ich nicht wirklich ihr Sohn bin. Nach all den Jahren können sie nun ganz legitim sagen, dass es nicht ihre Schuld ist.«

Sams Griff in meinem Nacken verstärkte sich und er wartete, bis ich ihn ansah. »Das ist nicht wahr. Du bist keine Enttäuschung. Das warst du nie. Und wenn sie das nicht erkennen können, dann Scheiß auf sie.«

Ich klammerte mich an seine Worte wie an ein Rettungsfloß. Die Angst, in einem Meer aus Verzweiflung und Versagen zu versinken, war allzu real, während die dunklen Wasser mich umspülten. Ich rang nach Atem, und er drängte seine eigenen Tränen zurück. Seine Finger krallten sich in die Haare in meinem Nacken, während ich darum kämpfte, mich nicht endgültig in ein Wrack zu verwandeln.

Ich bin mir recht sicher, dass es zu spät war. Mein Schiff sank bereits seit Jahren.

 

***

 

Sam flößte mir Scotch ein, bis ich mich angenehm taub fühlte. Außerdem fütterte er mich mit Pizza, um wenigstens einen Teil des Alkohols aufzusaugen, aber das schwere und neblige, chemisch stumpfe Gefühl in meinem Kopf und Herzen war mir willkommen.

»Ich muss meine Mutter anrufen«, sagte ich und fummelte an meinem Handy herum. »Hab's versprochen.«

Sam saß mir immer noch gegenüber. Im Raum war es dunkler geworden, da der Tag in den Abend übergegangen war. Er nickte, auch wenn sein Kiefer sich angesichts seines kaum verhohlenen Widerwillens für mein Vorhaben anspannte.

Ich suchte ihre Nummer heraus und drückte auf Anrufen, wartete darauf, dass sie sich meldete, während ich mir gleichzeitig wünschte, sie würde es lassen.

Das Handy klickte und ihre Stimme war sanft. Nicht auf eine freundliche Weise, sie wirkte eher gleichgültig. »Israel.«

»Mutter.«

Ich fragte mich, ob ich sie immer noch so nennen würde, wenn die DNS-Tests ausgewertet waren und bestätigten, was wir alle bereits mehr oder weniger wussten. Oder ob sie es überhaupt wollen würde.

Sie sagte nichts, also musste ich. »Ich habe gesagt, ich würde anrufen. Heute war irgendwie ein harter Tag. Wie geht es dir?«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. »Du hast getrunken.«

Ich schnaubte. »Ja. Hilft irgendwie, nichts zu fühlen.«

Sam schloss langsam die Augen, als ob es ihm wehtat, meine Worte zu hören.

»Vielleicht sollten wir diesen Anruf auf ein anderes Mal terminieren.«

»Weißt du, die meisten Leute machen keine Termine für Anrufe mit ihren Kindern«, sagte ich dank genug Scotch-induziertem Wagemut, um mich nicht weiter darum zu scheren. Aber ich ging davon aus, dass es sie ebenfalls nicht scherte, also gab ich mir keine weitere Mühe. »Ich wollte nur anrufen, um nachzufragen, ob es dir gut geht. Du warst aufgebracht.«

Ich hörte sie schlucken. »Was heute passiert ist, kam recht unerwartet.«

Ich hätte beinahe gelacht. »Das könnte man sagen.«

Sie schwieg einen Moment lang. »Bist du allein?«

Ich stieß ein Seufzen aus. »Sam ist hier.« Ich sah ihm in die Augen. Auch wenn mein Sichtfeld wankte und sich eintrübte, brachen wir nie den Blickkontakt.

»Das dachte ich mir schon.«

Ihre Bemerkung kam in einem Tonfall daher, der mir wirklich nicht gefiel. »Warum sollte er nicht? Er ist der Einzige, der immer da gewesen ist.«

Schweigen.

»Ist Dad da?«, drängte ich. »Ich meine, bist du allein?«

Ein Rascheln erklang, als müsste sie ihre Haltung straffen, um zu antworten. »Er hat sich mit Nigel getroffen.«

Nigel Evans war bereits seit vor meiner Geburt der Anwalt meines Vaters. Beide waren in ihrem jeweiligen Bereich unübertroffen und er war für meinen Vater am ehesten das, was einem besten Freund gleichkam. Ich hätte nicht überrascht sein sollen, dass mein Vater nach allem, was wir heute erfahren hatten, Regressansprüche besprechen würde, statt zu Hause bei seiner Frau zu sein.

»Natürlich hat er das.«

»Ja, nun. Ich könnte mir vorstellen, dass sie eine Menge zu besprechen haben.«

Ich bemühte mich, meinen Tonfall zivilisiert zu halten, doch er war allenfalls angespannt. »Nicht alles ist eine Frage der Haftung. Manchmal ist der Kollateralschaden wichtiger.«

Schweigen, und dieses Mal wusste ich, dass das Gespräch vorbei war. Ich schluckte meinen Ärger hinunter und atmete langsam ein. »Tja, offensichtlich geht es dir gut, daher war mein Anruf ungerechtfertigt. Sollten irgendwelche Mandate oder Bekanntmachungen auftauchen, die ich unterschreiben muss, bin ich mir sicher, dass seine Sekretärin sie mir zukommen lassen wird.«

»Israel…«

Mein Atem war zittrig, als ich weitere Tränen niederkämpfte. »Gute Nacht, Mutter.«

Ich unterbrach den Anruf und warf mein Handy neben mir aufs Sofa. Ich legte den Kopf in die Hände und knurrte frustriert. Ich wollte auf etwas einschlagen. Ich wollte jemanden dafür zahlen lassen, wie ich mich fühlte, aber ich wusste, es war sinnlos. Ich lehnte mich auf dem Sofa zurück, ließ meinen Kopf nach hinten fallen, riss an meinen Haaren und ließ meinen aufgestauten Gefühlen mit einem Aufschrei freien Lauf. »Ich bin so verdammt wütend!«

Als ich eine Berührung an meinem Knie spürte, sah ich auf. Mein Blick verschwamm leicht, aber ich stellte fest, dass Sam mittlerweile zwischen meinen Beinen auf dem Couchtisch saß und die Hand auf mein Knie gelegt hatte. »Du darfst wütend sein. Du solltest wütend sein.«

»Bin ich.« Ich wischte mir die Tränen von den Wangen und schüttelte den Kopf. »Und scheiß auf diese dämlichen Tränen.«

Er rieb mein Knie und sah mich lange an. »Du bist kein Kollateralschaden.«

»Für sie schon.«

Sam schüttelte langsam den Kopf. »Du bist mehr wert als das.«

»Das ist ihnen scheißegal. Morgen früh um acht wird mein Vater eine fertige Klageschrift auf dem Tisch haben. Ich bin überzeugt, dass er überhaupt kein Mensch ist. Er hat null Ahnung von Gefühlen.«

»Du bist nicht wie er.«

Ich lachte bellend auf. »Offensichtlich. Weil ich ein verdammtes Wrack bin, während er nach einer Strategie für den größten finanziellen Gewinn fahndet. Wenigstens einmal in meinem Leben habe ich einen Nutzen für ihn.«

Sam fuhr zusammen. »Iz.«

»Ich bin müde. Ich bin es müde, niemals gut genug zu sein. Ich bin es müde, nur ein Nebengedanke zu sein. Ich bin es müde, dauernd falsch zu liegen. Ich bin das alles so unglaublich müde.« Ich konnte die Erschöpfung nicht erklären, die ich bis in die Knochen spürte, diese Schwäche, die mich am Boden hielt. Ich war es leid, mich meinen Eltern zu beweisen, die zu kalt waren, um sich um mich zu scheren. »Ich will gegen nichts davon mehr ankämpfen müssen.« Das wollte ich gar nicht laut sagen.

»Iz«, sagte Sam sanft. Er streckte seine Hand aus und ich nahm sie. Er drückte meine Finger, und es war diese Berührung, diese menschliche Verbindung, die mich rettete. Seine Berührung, die mich jedes verflixte Mal rettete. »Komm. Schaffen wir dich ins Bett.«

Er stand auf und zog mich auf die Beine. Ich fühlte mich schwer und wirklich betrunken, aber es gelang ihm, mich in mein Schlafzimmer zu bringen. Wir standen uns an der Seite meines Bettes gegenüber und ich taumelte gegen ihn. Er hielt mich aufrecht, unsere Brustkörbe dicht aneinander, und ich legte meine Stirn an seine Schulter.

Es war ein stiller Augenblick zwischen uns. Seine Hände legten sich auf meine Taille, und ich konnte das Heben und Senken seiner Brust an meiner eigenen spüren. Er war in jeder Hinsicht mein Fels, mein Ruhepol in einer Welt des Chaos.

»Bin mir nicht sicher, was ich getan habe, um dich zu verdienen.«

Ich spürte, wie sich seine Lippen gegen meine Schläfe drückten, bevor er mir ins Bett half. Ich fiel schwerfällig nach hinten, betrunken und erschöpft, und er hob nacheinander meine Füße an, um mir die Schuhe auszuziehen.

»Danke.« Meine Worte klangen selbst in meinen eigenen Ohren müde und verwaschen.

Behutsam ließ er meinen bestrumpften Fuß aufs Bett sinken. »Mehr als gern geschehen.«

»Für alles.«

Sam nickte, sagte jedoch nichts. Er sah traurig aus und ich hasste das.

»Tut mir leid.«

»Was denn?«

»Dass ich so fertig bin.«

»Iz…«

»Danke, dass du da bist.«

Wieder lächelte er dieses verflucht traurige Lächeln. Jenes, das er zeigte, wenn ich mich dafür bedankte, dass er bei mir war. Als würde es ihm wehtun, dass ich so dankbar war. Und das war ich, so verdammt dankbar. Er hatte keine Ahnung, wie sehr. Ich schloss die Augen. Ich versuchte mich gegen den Schlaf zu wehren, aber ich war zu betrunken und zu müde. »Liebe dich«, murmelte ich.

Er antwortete so lange nicht, dass ich mich fragte, ob ich es überhaupt gesagt oder doch nur gedacht hatte oder ob er bereits gegangen war. Es gelang mir, die Augen zu öffnen, und er stand da mit einem Ausdruck auf dem Gesicht, von dem ich nicht sicher war, ob ich ihn jemals zuvor gesehen hatte. Vielleicht war ich zu betrunken, um klar zu sehen…

»Ich liebe dich auch, Iz.«

 

 


 

Kapitel Drei

 

 

Der Geruch von Kaffee weckte mich, dazu ein recht lautes »Iz, schaff deinen Arsch aus dem Bett oder du kommst zu spät.«

Ich brauchte einen kleinen Moment, bis ich begriff, dass es Sam war, der mir von der Tür aus zugerufen hatte. Er hielt einen Kaffee in der Hand.

»Hmm, Kaffee.«

»Dir auch einen guten Morgen, Arschloch.«

Ich setzte mich auf, ignorierte sowohl das Dröhnen in meinem Schädel als auch die Woge der Übelkeit tief in meiner Kehle. »Du bist geblieben?«

Seine Augen blickten sanft, aber er verdrehte sie trotzdem. »Natürlich bin ich das.«

»Ist der Kaffee für mich?«

»Ja, aber du musst aus dem Bett raus, um ihn zu bekommen.«

»Du bist ein Arsch.«

Sein Grinsen wurde breiter. »Gern geschehen.«

»Ist das mein Hemd?« Mir war gerade erst aufgefallen, dass er mein brandneues, maßgeschneidertes Hemd von Banana Republic trug. Es stand ihm gut, besser als mir jedenfalls. Der Verkäufer hatte mir erzählt, dass es in dem neuen Fliederton der Saison gehalten sei oder irgend so etwas. Sam trug seine graue Anzughose vom Vortag, und ich machte mir eine innerliche Notiz, ebenfalls meine graue Hose dazu anzuziehen. Falls ich es je zurückbekam.

»Ich musste mir eines leihen.«

»Also hast du das teuerste herausgesucht, das ich besitze.«

»Das teuerste? Oh bitte. Ich wollte eigentlich das von Armani nehmen. Willst du diesen Kaffee nun vor der Dusche oder danach?«

»Davor.«

Er betrat mein Schlafzimmer und reichte mir die Tasse. Ich genoss das Aroma, bevor ich einen Schluck nahm.

»Du solltest heute lieber nicht zu spät kommen«, meinte er behutsam. »Angesichts der Laune, die dein alter Herr vermutlich haben wird.«

Himmel, das hatte ich ganz vergessen…

Sam musste mir angesehen haben, in welchem Moment mir die Ereignisse des Vortags bewusst wurden. »Geh duschen und zieh dich an. Ich mache dir Toast. Dann fahre ich dich zur Arbeit. Was macht dein Kopf?«

»Tut weh.«

»Dachte ich mir schon.«

Ich trank vom Kaffee. »Danke.«

Er winkte ab, als er aus dem Zimmer ging. »Dusche, Iz.«

 

***

 

Es war nur eine kurze Fahrt von meiner Wohnung in Woolloomooloo zum Büro. Sam lebte in Potts Point, nicht weit von seinem Elternhaus in Elizabeth Bay entfernt. Die Finches besaßen altes Geld, und ihre Adresse bestätigte das. Etwas, dass mein Vater nie haben würde, egal wie sehr er es versuchte.

Sam hielt im Parkverbot. »Ruf mich an, wenn du etwas brauchst. Lass mich wissen, was für ein Spiel er spielt.«

»Mache ich.« Ich öffnete die Wagentür. »Und Sam?«

»Ja, ich weiß, was du sagen willst. Und gern geschehen.«

Ich lächelte und stieg gerade aus dem Wagen, als ein Taxi hinter ihm hupte. Sam salutierte. »Capt'n«, sagte er grinsend.

Das ließ mich erst recht lächeln. Captain oder in der Kurzform Cap. Der Spitzname, der mir in der Highschool verliehen worden war, war hängen geblieben. Ursprünglich war er mir ein Dorn im Auge gewesen, doch dann hatte ich ihn liebgewonnen. Von meinen Initialen I. I. war es nicht weit bis Aye, aye und das obligatorische Captain, das darauf folgte, war geblieben.

Sam grinste zurück, anscheinend glücklich, dass ich ein Lächeln zustande gebracht hatte, und fuhr davon in Richtung seines Büros, das zugebenermaßen nicht weit entfernt war. Sieben Blöcke, wenn man zu Fuß ging. Und ich war die Strecke oft gelaufen.

Mit einem tiefen Atemzug und meiner professionellen Fassade an ihrem Platz, wandte ich mich um und ging durch die Vordertüren meiner Arbeitsstelle. Das Imperium meines Vaters. Seine erste Liebe, das Kind seines Geistes, jenes, das er formen und modellieren konnte, jenes, das er gedeihen sehen wollte, jenes, das er förderte, und jenes, das ihn bisher nie enttäuscht hatte.

»Mr. Ingham«, begrüßte mich Valarie, die Dame hinter dem Empfangstresen. Sie arbeitete seit einer Ewigkeit hier, ihre Miene war professionell stoisch.

»Morgen.« Ich nickte, als ich zum Fahrstuhl ging. Hier sprach man mich immer mit Mr. Ingham an. Niemals mit Israel und erst recht nicht mit Captain.

Mein Vater drohte jedes Mal Feuer zu spucken, wenn er hörte, wie einer meiner Kumpels mich so nannte. Ich war mir nicht sicher, was er anderes erwartet hatte, nachdem sie mir die Initialen I. I. verpasst hatten. Doch jedes Mal, wenn mich jemand Mr. Ingham nannte, richtete ich mich auf und sah mich nach meinem Vater um. Es war eine tief verwurzelte Angst, Beklemmung, Grauen. Etwas, das ich mühsam zu maskieren gelernt hatte, aber nie ganz losgeworden war.

iCon Inc. nahm den fünfunddreißigsten, sechsunddreißigsten und siebenunddreißigsten Stock ein. Mein Büro lag gemeinsam mit denen der anderen Führungskräfte und der Geschäftsleitung im siebenunddreißigsten Stock.

Mein Vater war ein Risiko eingegangen, als er genau zum richtigen Zeitpunkt eine online basierte, technische Beratungsfirma gegründet hatte. Ob Glück dahintersteckte oder sorgfältige Planung von seiner Seite, war mir nicht ganz klar. Aber er hatte die Welt des Onlinehandels am Schlafittchen gepackt und es irgendwie geschafft, sich daran festzuhalten.

Über die letzten paar-und-zwanzig Jahre hatte er aus iCon Inc. die erstklassige Firma auf Weltniveau gemacht, die sie heute war.

Angefangen damit, kleine Firmen in ihren Internetaktivitäten und über das menschliche Element der Technologie zu beraten, hatte er genau gewusst, in welche Richtung die Welt sich drehte und mit einem Fuß in der Tür hatte er sein Geschäft in die silikonbasierten Arenen ausgeweitet. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, was andere in der IT-Branche als unerreichbar bezeichnet hatten, und vor nichts haltgemacht, bis er es erreicht hatte.

Es war alles eine Frage des Managements. Management von Geschäften, Informationen, Ratschlägen, Technologie, Systemen, Geld. Menschen. Es gab nichts in der Welt der IT-Beratungen, was er nicht einschätzen, managen, implementieren, installieren, anwenden und outsourcen konnte.

Das musste ich ihm lassen. Er war ein unglaublich cleverer Geschäftsmann. Er war nur beschissen darin, ein Vater zu sein. Er hatte mich für meine Arbeit hier ausgebildet, worauf er meiner Meinung nach nur bestanden hatte, damit ich beruflich nicht in irgendeiner Sackgasse endete und seinen Ruf befleckte. Der eigentliche Irrsinn war, dass ich meine Arbeit tatsächlich mochte. Ich war gut darin und näher würde ich der Gelegenheit nie kommen, mit meinem Vater auf gleichem Level zu spielen.

Der Fahrstuhl klingelte, als hätte ich einen Preis dafür gewonnen, vor allen anderen zu erscheinen. Das Stockwerk war nahezu leer, abgesehen von meiner persönlichen Assistentin. Prue war in meinem Alter. Sechsundzwanzig Jahre alt, zurückhaltend und sehr intelligent. Ihr langes braunes Haar war an ihrem Hinterkopf stets zu einer Art Rolle zusammengefasst, ihr Make-Up dezent und ihre Garderobe und Haltung waren stets einwandfrei.

Abgesehen davon wusste ich nicht das Geringste über sie.

»Morgen«, sagte ich zur Begrüßung.

»Guten Morgen.« Sie sah von ihrem Computer auf. »Ihr Vater wünscht mit Ihnen zu sprechen.«

Der Knoten in meinem Magen dehnte sich aus. »Natürlich.«

»Zuerst Kaffee?«

Ich lächelte ihr zu, was ihr zu gefallen schien. »Ja bitte.«

Ich machte mich auf den Weg in mein Büro, aber bremste ab. Ich kehrte zu Prues Schreibtisch zurück und sie sah mit höflicher Überraschung zu mir auf. »Tut mir leid, dass ich gestern meine Termine gecancelt habe. Das muss Ihren Tag wesentlich anstrengender gemacht haben.«

»Meine Tage sind nicht anstrengend…«, setzte sie zu sagen an.

Ich hob die Hand und lächelte sie an. »Sie wissen, was ich meine. Ich bin überzeugt, dass ich heute doppelt so viel zu tun haben werde, was dann auch für Sie gilt. Und das tut mir leid.«

»Das ist mehr als in Ordnung«, sagte sie. Ein freundliches Lächeln huschte über ihre Züge. Ich glaube, das war die längste Unterhaltung, die ich abseits eines Falls je mit ihr geführt hatte.

»Wenn Sie zum Ausgleich Freizeit brauchen, ist das kein Problem.«

»Oh nein«, erwiderte sie rasch und kam auf die Füße.

»Nicht einmal an einem Freitag eine Stunde früher Feierabend?«

Endlich lächelte sie richtig und gestand sich ein Nicken zu. »Ich behalte es im Hinterkopf.«

Ich ertappte mich, dass ich ihr Lächeln erwiderte, auch wenn ich wusste, dass ich mich meinem Vater stellen musste. »Gut.« Ich ging in mein Büro und öffnete meinen Laptop, sah zu, wie sich mein Postfach mit den Mails von gestern füllte. Mein Kater machte mit einer Woge der Übelkeit und einem dumpfen Pochen hinter meinen Augen auf sich aufmerksam.

Prue trat anstandslos ein und stellte schweigend einen Kaffee auf meinen Schreibtisch. Sie zögerte einen Moment lang. »Ihr Vater weiß, dass Sie da sind.« Ohne es zu wollen seufzte ich und brachte Prue damit dazu, innezuhalten. »Mr. Ingham, ist alles in Ordnung?«

Ich musste grauenvoll aussehen und meine Fassade war ins Wanken geraten. Es war nicht mein bester Tag. Ich schenkte ihr ein angespanntes Lächeln. »Alles ist bestens.«

Sie bohrte nicht nach. Gott sei Dank. »Ich fange alle Anrufe ab, bis Sie mir eine andere Anweisung geben.«

Ich nippte an meinem Kaffee. »Danke.«

Sie verschwand ohne ein weiteres Wort. Ich ließ meinen Kaffee auf dem Schreibtisch zurück und folgte ihr nach draußen. Ich bezweifelte, dass ich lange genug fort sein würde, damit er kalt wurde, und falls ja, ob mein Magen ihn nach dem Treffen mit meinem Vater noch vertragen würde.

Ich ging an seinem persönlichen Empfang vorbei und ergatterte nicht mehr als ein Nicken von Maxine, einer der vielen persönlichen Assistentinnen meines Vaters. Ich klopfte an, wartete sein schroffes Herein ab und öffnete die Tür. Sein Büro war das größte, so wie es sein sollte. Karges, minimalistisches Dekor, sein großer dunkler Holzschreibtisch stand isoliert vor den Fenstern, die von der Decke bis zum Boden reichten, nicht ein Gegenstand war am falschen Platz. Mein Vater saß mit geradem Rücken da; bereit für einen Kaffee und eine Unterhaltung oder für die Schlacht: Es war schwer zu sagen.

Er warf mir ein knappes Lächeln zu. »Israel. Bitte, nimm Platz.«

Ich tat wie geheißen und war auf morbide Weise neugierig, wie er auf die Bombe von gestern zu sprechen kommen würde. Im Nachhinein hätte ich es besser wissen sollen.

»Wie du weißt ist die Deadline für das Yokonami-Projekt diesen Freitag. Die Systemanforderungen…«

Und in den nächsten fünf Minuten hörte ich zu, während er mir eine Zusammenfassung über mein größtes Portfolio gab, zu eben jenem Projekt, für das ich den letzten Monat über gelebt und geatmet hatte.

Es stand kurz vor dem Abschluss, und ich hatte so etwas bereits hundert Mal getan. Nicht ein einziges Mal erwähnte er unsere Familie. Er fragte nicht, ob es mir gutging. Er bot mir keine Einsichten in sein Treffen mit Nigel. Da begriff ich, dass er mich nicht an Netzwerkdesigns oder Überwachungsplattformen erinnern wollte. Er erinnerte mich daran, dass das, was gestern in unserem Privatleben vorgefallen war, hier keinen Platz hatte.

Und wer weiß? Vielleicht hatte es das nicht.

Aber ich war nicht wie er. Ich konnte mich nicht davon freimachen. Ich war nicht bar jeden Gefühls. Ich war kein verdammter Roboter. Ich war ziemlich sicher, dass ich die Ergebnisse des DNS-Tests nicht brauchte, um zu bestätigen, dass ich nicht der Sohn dieses Mannes war.

Mir fiel auf, dass sein Vortrag beendet war, denn er sah nun auf seinen Computerbildschirm. Er warf mir einen Seitenblick zu, als würde ich bereits seine Zeit verschwenden. »Irgendwelche Fragen?«

Ich lächelte. »Keine.«